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Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Drei Erzählungen
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Ebook248 pages3 hours

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Drei Erzählungen

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Thorsten Jäger … ist die Geschichte von Helga und Georg, die innerhalb einer späten Familie über frühere Bindungen hinauswachsen wollten – und es ist eine wahre Geschichte, bei der lediglich die Namen geändert wurden.

Der Pelzmantel … ist die Adaption eines nicht mehr realisierten Fernsehspiel-szenariums der DFF-Sendereihe "Der Staatsanwalt hat das Wort".
Im Mittelpunkt der Handlung steht Gewalttätigkeit Jugendlicher.

Tabula Rasa … Ein Schüler verlor er durch einen schweren Unfall Anfang 1938 das Gedächtnis an alles zuvor Erlebte. Autobiografisch.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMay 18, 2014
ISBN9783847689867
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Drei Erzählungen

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    Zwischen Wunsch und Wirklichkeit - Hans Müncheberg

    Thorsten Jäger

    Voller Hoffnung ...

    Es ist die Geschichte von Helga und Georg, die innerhalb einer späten Familie über frühere Bindungen hinauswachsen wollten – und es ist eine wahre Geschichte, bei der lediglich die Namen geändert wurden.

    Kapitel I.

    Sie hatten sich erst 1969, beide schon an der Schwelle zu ihrem fünften Jahrzehnt, gefunden, obwohl sie sich schon früh begegnet waren. Damals, vor zwanzig Jahren, hatte Georg in Helga die künftige Frau eines vom Schlosser zum Literaten aufstrebenden Mannes kennengelernt. Selbst noch Student der Pädagogik, war er wegen allzu frecher Verse vom Zentralrat der Staatsjugend zum Begreifen der erwünschten Maßstäbe in die 'Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Schriftsteller' geschickt worden. Unter den Autoren, die nicht nur durch ihr Alter, viel stärker durch Haft und Exil zu beeindruckenden Persönlichkeiten gereift waren, fand er Kontakt zu einem gleichfalls Suchenden, nur wenig älter als er selbst, zu Walter Burgmann. Sie verstanden sich, trafen sich bald auch außerhalb der Arbeitsgemeinschaft – und so begegnete der wegen seiner bereits deutlich ausgeprägten 'Geheimratsecken' als 'Geheimer Rat' verspottete Georg auch der dunkelhaarigen Helga Ladwig mit ihrem feinen Lächeln, von dem man nicht gleich ablesen konnte, ob es milde Nachsicht oder freundliche Zustimmung bedeutete. Was Georg außer ihrem Charme und einer natürlichen Weiblichkeit beeindruckte, war ihre stete Hilfsbereitschaft. So erhielt der mittellose Student naturwissenschaftlicher Fächer, der nicht in der Lage war, sich unerlässliche Hilfsmittel auf dem 'Schwarzen Markt' zu kaufen, von ihr einen edlen Rechenschieber, den sie einst von ihrem Stiefvater, einem Ingenieur, erhalten hatte.

    Nach seinem Studium war Georg auf damals nicht seltenen Umwegen zu einem anderen, ihn aber in jeder Weise fordernden Beruf gekommen. Als Dramaturg in einem für alle neuen Medium hatte er auch die Aufgabe, für den noch kleinen Zuschauerkreis experimentierfreudige Autoren zu finden. Bald konnte er den einstigen Schlosser für eine länger währende Zusammenarbeit gewinnen. So blieb auch der Kontakt mit Helga Ladwig erhalten. Sie hieß, wie er nun erfuhr, Helga Burgmann und war Mutter eines Sohnes geworden, der den Namen Reinhard erhalten hatte. Dass sie Walters Ehefrau geworden war, überraschte ihn nicht, es löste aber doch ein wehmütiges Bedauern aus.

    Georg verehrte sie weiterhin mit einem Gefühl unvermeidlicher Resignation und war überzeugt, in ihr auch während der folgenden Jahre eine im Zentrum ihrer Familie ruhende glückliche Frau sehen zu können. Das einzige Leid das Helga Burgmann mit aller Härte traf, Georg erfuhr es nur in kargen Andeutungen, war der tragische Verlust ihres zweiten Sohnes. Sie hatte nach seiner Geburt keinen unbezahlten Urlaub nehmen können, denn sie musste sich bei den sporadischen Einkünften Walters auch im materiellen Sinne für die Sicherung des alltäglichen Familienlebens verantwortlich fühlen. So gab sie den zarten Arthur nach dem Ende des damals auf sechs Wochen begrenzten Schwangerschaftsurlaubs in eine Krippe. Rührend war es, wie sich Reinhard, selbst erst vier Jahre alt, um das wenige Wochen alte Brüderchen bemühte. Er bettelte darum, von seiner Mutter zuerst aus dem Kindergarten abgeholt zu werden, damit er mit ihr zusammen den Bruder aus der Krippe nach Hause bringen und dabei den Kinderwagen schieben konnte.

    Als Arthur in seinem fünften Lebensmonat an einem nicht aufzuhaltenden Durchfall erkrankte, offenbar durch in der Krippe verabreichte Kost ausgelöst, da bangte Reinhard mit seinen Eltern um das Leben des kleinen Bruders. Die Vergiftung war jedoch so stark, dass alle ärztlichen Bemühungen es nicht vermochten, das gerade erst begonnene Leben zu erhalten.

    Die Hilflosigkeit, mit ansehen zu müssen, wie das von ihr ersehnte und umsorgte Kind starb, wurde vor allem für Helga zu einer starken seelischen und auch physischen Belastung. Das waren Tage, lastend wie Jahre schwerster Not. Helgas seelische Schmerzen manifestierten sich in einer nicht mehr zu behebenden Herzkrankheit. Sie musste von nun an starke körperliche Anstrengungen meiden, um den alltäglichen Belastungen gewachsen zu sein.

    In den sechziger Jahren hatte sich die familiäre Situation für Helga jedoch immer mehr zugespitzt. Der zum Schriftsteller gewordene Schlosser war nach einem ersten Wurf in selbst zerstörerischer Weise dem Alkohol verfallen. Der sehnlich erhoffte Höhenflug als Schriftsteller wollte ihm nicht weiter gelingen. Auch für das Studio konnte er, nach Anfangserfolgen, bald nicht mehr liefern als sporadische Beiträge zu einer spannend unterhaltenden Sendereihe. Dabei wurde er dann von einer fachspezifisch arbeitenden Dramaturgin betreut, die mit jenen offiziellen Stellen verbunden war, die ihm stets die zu verwendenden Fakten vorgaben. Neben dieser, wie er sagte 'Brotarbeit', versuchte er bald und immer häufiger, sich mit flüchtigen sexuellen Abenteuern eine Bestätigung als potente Persönlichkeit zu verschaffen. Schließlich vergaß er jegliche Rücksicht auf die eigene Familie.

    Helga und Georg hatten bei ihren seltenen Begegnungen nicht einmal in Andeutungen über ihre enervierenden Verhältnisse gesprochen. Erst als das unwürdige 'Familienleben' für Helga unerträglich geworden war, suchte sie bei Georg Rat und Hilfe. Sie sah in ihm nicht nur den einstigen Dramaturgen ihres Ehemannes, sie wusste inzwischen, dass er seit vielen Jahren als vertrauenswürdiger Schöffe an einem Berliner Stadtbezirksgericht tätig war. Nun sollte er ihr raten, wie eine Scheidung ohne 'schmutziges Wäschewaschen' zu vollziehen sei. Sie fürchtete, eine öffentliche Debatte um alles in dieser Ehe Erlebte nicht durchstehen zu können.

    Georg entdeckte verblüfft in ihren persönlichen Problemen Parallelen zu manchem gerichtlichen Verfahren, an denen er als Beisitzender Richter beteiligt war. Sah er es zunächst als seine Schöffenpflicht an, zu versuchen, auch diese Ehe um des Sohnes willen zu erhalten, musste er bald begreifen, wie sehr, und mit welcher Engelsgeduld sie sich darum bemüht hatte. Mit seinem Verständnis für ihren unumkehrbaren Entschluss wuchs auch die Erkenntnis, dass er in Helga nach all den Jahren doch die Frau sehen konnte, der er sich mit allen Konsequenzen anvertrauen und dauerhaft verbinden wollte.

    Sie wusste seit jenen frühen Jahren um seine stille und bleibende Verehrung für sie. Jetzt entdeckte sie in ihm den Mann, der sich nach vielen gescheiterten eigenen Versuchen in allem Ernst und mit aller Konsequenz eine feste Gemeinsamkeit wünschte.

    Zunächst taten sich Helga und Georg nur zu gemeinsamen Ausflügen und Konzertbesuchen zusammen. Oft nahm auch ihr Sohn daran teil. Zwischen Georg und dem bald volljährigen Reinhard wuchs mehr und mehr ein vertrauensvolles Verhältnis, ein gegenseitiges Verstehen. Auf indirekte Fragen gaben sie dem jungen Mann zu verstehen, sie seien dem Alter einer Familiengründung wohl schon entwachsen.

    In Helgas vierzigstem Lebensjahr meldete sich dann aber, beide überraschend, in ihr erneut werdendes Leben an. Da sie seit dem tragischen Verlust ihres zweiten Kindes an einer Herzkrankheit litt, rieten ihr wohlmeinende Ärzte dringend ab, ein drittes Kind auszutragen. Ein nicht sehr einfühlsamer Mediziner meinte sogar ihr attestieren zu müssen, sie könne doch schon Großmutter sein.

    Helga jedoch war bereit, selbst ein ernsthaftes Risiko auf sich zu nehmen. Sie wollte das Kind, wollte endlich in einer neuen und rundum harmonischen Familie leben.

    Georg hielt mit aller Liebe und Konsequenz zu ihr. Im März des Jahres 1970 heirateten sie. Einzig ihr Reinhard war Zeuge der amtlichen Zeremonie. Ein halbes Jahr später konnten sie sich über einen gemeinsamen Sohn freuen. So ungewöhnlich wie ihre späte und beglückende Gemeinsamkeit sollte sein Name sein. Sie nannten ihn Malte.

    Der neu ins Leben getretene Knabe besaß zur Freude seiner Eltern vom ersten Tag an einen treuen Freund, seinen ins Erwachsenenleben strebenden Halbbruder Reinhard. Sofern es dem jungen Mann seine schulischen, bald auch seine Studienpflichten erlaubten, suchte und fand er Möglichkeiten, mit Malte zu spielen, mit ihm herumzutoben, bald auch, mit dem aufgeweckten Knaben sportliche Übungen zu proben. Doch mehr und mehr wurde ihm der große, ja allzu große Altersunterschied bewusst. Und so war er es auch, der dem überaus munteren Knaben wünschte, dass er nicht auch als Einzelkind aufwachsen sollte. Für Malte wäre es ideal gewesen, zusammen mit einem Zwillingsbruder auf die Welt zu kommen.

    Als auch der um eigenständiges Urteilen bemühte Reinhard einsehen musste, dass schon Maltes Weg in diese Welt zu einer Gefahr für das Leben seiner Mutter geworden war, dass folglich von einer weiteren Schwangerschaft nicht die Rede sein durfte, wünschte er Malte, wenn anderes nicht mehr möglich war, für seinen künftigen Weg wenigstens einen brüderlichen Gefährten.

    Die Gesetze des Landes machten es möglich, dass sich Helga während Maltes erstem Lebensjahres ganz auf das Kind und ihre neue Familie konzentrieren konnte.

    Wenn sie abends an Maltes Bett standen, kam es schon vor, dass Georg an die wiederholten Fragen Reinhards erinnerte. Sollte Malte, wie sein inzwischen erwachsener Bruder, ein Einzelkind bleiben?

    Als Malte einjährig in die Kinderkrippe gebracht wurde, war schnell zu erkennen, wie gern er sich mit anderen Kindern zusammentat. Bald wurde von den 'Tanten' in der Krippe festgestellt, dass er stets versuchte, der 'Spielführer' zu sein.

    Diese Haltung verstärkte sich, als Malte mit drei Jahren in den Kindergarten kam. Mit seiner lebhaften Fantasie und seinem kaum zu bändigenden Bewegungsdrang forderte er von seinen Eltern immer stärker ein Mitspielen. Er wollte auch daheim der 'Spielführer' sein und akzeptierte kaum die Gründe seiner Eltern, auch andere Aufgaben zu haben. Glückliche Stunden für alle, wenn der immer stärker geforderte Leistungssportler Reinhard sich Zeit für den kleinen Bruder nehmen konnte.

    Kapitel II.

    Als Malte fünf Jahre alt wurde, war Reinhard bereits verheiratet. Er hatte nur noch selten Zeit für Malte, der mit beginnender Selbstständigkeit verstärkt nach Freunden und Spielgefährten suchte.

    Ihn mit seinen Fragen und Sehnsüchten zu erleben, erinnerte Helga an die Freude, mit der Reinhardt einst die Geburt seines Bruders Arthur begrüßt hatte. Wie konnte es auch anders sein, jedes Kind möchte in Gemeinsamkeit mit Gleichaltrigen aufwachsen.

    An einem Abend des Frühjahrs 1975 war sie es dann, die abrupt aufstand und den Fernsehapparat ausschaltete. Zu dem verdutzt abwartenden Georg sagte sie: „Vielleicht sollten wir es doch versuchen."

    „Du meinst ... wegen Malte?"

    „Ja."

    „Mit einem Pflegekind?"

    „Ja."

    „Gut, dann lass es uns reiflich überlegen."

    Helga hatte bereits alle Möglichkeiten durchdacht. Nun sollte Georg auch aus der Sicht eines Schöffen Detail für Detail kritisch und juristisch prüfen.

    Es brauchte mehr als ein abendliches Gespräch, um alles Für und Wider sorgsam abzuwägen, ehe sie einen Brief an das Referat Jugendhilfe beim Rat ihres Berliner Stadtbezirks formulierten.

    Eine erste Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Sie wurden um genaue Auskünfte zu ihren persönlichen Verhältnissen gebeten. Danach dauerte es einige Wochen, bis sie auf das Amt gebeten wurden. Ihre Angaben waren vermutlich überprüft worden. Wer wusste schon, welche Stellen dazu noch Stellung zu nehmen hatten.

    Die Leiterin des Referats Jugendhilfe, in ein knapp sitzendes Kostüm gezwängt, schien ihre Autorität auch optisch betonen zu wollen. Mit einer Geste verwies sie auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch, wartete, bis Helga und Georg Platz genommen hatten, und blickte abwechselnd auf die vor ihr ausgebreiteten Schriftstücke und die nach Alter und Beruf außergewöhnlichen Antragsteller.

    Die sich mit ihrer späten Familienplanung auf dieses Amt bemüht hatten, waren aus dem Blickwinkel der Amtsperson zwar im fortgeschrittenen Alter, doch die Frau wirkte mit ihrem vollen dunklen Haar über den wachen, genau beobachtenden braunen Augen noch erstaunlich jung, während es dem Mann mit bereits schütterem hellen Schopf offensichtlich Mühe machte, gelassen abzuwarten. Er rückte nervös an seiner Brille. Das Gestell schien ihm lästig zu sein.

    Die Amtsperson senkte mit einem unmerklichen Kopfschütteln den Blick und blätterte in einem neu angelegten Schnellhefter. Einleitend stellte sie fest: „Ihre polizeilichen Führungszeugnisse habe ich inzwischen zu den Akten genommen, eine Formalie. Alles in Ordnung. Das war auch nicht anders zu erwarten ..., aber, bevor ich zu der von Ihnen erbetenen Vermittlung komme, erlauben Sie mir bitte eine persönliche Frage: Sie haben bereits ein gemeinsames Kind, fünf Jahre, gesund und lebhaft, wie ich der Auskunft des Kindergartens entnommen habe ..., also, wenn Sie sich noch ein Kind wünschen, warum erst jetzt? Wäre nicht Zeit für ein eigenes Geschwisterkind gewesen?" Sie sah das vor ihrem Schreibtisch sitzende Ehepaar mehr prüfend als fragend an.

    Helga Berger fühlte sich durch die Frage, die eine Unterstellung einzuschließen schien, persönlich angegriffen. Sie war nicht auf dieses Amt gekommen, um sich derartigen Anwürfen auszusetzen und wollte mit gebotener Deutlichkeit antworten, doch Georg legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm. Sie wandte sich ihm zu. Er nickte voller Verständnis, zugleich mahnend. Sie holte tief Luft. Das tat sie immer, wenn sie einen spontanen Ärger unterdrücken wollte. Dann sagte sie leise, aber mit fester Stimme: „In unserem Antrag haben wir, denke ich doch, klipp und klar ausgeführt, aus welchen Gründen unser Junge bisher ein Einzelkind bleiben musste ..., und auch, dass wir vermeiden wollen, ihn weiterhin als Einzelkind heranwachsen zu lassen. Eine Gemeinsamkeit mit einem gleichaltrigen Knaben, wäre nicht nur für ihn eine Bereicherung, auch für einen neuen Bruder, der wieder in einer richtigen Familie aufwachsen könnte."

    „Gut, gut ... Die Referatsleiterin löste mit einer beschwichtigenden Geste ihre Hände von den vor ihr ausgebreiteten Papieren. „Wir begrüßen es natürlich, wenn sie einem unserer Heimkinder ein neues Zuhause geben wollen. Mit besonderer Betonung fügte sie hinzu: „Das ist auch im Sinne unseres sozialpolitischen Programms. Sie bemerkte einen kurzen Blickwechsel zwischen den vor ihr Sitzenden, räusperte sich, fand zu einer sachlichen Tonlage zurück und wandte sich dem Manne zu. „Eine rein praktische Frage hätte ich noch. Bei Ihrer sozialen Position darf ich doch davon ausgehen, dass Sie über ein Fahrzeug verfügen?

    Er nickte: „Sie dürfen davon ausgehen."

    „Das dachte ich mir. Sie schlug einen weiteren Aktenhefter auf. „Bad Freienwalde liegt ja nicht allzu weit entfernt. Einige Kinder mussten wir im dortigen Hilde-Coppi-Heim unterbringen. Unsere Berliner Heime waren und sind voll ausgelastet. Mit angefeuchtetem Zeigefinger blätterte sie einige Seiten um, dann tippte sie auf ein Formular, das mit einem kleinen Passbild versehen war. „Hier, das wäre vom Alter her fast ein Zwillingsbruder für Ihren Sohn, Thorsten Jäger. Ein kleiner Berliner, lebhaft, pfiffig und auch noch nicht zu lange unter Heimaufsicht." Sie hob dem Paar das Formblatt entgegen. Beide blickten zuerst auf ein kleines Foto, das ein verschlossenes Gesicht unter kurzen dunklen Haaren zeigte.

    Der nahezu abwehrende Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes löste bei Helga Berger die spontane Frage aus: „Und warum musste er ins Heim?"

    „Seine Mutter besaß, sagen wir mal, weder die Fähigkeit noch den Willen, sich verantwortungsbewusst um ihr Kind zu kümmern. Aufmerksamen Nachbarn ist das noch rechtzeitig aufgefallen."

    „Und der Vater?"

    „Der Vater ... – ja, der war nicht mit ausreichender Sicherheit festzustellen."

    „Also 'h-w-G'?" Aus seiner ehrenamtlichen Schöffentätigkeit kannte Georg die übliche Abkürzung für 'häufig wechselnden Geschlechtsverkehr'.

    Die Referatsleiterin nickte unwillig. „Es geht uns um den Jungen. Für ihn sehe ich keine Chance, dass er zu seiner Mutter zurück kann."

    Durch diese Feststellung beunruhigt, beugte sich Helga etwas vor. „Das liegt hoffentlich nicht an dem Jungen?"

    „Nein, nein! beeilte sich die Referatsleiterin zu betonen. „Der ist vollkommen in Ordnung! Als ob sie sich absichern müsse, fügte sie noch hinzu: „Falls es bei ihm irgendwelche Auffälligkeiten geben sollte, würden Sie das dort im Heim erfahren ... Sie richtete sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf und sagte abschließend: „Ja, das wäre es für heute, und wenn Sie sich des kleinen Burschen annehmen wollen, würde ich Sie dort anmelden, für das nächste Wochenende ..., oder?

    Helga sah ihren Mann fragend an. Als der zustimmend nickte, klang ihre Antwort wie eine unerlässliche Vorbedingung. „Gut, am Sonnabend, noch am Vormittag, aber wir wollen uns den Jungen zuerst nur ansehen. Wir müssen uns unbeeinflusst ein Bild von ihm machen können. Wie er sich im Kreis der anderen Kinder bewegt, wie er von sich aus mit Erwachsenen spricht und so weiter ..., also für den Jungen noch kein bewusster Kontakt."

    „Kein Problem. Das lässt sich einrichten."

    Ein sonnenhelles Wochenende hatte begonnen, das erste im Juli des Jahres 1975. Es traf sich gut, dass Malte schon seit langem mit Helgas Mutter zu einem Bummel durch den Berliner Tierpark verabredet war. Darauf freute sich der Junge. Er drängte gleich nach dem Frühstück zum Aufbruch und maulte nur, weil ihm noch immer nicht erlaubt wurde, allein zu der nicht weit entfernt wohnenden Oma zu laufen.

    Maltes Freude auf die gemeinsamen Stunden mit der Großmutter war auch ihre Freude. Sie wollten nicht mit dem Auto zum Tierpark gebracht werden, denn Malte fuhr am liebsten mit der U-Bahn. Am Eingang der Station „Strausberger Platz", als sie sich verabschiedeten, wollte Malte erneut wissen, was die Eltern denn so Geheimnisvolles vorhätten.

    „Heute Abend wirst du es erfahren." Mehr als dieses Versprechen erhielt der Junge nicht. Auch die Oma gab sich unwissend. Dann winkten beide dem Auto gestenreich nach.

    Auf der Fernverkehrsstraße bei Werneuchen musste Georg mit dem Wartburg mehr als einmal vor herabgelassenen Schranken Pause machen. Die schnaufenden Lokomotiven und ihre dröhnenden Warnsignale weckten auch bei Helga angenehme Erinnerungen an frühere Urlaubsreisen. Dann aber rollten sie von den märkischen Randhöhen in das breite Flusstal der Oder hinab und nach Bad Freienwalde hinein.

    Freundliche Passanten zeigten ihnen in der Stadt den Weg. Es war nicht weit.

    Zu beiden Seiten des stattlichen Gebäudes verwehrten gepflegte Hecken den Blick in die Tiefe des Gartens. Man konnte aber lautes Geschrei spielender Kinder hören.

    Einige Steinstufen führten zu einem kleinen Podest vor der Haustür. Sie war verschlossen. Helga wich einen Schritt zurück, holte

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