Irrlichter
By Doris Bühler
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Irrlichter - Doris Bühler
1. SIE
Freitag, der 13.
Nein, ich war nicht abergläubisch. Wirklich nicht. Dennoch wunderte ich mich, daß an einem einzigen Tag so viel passieren konnte, wie normalerweise nicht einmal in einem ganzen Jahr. Es begann schon am frühen Morgen, als es zu einem heftigen Wortwechsel mit Eisenhuth, unserem Bürovorsteher kam und ich ihm Sachen an den Kopf warf, die ich ihm schon lange vorher hätte sagen sollen. Zur optischen Untermalung knallte ich ihm dann auch noch einen Stoß Akten auf seinen Schreibtisch, daß es Zettel und Notizen regenete und sein Arbeitsplatz danach aussah, als wollte er für sechs Wochen in Urlaub. Zwei Stunden später fiel mir die Glaskanne der Kaffeemaschine in den Ausguß und zersprang zu tausend Scherben. Sogar Katja, das sanfte Schäfchen unter meinen Kollegen, nannte mich kopfschüttelnd einen Schussel.
Wenn das nur alles gewesen wäre! Doch es folgte die endlose Sucherei nach einem Ordner, den angeblich ich verlegt haben sollte, zweimal gab mir unser Juniorchef einen fehlerhaften Brief zurück, und zuguterletzt rief mich der Big Boss zu sich und ließ eine Gardinenpredigt auf mich hernieder über eine Angelegenheit, die länger als ein halbes Jahr zurücklag.
Gerade in diesem Augenblick schlug die Turmuhr der Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwölfmal, und das bedeutete, es war Mittagspause. Erleichtert atmete ich auf, ich wollte nur noch fort aus diesem vermaledeiten Büro, wollte mich eine Weile auf eine Bank im nahegelegenen Park setzen und eine Stunde lang an gar nichts mehr denken. Auf dem Weg dorthin würde ich mir beim Bäcker eine Butterbrezel kaufen und dann nur noch abschalten und genießen. Doch es war schwer, meine innere Aufruhr zu drosseln und mich wieder zu beruhigen, deshalb stürmte ich ein bißchen zu schnell die blankgebohnerte Holztreppe hinunter, rannte ein bißchen zu schnell die Einfahrt entlang, über den Bürgersteig, bis vor zur Straße... Ein bißchen zu schnell für das Auto, das auf mich zukam und nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.
Das einzige, was ich wahrnahm, war ein Krachen und Quietschen, danach war es dunkel um mich.
Wie ich später erfuhr, soll der Fahrer des Wagens noch versucht haben, das Steuer herumzureißen, dadurch traf er mich linksseitig mit der Stoßstange und dem Kotflügel, und ich blieb vor seinen Vorderrädern liegen. Ein Unfallwagen brachte mich mit Blaulicht in das Konrad-Hupbauer-Krankenhaus. Vier Stunden dauerte es, bis sie mich wieder einigermaßen zusammengeflickt hatten: Ein paar unbedeutende Schrammen am Kopf, eine kleine Fleischwunde am linken Oberarm, hier und da ein paar Kratzer und Prellungen, - und dann eben das Bein. Mit dem sah es schlimm aus. Als ich zu mir kam, war es schon operiert, geschient, schön weiß eingepackt und an einer Vorrichtung am Bett aufgehängt. Doch zu diesem Zeitpunkt wußte ich von all dem noch gar nichts.
Weiß man Namen und Adresse der jungen Frau?
, fragte jemand mit einer unendlich tiefen Stimme. Ich stellte mir die dazugehörende Person uralt und weißhaarig vor, es gelang mir aber nicht, die Augen zu öffnen, um mich davon zu überzeugen, ob ich recht hatte.
Ja. Sie heißt Marion Nowak, zweiundzwanzig Jahre alt
, antwortete eine andere Stimme. Frau Schmied, eine Kollegin von ihr, hat uns die Daten gegeben.
Ich seufzte ungehört. Ausgerechnet die Schmied, dachte ich, da wird sie sich wieder wichtig gemacht haben, wie das so ihre Art ist.
Ledig? Verheiratet?
, fragte die tiefe Stimme wieder, sind die Angehörigen verständigt worden?
Sie ist ledig. Soviel ich weiß sitzen die Eltern draußen im Wartezimmer.
Gut, ich werde mit ihnen reden.
Arme Mama, dachte ich. Hatte ich mir nicht immer alle Mühe gegeben, ihr so wenig wie möglich Sorgen zu machen?
Als ich später das erste Mal blinzelte, gewahrte ich eine unangenehm grelle Neonlampe über mir an der weißen Decke.
Mein Gott, das arme Kind!
Das war Mamas Stimme. Ich wollte mich nach ihr umsehen, doch die Neonlampe wollte nicht aus meinem Blickfeld weichen.
Marion, Liebes...
Sie strich mir behutsam über Stirn und Wangen.
Laß gut sein, Martha, sie ist doch noch gar nicht bei sich.
Ich wollte widersprechen. Und weinen. Aber ich konnte nicht einmal das. 'Doch, Papa, doch! Ich höre euch!'
Sie hat die Lippen bewegt. Ich habe es genau gesehen.
Komm, Martha. Jetzt setzt du dich mal hier hin und regst dich nicht mehr auf. Es ist ja noch einmal gutgegangen. Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat, sie hatte großes Glück im Unglück.
Mama seufzte. Sie hatte schon immer einen Schutzengel.
Guter Schutzengel, dachte ich, wo bist du dann heute den ganzen Vormittag über gewesen?
Es war genau 16.51 Uhr, als ich endlich die Augen aufschlug. Ich weiß es so genau, weil ich den Kopf zur Seite drehte, weg von der grellen Lampe, die mich blendete. Mein Blick ging die grüngekachelte Wand entlang..., und dann sah ich die Uhr, die von der Decke herabhing.
Mama.
Ich konnte nur flüstern, aber sie hatte mich gehört. Sie fuhr herum und kam auf mich zugelaufen.
Marion, Kind! Geht es dir gut? Siehst du mich? Erkennst du mich?
Ich lächelte, - und das klappte tatsächlich. Mir ist noch ein bißchen schummerig
, sagte ich schwach, aber ja, ich sehe dich.
Mein Vater kam an ihre Seite. Wie schön, daß du auch da bist, Papa.
Er hatte sonst immer so wenig Zeit für mich. Heute hatte er.
Ich wurde auf die Station C23 gelegt. Das C stand für Chirurgie, die 2 für den zweiten Stock und die 3 für die Abteilung mit den Knochenbrüchen. Um es gleich vorwegzunehmen, diese gründliche Aufklärung erhielt ich erst später von meiner Mitpatientin Petra, die sich beim Sport eine komplizierte Schulterverletzung zugezogen hatte.
Man schob mein Bett in das Zimmer mit der Nummer 224. Es war ein sehr hübsches Zimmer, hell und sonnig und viel schöner als die meisten, die ich im Laufe der Zeit bei Krankenhausbesuchen kennengelernt hatte. Das Konrad-Hupbauer-Krankenhaus galt als eines der modernsten Krankenhäuser im Umkreis, und ich war dankbar, daß man mich gerade hierher gebracht hatte.
Mein Bett kam in die Mitte, ich wurde flankiert von eben jener erst dreizehn Jahre alten Petra, die am Fenster lag und neugierig den Hals nach mir reckte, und einer schon älteren grauhaarigen Dame, die mir freundlich lächelnd und mitfühlend zunickte.
Petra begann sogleich, mir alles über sich zu erzählen, was sie für interessant und wissenswert hielt. Ich hatte Mühe, ihrem Redeschwall zu folgen, weil ich noch immer leicht benommen war, und weil nun allmählich auch der Schmerz in meinem Bein einsetzte. Doch sie ließ nicht locker, bis sie alles über mich in Erfahrung gebracht hatte. Eine der Schwestern mußte ihr sogar meinen Geburtstag in einen kleinen roten Kalender eintragen, den sie in ihrer Nachttischschublade aufbewahrte, durch ihren unförmigen Gips aber nicht aus eigener Kraft erreichen konnte.
Frau Neubert, die ältere Dame auf der anderen Seite, erzählte mir ihre Geschichte erst im Laufe des nächsten Tages. Sie war die Treppe hinuntergefallen und hatte den Oberschenkelhals gebrochen. Fast zwei Stunden hatte es gedauert, bis sie von einem der Hausbewohner gefunden worden war.
Am nächsten Morgen lernte ich alle guten Geister der Station kennen. Außer der Nachtschwester Christa, einer rundlichen mütterlichen Person mit schwarzgraumeliertem Pagenkopf, die ich bereits kennengelernt hatte, waren da noch