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Alex und Alexandra: Das Haus in Thüringen
Alex und Alexandra: Das Haus in Thüringen
Alex und Alexandra: Das Haus in Thüringen
Ebook435 pages6 hours

Alex und Alexandra: Das Haus in Thüringen

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About this ebook

Ein spannender Roman/Krimi mit interessanten Ausflügen in die Vergangenheit in die Zeit der DDR und des 2. Weltkrieges. Die Thüringer Mundart und die Eigenheiten der Menschen werden amüsant beschrieben.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMar 13, 2014
ISBN9783847670162
Alex und Alexandra: Das Haus in Thüringen

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    Book preview

    Alex und Alexandra - Angela Rommeiß

    Kapitel 1

    Alle handelnden Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

    Jede Ähnlichkeit mit wirklichen Personen

    ist zufällig und nicht beabsichtigt.

    1

    Die alte Frau lag im Sterben.

    Sie wusste es, und ihre Tochter, die neben dem Klinikbett auf einem Stuhl saß, wusste es auch.

    Die Frau hielt die Hand ihrer Mutter und blickte ihr in das blasse, zerfurchte Gesicht. Dieses Gesicht, das sie so sehr liebte und das ihr von klein auf vertraut war wie ihre eigene Hand. So vertraut waren ihr diese feinen Gesichtszüge, dass ihr entgangen war, wie sie sich im Laufe der Jahre verändert hatten, mehr und mehr Falten bekamen und alt wurden.

    Als kleines Mädchen hatte ihr ein Blick in dieses Gesicht genügt, und die Welt verlor ihren Schrecken. Sei es, dass sie sich verlaufen hatte im Getümmel des Marktes, oder schaute sie nach ihr aus, wenn sie bei einer Schulaufführung in den Zuschauerraum blickte - alles war gut, wenn sie Muttis Gesicht in der Menge entdeckte.

    Die Tochter erinnerte sich an die Nächte ihrer Kindheit, in denen sie, von Albträumen geplagt, ins Bett ihrer Mutter kroch, um sich trösten zu lassen. Dicht an ihren Körper gedrückt, sodass sie ihren Herzschlag spürte, fühlte sie sich sicher vor Räubern und Gespenstern. Von unerklärlichen Ängsten geplagt hatte sie die Mutter gefragt: „Gell, Mutti, du stirbst nicht?"

    Und die Mutter hatte leise geantwortet: „Doch, ich sterbe auch mal. Aber das ist noch lange hin."

    Mit schwerem Herzen hatte das Kind gefragt: „Wie lange denn?"

    Die Mutter hatte ihr die Wange gestreichelt und mit dunkler, ruhiger Stimme geflüstert: „Ganz lange, ein ganzes Leben. Mach dir keine Sorgen, schlaf jetzt."

    Aber wie sollte man sich denn keine Sorgen machen, wenn man wusste, dass die Mutti einmal sterben würde? Wie sollte man denn da schlafen?

    Die Tochter erinnerte sich noch genau an dieses Gefühl längst vergangener Kindertage. Seltsamerweise hatte sie sich nie um den eigenen Tod Sorgen gemacht, aber der drohende Verlust der Mutter erschien ihr unerträglich.

    Die Jahre und die Kinderängste vergingen, und nun war es also doch soweit. Das ganze Leben, von dem ihre Mutter gesprochen hatte, war vorüber.

    Die Frau seufzte. „Ach, Mutti", dachte sie. „Ich hätte mich in den letzten Jahren mehr um dich kümmern sollen. Du hast doch nur mich. Aber ich habe dich viel zu selten besucht, dich nicht oft genug angerufen. Vielleicht hätte ich eher bemerkt, dass da etwas nicht stimmt, dass ein Krebsgeschwür in dir wuchert. Ich habe doch als Altenpflegerin einen Blick für so etwas, ich hätte es bestimmt gemerkt, wenn ich nur öfter zu dir gekommen wäre!

    Aber hätte ich das wirklich? Wahrscheinlich nicht. Fremde Leute schaut man anders an als die eigene Mutter, die man noch lange nicht als alte Frau empfindet. Du wusstest es ja, hast es nur niemandem gesagt. Dabei bist du doch noch nicht alt. Heutzutage ist sechzig nicht alt, die Leute werden fünfundachtzig und älter. Ach, Mutti."

    Auf einmal vermisste sie das Blinken und Surren der Geräte auf der Intensivstation, obwohl sie anfangs doch froh gewesen war, dass sie endlich Ruhe hatten. Aber die geschäftige Geräuschkulisse und das emsige Tun des Pflegepersonals hatten den Eindruck vermittelt, dass man noch etwas tun konnte, dass es nicht endgültig war...

    Ein sanfter Druck der alten Hand, die sie umklammert hatte, ließ die Frau aufschauen. Schnell zwinkerte sie die Tränen weg, die ihr immer wieder den Blick verschleierten. Mit wachen Augen schaute die Mutter ihre Tochter an.

    Die Augen waren immer das Schönste an ihr gewesen, diese großen, dunkelbraunen Augen. Sie waren auch fast das einzige, was sie ihrer Tochter vererbt hatte. Jedenfalls das einzige Äußerliche, denn im Charakter ähnelten sie sich sehr. Während aber die Mutter eine große, kräftige Frau war, war ihre Tochter eher zierlich und von kleinem Wuchs. Sie war sich neben ihrer Mutter immer winzig vorgekommen.

    „Meine kleine Elfe, hatte die Mutter sie oft genannt, oder „meine kleine Anna. Dabei hieß sie gar nicht Anna, sondern Alexandra. Aber Anna war ihr Kosename gewesen, seit sie denken konnte, und nur ihre Mutter nannte sie so.

    Wie sie da so klein und zusammengesunken im Krankenbett lag, sah die Mutter sich selbst gar nicht mehr ähnlich. Der Krebs hatte die Kraft und die Stärke aus dieser einst so lebensfrohen, resoluten Frau gesogen, sie sah aus wie eine leere Hülle ihres früheren Körpers.

    „Alexandra, versprich mir etwas!", flüsterte sie mühsam, ihre Stimme krächzte. Schnell griff die Tochter nach dem Wasserglas und hielt es ihrer Mutter an die spröden Lippen. Die alte Frau schluckte und seufzte. Dann sprach sie klarer.

    „Ich möchte, dass du dich um das Haus kümmerst. Meine Schwester hat es dir damals vermacht. Seitdem steht es leer. Ein Haus sollte nicht leer stehen, es stirbt dann."

    Alexandra war verblüfft. Wovon sprach ihre Mutter da? Sicherlich war sie verwirrt und phantasierte. Die Tochter streichelte die Hand der Kranken und antwortete sanft: „Ich habe doch kein Haus geerbt, Mutti. Und du… du hast doch gar keine Schwester."

    Die Mutter seufzte schwer. „Doch doch, ich hatte eine Schwester. Ich habe dir nie von ihr erzählt, weil... aber das ist jetzt auch egal. Sie ist ja gestorben, die Anna. War noch so jung!"

    Eine Träne rann aus ihrem Auge und tropfte auf das weiße Krankenhausnachthemd. Alexandra tätschelte die Hand ihrer Mutter und dachte: „Sie phantasiert. Ganz sicher tut sie das."

    Aber die Kranke sprach weiter, und es klang nicht so, als phantasiere sie.

    „Es ist mein Elternhaus. Nein, ich wollte nicht dort wohnen, das stimmt schon, und verkauft habe ich es auch nicht. Ich hätte mich darum kümmern sollen, aber ich konnte irgendwie nicht. Eigentlich hast auch du es geerbt und nicht ich. Vielleicht nicht offiziell, aber... Anna hat es mir oft gesagt: Alexandra soll alles bekommen, was ich habe. Und dann soll sie selber sehen ... Die Mutter richtete sich plötzlich auf und bat eindringlich: „Verkauf es nicht, Anna! Du musst es behalten, bitte!

    „Ja, ja natürlich, Mutti!" antwortete Alexandra hilflos. Wie sollte sie ihrer Mutter denn auf dem Sterbebett ein Versprechen verweigern, sei es auch noch so irrwitzig? Dieses Gespräch strengte die Kranke zu sehr an, sie sollte sich ausruhen.

    Als sie das Versprechen hatte, beruhigte sich die Mutter wieder ein wenig. Nach einer Weile sagte sie leise: „Es ist so viel Zeit vergangen seit damals. So viel Zeit… Man sagt ja, Zeit heilt alle Wunden. Aber nicht alle. Nicht alle, nein…" Sie sprach langsam und leise, mit langen Pausen zwischen den Sätzen. Ihre Tochter ließ sie reden und hielt ihre Hand.

    „Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest..."

    Alexandra horchte auf. Da war es wieder, dieses unausgesprochene Geheimnis. Sie wusste nicht, wann es begonnen hatte, aber schon seit sie in die Pubertät gekommen war, hatte ihre Mutter immer mal wieder solche Andeutungen gemacht. Sie hatte es ihr am Gesicht angesehen, dass es etwas Wichtiges war, aber immer hatte die Mutter einen Rückzieher gemacht und ihr nichts gesagt. Alexandra war sich einigermaßen sicher, dass es darum ging, wer ihr Vater war. Sie hatte ihn nie kennengelernt, niemand hatte das. Und wen man nicht kennt, den vermisst man auch nicht. Alexandra zumindest hatte ihn nie vermisst, ihr hatte die Mutter genügt. Sie hatte nur sie, keine sonstigen Verwandten. Keine Onkel und Tanten, keine Großeltern, keine Geschwister. Dass sie vielleicht doch eine Tante gehabt hatte, musste sie erst einmal verdauen. Das war also der Grund dafür gewesen, dass ihre Mutter sie immer Anna genannt hatte! Anscheinend hatte Alexandra ihre Mutter an ihre Schwester erinnern, vielleicht sah sie ihr sogar ähnlich. Sie beugte sich vor, um die schwache Stimme ihrer Mutter besser zu hören.

    „Es ist... es ist schwer zu verstehen. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll." Die Kranke stöhnte gequält.

    Alexandra streichelte ihrer Mutter die Wange, so wie sie selbst so oft von ihr getröstet worden war. „Sag es einfach, Mutti. Es wird dich erleichtern, und ich halte es schon aus. Ich halte ‘ne Menge aus, das weißt du doch. Ich bin wie du!"

    Die Mutter schaute ihre Tochter an, als sähe sie sie das erste Mal. Dann lächelte sie und nickte. Sie schien sich innerlich zu straffen und wirkte auf einmal sehr zufrieden.

    „Ja. Ja, du hast Recht. Du bist wie ich, und deshalb ist es auch nicht wichtig. Es ist ganz egal!"

    „Was ist egal?", fragt Alexandra verwirrt, aber ihre Mutter hatte schon die Augen geschlossen und schien wieder einzuschlummern. Sie stand unter starken Schmerzmitteln. Leicht frustriert lehnte sich die Frau wieder zurück. Dieses Geheimnis sollte wohl ein Geheimnis bleiben.

    Draußen begann der Tag zu dämmern. Ein Vogel fing an, sein Morgenlied zu trällern, ein zweiter fiel ein. Krankenschwestern gingen auf leisen Sohlen draußen auf dem Gang an ihrem Zimmer vorbei, schnaufend öffneten und schlossen sich die großen Glastüren am Ende des Ganges. Nebenan rauschte eine Toilettenspülung.

    Die durchwachten Nächte machten sich bemerkbar, Alexandra fielen die Augen zu, ihr Kopf sank zur Seite. Die Unwirklichkeit der Situation verschwamm in ihrem Kopf: Sie schlief in ihrem Bett, der Wecker hatte geklingelt, gleich würde sie aufstehen müssen! Nur noch ein paar Minuten...

    Alexandra schreckte auf. Ein Traum! Es war nur ein böser Traum gewesen! Die Sekunde der Erleichterung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Nein, es war kein Traum – ihre Mutter würde heute sterben. Warum konnte es denn kein böser Traum gewesen sein? Wieder spürte Alexandra, wie sich ihre Kehle zuschnürte, wie ihr die Tränen heiß in die Augen stiegen.

    Nach einem besorgten Blick auf ihre Mutter stand sie auf und ging zum Fenster. Draußen erwachte die Großstadt zum Leben. Eigentlich schlief sie nie, immer gab es Lichter, fuhren Autos und Busse, zuckten Blaulichter, hasteten Menschen durch die Straßen. Berlin war eine lebendige Stadt. Unten auf der Straße bewegten sich die ersten Besucher. Was wohl die Leute so früh hier wollten? Waren es Väter, die ihre Neugeborenen das erste Mal sehen wollten? Kamen besorgte Eltern, um ein krankes Kind zu besuchen und zu trösten? Kamen Leute mit Beschwerden hier in die Charité und sicherten sich einen Platz in den überfüllten Warteräumen? Vielleicht waren es auch Angestellte – Krankenschwestern, Ärzte, Putzfrauen – die zu ihrer Schicht erschienen? Egal – sie alle würden dieses Krankenhaus früher oder später wieder verlassen, so wie sie selbst auch.

    Aber ihre Mutter nicht.

    Sie nicht.

    Alexandra war noch nicht bereit, ihre Mutter zu verlieren. Sie war ihr fester Halt im Leben, ihre Vergangenheit. Wer sollte die Erinnerungen ihrer Kindheit mit ihr teilen, mit wem sollte sie über Episoden ihres Lebens reden, mit wem über lustige Begebenheiten lachen? Niemand kannte sie so gut wie ihre Mutter, niemand würde sie je so gut verstehen. Die Probleme, die sie mit Stefan hatte, die Sorgen mit der pubertierenden Tochter – immer verstand die Mutter ohne lange Erklärungen sofort ihre Sorgen, beruhigt sie, relativierte die Probleme und gab ihr mit ein paar wenigen, guten Ratschlägen ihr Selbstbewusstsein und innere Ruhe wieder. Wie sollte sie darauf verzichten? Mit wem konnte sie nun reden?

    Alexandra wurde von einer Welle des Selbstmitleids übermannt, für das sie sich selbst verachtete. Aber es half nichts, die Tränen strömten jetzt ungehemmt. Schluchzend sank sie auf ihrem Stuhl zusammen.

    Kurze Zeit später erwachte die Mutter erneut. Wieder war sie völlig klar und sprach leise, aber deutlich.

    „Alexandra, mein Schatz! Nein, weine nicht. Jeder hat seine Zeit, und meine ist um. Es ist nicht schlimm, ich bin müde. Ich hatte ein gutes Leben, und das verdanke ich dir. Du hast mein Leben reich gemacht. Wenn ich dich nicht gehabt hätte... Es ist so schön, dass ich dich haben durfte. Sie wollten es erst nicht erlauben, aber ich durfte dich haben..."

    Alexandra konnte sich keinen Reim darauf machen, was ihre Mutter da redete. Aber sie sagte nichts, sondern hörte nur zu.

    Die alte Frau sprach weiter, jetzt eindringlicher: „Kind, das Leben ist kostbar. Es vergeht viel zu schnell, deshalb vergeude es nicht. Gib dich nicht mit Dingen ab, die dich unglücklich machen, fühle dich nicht verantwortlich für jedermann. Man muss Dinge, die einem schaden, einfach hinter sich lassen und nicht mehr daran denken. Manchmal auch Menschen. Kümmere dich um dich selbst und um dein Kind, das ist das einzige, was zählt. Hörst du, vergeude keinen Tag! Ihr fest die Hand drückend, beschwor die alte Frau ihre Tochter nachdrücklich mit heiserer, vom nahenden Tod gezeichneten Stimme: „Vergeude keinen Tag deines Lebens, mein Schatz! Hörst du, keinen einzigen Tag!

    Alexandra konnte nur nicken, sie hatte eine Gänsehaut bekommen.

    Der Kopf der Mutter sank wieder in die Kissen, ihre Augen schlossen sich erneut, und dieses Mal öffnete sie sie nicht wieder. Sie schlief ein, und während draußen die Vögel die ersten Frühlingslieder sangen, tat das Herz von Adele Sebach seinen letzten Schlag.

    2

    „Aber ist das nicht seltsam? Sie hat gesagt, dass ich das Haus geerbt hätte. Nicht offiziell, aber meine Tante hätte es ihr ausdrücklich so gesagt: Alexandra soll alles bekommen, was ich habe. Und dass ich eine Tante hatte... ist das nicht verrückt?"

    Stefan ließ genervt die Zeitung sinken. „Wer weiß, ob das stimmt. Sie war ja schon ziemlich durch den Wind am Ende, das hast du selbst gesagt. Und ist das nicht scheißegal, wer den alten Kasten geerbt hat? Immerhin erbst du sowieso alles von deiner Mutter, also..." Er senkte den Blick wieder auf die Zeitung und demonstrierte damit, dass das Gesprächsthema damit für ihn beendet war.

    Alexandra war ärgerlich. Sie mochte es gar nicht, wenn ihr Mann Kraftausdrücke vor ihrer Tochter gebrauchte. Alex brachte selbst schon genug davon aus der Schule mit, sie sollte nicht denken, dass es normal war, so zu reden. Außerdem frustriert es sie, dass Stefan so wenig Anteil nahm. Sicher, er war im schwarzen Anzug bei der Beerdigung gewesen, er hatte die weinende Tochter und die schluchzende Ehefrau umarmt, hatte die Blumen bezahlt und die wenigen Trauergäste in die Gaststätte geführt, wo die Trauerfeier ihr Ende nahm. Und das war es dann auch für ihn: Das Ende. Die Schwiegermutter war tot und begraben und damit Schluss. Sie hatten die kleine Wohnung aufgelöst, alle Formalitäten erledigt und nun war die Sache ausgestanden. Jedenfalls für ihn.

    Alexandra aber hätte jetzt gerne jemanden zum Reden gehabt. Die unglaublichen Dinge, die sie auf dem Sterbebett von ihrer Mutter erfahren hatte, musste sie dringend mit jemandem besprechen. Aber es war lange her, dass sie sich mit Stefan über andere Dinge austauschen konnte als die alltäglichen Notwendigkeiten wie: „Das Klopapier ist alle, oder: „Wo sind meine dunkelblauen Jeans?

    Früher konnten sie stundenlang quatschen, sie diskutierten Filme oder politische Themen, redeten über ihre Probleme und was sie in der letzten Nacht geträumt hatten. Alexandra wusste gar nicht genau, wann das eigentlich aufgehört hatte und sich die Langeweile in ihre Ehe eingeschlichen hatte. Vielleicht, seitdem Stefan damals den angestrebten Chefposten in seiner Firma nicht bekommen hatte (man warf ihm Korruption vor, aber er war der festen Überzeugung, dass man ihn gemobbt hatte) und seither dem Alkohol mehr zusprach, als gut für ihn war. Um den Vorwürfen seiner Frau zu entgehen, denen er nichts entgegenzusetzen wusste, kam er oft gar nicht erst nach Hause und ging lieber mit ein paar Kumpels in die Kneipe. Seitdem redeten sie nicht mehr.

    Allerdings konnte Alexandra auch ganz gut mit ihrer Tochter quatschen. Das Mädchen war für sie immer eine Freundin gewesen. Freilich war sie seit etwa einem Jahr schwierig geworden. Die Pubertät, da konnte man nichts machen. Sie selbst wäre da auch so gewesen, hatte ihre Mutter gesagt, und sie solle eben abwarten und geduldig sein, irgendwann gehe diese Phase vorbei. Das war leichter gesagt als getan, zudem Alexandra Stefans wegen manchmal sehr dünnhäutig war. Manchmal war Alex wie früher, anschmiegsam und verständnisvoll, aber kurz darauf konnte sie patzig und überempfindlich sein und ihrer Mutter mit beleidigenden Worten zusetzen. Und so grübelte Alexandra eben alleine über die letzten Sätze ihrer Mutter nach, die ihr nicht aus dem Kopf gingen.

    Was hatte das nur zu bedeuten: Anna hätte oft gesagt, dass sie, Alexandra, das Haus bekommen sollte und auch sonst alles, was ihr gehörte. Das musste doch bedeuten, dass sie von Alexandra gewusst, sie vielleicht persönlich gekannt hatte, als sie noch klein gewesen war. Sehr klein, sonst müsste sie sich noch erinnern. Hatten die Schwestern später noch Kontakt zueinander gehabt? Warum hatte ihre Mutter ihr die Tante verschwiegen?

    Und die Worte: „Dann soll sie selber sehen." Was sollte sie denn selber sehen?

    Sie hatte sich beim Notar erkundigt: Das Haus war ein altes, heruntergekommenes Bauernhaus in einem Thüringer Dörfchen, welches nur knapp dreihundert Einwohner zählte. Allein in ihrem Wohnblock wohnten mehr Menschen als dort. Alexandra wusste zwar, dass ihre Mutter aus Thüringen stammte, man merkte es auch an ihrem Dialekt, aber sie selbst war nie dort gewesen.

    Was hatte ihre Mutter damit gemeint, als sie sagte, es sei so schön, dass sie sie haben durfte? Hatte man sie zur Abtreibung gedrängt? Wer konnte nur ihr Vater sein? Sicher ein Bursche aus dem Dorf, von dem sie ungewollt schwanger geworden war. Adele hatte ihrem Heimatdorf den Rücken gekehrt, hatte den Kontakt zu Eltern, Schwester und Jugendfreunden abgebrochen und war mit ihrem Kind in die Welt hinausgezogen. Dort hatte sie als alleinerziehende Mutter in vielen Großstädten gelebt, zum Schluss waren sie in Berlin gelandet.

    Alexandra war als Einzelkind aufgewachsen, ohne feste Bindung an einen Ort und an bestimmte Menschen. Wichtig war immer nur die Mutter gewesen, denn wo sie war, da war ihr Zuhause. Es hatte auch nur wenige Männer im Leben ihrer Mutter gegeben. Gelegentliche Affären, kurze Beziehungen, nichts Festes. Die Mutter suchte keine Bindung.

    Was mochte nur vorgefallen sein, dass eine liebevolle, warmherzige Frau wie Adele Sebach völlig mit ihrer gesamten Familie gebrochen und sogar ihrer Tochter deren Existenz verschwiegen hatte?

    Als Alexandra damals Stefan kennenlernte, stand ihre Mutter dem jungen Mann freundlich, aber distanziert gegenüber. Die beiden hatten keine Probleme miteinander gehabt, denn Stefan hielt es genauso. Als die Kleine geboren wurde, war ihre Großmutter sehr glücklich und entwickelte eine innige Beziehung zu dem Kind. Manchmal verwöhnte sie die Kleine zu sehr, aber auf die Einwände ihrer Tochter hin erwiderte die Oma nur, Großmütter hätten das Recht, ihre Enkelkinder zu verwöhnen und damit basta.

    Alexandra war ihr Leben bis vor kurzem als relativ unkompliziert und leicht überschaubar vorgekommen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie dieses Gefühl seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr.

    „Ich geh nochmal raus!, verkündete Alex, warf den DS, mit dem sie sich bis dahin beschäftigt hatte, auf den Tisch und verschwand. Alexandra blickte der Dreizehnjährigen besorgt hinterher und verkniff sich, hinter ihr herzurufen: „Zieh eine Jacke an!. Oder: „Komm vor zehn nach Hause!. Oder: „Pass auf dich auf, lass dich nicht mit Zuhältern und Drogenhändlern ein, geh mit keinem Jungen mit nach Hause, egal was er dir verspricht, lass dich nicht überfahren, vergewaltigen, entführen...

    Alexandra seufzte. Dieses Großstadtleben mochte etwas für Erwachsene sein, für Heranwachsende war es sicher nichts. Zumindest nichts für die Nerven ihrer Eltern.

    Stefan legte die Zeitung hin und stand ebenfalls auf. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich noch ein paar Stunden ins Fitnessstudio gehe?", meinte er leichthin und hatte dabei diesen beiläufigen Tonfall, dass bei Alexandra sofort alle Alarmglocken schrillten. Im vorigen Jahr, als er diese Affäre mit der blonden Studentin gehabt hatte, waren es Überstunden gewesen, und auch die hatte er seiner Frau mit demselben Tonfall mitgeteilt, den er anscheinend für sehr unauffällig hielt.

    „Fitnessstudio?, fragte sie lahm. „Ich dachte, wir schauen uns heute diesen Film an, den historischen, du weißt schon. Wolltest du den nicht sehen?

    Stefan schüttelte den Kopf. „Ach, guck du mal alleine. Kannst mir ja hinterher alles erzählen." Er tätschelte ihr freundlich die Schulter und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sie hörte ihn ein Liedchen pfeifen.

    Du wirst mir bestimmt nicht alles hinterher erzählen!, dachte Alexandra frustriert und gekränkt. „Zumindest nicht, was du wirklich gemacht hast.

    Stefan war Bauingenieur und arbeitete seit seinem unehrenhaften Rauswurf aus seinem alten Baubetrieb in einer kleineren Firma. Die Kollegen verstanden sich gut, so gut, dass sie sich auch abends gern auf ein Bier trafen. Es blieb bald nicht mehr beim Bier. Die erste Affäre hatte Stefan mit einer Kollegin gehabt. Seine Frau vertraute ihm, glaubte an seine erfundenen Dienstreisen und Überstunden. Doch eine ihrer Bekannten hatte Stefan und seine Freundin in der Stadt beim Verlassen eines Hotels gesehen, zu einem Zeitpunkt, zu dem er eigentlich zu Vermessungsarbeiten in Köln hätte sein sollen. Bei einer Aussprache kam alles heraus, Stefan machte mit der Kollegin Schluss, alles war wieder gut. Doch leider war er auf den Geschmack gekommen, seine Affären wurden immer jünger und häufiger, der Alkoholkonsum stieg. Und die Überstunden fingen wieder an. Schon oft hatte Alexandra unter Tränen mit Scheidung gedroht, wenn er wieder einmal sturzbetrunken und nach fremdem Parfüm riechend in den Morgenstunden nach Hause gekommen war. Sie machte ihm eine Szene, er schlief auf der Couch im Wohnzimmer - wie immer.

    Eine Weile herrschte dicke Luft und Alexandra war entschlossen, ihn zu verlassen. Ein paar Tage später fing er an zu schmeicheln und zu betteln, schwor ihr ewige Liebe und Besserung. Wenn Alexandra immer noch hart blieb, kamen die Selbstmorddrohungen und dieses „Ich-bin-ja-sowieso-nichts-wert"- Gestammel, das Alexandra verabscheute. Wenn auch das nichts half, wies er sie dezent darauf hin, dass sie finanziell von ihm abhängig war und sie ohne ihn kaum in der Lage wäre, mit ihrem schlecht bezahlten Job im Altenheim ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Und auch den von Alex nicht. Das Wohlergehen ihrer Tochter gab dann den Ausschlag, dass sie um des lieben Friedens willen einlenkte und ihm eine weitere Chance gab.

    Die er mit einer Regelmäßigkeit vergeigte, die wohl das einzig Zuverlässige an ihm war.

    Aber das Schlimmste, das Allerschlimmste an der ganzen Sache war, dass sie ihn immer noch liebte.

    Alexandra blieb starr und resigniert im Wohnzimmer vor dem schwarzen Fernseher auf dem Sofa sitzen. Als Stefan gegangen war, lauschte sie noch eine Weile dem Schall der zugefallenen Wohnungstür nach, dann begann sie zu weinen.

    Am nächsten Morgen, als Stefan zur Arbeit und Alex in die Schule gegangen waren, machte sich Alexandra über die Kartons her, die sie aus der Wohnung ihrer Mutter geholt hatte.

    Sie hatte heute Spätdienst, und das Sortieren der Hinterlassenschaften schien ihr am besten geeignet, sich von ihren Grübeleien über Stefans spätes Heimkommen am vergangenen Abend abzulenken. War da eine neue Affäre oder war da nichts? Stefan verstand es, sie mit Worten in Sicherheit zu wiegen, aber das schaffte er nur, weil sie ihm so gern glauben wollte. Warum konnte nicht einfach alles in Ordnung sein?

    Seufzend öffnete Alexandra einen der Pappkartons. Das meiste – Geschirr, Kleider, Möbel – war von einem Räumdienst abgeholt worden, Alexandra hatte die Sachen einem gemeinnützigen Verein geschenkt. Was sie an hübschen Kleinigkeiten und Erinnerungsstücken behalten wollte, passte in eine Kiste. Eine weitere enthielt Bücher, Papiere, Urkunden, Zeugnisse, Briefe, Kinderzeichnungen von ihr selbst, Muttertags- und Geburtstagskarten. Diesen Karton ging Alexandra nun durch. Sie hoffte, einige Hinweise auf ihre unbekannte Tante und ihre Großeltern zu erhalten.

    Warum hatte sie die Mutter nur nie gefragt? Sie hätte sie drängen müssen, ihr von ihren Vorfahren zu erzählen, jeder Mensch hat doch ein Recht darauf, so etwas zu wissen! Aber Alexandra hatte nie gefragt. Zu selbstverständlich war es für sie gewesen, dass es nur sie und ihre Mutter gab, sonst niemanden. Und nun war es für Fragen zu spät.

    Eifrig sichtete sie nun Papiere. Da war ein alter Führerschein ihrer Mutter aus DDR-Zeiten, ein Heftchen eher. Genau wie der alte Personalausweis, auch ein Heftchen, säuberlich in eine Hülle gesteckt. In einer Mappe die Geburtsurkunde: Adele Maria Sebach, geboren am 25. Juni 1949 in Erfurt. Eltern: Karl Sebach und Wilma Sebach, geborene Kurzhals.

    Alexandra schmunzelte. Sie musste es Alex erzählen, die würde es lustig finden, eine Uroma zu haben, die als Kind Wilma Kurzhals geheißen hat!

    Als Alexandra eine große, braune Ledermappe öffnete, fielen ihr etliche Briefe entgegen. Aufgeregt überprüfte sie die Absender, aber sie hatte Pech: Kein einziger Brief war von einer Anna oder sonst irgendeinem Sebach. Briefe von Horst Schmidt waren es, einem verflossenen Liebhaber ihrer Mutter, mit dem sie vier Jahre zusammen gewesen war und den sie bei einer Kur kennengelernt hatte. Onkel Horst hatte Alexandra ihn genannt. Sie wusste gar nicht, warum es mit den beiden nicht geklappt hatte und wie es auseinandergegangen war. Vielleicht würde sie es herausfinden, wenn sie die Briefe las, aber dazu hatte Alexandra keine Lust. Sie brannte darauf, etwas über ihre unbekannte Tante zu erfahren.

    Als sie gerade ein paar Notizbücher durchblätterte, klingelte das Telefon. Sie blieb sitzen und wartete, bis der Anrufbeantworter ansprang und Stefans Stimme ertönte: „Hallo Schatz. Ich komme heute später. Ihr braucht mit dem Abendbrot nicht auf mich zu warten. Tschau!"

    Wie betäubt hockte Alexandra zwischen dem Haufen Papiere. Ihre Kehle schnürte sich zu und die Kränkung saß ihr wie ein Klumpen im Magen.

    „Es ist wie in einem schlechten Film, dachte sie verbittert. „Genau diese Worte, die Ehemänner benutzen, wenn sie fremdgehen. Hält der mich eigentlich für bescheuert? Er muss doch wissen, dass ich es weiß. Und ich weiß, dass er weiß, dass ich es weiß. Und warum kann er sich das erlauben? Nur, weil ich so blöde bin, es ihm immer wieder durchgehen zu lassen. Alexandra warf das Buch, was sie gerade in der Hand hielt, in die Kiste zurück.

    „Scheiße, scheiße, scheiße!"

    Sie warf sich aufs Sofa und wollte nur noch heulen. Aber es ging nicht, sie war zu wütend. Alexandra überlegte, eine ihrer Freundinnen anzurufen, aber die einzige, mit der sie über Stefan reden könnte, war Birgit, und die war im Urlaub auf den Kanaren. Schöner Mist. Die anderen Freudinnen schienen Alexandra nicht geeignet, um Eheprobleme mit ihnen durchzugehen. Simone schwatzte nur ununterbrochen über ihre Zwillinge: Erste Zähnchen, was denn besser sei, Brei aus dem Glas oder selbstgekocht und über biologisch abbaubare Windeln. Seit sie die Babys hatte, war sie kaum noch aus ihrer Wohnung zu kriegen. Alexandra gönnte ihr ja das Mutterglück, aber die Freundschaft ging doch so langsam auseinander. Simone traf sich jetzt lieber mit anderen Müttern, die sie in der Krabbelgruppe kennengelernt hatte. Im vorigen Jahr, als Simone schwanger gewesen war, hatte Alexandra auch eine Zeitlang darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn sie noch ein Baby bekämen. Ihr hatte der Gedanke gefallen, dass ihr Mann mit seinem kleinen Sohn Legotürme baute und Rennautos fahren ließ. Aber Stefan war komplett dagegen gewesen, er wollte kein weiteres Kind. Alexandra war darüber zwar etwas gekränkt, hatte aber schnell eingesehen, dass eine Ehe nicht mit einem Kind gekittet werden konnte.

    Ihre andere Freundin, Diana, war frisch verliebt und schwärmte unablässig von ihrem ‚Süßen‘, wie sie ihn nur nannte. Dass sie sich einmal in der Woche in der Stadt verabredeten und dann so taten, als würden sie sich zufällig treffen, damit sie sich immer neu kennenlernen konnten. „Das müsst ihr auch mal machen, das ist wundervoll!", riet sie ihren Freundinnen. Und dann erzählte sie ständig von den kleinen Dingen, die ihr Süßer ihr in der Wohnung hinterließ, damit sie merkte, dass er an sie dachte: Kleine Zettelchen mit Liebesgrüßen am Kühlschrank, ein Lippenstiftherzchen am Spiegel oder eine Praline auf dem Kopfkissen.

    Alexandra fand es zum Kotzen. Sie dachte an die „Liebesgrüße, die ihr Mann ihr in der Wohnung hinterließ: Zigarettenasche auf dem Teppich und eingetrocknete Kackstreifen im Klo. Diana hatte ihr gesagt, dass sie selber schuld sei, dass ihr Mann sich seine Bestätigung anderswo suchte, schließlich nörgele sie nur noch an ihm herum. „Einen Mann muss man anhimmeln und bewundern, sagte sie. „Er muss immer das Gefühl haben, dass er der Größte ist, im Bett, im Job, überall. Dann tut er für dich auch alles, was du willst, glaub mir!"

    Alexandra stellte sich eine gleichberechtigte Partnerschaft anders vor. Allerdings schien es ihr, als habe Diana den Nagel auf den Kopf getroffen: Stefan, der leider ein etwas überzogenes Selbstwertgefühl hatte, brauchte ständig Bewunderung und Bestätigung. Die gab ihm Alexandra nicht mehr. Und sie war nicht bereit, sich zu verstellen und ihren Mann wie ein verwöhntes Kind zu behandeln, nur damit er sie nicht betrog.

    Wann hatte Stefan sie eigentlich das letzte Mal gefragt, wie es ihr ginge und was sie für Probleme hatte? Es war ihm egal. Sie war ihm egal. Das zu spüren, tat weh.

    Aber wie sollte es dann weitergehen?

    Was hatte ihre Mutter gesagt? „Kind, das Leben ist kostbar, vergeude es nicht. Gib dich nicht mit Dingen ab, die dich unglücklich machen. Man muss Dinge, die einem schaden, einfach hinter sich lassen und nicht mehr daran denken. Manchmal auch Menschen. Kümmere dich um dich selbst und um dein Kind, das ist das einzige, was zählt. Hörst du, vergeude keinen Tag!"

    Das waren ihre Worte gewesen.

    Sie hatte keines davon vergessen.

    Aber die eigentliche Bedeutung dieser Worte sickerte erst allmählich in ihr Bewusstsein, erst allmählich verstand sie, was ihre Mutter ihr als letzten Rat gegeben hatte. Und das Verstehen erschreckte sie. Denn das bedeutete, dass sie in ihrem Leben etwas verändern musste und dass es Einschnitte geben würde.

    Schmerzhafte Einschnitte.

    3

    „Das ist ungerecht! Nie werde ich gefragt, was ich will! Immer muss ich jeden Scheiß machen, den du willst!" Mit einem geräuschvollen Rumms fiel die Tür ins Schloss, dass die Scheiben im Wohnzimmerschrank klirrten.

    Alexandra seufzte. Genau diese Reaktion ihrer Tochter hatte sie vorausgesehen. Wie sollte eine Dreizehnjährige auch sonst reagieren, wenn sie erfuhr, dass sie umziehen, ihre Schule wechseln und ihren Freunden Lebewohl sagen musste? Dass sich ihre Eltern trennen wollten, hatte Alex lange nicht so mitgenommen, wie Alexandra gedacht hatte. Selbst die Reaktion ihres Mannes war verhalten gewesen. Aber das musste nichts bedeuten, da konnte durchaus noch was kommen.

    Alexandra seufzte erneut und räumte das Geschirr vom Abendbrottisch. Gespielte Normalität. Keiner von ihnen hatte einen Bissen gegessen, nachdem sie die Bombe hatte platzen lassen. Einfache Worte hatte sie gewählt, die sie sich sorgsam zurechtgelegt hatte: „Ich muss euch etwas mitteilen. Ich habe beschlossen, nach Finkendorf zu ziehen. Allein. Also, allein mit Alex. Sie hatte tief Luft geholt: „Ich glaube, es ist das Beste für uns alle, wenn wir uns trennen, Stefan! Ich habe keine Lust mehr auf diesen ganzen Mist. Du kriegst das mit dem Alkohol und mit den..., ein vorsichtiger Blick zu Alex, „... und mit den Weibergeschichten doch nicht auf die Reihe, und ich bin nicht deine Therapeutin. Ich habe vor, mich wieder mehr um mich selbst zu kümmern. Das ist mein gutes Recht, ich habe schließlich auch nur das eine Leben."

    Stefan hatte zerknirscht genickt. Er reagierte immer überaus reumütig, wenn er auf seine Verfehlungen angesprochen wurde. Am Ende würde sie ja doch wieder einlenken, so wie immer. Er würde ihr sagen, dass er sie über alles liebte und ohne sie nicht leben konnte. Eher würde er sich umbringen, als ohne sie zu leben. Er wusste, dass ihr das Familienleben wichtig war. Er würde die Sache mit Jacqueline langsamer angehen lassen, nicht mehr so oft zu ihr gehen, bis sich die Lage zu Hause beruhigt hatte und Alexandra nicht mehr von Trennung redete. Er hasste es, wenn sie das tat. Immerhin war sie seine Frau und gehörte ihm. Sie führten ein ruhiges und bequemes Familienleben und wie sähe das denn aus, wenn seine Frau ihm den Laufpass gäbe? Die Kollegen würden sich kaputtlachen. Und überhaupt – wo wollte sie hin? Nach Finkendorf, in die Thüringer Provinz? Nie und nimmer zog sie das durch. Da war sich Stefan ganz

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