Zehn kleine Sylterlein: grotesker Krimi
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TEXTAUSSCHNITT:
Hans Hansen stoppte keuchend. Ihm war schlagartig klar, dass sein friedliches Inselleben unwiderruflich zu Ende war. Was der Ebbe-Tiefpunkt freilegt hatte, war geeignet, sämtliche Familien auf einen Schlag von der Insel zu treiben. Aus dem feuchten Sand ragten kopfüber und ab Kniehöhe zwei erstaunlich glatte, weiße Kinderbeine in die kühle, erfrischende Morgenluft. Grünlicher, glitschiger Seetang hatte sich am linken Beinchen verfangen. Am rechten großen Zeh hing ein wasserfester Kofferanhänger. Hansen hatte keine Scheu ihn umzudrehen. Böse malträtierte Leichen kannte er aus seiner Hamburger Zeit zur Genüge und eine Absenderadresse erwartete er ohnehin nicht: "Zehn kleine Sylterlein. Da waren es nur noch Neun!" Hansen schüttelte angewidert den Kopf. Er hasste schlechte Witze.
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Book preview
Zehn kleine Sylterlein - Michael R. Richter
Heimstatt der Heimatlosen
Wir sind ein Volk vom Strom der Zeit
Gespült zum Erdeneiland
Voll Unfall und voll Herzeleid
Bis heim uns holt der Heiland
Das Vaterhaus ist immer noch nah
Wie wechselnd sind auch die Loose
Es ist das Kreuz von Golgatha
(Inschrift, Heimstatt der Heimatlosen, Westerland)
Gewidmet der Insel Sylt, die ich seit über zwanzig Jahren liebe und immer wieder gerne besuche.
Der erste Tag
Hans Hansen nahm sich der Sache selbst an. Als Inselpolizist und Chef der Kripo-Außenstelle Sylt hatte er oft nur mit entlaufenen Schoßhündchen, ausgeraubten Strandkörben oder allenfalls mit widerspenstigen, alkoholisierten Cabrio-Lenkerinnen zu tun, die ihre langen, blondierten Haare unter farbigen Seidentüchern dezent versteckten und ihm lallend und mit laszivem Augenaufschlag die reinste Unschuld vorgaukelten. In seiner gesamten Laufbahn als Inselpolizist – sie dauerte schon immerhin vier Jahre – war ihm noch kein solcher Fall begegnet.
Früh morgens um fünf Uhr dreißig Uhr riss ihn das unbarmherzige, monotone Klingeln des Telefons aus Schlaf und Traum. Sein diensthabender Kollege Petersen faselte ohne Atempause etwas von „grausigem Fund und „aufgeregten Kurgästen
. Vermutlich wieder eine verunglückte Seemöwe, die sich ängstlich unter einer Parkbank verkrochen hatte und für irgendeinen senilen Rentner freudigen Anlass bot, den alten Slogan „Ein Herz für Tiere" in all seinen Tiefen und Höhen auszukosten. Mürrisch knallte Hansen den Hörer auf die Gabel, wankte die wenigen Schritte zur Toilette, um Wasser zu lassen, glitt erleichtert, aber noch schlaftrunken in seine Uniform, suchte einige Minuten lang vergebens die Autoschlüssel und machte sich dann mit dem altersschwachen Dienstwagen entnervt auf dem Weg zum Roten Kliff. Lieber wäre er weiter durch seinen wüsten Traum gestolpert, hätte von Tamara geträumt, die noch vor zwei Jahren bulliger Türsteher im KC war, dem ältesten Herrenclub der Insel in Westerland, dann einige Zeit unbekannten Zieles verschwand und vor sechs Monaten als stattliche, vollbusige Schönheit mit schmalen Hüften wiederkam. Tamara eröffnete den vom ersten Eröffnungstag an florierenden In-Treff Chez Tamara. Mittelalterliche Kurgäste ergötzten sich gerne an ihrem exotischen Charme und ließen sich lächelnd so manche Unverschämtheit ins Ohr flüstern. Boy George light für Senioren im Partnerlook. Der geheimnisvollen Aura hatte auch Hansen nicht widerstehen können. Heimlich war er ihr glühender Verehrer geworden, besuchte Tamara regelmäßig im schummerigen Etablissement, immer unter fadenscheinigen, dienstlichen Vorwänden. Als Chef der Inselpolizei konnte er es sich nicht leisten, seine Faszination offen zur Schau zu stellen.
Nach wenigen Minuten Fahrt war er am Roten Kliff in Wenningstedt angekommen, dessen lehmige, braunrote Abbruchkante die Abendsonne zum Glühen erweckte. Einige Sturmfluten hatten bereits erfolgreich an dem Kliff genagt, zuletzt 1978 ein Haus in die Fluten gerissen und 1999 fast ein weiteres in die gurgelnde Tiefe gezogen. Am Zaun geschützten Abhang war es um diese frühe Zeit noch menschenleer und unwirtlich kalt für Ende August. Die von der Sommerhitze aufgewärmte Nordsee verlor jeden Tag mehr an Kraft. Bald würden die Nächte ähnlich ungemütlich sein wie auf dem Festland. Die friedliche Szenerie lag in nebliger Morgenstimmung, der Wind wehte leicht von der Meeresseite. Tagsüber fraßen sich hier Touristen bei diversen Fischimbissen durch sämtliche maritimen Gerichte, tranken den Wein oder Sekt gleich flaschenweise und ergötzen sich schmatzend am Sonnenuntergang. Falls er exzellent war und die Sonne ohne störenden Wolkenschleier in die Nordsee versank, gab es artig Szenenapplaus. Hansen hasste dieses Urlaubergebaren.
Er stellte seinen Wagen direkt an der Kliffkante neben dem Dienstauto seines Kollegen ab. Weit unterhalb des fünfzehn Meter steil abfallenden Kliffs standen in Brandungsnähe vier Personen unbeweglich im Kreis, nach vorne gebeugt und gebannt von irgendetwas in ihrer Mitte. Kaum fünf Meter abseits kniete Petersen im Strand und kotzte lautlos mit der Windrichtung. Hansen, getrieben von der plötzlichen Gewissheit, dass dies kein normaler Fall sein konnte, eilte in großen Sätzen die verwitterte und verwinkelte Holztreppe herunter. Unten, im weichen Sand, bereitete ihm das Laufen Schwierigkeiten. Feiner Pudersand drang in seine viel zu engen Dienstschuhe. Jeder Schritt kam ihm vor wie drei. Als die Vierergruppe ihn kommen sah, zwei von diesen uniformierten Rentner-Ehepaaren in matt schimmernden Jogginganzügen, wichen die betagten Senioren zur Seite und gestikulierten wild mit den Händen. Stummes Entsetzen spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder. Hans Hansen stoppte keuchend. Ihm war schlagartig klar, dass sein friedliches Inselleben unwiderruflich zu Ende war. Was der Ebbe-Tiefpunkt freilegt hatte, war geeignet, sämtliche Familien auf einen Schlag von der Insel zu treiben. Aus dem feuchten Sand ragten kopfüber und ab Kniehöhe zwei erstaunlich glatte, weiße Kinderbeine in die kühle, erfrischende Morgenluft. Grünlicher, glitschiger Seetang hatte sich am linken Beinchen verfangen. Am rechten großen Zeh hing ein wasserfester Kofferanhänger. Hansen hatte keine Scheu ihn umzudrehen, böse malträtierte Leichen kannte er aus seiner Hamburger Zeit zur Genüge und eine Absenderadresse erwartete er ohnehin nicht:
ZEHN KLEINE SYLTERLEIN. DA WAREN ES NUR NOCH NEUN! Hansen schüttelte angewidert den Kopf. Er hasste schlechte Witze.
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Der Inselkurier war schnell, sehr schnell. Zwar lag das Hauptgeschäft des wöchentlich erscheinenden Anzeigenmagazins mit Feigenblattredaktion auf dem Onlinegeschäft für junge und jung gebliebene Reisende, aber angesichts der Altersstruktur der Sylt-Touristen, entschied man sich kurzfristig auch für eine klassische Druckvariante. So würde immerhin das Blatt überall in den Cafés beim Blättern sichtbar sein, anstatt auf mickrigen neumodischen Tabletts zwischen den Schößen zu verblassen Schon am späten Vormittag druckte die Redaktion kurzfristig eine mehrseitige Sondernummer.
EBBE BRACHTE GRAUSAMEN FUND! SERIENKILLER AUF SYLT? schrieb die Zeitung in fetten Schlagzeilen. Darunter ein Bild des unglücklich verscharrten Geschöpfs. Hansen hatte keine Ahnung, wie Werner Prinzen, der schläfrig wirkende insulare Fotojournalist, dieses Bild so schnell hatte machen können, denn die Fundstelle war umgehend von ihm gesperrt worden. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer über die Insel. Jedenfalls wusste jeder am frühen Nachmittag von Hörnum bis List und von Westerland bis Morsum, dass ein kleiner blonder Junge mit Sommersprossen – vermutlich um die zehn Jahre alt – sein Ende vorzeitig und grausam gefunden hatte. Da der arme Kerl völlig unbekleidet ausgegraben wurde und an einigen Stellen blaue Flecken wie rote Striemen aufwies, erlaubte sich der Inselkurier gleich die Vermutung, dass möglicherweise ein bestialischer Kinderschänder am Werk war. Innerhalb kürzester Zeit wurde die maritime Fundstelle zum Wallfahrtsort. Sämtliche Sylter Blumenläden waren binnen Stundenfrist ausverkauft und der automobile Trauerkorso staute sich bereits kilometerlang an der großen Ausfallkreuzung vor Wenningstedt. Bis zum Roten Kliff war mit dem Auto kein Durchkommen mehr. Am Strand inszenierte sich eine wahre Pilgerflut. Restaurants, mit Blick aus der ersten Reihe an der Klippenfront auf die Fundstelle, verzeichnete die höchsten Tagesumsätze des Jahres. Der Massenauflauf war gewaltiger als jener im bitterkalten Februar 1995, als ein knapp 18 Meter langes verendetes Finnwalweibchen auf den Wenningstedter Strand geworfen wurde und drei Tage lang Ausflugsziel Nummer eins war. Damals stand eine Handvoll dick vermummter Männer auf dem Fettberg und trieb scharf gewetzte Flensmesser in die lederne Haut des toten Riesen, um die gewaltigen sterblichen Überreste in mehreren großen Container zur Abdeckerei ans Festland zu transportieren. Das würde diesmal nicht notwendig sein, aber Sylt hatte eine weitere Sensation.
Am Abend flohen die ersten Familien auf das Festland. Die Deutsche Bahn setzte kurzfristig außerfahrplanmäßig Zusatzzüge ein, um den Ansturm der Flüchtenden zu bewältigen. Im Gegenzug spülten die Maschinen der Fluggesellschaften und die Abendzüge zahlreiche Fernsehteams auf die Insel, die sich in teuren Herbergen gleich wochenweise einmieteten, in gieriger Erwartung der noch kommenden Untaten. Wie die Fachleute der Gemeinde Sylt Tage später statistisch nachweisen konnte, reisten in den ersten Tagen auch ungewöhnlich viele Singles an, die vermutlich dem Untergang der Familienidylle Sylt beiwohnen wollten. Wiederum der Inselkurier vermutete, dass sich aus diesen Kreisen auch der Förderkreis „Club der unbekannten Opfer formierte. Erklärtes und pietätloses Ziel: Das oder die noch folgenden Opfer auf dem „Heimstadt der Heimatlosen
zu beerdigen, einem kleinen, unscheinbaren Westerländer Friedhof, gegründet 1854 vom Strandvogt Decker für namenlose Seeleute, deren zerschundene Leichen einst von der Nordsee auf den Strand geworfen wurden. Eine erste schaurige Clubparty sollte bereits abends in Kampen stattfinden.
Es war ein stürmischer Tag für Hans Hansen. Noch am Tatort beschlagnahmte er eine mintgrüne Rentnerjacke mit hellblauen Streifen und bedeckte damit das kopfstehende Opfer. Umgehend veranlasste er die rasche Bergung des Opfers, da die drohende Flut die Leiche zweifellos mit sich reißen würde. Der immer noch leichenblasse Kollege Petersen brachte das Opfer mit zitternden Beinen zunächst im nahegelegenen Eiskeller eines Edelfischimbiss, inmitten aufgetürmter Kisten voll Seelachs und Grönlandkrabben, vor der Neugierigen-Meute in Sicherheit, bevor die Feuerwehr den Kleinen in die Leichenkammer der Westerländer Nordseeklinik transportierte und von dort weiter mit einem Helikopter aufs Festland. Zum Ärger der Stunden später eintreffenden Kieler Kripokollegen und ihres mürrischen Chefs Sven Jordan, der entscheidendes Beweismaterial am Tatort vernichtet sah. Die Polizei der nördlichsten deutschen Landeshauptstadt hatte kurzfristig den Fall an sich gezogen, die Kriminalpolizeistelle Husum hatte das Nachsehen. Zu bedeutend schien der Fall.
In weiser Voraussicht ließ Hansen kurz vor der Brandungszone ein provisorisches Holzkreuz in den Sandboden rammen, als lohnendes und fotogenes Ziel für die zu erwartenden Gaffer. Den ganzen Morgen und frühen Nachmittag führte Hansen Telefonate mit der Dienststelle in Kiel, gab dem Inselkurier ein Blitzinterview und wimmelte hartnäckige Journalisten vom Festland ab. Erst gegen fünfzehn Uhr kam er dazu, ein paar Schnittchen vom Inselbäcker zu verschlingen, um sich ungestört einige Minuten lang seinen Gedanken hinzugeben.
Das Leben auf Sylt hatte er sich anders vorgestellt, jedenfalls war es bis jetzt auch anders gewesen. Jahrelang hatte Hansen in Hamburg auf der Davidwache randalierende Nutten, zu allem bereite Zuhälter, betrunkene Touristen und halbtote Junkies ertragen müssen. Die regelmäßigen Nachtstreifen und zahllosen Überstunden hatten seine Ehe zerstört, sie in das vorzeitige Ende getrieben. Sie wollte Kinder, er keine. Schon deshalb schlich sich frühzeitig die Langeweile ins Ehebett. Übelgenommen und nie verziehen hatte seine Frau ihm eine kurze Affäre mit einer rassigen, transsexuellen Dame oder Herrn. Er wusste es nicht genau und es war ihm auch egal. Sieben Jahre lang hatte Hansen von einer Stelle geträumt, die seinem Hauptwesenszug nahe kam: Phlegma. Eine freiwerdende Stelle auf Sylt war seine große Chance und er nutzte sie. Mit Erfolg, denn auf der Insel brauchte man einen erfahrenen Großstadtkollegen, der mit der angeblichen überproportionalen kriminellen Energie fertig werden würde. Eine Stelle, gerade wie geschaffen für ihn. So dachte Hansen jedenfalls damals, doch spätestens das heutige Ereignis belehrte ihn eines Besseren.