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Russisches Konfekt
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Ebook128 pages1 hour

Russisches Konfekt

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"Es ist eine unglaubliche Detonation, so laut, so extrem. Es riecht nach Verbranntem, sehr, sehr süßlich. Später erfuhr ich: Die sowjetischen Soldaten bauten einen Zaun..."
Die autobiografische Erzählung beginnt mit der Kindheit in Jüterbog/ Altes Lager in unmittelbarer Nähe des Standortes eines sowjetischen Jagdfliegerregimentes.
Die Erzählung ist eine Retrospektive in traumatische Erlebnisse und in die Besonderheiten des Lebens in der sowjetisch besetzten DDR. Die persönliche Lebens- und Familiengeschichte ist auch die Geschichte einer ganzen Generation. Die Bilder der Gesellschaft sind ausdrucksstark, facettenreich und eine Anregung zum Mitfühlen und Nachdenken.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 7, 2018
ISBN9783742712295
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    Russisches Konfekt - Hannelore Rose

    Altes Lager

    Seit ewigen Zeiten habe ich Angst, dass nach der Winterzeit der Frühling nicht mehr kommt.

    August 1957, Altes Lager bei Jüterbog, wir wohnen in einem Vier-Familienhaus auf einem Feld nahe der Landesstraße 101. Diese Straße wurde 1933 von Soldaten des Dritten Reiches gebaut, mit Pflastersteinen, sehr robust, solide, nach vierundzwanzig Jahren in einem guten Zustand, wie die meisten Straßen dieser Bauart.

    Es ist Sommer. Ich bin vier Jahre alt. Ich spiele mit meiner Schwester Rita, sie ist schon sieben, Verstecken. Wir rupfen auch Gras für unsere Kaninchen. Rita geht weg, sie will noch irgendetwas holen. Einen Moment später gibt es einen ganz schlimmen großen Knall. Die Erde bebt. Sekundenlang. Es ist eine unglaubliche Detonation, so laut, so extrem. Es riecht nach Verbranntem, sehr, sehr süßlich.

    Später erfuhr ich: Die sowjetischen Soldaten bauten einen Zaun unmittelbar entlang der Straße. Der diensthabende Offizier wies an: „Das Minensuchgerät benötigen wir nicht mehr." Die Soldaten mussten für jeden Zaunpfosten graben und buddeln. Dieses verheerende Kommando kostete fünf Soldaten das Leben.

    Es liegen Körperteile verstreut umher, auf der Straße, auf dem Fahrradweg, im Gras….. menschliche Teile verstreut. Ein unglaublich schrecklicher Anblick. Ich begreife, obwohl ich noch sehr klein bin, kaputte Menschen, fährt es mir durch den Kopf. Ganz viele kaputte Menschen. Ich habe daheim nicht erzählt was ich gesehen habe. Das Ganze war mir unheimlich. Meine Eltern erfuhren von dem Unglück, dachten jedoch, ich hätte von all dem nichts gesehen.

    Neugierig gehe ich vor zur Straße, sehe Beine, Köpfe, Rumpfteile. Ganz knapp vor mir liegt ein Bein mit einem Stiefel, daneben noch viel mehr. Alles ist blutig. Ich habe heute noch ein halbes Bein als Schreckensbild vor mir, aus dem ganz viele Sehnen hingen. Sie sahen aus wie verwahrloste Zwirnsfäden. Der süßliche Geruch kommt von verbranntem Menschenfleisch. Ich habe diesen Duft immer noch in der Nase. Habe ihn später im Jahre 1971, als ich zu meiner Schule nach Jüterbog fuhr, noch einmal gerochen. Ich fuhr damals den kleinen Berg, den Kapan, mit dem Fahrrad hinunter, unmittelbar nach dem Ortseingangsschild von Jüterbog. Eine MiG-21, ein sowjetischer Düsenjet, stürzt ab, laut mit einem schwarzen dunklen Rauchschweif, unfassbar schnell. Ein irres Pfeifen in der Luft, nur Sekunden. Es riecht (wieder) süßlich nach verbranntem Menschenfleisch. Ich habe keine Zeit, ich muss zur Schule. Ich besuche die 11.Klasse der EOS , der Erweiterten Oberschule Jüterbog, genannt Goethe-Oberschule, da darf man nicht zu spät kommen wegen eines Flugzeugabsturzes. Nach der Schule auf dem Rückweg Halt an der Unglücksstelle, in das kleine Wäldchen mit meinem Rad ein Stück hinein. Dort sehe ich einen großen und tiefen Krater. Sehe die verstreuten Teile, Tragflächen der MiG-21 21, der vordere Teil des Flugzeugs hat sich tief in die Erde gebohrt. Später wurde im Ort verbreitet , der Pilot habe sich mit dem Schleudersitz retten können. Eine Lüge. Es roch nach süßlichem Menschenfleisch. Der Pilot war tot. In aller Regel hieß es da: Gestorben für das teure Vaterland, unsere ruhmreiche Sowjetunion. In Zinksärgen wurden die Soldaten, und es gab viele Verluste auf den Truppenübungsplätzen in Jüterbog und Altes Lager, in die Sowjetunion geflogen. Panzer übten Tag und Nacht, die Flugzeuge flogen quasi ununterbrochen. Die Einwohner des kleinen Garnisonsortes hatten einiges zu ertragen, da zusätzlich die Deutsche Reichsbahn Lärm verursachte, die zum Teil durch bewohnte Siedlungen fuhr. Es gab seit 1933 auch eine unterirdische Rollbahn. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg genutzt. Von der Bahn aus konnte man sehen, wie landende Flugzeuge quasi in der Erde verschwanden. Gigantische unterirdische Anlagen hatte Hitler bauen lassen. Die Flugzeuge standen in vielen Hangars und auf dem großen Militärflughafen in Reih und Glied. Ich bin dort als Kind und später als Schülerin mit meiner Freundin auf vielen Erkundungswegen herumgeschlichen. Wir durften uns von keinem Soldaten oder Offizier erwischen lassen. Es war den Deutschen strengstens verboten sowjetisches Militärgelände zu betreten. Jeder DDR-Bürger den ich kannte, hasste die Besatzungsmacht. Unsere Not und die unschönen Lebensumstände hatten wir nämlich denen zu verdanken. Wir lebten in einer Schicksalsgemeinschaft. Die Erwachsenen waren ob dieser Umstände unglücklich und traurig. Tier und Mensch litten darunter. Es waren Jahre des Entbehrens und des Leidens. Für uns Kinder war viel Abenteuer dabei und wir lernten die Lügen kennen, die der Erwachsenen, der Politik und der Lehrer. Wir lernten selbst das Lügen. Das war anstrengend und bekam uns schlecht.

    Ich habe als Schülerin mal ein Buch in altdeutsch gelesen. Meine Mutter und meine Oma schrieben noch immer altdeutsch, meist in Schreibschrift.

    Für das Lesen brauchte ich viel Zeit. Es war recht schwierig, fesselte mich aber sehr. Bedauerlicherweise habe ich es dann wieder in die Bodenkammer geschafft zu den anderen Büchern und aus den Augen verloren. Es handelte von einer kranken Person, die sich wenige Wochen vor dem Tod mit Fäden in den Händen beschäftigte, die überhaupt nicht existierten. Mit den Fingern wurde immer wieder simuliert, dass man Fäden wegnahm, sich diese ansah oder auch wunderte, wo denn die Fäden überhaupt herkämen. Es waren Zeichen des Todes. Wenige Wochen bevor meine Oma starb gab sie fast nur noch Halbsätze von sich, die man nicht deuten konnte. Sie sagte dann:Mamam tu tu. Keiner verstand es. Zudem spann sie zwischen ihren Fingern Fäden, die überhaupt nicht existierten. Ich war hoch erschrocken als ich es das erste Mal bemerkte. Wenige Wochen später war meine Oma verstorben.

    Ein weiteres Mal habe ich das Phänomen beobachtet, als mein Mann Paul ins Krankenhaus kam. Er war stark vom Krebs gezeichnet. Die Chemotherapie und die Bestrahlungen hatten keinen Erfolg gebracht. Die Karzinome waren schon zu groß. Die Ärztin gab ihm nur noch wenige Tage. Mehr wird er nicht schaffen, sagte sie zu mir. Auch er spann imaginäre Fäden zwischen seinen Händen. Ich war geschockt. Es waren die Zeichen des Todes.

    Wir DDR-Bürger haben die „Behandlung" der stationierten Soldaten ignoriert. Die Soldaten wurden schlecht versorgt, mussten extrem viel arbeiten und kamen mit der großen Entfernung zu ihrer Heimat nicht klar. Die Eltern durften keine Päckchen schicken, ihr Mittag bestand meist aus Kohlsuppe, währenddessen die Offiziere gutes Essen mit viel Fleisch zur Verfügung hatten. Die Fakten waren bekannt. Niemand sprach darüber. Ein riesengroßes Tabu. In ihrem Heißhunger auf Fleisch töteten die sowjetischen Soldaten jegliches Wild, das sie erlegen konnten.

    Wenn Soldaten in der Nacht schrien, wenn Schüsse fielen, wenn Menschen von den sowjetischen Militärfahrzeugen überfahren wurden; die Politik sorgte dafür, dass die Wahrheit, so gut es ging, vertuscht wurde. Die Fahrschule der russischen Militärs lief zum Beispiel dergestalt ab, dass ein junger Soldat, oftmals gerade achtzehn Jahre alt, von einem Offizier angewiesen wurde, rechts fahren, bremsen und anhalten. Die Kommandos kamen wie ein Gewehrfeuer. Dieser Soldat kannte keine Verkehrszeichen, kaum Technik der LKWs, Jeeps oder Busse, er bekam schnelle Kommandos und wurde nicht nur angebrüllt, sondern auch geschlagen. Das war Alltag, keiner sprach über diese Zustände. Keiner wagte auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Der Einheimische hatte Angst. Eine Nachbarin meiner Eltern verlor ihre achtjährige Tochter. Ein russischer Kleinbus überfuhr sie. Ein schrecklicher Unfall. Sie war nach ihren beiden großen Söhnen das heißersehnte Mädchen gewesen. Der Fahrer des Busses sollte später bei der Polizei aussagen: Es war, als ob ich über einen Ball fahren würde.

    Mein Vater war der Protokollant.

    Mein Vater, in Riga geboren, war der deutschen wie der russischen und polnischen Sprache mächtig. Im Krieg arbeitete er oft als Dolmetscher. Meine Oma, meine Tante und mein Vater mussten zu Beginn des Krieges als Flüchtlinge Riga verlassen. Die drei großen Wohnhäuser stehen heute noch dort, der Besitz meiner Großeltern. Weil mein Vater nur eine Hand hatte, wurde er nicht zum aktiven Wehrdienst eingezogen. Er gehörte quasi zu den Leuten, die zu den „rückwärtigen Diensten kamen". Gleich nach dem Krieg arbeitete er nur noch in der Kommandantur und übersetzte Schriftstücke, Gespräche und Diskussionen mit deutschen Behörden.

    Später, als Buchhalter in einem Landtechnischen Instandsetzungswerk, organisierte er im Rahmen der deutsch-sowjetischen Freundschaft Hilfsdienste für das Werk. Wenn die Produktion, in diesem Falle waren es Reparaturarbeiten an den landtechnischen Maschinen, einmal wieder nicht geschafft wurde, halfen sowjetische Soldaten im Werk. Sie bekamen Limonade und ein warmes Essen. Meist einen Eintopf mit Bockwurst. In jedem Falle musste irgendetwas mit Fleisch oder Wurst dabei sein. Die Soldaten waren dankbar und arbeiteten fleißig. Für sie war es quasi wie eine Auszeichnung. Raus aus der Kaserne, weg von dieser Tristesse. Es war eine willkommene Abwechslung. Mein Vater sorgte dafür, dass das Mittagsgericht irgendwie Fleisch enthielt. Er sorgte auch dafür, dass es Limonade gab, die mochten die Soldaten sehr. Sie waren dankbar, dass ein Deutscher ihre Sprache verstand und fließend antworten konnte.

    Wenn sowjetische Offiziere feierten, ging es heftig und laut zu. Getrunken wurde Wodka, die berüchtigten Sto-Gramm-Gläser. Dazu gab es getrockneten Fisch aber auch Brot. Dieses jedoch auch trocken. Russen kennen keine Margarine, kaum Butter.

    Gebraten wurde mit Öl. Ich erinnere mich an einen Bericht im Fernsehen, Hilfsgüter wurden in die Nähe von Tschernobyl gebracht. Es waren

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