Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

HIERONYMUS: Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation
HIERONYMUS: Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation
HIERONYMUS: Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation
Ebook741 pages10 hours

HIERONYMUS: Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Hieronymus Halbeisen, in jungen Jahren Filmemacher, hat sich ganz von Kino und Fernsehen abgewendet, und er weiss auch warum. Trotzdem nimmt er an einem Wendepunkt seines Lebens, der sich
in Unterströmungen seiner Seele und durch Begegnungen mit Menschen anbahnt, an einer experimentellen Filmvorführung teil. Deren Gerätschaften, also Projektor und Leinwand, wie auch die Bilder sind geschaffen worden von Menschen, die in und um Dr. Attila Haugs "Burggesellschaft" forschen und arbeiten und denen Halbeisens Kritik am gegenwärtigen Kino wie auch seine Fragen nach einem geistorientierten Film der Zukunft existentielles Anliegen sind. Doch die Dinge laufen aus dem Ruder. Das Filmerlebnis löst bei Halbeisen einen komatösen Zustand aus, innerlich einen Bilderstrom aus seiner Verkörperung in Südfrankreich zur Zeit der Katharervernichtung. Dank der Hilfe von Attila Haug, einem Eingeweihten, beim Umgang mit der gefährlichen Erfahrung, gelingt es Halbeisen, diese zu integrieren. Er erkennt in seiner Umgebung wiederverkörperte Menschen aus jener Zeit, und er stürzt sich aus eigenem Impuls in das Abenteuer,
an die damaligen Verhältnisse anzuknüpfen. // Der Roman entstand aus dem gleichnamigen, nicht realisierten Filmdrehbuch. Wim Wenders über einen Film Savoldellis: "Er hat bekannte Mittel außerhalb der ihnen zuerkannten Möglichkeiten angewandt. Er hat einen Hollywoodfilm mit Überlänge auf 16mm in 45 Minuten gemacht. In "Lydia" kommt es dadurch zu ganz unglaublich schönen Momenten." (Filmkritik 1969). Jean-Marie Straub in der englischen Zeitschrift Cinemantics: "Neulich sah ich in der Schweiz einen Film eines jungen Mannes, sein Name ist Savoldelli, er nennt sich den Fremdarbeiter des Schweizer Kinos...Er ist wirklich ein Poet auf dem Gebiet des Kinos. Dann lasse ich mich überzeugen, daß es nicht die Techniken sind, die er zu Beginn anwendet, die falsch sind. Dann kannst du dich davon überzeugen, daß du falsch bist und daß alles möglich ist..." (Jan.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJun 25, 2013
ISBN9783847641452
HIERONYMUS: Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation

Related to HIERONYMUS

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for HIERONYMUS

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    HIERONYMUS - Reto Andrea Savoldelli

    Ein transformatorischer Roman der Jahrtausendwende

    Für die förderliche Mitwirkung bei der Entstehung dieses Buches dankend und in Erwartung der Fertigstellung ihres Films Mme Isabelle Montclaire gewidmet.

    In der Ebook-Version mit 50 Abbildungen. Die Print-Version hat die ISBN-Nummer 978-3-9523828-5-1 und ist im SeminarVerlag, Basel www.das-seminar.ch erschienen (Hier auch weitere Infos zu den Hintergründen des Romans.

    Die Kulttexte und die Abb. des altägyptischen Spiegelopfers in Kap.15 sind entnommen aus C.Husson, l‘offrance du miroir dans les temples égyptiens, Lyon 1977

    Die beiden Gedichte in Kap. 23 erscheinen mit freundlicher Genehmigung von Berthold Wulf (aus Mittag bei Arles und Im Zeichen des Rosenkreuzes, Okeanos-Verlag, Zürich).

    Mit den okzitanischen Versen in Kap.32 beginnt ein Gedicht des Wilhelm IX von Aquitanien (Übersetzung des Autors).

    Die beiden Meditationen in Kap. 39 stammen von R. Steiner

    Das Gedicht in Kap.50 stammt aus Otto Foulon, die Kunst des Lichtspiels. Totenrede gehalten vor der Einäscherung des Lichtbildners Matthias Grüner am 22. Mai 2034.

    Wenn nicht anders erwähnt, stammen die Fotos aus dem Drehbuch des Autors zum Hieronymus-Filmprojekt (2003-2005).

    Die Zeichnungen aus dem FilmStoryboard sowie die Gemälde in Kap.29 sind von Magdalena Lorenz.

    Die Fotos in Kap.1 sind von Givi Nakhutsrishvili, Batumi (Georgien). Nakhutsrishvili arbeitete während der Präsidentschaft Gamsachurdias als dessen persönlicher Kameramann.

    Das Foto des sowjetischen Aussenministers Schewardnadse mit seinem deutschen Amtskollegen Genscher, 1989. FotoTass, Moskau.

    Das Gemälde in Kap.48 ist von Boltraffio, der junge Jesus

    Im April 1973 unterbreitete der bis zu jenem Zeitpunkt erfolgreiche italoschweizerische Fimemacher Savoldelli der schweizerischen Filmförderungskommission in Bern ein Drehbuch, in dem der HIERONYMUS in nuce enthalten ist. Bundesrat Hanspeter Tschudi schreibt ihm am 22.Juni 1973: „Das Thema erscheint wirr, und die Aussage bleibt unklar; die Absicht ist letztlich kaum nachvollziehbar". Vierzig Jahre später endet im April 2013 die Odyssee des Projekts. Der SeminarVerlag, Basel (www.das-seminar.ch) veröffentlicht mit Unterstützung des Schweizer Kantons Solothurn den aus dem Drehbuch in den Jahren 2005-2009 entstandene Roman. Das Buch gewinnt rasch verständnisvolle Freunde. Then times they are a changin. - Die ganze, abenteuerlich anmutende Entstehungsgeschichte erzählt der bei Neobooks erschienene Text «Zur Entstehung des HIERONYMUS - Vom Filmdrehbuch zum Roman» (kostenlos bis Ende September 2013).

    Der erste Teil

    «Das willkürlichste Vorurteil ist, dass dem Menschen das Vermögen, ausser sich zu sein, mit Bewusstsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei. Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu sein. - Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren - das Hörbare am Unhörbaren, das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren.

    (Novalis, Blütenstaub und Neue Fragmente)

    Das Personal

    Die Familie Halbeisen:

    Hieronymus Halbeisen, ehemaliger Filmemacher

    Sybille Helmstedt, seine verstorbene Frau, Journalistin

    Ilena, ihre Tochter, Studentin der dffb, Berlin

    Balthasar und Paraskevi Halbeisen, seine Eltern

    Agni, seine Schwester und ihr Freund Bodo, Wirtschaftsmathematiker

    Die Studenten der Filmhochschule dffb, Berlin:

    Ilena Halbeisen-Helmstedt, Regieklasse

    Jens Brockmann, Regieklasse

    Valentin la Motte, Regieklasse

    Nicole (Niki), Produktionsklasse

    Mark, Kameraklasse

    Inge Stoll, Kameraklasse

    Personen im Umkreis von Isabelle Montclaire:

    Isabelle Montclaire, französische Filmregisseurin

    Otto Ledermann, Dokumentarfilmer und Direktor der dffb, Berlin

    Horst Blinker, Berliner Filmregisseur

    Véronique Montclaire aus Couiza. Mutter von Isabelle Montclaire

    Eddie Rhôner, Filmregisseur aus Paris. Mentor von Isabelle Montclaire

    Alain, Arzt. Jugendliebe von Isabelle Montclaire

    Die Burggesellschaft um Attila Haug:

    Dr. Attila Haug, Arzt und Leiter der Burggesellschaft und ihrer Klinik

    Erich von Gunten, Industrieller und Unterstützer Haugs

    Schwester Soeur Bérénice, Mitarbeiterin von Dr.Haug

    Drei Jungmediziner, freie Mitarbeiter in Haugs Klinik

    Margrith Bärlocher-von Sury, Schülerin von Dr.Haug

    Ihre Tante Franziska und ihr Onkel Georg

    Frau Mangold, Sekretärin der Burggesellschaft

    Sundlach und Dreiländereck. Im Umkreis der Burggesellschaft:

    Professor Gustavo Santi, Kriegsreporter

    Ruedi Kuster, Filmtechniker und Erfinder

    Reto Andrea Savoldelli, Freund von Halbeisen, Schriftsteller

    Halbeisens Musikerkollegen Thierry, Alain und Claude.

    Südfrankreich. Die Personen des Mittelalters:

    Raymond-Roger de Nirveille, Comte d‘Arques

    Alaïs de Nirveille, seine Frau

    Arnaude und Esclarmonde, ihre Töchter

    Meister Wolfram, Sänger des Parzival, christlicher Eingeweihter

    Wittich, ein Junker aus Schwaben

    Gernot, sein Knappe

    Pater Pius, Dominikaner

    Arsinoë von Foix und Toulouse, Herzogin

    Halbeisens Schutzengel und die Geister

    des Zusammenklangs karmischer Willensimpulse

    Das Erste

    In der Abenddämmerung eines milden Januartages des Jahres 1992 fuhr Professor Santi in seinem rostzerfressenen Pickup zum Nussbaum hoch. Er hievte Tisch und Stuhl, Filmprojektor und Leinwand von der Ladebrücke und richtete alles für die Vorführung ein. Die Leinwand spannte er wie gewöhnlich zwischen die untersten dicken Äste, den altertümlichen Filmprojektor klemmte er an die Autobatterie. Santi war vorgestern erst von Tiflis nach Zürich zurückgekehrt. Als ein Filmjournalist, der in vielen Kriegsgebieten seine Erfahrungen gesammelt hatte, verfügte er über das nötige Outdoor-Equipment.

    Den meisten Menschen seiner schweizerischen Umgebung blieb Professor Santi unverständlich. Sein Vater, ein Autoverkäufer aus Milano, begegnete seiner schweizerischen Mutter in den Gallerien Vittoria Emanuele neben dem Duomo. Dort sass sie in einer Caffeteria mit einer Arbeitskollegin, als er sie erblickte. Bald darauf verkaufte er Alfaromeos und Bugattis in Winterthur, wo ihr Sohn Gustavo Santi schon bald zur Welt kommen sollte.

    Obwohl Santi sein Professorentitel in gewissen Augenblicken jenen Respekt verschaffte, ohne den kaum ein Mensch auskommt, machte er davon wie von Geld zweifelhafter Währung nur im Notfall Gebrauch. Die Geschichte, wie er Professor wurde, ist diese: 1959 hatte er als Kameramann ein Praktikum beim schweizerischen Fernsehen abgeschlossen und gleichzeitig die Zusicherung einer Festanstellung erhalten. Und was damals für ihn das wichtigste war: Er nannte seit kurzem eine 16mm Bolex-Filmkamera und das neueste Nagra-Reportertonbandgerät sein eigen. Sein Vater, der in letzter Zeit viele Autos an seine spartüchtigen italienischen Landsleute verkauft hatte, hatte ihm das Geld dazu geschenkt. Als eine Art Investitionskredit.

    Bevor er mit seiner Arbeit als Fernsehreporter in Zürich beginnen sollte, wollte er sich jedoch eine Auszeit gönnen. Auf der später legendär gewordenen Hippie-Haschroute reiste er 1960 über Teheran nach Kabul, um über den Khyberpass nach Peschawar und danach an den Indus zu gelangen. Während seiner Reise filmte er ununterbrochen. Sein Englisch war gut genug, um kiffende Amerikaner und Islamisten im Hindukusch zu interviewen, die sich gegen König Sahir Shah zu organisieren begonnen hatten, wie auch kommunistische Agitatoren, die damals in den Städten aktiv wurden. Mehr als einmal half ihm dabei sein Personalausweis des schweizerischen Fernsehens. Das ging so lange gut, bis er eines Tages von Prinz Mohammed Daoud Pashtounyar Khan, dem Sohn des Königs, in einer Hotellounge in Jalalabad entdeckt wurde. Es war sein Equipment, das dem Prinzen ins Auge stach. Er hatte soeben in der neubegründeten Universität in Jalalabad zu studieren begonnen. Sein Page arrangierte ein Treffen zwischen ihm und bald fand sich Santi in der Rolle eines Dozenten der Universität wieder. Auf Drängen des Prinzen und einiger seiner Cousins und Freunde, die alle an dem Kurs teilzunehmen gedachten, hatte er in einen dreiwöchigen Einführungskurs in Kamera- und Tonaufnahmetechnik eingewilligt. Der Kurs kam sehr gut an und der Prinz hatte mit seinen Kumpels allen erdenklichen Spass. Einige erschienen am ersten Tag mit irgendwelchen Filmkameras, die ihnen ihre Eltern aus Europa mitgebracht hatten und die ihre Tücken bereits an den Tag legten, wenn es um das Einlegen der Filmrollen ging. Zum Abschluss händigte ihm der Prinz ein prachtvoll auf Persisch kalligraphiertes und ins Englische übersetztes Dokument aus. Darin ernannte der Rektor der Universität Gustavo Santi zu einem technical professor der Universität der Stadt Jalalabad. Deren Bevölkerung bestand in jener Zeit aus siebenundneunzig Prozent Analphabeten und der Vorgang, wie Santi Professor wurde, erschien ihm später als eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht.

    Doch war es nicht der Professorentitel, der bei Santis Nachbarn zu Hause für Missmut sorgte, sondern sein ungewöhnliches Verhalten, das sie an ihm beobachteten, obwohl er sich weiss Gott Mühe gab, nicht aufzufallen. So hatte er seit seiner Kindheit die Angewohnheit, mit seinem Nussbaum zu sprechen. Nicht etwa nur in Gedanken, nein, er tat es gerade heute wieder einmal mit wohlklingenden Worten. Er war nicht so verrückt, dass er sich nicht zuvor versichert hätte, dass niemand in der Nähe war. Übrigens, der mächtige Walnussbaum hiess Nathan.

    «Sei mir gegrüsst, Nathan! Du hast bemerkt, dass ich einige Wochen abwesend war. Ich habe mich im Auftrag der ARD in Georgien aufgehalten. Ich hatte den Auftrag, im Land einen Stimmungsbericht anderthalb Jahren nach den ersten demokratischen Wahlen herzustellen. Bei meinen Vorgesetzten gelte ich als Georgien-Experte, nachdem ich zuvor in Tiflis Gamsachurdia als erster europäischer Reporter nach seiner Ernennung zum Staatspräsidenten interviewen konnte. Ein kluger und mutiger Mann, der zuvor, als sein grosser Gegenspieler Schewardnadse noch KGB-Chef in Georgien war, wegen antikommunistischer Umtriebe einige Zeit seiner Verbannung in einem Arbeitslager im Nordkaukasus zugebracht hatte. Ich habe viele Politiker gesehen, die es ganz nach oben geschafft hatten. Entweder waren sie geduldig und raffiniert oder waghalsig und mit einfachsten Lösungen für alles mögliche unterwegs. Gamsachurdia war keines von beidem und dadurch erschien er mir leicht verwundbar. Seine zurückhaltende Art war mir sofort sympathisch, was ich jedoch für mich behielt. Doch diesmal war alles anders. Nathan, ich musste Hals über Kopf aus Tiflis fliehen!

    Mit Geld und mit Waffen lässt sich bei Menschen leider vieles, ja fast alles erreichen. Unter den Parolen von Freiheit und Gerechtigkeit kannst du damit sogar einen paramilitärischen Putsch gegen einen kurz zuvor in freien Wahlen mit einer Mehrheit von siebenundachtzig Prozent gewählten Präsidenten organisieren. Sofern dies durch internationale Geheimdiplomatie zuvor abgesichert wird. Als es für mich in Tiflis zu gefährlich wurde, hat die ARD meinen Rückflug angeordnet. Ob Gamsachurdia lebend aus der Stadt herauskam, weiss ich nicht. Der Kreml hat in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft erfolglos versucht, die neue Regierung unter Druck zu setzen um sie zum Beitritt zur Gemeinschaft unabhängiger Staaten GUS zu bewegen. Solange Schewardnadse als Aussenminister der Sowjetunion im Rampenlicht der internationalen Beziehungen stand, konnte niemand dem Kreml verwehren, Georgien als abtrünnige Provinz zu betrachten, die für Russland nicht verloren gehen darf.

    Jetzt lass uns die Filmbilder noch einmal ansehen, bevor ich in die Dunkelheit des Montageraums abtauche. Ich hoffe deinen Kommentar zu hören, Nathan. Ich will mit meiner Reportage kein Öl ins Feuer giessen. Aber zu verstecken, was ich gesehen und gefilmt habe, - das geht auch nicht!»

    Santi zieht sich die Handschuhe aus um die Filmrolle in den Projektor einzufädeln. Nun rattert er los. Ein leerer Prunksaal wird sichtbar. Ein Endfünfziger mit ergrauten Schläfen steht vorne an einem Pult und spricht mit sanfter Stimme in die Kamera. Im pausenlosen Fluss seiner Rede gewinnt sie zunehmend an Eindringlichkeit.

    Santi: «Nathan, verstehst du, was er sagt? Gamsachurdia bat mich, seine letzte Fernsehansprache als Präsident aufzuzeichnen. Ausser georgisch spricht er deutsch, englisch, französisch und vermutlich auch Russisch. Die Leitung ins Fernsehstudio der Stadt stand damals noch. Die Parlamentarier hatten das Regierungsgebäude an der Rustaweli-Allee alle verlassen. So befand sich im grossen Parlamentsaal ausser uns beiden niemand mehr. Eine gespenstige Situation. Es war der dritte Januar. Während Gamsachurdia sprach, verteidigten die letzten, im Regierungssitz noch stationierten Soldaten das Parlamentsgebäude von den Balkonen herunter. Hier siehst du einige von ihnen vor mir, ich stehe hinter ihnen in Deckung. «Hier stürzt nach den andauernden Mörsereinschlägen eine Decke ein. Das war knapp! Hier befinden wir uns in einem der Kellertrakte. Dort, hinter der Leinwand, siehst du, findet eine Notoperation statt. Der Soldat wird sterben. - Hier auf der Bahre seine Leiche, die eingesargt wird und das da ist seine Familie. Keine Ahnung, wie diese Menschen ins Gebäude

    gekommen sind. Der orthodoxe Priester, - das Totenritual. Die schreiende Frau im Hintergrund ist die Ehefrau des gefallenen Soldaten.

    Für den sechsten Januar hatten die eingekesselten Regierungstruppen eine Offensive gegen die Putschisten geplant. Dafür standen noch dreihundert Gardisten und fünf Panzer bereit. Um weiteres Blutvergiessen zu vermeiden nahm Gamsachurdia in der Nacht zuvor den Befehl zurück und verliess selber durch einen versteckten Ausgang das Regierungsgebäude. Seinen Abzug habe ich leider verschlafen.

    Doch sieh hier, Eduard Schewardnadse auf dem Flughafen in Tiflis. Immer wieder wurde er in Tiflis gesehen. Die Putschistenführer würden keine Chance haben, ihre Machtergreifung von irgendeinem Staat sanktioniert zu sehen, wenn Schewardnadse nicht mit im Boot sässe. Er garantiert, dass die kaukasische Variante, durch einen Putsch die Demokratie zu sichern, vom westlichen Bündnis abgesegnet wird.

    Gut möglich, dass Schewardnadse in Moskau zuvor den Umsturz mit vorbereitet hat. Für meine Vermutung habe ich keinen direkten Beweis, worüber ich nicht traurig bin. Denn dies hätte meine Lage nur erschwert. Doch weiss ich, dass Gamsachurdia dem Schewardnadse schon früher ein Dorn im Auge war.

    Hier eine Aufnahme von Gamsachurdia, wie er 1978 vom amerikanischen Kongress für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird. Da lag er für die amerikanische Politik noch im Trend. - Das eine Aufnahme von James Baker, dem amerikanischen Aussenminister, der bestimmt von der politischen Rückkehr Schewardnadses nach Georgien angetan war. Demokratie hin oder her. Genauso wie sein deutscher Kollege Genscher, der sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu weitgehendem Verständnis für die Sorgen des Kremls, dem die Felle davonzuschwimmen drohen, verpflichtet sieht.

    Verstehst du, Nathan! Der Westen mischt sich nicht ein, wenn sich die Russen in die Angelegenheiten der Nachbarvölker einmischen. Das ist die neue Nato-Doktrin, musst du wissen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Politik nur im Detail verwirrend, im Prinzip aber von geradezu primitiver Einfachheit ist.»

    Santi stellte mit einiger Anstrengung die notwendige Ruhe in sich her, in der er Nathan vernehmen konnte. Sein Denken liess die Lebensregungen des Nussbaumes von den weissen Wurzelspitzen, die sich unter der Erdkrume mit den Mineralien unterhielten, durch den Flüssigkeitsstrom unter der Rinde hinauf bis zu den Blattspreiten, die weit oben die Lichtluft tranken, alle gleichzeitig im Geiste wirksam sein. Dann verdrängte er mit einem Schlag das ganze Vorstellungsgemälde. Wie einen fetten Blattbüschelkranz des Löwenzahns riss er es aus seinem Denken, um sich allein auf das Kraftgebilde zu konzentrieren, in das sich der zuvor vergegenwärtigte Baumraum aufgelöst hatte. Das war sein erprobtes Mittel, um bald darauf die unverwechselbare Stimme des Baumgeistes zu vernehmen. Von allen Gestalten der als stumm geltenden Natur sprach bis heute nur dieser einzige Walnussbaum zu ihm.

    An einem warmen Sonntag Ende Mai hatte er ihn zum ersten Mal gehört. Er war damals noch ein Knabe und lag in der untersten grossen Astgabelung im Schatten. Seine Beine baumelten auf beiden Seiten der lebendigen Liege hinunter, während er selbst aufwärts in die hellgrüne Kuppel träumte. Die Strahlen des Lichtes waren damit beschäftigt, die Formkraft der Blattaugen und Triebspitzen in das Quellgewebe sich öffnender Knospen umzuschmieden. Wie von ferne drang das Gebimmel der Kuhglocken an sein Ohr. Er mochte neun Jahre alt gewesen sein. Es war nicht so, dass die Baumstimme etwa aus der Rinde drang. Und es waren auch keine eingesperrten Elfchen, die aus den noch weichen, grünen Nüssen flüsterten. Auch sonst wurde der Junge nicht von Hirngespinsten überwältigt. Ganz im Gegenteil.

    Zunächst sprach Nathan nicht und hatte auch noch keinen Namen. Der junge Gustavo fühlte sich von ihm nur beobachtet, wenn er aus dem Blätterdach zu ihm hinab sah. Ein grosser, ernster Baumhirte, der etwas von ihm zu wollen schien, was Santi weder als Knabe noch später als Jugendlicher verstehen konnte. Manchmal war er einfach da und schien bereits auf Gustavo zu warten, doch manchmal konnte er machen, was er wollte, der Baumgeist blieb unsichtbar. Es vergingen Jahre, bis Santi den Grund erkannte. In Nathans Obhut befand sich nicht nur Santis Walnussbaum, sondern er sorgte sich für alle Nussbäume in der Region. Allmählich gelang es Santi, ihn herbei zu rufen. Eines Tages stellte sich der Baumgeist selber mit Nathan vor.

    Seine Erlebnisse mit Nathan begründeten Santis Naturreligion und veränderten sein Vorstellen und Handeln so, dass sie immer mehr zu seinen eigenen wurden. Allein für seine Umgebung wurde er dadurch immer unverständlicher. Zuvor hatte es ihm an Mut zu einer Religion eigener Prägung gefehlt. Er hatte das getan und gewünscht, was von ihm, wie er jeweils dachte, erwartet würde oder ganz einfach das, was die anderen auch taten und erstrebten. Wenn nun aber in den Erscheinungen der Natur geistige Wesen tätig sind, so wird das im Menschenreich nicht anders ein, sagte er sich. Er hatte den Erlebnissen und Erkenntnissen, die er im Gespräch mit Nathan gewann, den Vorzug vor seinen angelesenen Kenntnissen über Gasstoffwechsel, Biosynthese, Lipide und die nussspezfischen Gerbsäuren gegeben. Dasjenige, worüber die botanischen Erkenntnisse Aufschluss gaben, war für ihn allmählich immer unwirklicher geworden.

    Um auf Nathan zurückzukommen: Er warf Santi tatsächlich vor, dass er in Georgien keine Bäume gefilmt habe. Wenigstens auf seine mächtigen Verwandten im botanischen Garten von Tiflis - im neunzehnten Jahrhundert von einem Deutschen angepflanzt - hätte er sein Objektiv richten können. Er habe ihn doch schon früher gebeten, dass er zwischen die Bilder der Zerstörung mächtige Bäume schneiden solle. Es gibt nur ein Leben, wiederholte er immer wieder. Es ist für alle lebende Wesen dasselbe. Wenn sich Menschen damit trösten, dass jeder Krieg vorübergeht, sollten sie wissen, dass dies mit der geistigen Trägheit und der seelischen Gleichgültigkeit, die ihn nicht verhindern konnte, nicht der Fall ist. Die Menschen sollten sich angesichts der Unschuld von Bäumen, die keine Kriege führen, zu schämen erlauben. Und bevor sich die Menschen nicht bis in die Haarwurzeln über alles, was Kriege für Mensch und Natur bedeuten, schämen könnten, würden sie immer wieder ausbrechen. Wie Geschwüre.

    Die um Objektivität bemühte Information über einen Kriegsverlauf sei eine soziale Krankheit mehr. Sie befördere die passive Abstumpfung und die Selbsttröstung, dass man für diesen Krieg keine Verantwortung trage und den Betroffenen ohnehin nicht helfen könne, auch wenn sich einige des Mitleids nicht entwöhnt haben. Aus seiner Perspektive hatte Nathan natürlich Recht. Seine bäumigen Antworten verband er abschliessend immer mit dem Hinweis, darüber im Grunde nichts zu verstehen. Er schien sich, im Unterschied zu Menschen, der Grenzen seiner Weisheit sehr bewusst zu sein.

    Anstelle der Soldaten, die von den Ladeflächen der Militärlastwagen mit ihren Kalaschnikows in den Armen hinunter grinsten, hätte Santi im umstrittenen Kriegsgebiet besser die still ragenden Bäume gefilmt. Santi hatte vor Ort Nathans Ratschlag ganz einfach vergessen. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Waldgebiete, durch die ihn sein Fahrer gelotst hatte. Dabei hatte er für einige Stunden die zunehmende Gewalt im Lande vollkommen vergessen. Was Redaktoren der ARD über kaukasische Waldaufnahmen inmitten einer Kriegsreportage sagen würden, schien Nathan nicht zu interessieren.

    Und dann sprach Nathan vom Sohn eines Falken. Santi solle ihn nur am Rande erwähnen, ihn auf keinen Fall als Sympathisanten des Putsches oder gar als seinen Drahtzieher zur Sprache bringen. Sonst hätte sein Film überhaupt keine Chance, von irgend einem Sender ausgestrahlt zu werden. Er müsse ihn wohl nicht an seine Dokumentation über den Flugzeugabsturz des UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld erinnern und was er damals erreicht habe. Nämlich rein gar nichts!

    Einmal mehr staunte Santi über Nathan. Wie konnte er wissen, dass der georgische Name von Schewardnadse, den man in seinem Lande Tetri Melia, weisser Fuchs, nannte, eigentlich Sohn eines Falken bedeutet!

    Er brauche Schewardnadse nicht anzugreifen, fuhr Nathan fort. Dieser werde ohnehin bald einmal vom Rad der Geschichte, das die Stimmungen der Massen bewege, auf ein Nebengeleise geschoben werden. Vieles von dem, was er im Hintergrund betrieben habe, werde später ohnehin ans Tageslicht kommen. Aber dazu könne ein unabhängiger und damit machtloser Fernsehjournalist aus der Schweiz keinen entscheidenden Beitrag leisten. Hingegen sei es wichtig, dass das Interesse an Gamsachurdia wach gehalten werde. Denn Gamsachurdia sei ein Baumfreund gewesen.

    Der Film war zu Ende. Die Leinwand leuchtete weiss im Geäst. In eine Wolldecke eingeschlagen sann Professor Santi nochmals den Bildeindrücken nach. Ohne zu zögern entschied er, welche Gesamttendenz der Schnitt seiner Georgienaufnahmen haben würde. Die Redaktionen konnten das Ergebnis akzeptieren oder es bleiben lassen. Andere Bilder oder einen anderen Kommentar würde er nicht zur Verfügung stellen. Denn diesmal lagen die Rechte bei ihm. Auf exklusive Aufnahmen wie die seinen würden sie alle scharf sein. Als Kommentar kämen nur die offiziellen Verlautbarungen in Frage, die in den Feuilletons als allgemein akzeptierter Interpretationscode für das georgische Schlamassel angeboten wurden. Er hatte schon genügend davon gesammelt: Aus dem russischen Fernsehen, aus BBC und CNN, den Printmedien, FAZ, Neue Zürcher, Süddeutsche. Diese verschwommenen Halbwahrheiten würde er über seine Putschistenbilder legen, und sie allein durch dazwischen geschnittene Interviews mit russischen und georgischen Kriminellen ergänzen. Angesichts sich grundlegend widersprechender Aussagen würde dies die Fassungslosigkeit beim Zuschauer auslösen, die sich Santi für diesmal erhoffte.

    Hunderte von russischen Gefängnisinsassen waren vorzeitig entlassen worden, um strafmildernd an der Rebellion gegen jenen verrückt gewordenen Diktator teilzunehmen. Die Interviews, in denen sie alles haarklein erläuterten, waren ihm gelungen, weil er sich als Journalist der englischen Kreml-News ausgegeben hatte. Diesen Blödsinn hatte ein Trupp schwadronierender Kämpfer tatsächlich geschluckt! Er musste nur schnell einen guten Übersetzer finden.

    Dann vor allem Nahaufnahmen! Mienen, Blicke, - Die Menschen sind nicht blöd!, war eine von Santis Selbstbeschwörungsformeln. Von Gamsachurdia, von Schewardnadse, vom amerikanischen Aussenminister Baker und vom amerikanischen Präsidenten. Die Kollegen von CNN hatten ihm bereits die benötigten fünfundvierzig Sekunden aus ihrem Interview mit Bush senior schriftlich zugebilligt, nachdem er ihnen in ihrem Hotel in Tiflis eine seiner Aufnahmen, die ihnen fehlte, in ihr Gerät überspielt hatte. Mehr brauchte er nicht. Die Redaktionen mussten nur noch den Bürokram erledigen und die gegenseitigen Nutzungsrechte abgelten.

    Man sieht den amerikanischen Präsidenten im Fernsehstudio. Der servile Gesprächspartner kommt auf das kaukasische Problem zu sprechen. Bush hat sich informiert. Am Nachmittag bekam er wie üblich die Unterlagen vom Auswärtigen Amt zugestellt. Er kennt nun den Unterschied zwischen Ossetien und Abchasien, er weiss, worum es im Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan so ungefähr geht. Auf jeden Fall weiss er, worum es Amerika in diesem Krieg geht. Und dann kommt das Gespräch auf Georgien und auf Gamsachurdia. Der Präsident: «Dieser Mann muss noch lernen, wie man seine politischen Äusserungen formuliert. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass er gegen den Strom schwimmt.» - Der Witz der 68-er, dass nur tote Fische mit dem Strom schwimmen, war im Oval Office inzwischen in Vergessenheit geraten. Damals hatte ein sehr lebendiger Präsident der USA als letzter versucht, gegen den Strom der hohen Politik zu schwimmen. Auch er hat mit seinem Leben dafür bezahlt.

    Professor Santi schaute über seinen Nussbaum hinweg zur Burg hinauf. Noch immer war ein Fenster erleuchtet. Es war das Arbeitszimmer von Doktor Attila Haug, der wie so oft auch nachts arbeitete. Nachdem er alles zusammengepackt hatte, deckte er mit einer Plane die Geräte ab und zurrte das Ganze über die gelbe Schaumgummimatratze fest, die er immer auf dem Pickup mitführte. Er knöpfte sich die Lederjacke bis unter das Kinn zu und hauchte in seine eiskalten Hände, bevor er sie in die Handschuhe schob. Schon bald schweiften die beiden Scheinwerfer seines Jeeps über die Wiesen hinunter ins Biederthal.

    So hat Nathan, der Baumhirte, wieder einmal Professor Santi dazu verholfen, sein inneres Gleichgewicht zu finden. Das soeben angebrochene neue Jahr fühlte sich verhalten hoffnungsvoll an. Noch war ihm verborgen, dass bald schon weitere Enttäuschungen auf ihn warteten. Im Sommer wird er sich eingestehen müssen, einmal mehr auf einem Berg Schul-den zu sitzen, nachdem er keinen der bedeutenden Sender dazu wird bewegen können, seine Georgienreportage zu übernehmen. Einzig einem österreichischen Sender wird die Ausstrahlung lächerliche achttausend Schillinge wert sein.

    Auf ein in versteckten Kanälen weitergereichtes Zeichen hin blieb die westliche Presse den Vorgängen in Tiflis gegenüber abwartend desinteressiert. Zu weit weg! So wie man dort recherchieren kann: Wer weiss da schon genau, was wirklich abläuft! - So klangen die Antworten und: Mal sehen, wie sich das entwickelt. - Santis Dokumentation war in seinem wenn auch unartikulierten Unterton zu anklägerisch. Sie forderte von den westlichen Missionaren für Demokratie und Marktwirtschaft eine Untersuchung des Putsches und als Konsequenz die Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof förmlich heraus. Doch vernahm Santi aus den Chefetagen nur abwiegelnde Äusserungen. Der Gang der grossen Geschichte lief in eine andere Richtung.

    Dafür erzwangen in den kommenden Jahren die Jugoslawienkriege, die soeben angezettelt wurden, die Hauptaufmerksamkeit. Bereits das übernächste Weihnachtsfest würde Professor Santi in Sarajewo feiern müssen. In den Gesellschaftsräumen einer Kaserne der UN-Schutztruppen, zusammen mit norwegischen und holländischen Soldaten.

    Bei diesem seinem nächsten Auslandsaufenthalt wird er gut bezahlt werden. Eingebettet als Kameramann in ein Viererteam, das im Auftrag des deutschen ZDF unterwegs sein wird. Den Einsatz, der zwei Monate länger als geplant dauern wird - der Flughafen Sarajewos wird von den bosnischen Serben besetzt sein - wird er der Auslandkorrespondentin und Redaktionsleiterin Sybille Helmstedt zu verdanken haben. Santi kennt Frau Helmstedt aus seiner Berliner Zeit, in der sie ihn wiederholt zur Durchführung von Kursen für in Ausbildung stehende Kriegsreporter über-redet hatte. Wie er in Erfahrung bringen konnte, ist sie nach ihrer Heirat vor einigen Jahren in die Schweiz umgezogen. Dennoch vermochte sie sich im Vorstand des 1989 neu begründeten deutschen Presseverbandes zu halten. Eine Powerfrau eben, die von Santi im Stillen bewundert wurde.

    Das Zweite

    Wir schreiben den Juni 2002 und die Welt steht in Aufruhr. Seit jenem denkwürdigen Januartag hat die Erde zehn weitere Male die Sonne umrundet. Der mit missionarischem Inbrunst geführte Krieg gegen den internationalen Terrorismus, wie er auf der einen Seite heisst, oder gegen den amerikanischen Kolonialismus und die Zerstörung der religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit in islamischen Gesellschaften ist bereits voll im Gang. Die strategischen Eckpfeiler waren lange vor der Jahrtausendwende durch die Hintermänner der hohen Politik beschlossen worden und wurden nach der mysteriösen Zerstörung der Zwillingstürme in New York von den Kongressabgeordneten in kollektiv getrübter Bewusstseinsverfassung demokratisch abgesegnet.

    Seit 1995 ist Eduard Schewardnadse Georgiens neugewählter Staatspräsident. Seine Verantwortung formulierte er vor den willkürlich angesetzten Neuwahlen so: «Ich weiss, dass ich nicht legitimiert bin, das Amt des Staatschefs zu übernehmen. Aber ich bin mir sicher, dass nur ich Georgien aus Chaos und Krise herausholen und zur Demokratie führen kann.» - Im letzten Winter wurde er als Staatspräsident in einem Amt bestätigt, das er de facto auch ungewählt zuvor bereits inne hatte. Bei der letzten Wahl hat er ihre Ergebnisse mit wenig wählerischen Mitteln zu seinen Gunsten verbessern lassen. Nach endlosen Demonstrationen und der Besetzung des Regierungsgebäudes durch Tausende von aufgebrachten Bürgern - schon wieder das Regierungsgebäude an der Rustaweli-Allee - sah er sich zum Rücktritt gezwungen. Diesmal war der Druck von der Strasse von seinen eigenen politischen Zöglingen organisiert worden. Der unblutige Machtwechsel ist als Rosenrevolution als eine Erzählform georgischer Geschich-te eingegangen.

    Die neue Regierung hat daraufhin eine Untersuchung des gewaltsamen Todes von Swiad Gamsachurdia angeordnet, die, solange Schewardnadse lebt, zu keinen gesicherten Ergebnissen gelangen wird. Seine Kinder blieben auch nach Papas Sturz auf veritablen Rosen gebettet. Die Tochter als Leiterin des staatlichen Fernsehens, der Sohn als Leiter von Unesco in Georgien. Und Eduard Schewardnadse? Er wurde zum offiziellen Berater des UNO-Generalsekretärs degradiert.

    Überdies wäre der Umstand nachzutragen, dass die Bewohner der bereits erwähnten, von Doktor Haug geleiteten Burg von ihrer erhöhten Position aus sich in der bevorzugten Lage befanden, die in der hysterisch gefeierten Milleniumswendfeier losgeschossenen Leuchtpetarden über dem Baseler Rheinknie zu verfolgen. Was sie auch bis weit über Mitternacht hinaus taten, bis sie der unaufhörlichen Wiederholung desselben müde wurden und zu Bett gingen.

    Wie eh und je stand ihr Gemäuer auf dem bewaldeten Kalkgrat, der zu einer der Juraketten gehört, welche die Schweiz von Frankreich trennt. Ein steil ansteigender Weg mit einem im Fels montierten Handlauf führt vom Brunnen des Dorfes Burg im Leimental hinauf zum Tor, durch das man die Burganlage betritt. Heute besteht sie aus drei Wohnhäusern, die auf steiler Zinne aufgereiht in die nördliche Weite blicken, aus einem Glockenturm sowie aus einer mit dem Wohntrakt verbundenen Kapelle. Die Glasscheiben der Burgfenster blinken in den letzten Sonnenstrahlen zu Santi hinunter, während bei ihm unten im Tal Dämmerung bereits die Obstbaumwiesen einhüllt. Der grosse Erdschatten hat auch den mächtigen Nussbaum bereits erreicht, an dem sich Santi einmal mehr zu schaffen macht. Leicht erhöht steht der Baum auf einem Buckel des Erdbodens, der einstmals wie ein schwerer Teppich zurechtgeschüttelt worden war und danach, so wie er fiel, für die Zeiträume geologisch zuverlässigerer Erdzustände liegen blieb.

    Die Menschen in den wenigen Häusern des abgelegenen Grenzortes wissen nicht recht, was sie von den Bewohnern der Burg halten sollen. Insbesondere die neu im Dorf Angesiedelten rätseln, was es mit ihnen auf sich habe. Einige haben in Erfahrung gebracht, dass die Häuser der Burganlage einer Allgemeinen Burggesellschaft für Koordination und Prävention gehören. Doch da sie daraus ebenso wenig schlau werden wie ihre seit Generationen ansässigen Nachbarn, lenken sie ihre Gedanken bald einmal auf ergiebigere Gegenstände.

    Viele unter den Neureichen besitzen bequeme Villen mit weitreichendem Ausblick auf die zwischen Schwarzwald und Vogesen breit sich erstreckende Rheinebene. In ihren Gartenanlagen blinken Swimmingpools, wobei Einblick verwehrende Hecken keine profane Neidgefühle aufkommen lassen. Für ihre Besitzer wäre ein Leben in der Burg mit ihren hohen, schlecht beheizbaren Räumen ohne jeglichen modernem Komfort - einige meinten, die Feuchtigkeit stecke in allen Wänden und der Gips bröckle - ohnehin unvorstellbar. Der Anblick der Burg hatte etwas Bizarres: Die drei Wohnbauten sassen nah nebeneinander über den hoch aufragenden Kalkwänden und schienen wie brückenlose Zähne durch fragwürdige Lücken getrennt.

    Nun hat sich ein Eckfenster in einem der Wohntürme geöffnet. Zwei ältere Damen versuchen zu erkennen, was sich unter dem grossen Baum abspielen mag. Einige weisse, französische Kühe stehen auf der Wiese wie Holzspieltiere um den Nussbaum angeordnet. Jeden Abend suchen sie den erhöhten Standort als ihren bevorzugten Nachtlagerplatz auf. Doch sind es nicht allein Kühe, die eine der am Fenster stehenden Damen durch ihren Operngucker zu erspähen hofft.

    Am untersten Baumast lehnt eine Leiter. Über sie ist Santi bereits unter das sommerliche Blätterdach gerutscht. Er hält eine Filmkamera in der Hand, die er langsam den Einzelheiten der Baumgestalt entlang bewegt. Jetzt lässt er sich zu Boden fallen und setzt sich in eine trockene Mulde, die das Wurzelgeflecht gebildet hat.

    Obwohl für die Damen am Fenster nicht genau zu erkennen ist, was Santi tut, interessieren sie sich sehr für seine weit entfernte Gestalt. Die vordere reicht den Gucker der zweiten hinter ihr mit den Worten: «Lisbeth, chum go luege. Dr Santi redet wider mit sim Boum!»

    Lisbeth kann sich nicht lange des vergrösserten Anblicks erfreuen. Mit sanfter Bestimmtheit werden beide von einem vornehmen Herrn vom Fenster abgezogen. - «Meine Damen, ich bitte Sie! Das geht nun wirklich nicht!» - Erleichtert wie Kinder, deren Vergehen nur glimpflich bestraft wurde, verlassen die Frauen den Raum, während Doktor Haug das Fenster schliesst und die Vorhänge zieht.

    Santi hat sich in der Mulde zu Nathans Füssen sitzend soeben dazu entschlossen, in einigen Tagen nach Berlin zu reisen.

    Das Dritte

    Nun wird es endlich Zeit, dass ich Euch meinen Menschenschützling vorstelle. Soeben ist er den Falten meines Seelengewandes, in die ich ihn jede Nacht hülle, entglitten. Einmal mehr verkörpert er sich im Erdenleib, wie er es, solange er lebt, nach jedem Schlafe tun wird. Seitdem die grossen Götter Tag und Nacht geschieden haben, bedarf er wie jeder Mensch jener tagtäglichen, sinnengebundenen Verengung des Bewusstseins. Was für ihn ein Tageslauf ist, bedeutet für mich ein Atemzug zwischen erwärmendem Erglimmen und kühlendem Erblassen.

    Jeden Morgen dringt seine Seele tiefer in den Leib ein. Im Verlauf des Lebens presst sie ihn förmlich aus und könnte sich dabei der Macht des Geistes bewusst werden, den Zerfall des Körpers zu überdauern. Die Gegenkraft, die seinen Leib in einigen Jahren sterben und zerfallen lässt, ist schon lange am Werk. Sie ist der Inbegriff der von Menschen vorgestellten Naturgesetze. Sie werden Herz und Gehirn, Leber und Lunge, Magen, Nieren, den ganzen Knochenbau und alles, was meinem Schützling seine sinnliche Gestalt verleiht, eines Tages den Kräften des Kosmos zurückgeben. Ich werde mich mit ihm dann mitverwandeln. Denn ich bleibe an seiner Seite.

    Diesen Morgen scheint es für meinen Menschen schwieriger als sonst zu sein, sich in seiner Sinnenwelt zurecht zu finden.

    «Was ist das hier, wo ich bin?», fragt es sich in Halbeisens aufhellendem Bewusstsein. Er liebt es, sich ohne Unterstützung seiner äusseren Sinne zurechtzufinden. Die Augen zu öffnen, würde die Poesie zerstören, die ihr Zelt hart am Abgrund zwischen Schlafen und Wachen aufstellt. Der physische Raum mit seinen Gegenständen und unter ihnen der eigene Leib, in dessen vorgefertigter Behausung sich seine Seele wiederum einzurichten beginnt und worin, wie die innerste der russischen Babuschkas, Hieronymus Halbeisen zu seinem irdischen Selbstempfinden erwacht.

    Seinen Rücken fühlt er wohlig dumpf in eine satt gepolsterte Ecke gedrückt, von der er weiss, dass ihre Oberfläche ledern ist und die Farbe der Rosskastanie besitzt. Er sieht die glänzenden harten Nüsse aus ihren wehrhaften grünen Panzern blinken. Sie passen gut zur edlen Couch, so wie sie auch zu Blinker, seinem Berliner Bekannten und Eigentümer jener Couch passen.

    Eine Türklingel muss ihn geweckt haben, denn sein Traum war damit zu Ende gegangen, dass ein ihm unbekannter Mann einen Wecker, der nicht funktionierte, voller Zorn an die Wand warf, was ihn in ein wiederholt schrilles Gepiepse versetzte. Inzwischen ist Halbeisen bereits verständig genug, um den Ursprung des Pieps-Pieps nicht im geträumten Wecker, sondern hinter seinem Rücken im Eingangsbereich des Blinkerschen Besitzes orten zu können.

    Er hört zuerst Schritte, dann Worte und fühlt einen kalten Lufthauch über seine Wange streifen. - «Da kommt ihre Unterschrift hin» und dann «Danke» und «Tschüss.» - Und für Hieronymus ist nun alles klar. Er erwacht auf dem Nachtlager, das sich in einer Ecke des Büros des Filmregisseurs Horst Blinker befindet, der ihm dort eine Couch zugewiesen hat. Die er benutzen darf, solange er eben in Berlin zu bleiben gedenkt.

    Hieronymus hat lang und tief geschlafen. Schwungvoll stellt er sich in die Vertikale. Die wie ein Blitz sich bildende Vorstellung, heute zurückzufahren, bekräftigt er mit zustimmendem Gefühl. Er freut sich auf den letzten Tag in der deutschen Hauptstadt. Und auch, dass er bald von Blinker loskommt. Er hört, wie sich die Glasschiebewand - pffft, pffft -, von alleine öffnet und wieder schliesst. Sie trennt Blinkers grosses Büro, das er gestern abend doch wirklich Headoffice genannt hat, von den sich anschliessenden Studioräumlichkeiten.

    «So, - gut geruht der Schwiizer!» und zu seinen beiden Mitarbeitern, die den Raum hinter ihm betreten haben: «Und da soll mal einer sagen, dass die Post langsamer sei als UPS. Das muss die neue Sony sein!»

    Die letzte Nacht hat Hieronymus in seinen Kleidern geschlafen. Das Gespräch mit Blinker hatte ihm ziemlich zugesetzt. Sein Gesprächspartner hingegen muss sich nach einigen Gläsern Rotwein sehr wohl gefühlt haben. Zu wohl, als dass sich Hieronymus zu angemessener Stunde einfach hätte zurückziehen können. Wohin auch, wenn er in dessen Büro schlief. Einem Gast, dem er das Hotel erspart hatte, auch noch seine Ruhe zu gönnen, überstieg entschieden Blinkers Vorstellungsvermögen.

    Hieronymus müht sich nun mit dem Überstreifen seiner Schuhe ab, die er unter dem Glastisch hervor fischt. Sein Blick schweift über die mit Zeitschriften und Büchern, mit welken Vasenblumen, Essensresten und mit einer ganzen Anzahl von Fernbedienungsapparaten belegten Tischoberfläche. Dabei fällt sein Blick auf ein Buch, das er gestern nicht beachtet hat: The Cathars and Reincarnation. Er zieht es näher an sich heran.

    «Ja, schau es dir ruhig an, mein Lieber. Auf der Grundlage dieses Buches soll ich einen Spielfilm über Reinkarnation drehen. Blöd so etwas, warum komm ich erst jetzt darauf zu sprechen! Kennst du vielleicht einen Doktor Haug, Attila Haug?» - Hieronymus murmelt eine Verneinung. «Der wohnt irgendwo bei dir unten im Dreiländereck. Also dieser Haug will den Film produzieren. Und die Finanzierung sei bereits gesichert, behauptet er wenigstens. Ein gefundenes Fressen und ein gemachtes Nest! Das gibt es nicht alle Tage, Kollege!»

    Halbeisen hört nur mit halbem Ohr zu. Er hat soeben an etwas ganz anderes gedacht. In welcher Welt, mit welcher Leiblichkeit bewegen sich Menschen im Traum? - In gewöhnlichen Träumen empfinde ich mich jeweils wie ein verwischtes, kaum fühlbares Zentrum, wie eine halbbelebte Kamera mit einer geringen Dosis von Selbstbewusstsein. Doch habe ich mich auch schon im Traum von aussen gesehen. Und dabei gewusst, dass ich im Moment träume. Was für einen Leib hatte ich denn in einem solchen Moment? - Doch macht sich Halbeisen auch klar, dass er noch nie davon geträumt hat, sich im Traum von aussen dabei zuzusehen, wie er sich in einem Spiegel anschaut. Könnte man so etwas träumen, ohne dabei aufzuwachen?

    Blinker hat ihm die letzten Tage einfach zu viel erzählt. Hieronymus hat Mühe, ihm die geschuldete Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Er blickt auf die Bücherwand, die früher einmal wohl tatsächlich Bücher enthalten hat. Jetzt sind ihre Regale mit dicken Videokasetten und dünnen DVD's vollgestopft. Sein Blick schweift einmal mehr über die hinter Glas gehängten Bilder, auf grafisch aufgemotzte Fotos aus New Yorks Downtown. Vor einigen Jahren hatte er Horst einmal beleidigt, als er ihnen gegenüber von Freejazz-Kitsch für Küchendesigner gesprochen hatte.

    «Das Drehbuch soll auf der Grundlage dieses Buches verfasst werden. Es enthält den Tatsachenbericht eines englischen Psychiaters, dem eine Patientin offenbart, dass sie sich aus einem früheren Leben kennen würden. Und zwar hätten sie damals als Ketzer in Südfrankreich gelebt - als Katharer, verstehst du. Von denen hast du sicher schon gehört?» - Blinker sagt das in einer Erwartungshaltung, die Hieronymus früher genervt hatte. Ihr zufolge war er das wandelnde Lexikon, wenn es um mystische und okkulte Dinge ging. Nun ja, mit den Katharern hatte er sich wirklich schon auseinandergesetzt, und so nickte er beiläufig.

    «Der Psychiater findet das Ganze zunächst Ballaballa, muss sich dann aber, durch eigene Recherchen dazu bewegt, von der Wahrheit der Mitteilungen seiner Patientin überzeugen lassen. Denn anders sind seine neuen Erkenntnisse nicht zu erklären.» - Da Blinker bei Hieronymus keine Reaktion ausmachen kann, macht er mal so weiter, wie er begonnen hat.

    «Naja, was immer man davon halten will, eine Superstory könnte es allemal werden. Bedenke doch: eine Liebesgeschichte über Jahrhunderte hinweg, Sex und Sekten, Verrat und Märtyrertum, diabolische Inquisitoren, Blut und Folter, alles, was es für einen spannenden Plot braucht. Und natürlich Scheiterhaufen! Diese Katharer sind hip wie nie zuvor! Ich habe mich in Südfrankreich selbst davon überzeugen können. Weit populärer als zum Beispiel die französische Fussballnationalmannschaft, wenn man sich das überhaupt vorstellen kann!» - Halbeisen konnte und so warf Blinker seinen dicksten Köder aus: «Mann, deine früheren, du entschuldigst, Hokuspokus-Themen werden immer beliebter. Die Story gehört ganz entschieden in dein Ressort. Hören Sie jetzt einmal genau hin, Herr Halbeisen, was ich Ihnen anbieten will: Ich überlasse dir das Drehbuchschreiben. Fünfzehn Tausend bekommst du sofort, nochmals fünfzehn Tausend bei Ablieferung. Euro, nicht Fränkli. In diesem Buch ist doch schon alles drin, du musst es nur dramaturgisch auffädeln. - Ich könnte es auch von irgend jemanden schreiben lassen, es gibt in Berlin genügend smarte Schreiberlinge. Doch warum sollte ich, wenn ich schon einen Experten für Okkultismus beherberge. Ich selbst bin noch einige Monate mit meinem finnisch-israelischen Filmprojekt beschäftigt, ich schaff das nicht auch noch. Und all die Stunden vor dem Computer, nee. - Also, Hiero, alter Knabe, was meinst du! - Für dich ist es keine grosse Sache, daraus eine spannende Story zu drechseln, die für die Kamera taugt und die so rattenscharf ist, dass wir eine grosse Werbesumme einsparen können, wenn es dir gelingen könnte, den Klerus zu einer Stellungnahme zu reizen. - Und nebenbei fände ich es als Pflege unserer Freundschaft echt toll, wieder einmal ein Ding mit dir zu drehen.» - Blinker liebte die Doppelbedeutung dieses Ausdrucks, den er oft verwendete. Im übrigen erinnerte sich Hieronymus nicht, dass sie je etwas schon zusammen gedreht hätten.

    Horst Blinker ist während dessen an den sitzenden Halbeisen herangetreten und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. Wahllos beginnt Hieroynmus Halbeisen in dem Buch, das er bereits in Händen hält, zu blättern. Er liest: «Tom is the one I am in love now, and we could be happy, if we married. But deep in my heart I am still full of love for that man in my dreams. I feel I belong to him and to no one else.»

    «Heisst das, dass die Liebe zu einem längst Verstorbenen alles überschattet? Dass die Frau in ihrem gegenwärtigen Leben jedes mal, wenn sie sich verliebt, dies als einen Treuebruch empfindet?» - Blinker: «Ja genau. Also ich denke schon, dass es das heissen könnte. Wir hätten es mit einem Verständnis für eheliche Treue zu tun, die katholischer ist, als der Papst erlaubt. Ich meine, sie führt auch zu Schwierigkeiten bei der Sicherung des Nachwuchses. Also, so genau habe ich das alles noch nicht gelesen. Aber wenn du sagst, dass es da drin steht, dann wird es sicher so sein. Und mit dem ersten Satz, den du liest, lieferst du ein weiteres cooles Motiv, an das ich selbst noch gar nicht gedacht habe!»

    Blinker hatte wirklich keine Ahnung. Hieronymus bindet sich den zweiten Schuh zu, wobei er sich unter das Glastischchen bücken muss. - «Daraus könnte schon was werden, Horst. Ich würde es an deiner Stelle machen, wenn du kannst.» - «Ich würde es machen, wenn du kannst! Das ist wieder mal original Halbeisen. Mann, du sollst es machen, du! Nicht ich. Also, wenn du Bedenkzeit brauchst, so geht das in Ordnung. Doch überlege nicht zu lange. Die Sache eilt, und du kannst dir vorstellen, dass es in Berlin nicht wenige gibt, die für den genannten Betrag sich ein verdammt gutes Drehbuch aus den Fingern saugen würden.»

    Hieronymus unterdrückt seinen Seufzer nicht gänzlich. Dabei greift er sich seinen bereits gepackten Reisekoffer und macht Anstalten, sich zu verabschieden. Mit gedrückter Stimme schiebt er die erwartete Erklärung doch noch nach: «Wie oft muss ich eigentlich wiederholen, dass alles, was mit der Filmerei zu tun hat, für mich passé ist!»

    Blinker schreitet eilig hinter die Theke zu seiner schicken Sanfreddo- Espressomaschine, die in ihrem Chromgefunkel eine Zierde für jede mittelgrosse italienische Bar abgeben würde. Er will einfach nicht gehört haben, was er einmal mehr von Hieronymus vernommen hat. Denn so etwas kann nur ein vorübergehend Verwirrter sagen. - «Ich weiss ja nicht, wo du deine Kohle hernimmst, und es geht mich auch nichts an. Nur, falscher Stolz ist hier wirklich fehl am Platze. Verstehst du denn nicht, dass das eine Supergelegenheit ist, lustvoll dreissig Riesen abzuräumen. So wie ich dich kenne, bin ich mir sicher, dass dir das Spass machen würde. - Ich will dir doch nur helfen, Mann!»

    Als Blinker bei der Kaffeemaschine steht, nutzt Halbeisen die Gelegenheit, Blinkers Mitarbeiter, den Kamera- und den Tonmann, zu beobachten. Sie sind damit beschäftigt, den Inhalt der eingetroffenen Kartons zu begutachten: eine professionelle HD-Kamera für gehobene Ansprüche, dazu Akkus, Aufladegerät, Mikros mit Tonangeln, drei Stative für verschiedene Zwecke, der ganze Kram eben. Nun durchquert Blinker den Raum mit zwei schwappenden Latte machiatos in den Händen. Der eine seiner Kumpels hat die neue Kamera bereits am Auge. Der andere trägt ihm ein Kabel hinterher. Halbeisen ignoriert die ihm hingestreckte Tasse, zieht vielmehr Blinker aus dem Gefahrenkreis.

    «Pass auf, du weisst doch, ein wandelnder Kameramann ist praktisch blind. Es wird eng hier. Es ist besser, ich verzieh mich jetzt mal.» - «Und der Kaffee?» - «Entschuldige, aber mir ist schon ohne schlecht.» - Blinker schnauzt verärgert seine Leute an: «Musste das jetzt sein!? Wieso geht ihr nicht hinten herum. Platz genug hat es doch, verdammt noch mal.»

    Hieronymus schliesst Blinker in die Arme. «Mach's gut, und nochmals, vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Und alles Gute für den Dreh in Finnland. Oder seid ihr zuerst in Hebron?» - «Nein, Finnland ist schon richtig. Und wenn du wieder mal Lust auf Berlin hast, anytime. Es war anregend wie immer, mit dir zu philosophieren. Und vergiss mein Angebot nicht. Ich höre von dir!»

    Draussen rollt bereits ein doppelstöckiger Stadtbus in die Haltebucht. Hieronymus beeilt sich, wuchtet den schweren Koffer in den Bus und nickt zum Abschied Blinker zu, der vor der offenen Haustür steht und das Anrollen abwartet, um nach finalem Handgruss wieder ins Innere des Hauses zu verschwinden. Während der Bus in Bewegung gerät, denkt Hieronymus bei sich: «Ihn in die Schweiz einzuladen habe ich mir gerade noch verkneifen können. Kommt eh nicht. Bringt ja nichts.»

    In wenigen Tagen wird sich Blinker gezwungen sehen, in die Schweiz aufzubrechen. Doch damit hatte Halbeisen recht behalten: er kam nicht, um ihn zu besuchen.

    Das Vierte

    Auf der Freiluftterrasse der deutschen Film- und Fernsehakademie, der dffb am Potsdamer Platz, ganz oben, sitzt man zwischen Himmel und Erde bestens aufgehoben. Der Berliner Himmel blinkt gerastert durch die geschwungenen Verstrebungen des Glaszeltdaches, sechs Stockwerke weiter unten belastet schwarz-weiss parkettierter Marmor den kreisrunden Fussboden. Dazwischen ist Bauraum für die Videowelt: Geschäftsräume von Sony-Film, das deutsche Filmmuseum und das Filmarchiv, mehrere Kinos, Presseagenturen, die Filmhochschule und die Büros der Berlinale.

    Und wenn man Glück hat, entdeckt man, den Blick aufwärts gerichtet, die Putzequipe, welche sich aussen ans steile Dach gehängt hat und, durch Kletterseile miteinander vernetzt, mit nachgehakelten Wassereimern sich langsam der Zeltspitze aus Kunstglas nähert. Sie wird sie vor Arbeitsschluss um siebzehn Uhr sicherlich erreichen.

    Doch fällt, der natürlichen Trägheit folgend, der Blick von hier oben leichter abwärts in die Tiefe. Hinunter in das Menschengewimmel, deren ameisenkleinen Einzelwesen ihre rätselhaft vorbestimmten Wege um das Mittelbassin ziehen, das von Seitenfontänen im Sparbetrieb müde und vollkommen unhörbar beplätschert wird.

    Um fünfzehn Uhr sitzen an diesem exklusiven Ort vor ihren Capuccinos der Leiter der dffb Otto Ledermann und die französische Regisseurin Isabelle Montclaire auf zwei Alustapelstühlen. Das hölzerne Tischchen zwischen ihnen war vom Innenarchitekten einem Gartenmobiliarkatalog entnommen und in luftige Höhen hinauf beordert worden. Das Glasdach hat die Luft aufgeheizt und Herr Ledermann schwitzt. Der Pool im Erdgeschoss ist weit entfernt, die Empfindung einer nassen Erfrischung hochgradig virtuell. Zudem fehlt es an farbigen Sonnenschirmen, Blumenbeeten und, was Ledermann betrifft, an einem Grillstand. Madame Montclaire hingegen ist Vegetarierin und an sie richtet Herr Ledermann nun das Wort.

    «Nicht nur für die dffb ist es wichtig, dass Sie hier sind, Madame. Es ist auch wichtig für die Berlinale und für den deutschen Film insgesamt. Für mich sind Sie d i e Perle des europäischen Autorenfilms. Gut, einige meiner Kollegen behaupten, es gäbe den guten europäischen Autorenfilm nicht mehr. Aber das ist ihre Theorie, die mich nicht interessiert, denn solange es in der Praxis heisst: Ein Film von Isabelle Montclaire oder Otto Ledermann, solange haben die Filme erkennbare Autoren und Urheber, und

    dementsprechend gibt es auch Autorenfilme, Ende der Diskussion. Sie sehen das doch auch so?» - «Cher Monsieur Ledermann, Sie werden verstehen, dass ich nicht kann sehen, warum Sie mit mir sprechen wollen. Naturellement wir können sprechen über die Idee von Autor, der seine seelische und mentale Ebene reflektiert in die Film und über sein sozial Bedeutung, und über die Macht von Traumdroge Hollywood, über alles, was Sie wollen, nur ich muss vorher wissen, warum wir sitzen hier.»

    «Sie haben völlig recht, Madame. Zuerst wollte ich einfach zum Ausdruck bringen, dass die Berliner Filmhochschule es sehr schätzt, Sie zu ihren Dozenten zählen zu dürfen.» - «Mais c‘est assez claire, Sie wollten mich ja haben für die Kurse!» - «Und dann habe ich zum Ausdruck gebracht, dass diese Tatsache für die Filmlandschaft Deutschlands als solche wichtig ist. Ich hoffe, dass sich ein Weg finden lässt, wie Sie in den kommenden Jahren als Jurymitglied der Berlinale noch stärker als bisher in Berlin präsent sein können. Und, wenn es nach mir ginge, auch als Jurypräsidentin. Somit ist es sinnvoll, dass alles, worauf sich die Presse stürzen wird, mit ihrer Dozententätigkeit an der Berliner dffb in Verbindung gebracht werden kann. Dann erhalten sie gewissermassen einen Heimbonus. Nur sollten wir uns über die Zeitperspektive verabreden, die sie uns gewähren können, damit wir aufgrund einer konsolidierten Kontinuität unsere verschiedene Vorhaben in Ruhe umsetzen können.»

    «Eh bon - ich verstehe gar nicht alles ganz klar, Monsieur Ledermann, vor allem nicht, welche Vorhaben Sie haben vor mit mir.» - «Keine Angst, nur solche, über die wir bereits gesprochen haben, das gewissermassen Selbstverständliche! Wir sind doch alle froh über die Plattformen, die uns angeboten werden und die es uns erlauben, unsere Botschaften bekannt zu machen.» - «Qu‘est-ce que ça veut dire? Was wollen sie genau? Welch Botschaften, nom de Dieu!» - «Da ich weiss, wie kompliziert Ihre Terminplanung ist, ....» - «Non, non, nicht kompliziert, nur so wie bei allen: Entweder schon besetzt oder noch leer oder man kann umlegen oder nicht.» - «Genau, also gut, lassen Sie uns auf das kommende Schuljahr blicken, im Februar nach der Berlinale - könnten Sie da? Drei oder besser vier Wochen wären ideal, Sie würden im Oberkurs für die Regieklasse wie auch im allgemeinen Einsteigerkurs auftreten.»

    «Ich will nicht auftreten, ich will, comment dire, unterrichten ist nicht das richtige Wort, kommen in konkrete Kontakt, en anglais to exchange mit die Studenten. Sie haben sicher gehört, dass wir sind gestossen auf problèmes bei die Regieklasse, auf Widerstand. Résistance mit endlos Diskussion. Wir sollten abwarten die Resultate, bevor wir planen in die Zukunft, je pense.» - «Aber Madame, ich versichere Ihnen, das hat nichts zu bedeuten. Ich kenne meine Pappenheimer, die sind alle ganz harmlos, die benehmen sich bei neuen Professoren immer so. Ich weiss nicht genau, was sie sich dabei denken, es muss sich um einen altersbedingten, antiautoritären Reflex handeln. Wir waren in dieser Hinsicht früher um einiges schwieriger, vermute ich.

    Auf jeden Fall wird es ihnen eines Tages wieder bewusst werden, das versichere ich Ihnen, dass nicht sie die Verantwortung für die Auswahl der Dozenten tragen und dass wir schlussendlich ihre Leistungen aufgrund der Arbeiten und Aufgaben, die ihnen von eben jenen Dozenten gestellt werden, beurteilen. Und ein Diplom wollen die alle, da können Sie darauf wetten. Es gibt sogar einige unter ihnen, die wollen nichts anderes als das. Was ein Problem ist, weil es viel zu wenig ist. Aber, kommt Zeit, kommt Rat. Das kriegen wir in den Griff, da bin ich mir sicher. Auf jeden Fall darf dies nicht Ihre Sorge sein. Jetzt ist erst einmal wichtig: Könnten Sie im Februar?»

    Montclaire greift nach ihrer Agenda, die sie in ihrer grossen Lederhandtasche verwahrt. Da klingelt ihr Handy, das neben der Agenda liegt. «Oui, hallo?» - «Madame Montclaire? C‘est Blinker, Horst Blinker, vous souvenez vous?» - «Mais oui, naturellement. Aber wir können gut auch in Deutsch sprechen. Das ist sicher einfacher für Sie. Also, was Sie wünschen, Monsieur?» - «Perfekt, also hören Sie. Ich möchte Sie bitten, für mich ein Casting durchzuführen. Es handelt sich um eine Geschichte, die zum Teil in Südfrankreich spielt, weshalb ich sofort an Sie gedacht habe. Das Drehbuch ist im Entstehen begriffen. Sie haben doch eine Ilena Halbeisen in der Regieklasse der dffb? Ja? Ihr Vater Hieronymus Halbeisen schreibt das Drehbuch. Falls Sie ihn sehen sollten, so sagen Sie ihm bitte . . .»

    «Mais Horst, wenn es noch nicht gibt die Buch, so kann ich doch nicht gut machen le Postbote, ç‘est impossible! Je m'en vais justement dans le Sud de la France. In die Ferien. Rufen Sie mich doch im Herbst wieder an.» - «Das Drehbuch wird nach einem Bericht eines englischen Arztes geschrieben. Absolut spannend. Besser als jeder Krimi. Sie bekommen es von mir schon mal als Ferienlektüre an Ihre Adresse in den Pyrenäen zugesandt. Couiza stimmt doch noch immer, ja?» - «Oui, wenn Sie unbedingt wollen.» «Ich will auf jeden Fall, und im Herbst sehen wir weiter.» Und schon hatte Blinker aufgehängt.

    Madame Montclaire hatte sich in der Nähe des aalglatten Otto Ledermann zunehmend unwohl gefühlt. Und nun noch dieser Blinker, was hatte sein Telefonanruf eigentlich zu bedeuten? - Bereits am ersten Tag hatte sie Ilena Halbeisen, die Studentin in der Regieklasse, bemerkt. Dies nicht nur ihres eigenartigen Namens wegen, die Übersetzung lautete vermutlich Mademoiselle Demifer, sondern aufgrund einer unbegründbaren, unmittelbaren Vertrautheit, die sich im Umgang mit ihr eingestellt hatte. Isabelle Montclaire war erfahren im Lesen von Erstbegegnungen und deshalb insgeheim gespannt darauf, was sich weiter mit Frau Halbeisen entwickeln würde, ohne dass sie sich dies hätte anmerken lassen. Aber wieso wurde sie gerade von diesem Blinker auf Ilena Halbeisen verwiesen?

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1