Alle meine Packer: Beinahe ein Schelmenroman
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About this ebook
Was ihn und seine Mitarbeiter manchmal fast hätte verzweifeln lassen können, beschreibt der Autor mit viel Humor und Augenzwinkern. Zu Recht stehen am Anfang des Buches zwei Zitate: "Die Arbeit ist heilig, aber selig, wer sich davor hütet" und das Goethe-Zitat "Die Menschen sind, trotz all ihren Mängeln, das Liebenswürdigste, was es gibt."
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Book preview
Alle meine Packer - Martin Renold
Zitate
Die Arbeit ist heilig, aber selig, wer sich davor hütet. (Alter Spruch)
Die Menschen sind, trotz allen ihren Mängeln, das Liebenswürdigste, was es gibt. (Goethe)
Die Rose der Frau Direktor
„Achtung vor dem Hunde!"
Das Schild mit dieser Aufschrift ist nicht, wie zu erwarten wäre, an der Tür des kleinen Hauses mit den kleinen Fenstern befestigt, sondern an einem Gartentor, das neben dem kleinen Haus zu einer respektablen, alten in einem parkähnlichen Garten verborgenen Villa führt, besser gesagt, führen würde, wenn es – das Gartentor – nicht verriegelt wäre. Wird es aufgeschlossen, so geschieht dies aus drei verschiedenen Anlässen: erstens einem harmlosen, zweitens einem weniger harmlosen und drittens einem noch weniger harmlosen. Ersterer findet täglich statt, wenn der Gemahl der Herrin des Hauses, ein bescheidenes, unauffälliges Männlein, seinen Mercedes aus der Garage auf dem Vorplatz oder eigentlich eher Hinterhof des kleinen Hauses holt und darin zu Arbeit wegfährt. Der zweite geschieht etwas unregelmäßiger, nämlich dann, wenn die Herrin des Hauses selbst in der Absicht, in die nahe Stadt zu fahren, ihren Chevrolet aus derselbe Garage herausmanövriert, rückwärts an der Hausecke vorbeizirkelt – was einer Lotterie mit Treffern und Nieten gleichkommt – und auf den geteerten Weg zusteuert, der in starkem Gefälle, aber immerhin pfeilgerade zur Dorfstraße hinunterführt. Da die Rückwärtsfahrt der Frau Direktor nicht parallel zum Weg und zu den ihn umsäumenden Blumenbeeten erfolgt, werden letztere in schöner Abwechslung bald rechts und bald links in Mitleidenschaft gezogen. Der dritte Anlass zum Aufschließen des Gartentors ereignet sich glücklicherweise höchst selten: Was dann geschieht vollzieht sich aber meist mit umso bestürzenderer Heftigkeit.
Ein solcher Anlass scheint an diesem sonnigen Vormittag vorhanden zu sein.
Das Gartentor hat sich geöffnet. Die hohe, schlanke, in Bezug auf Schönheit immerhin nostalgische Gefühle erweckende Gestalt der Frau Direktor hat sich durch das Tor und auf die Haustür mit den kleinen Fenstern zubewegt.
Dem energischen Klingeln zum Trotz bleibt einige Zeit, um sich ein paar Gedanken zu machen, wer da so kategorisch aus der Verschlafenheit herausgeläutet werden soll. Das Häuschen, das offenbar einmal als Gärtnerhaus diente, macht allerdings einen verschlafenen Eindruck. Die altehrwürdigen Koniferen des Gartens werfen dunkle Schatten auf das pittoreske Häuschen, und man kann sich kaum vorstellen, dass hinter den kleinen Fenstern, die mit undurchsichtigen Vorhängen – wenigstens gegen Süden und gegen Westen auf die Seite des Parks hin – verhängt sind, jemand arbeiten kann. Der Gedanke, dass in dem malerischen Haus ein Kunstmaler hausen könnte, muss also fallen gelassen werden. Auf den ersten Blick widerspricht hingegen nichts der kindlichen Fantasie, dass es sich um ein Hexenhaus handeln könnte.
Jetzt geht aber doch schon die Tür auf, und im Türrahmen erscheint nicht ein Philosoph und auch kein Dichter, sondern eine Frau von ungefähr vierzig Jahren.
Mit einem eiskalten Lächeln auf den Gesichtern stehen sich die beiden Frauen –welche von beiden ist wohl die Hexe? – gegenüber.
„Guten Tag, Frau Direktor."
„Hören Sie mal, Fräulein, äh… Fräulein …"
„Frau, bitte!"
„Frau…äh?"
„Knopf, bitte."
„Also, Frau Knopf, es ist da etwas sehr Bedauerliches vorgekommen."
Fragendes Schweigen auf Seiten der Frau Knopf.
„Gestern Abend habe ich an einer Rosenstaude da neben dem Haus, etwas unterhalb, gegen die Straße hin, eine Rosenknospe bemerkt, die ich heute abschneiden wollte. Mein Mann hat nämlich Geburtstag, müssen Sie wissen. Noch heute früh, als ich wegfuhr, sah ich sie leuchten, eine wundervolle Knospe, ein Traum von einer Rose. Wenn Sie Rosen so lieben wie ich, können Sie sie unmöglich übersehen haben."
„Ja, gewiss, Frau Direktor, ich erinnere mich. Sie müssen wohl extra einen weiten Bogen um sie herum gefahren haben. Die Stauden weiter oben und weiter unten waren zu Boden gedrückt, nur gerade diese stand aufrecht. Die Knospe war tatsächlich nicht zu übersehen. Ich erinnere mich genau, Frau Direktor, ein prächtiges Rot mit einem leichten Schimmer zu Gelb hin."
„Ja, das war sie, ein Maler hätte sie nicht schöner malen können. Aber nun denken Sie, heute, wie ich aus der Stadt zurückkomme, ist die Knospe fort, einfach weg."
„Nicht möglich."
„Doch, sehen Sie selbst!"
Die beiden Frauen begeben sich um die Ecke und stehen vor der Stätte der Verwüstung.
„In der Tat, die Rose ist weg, stellt Frau Knopf mit aufrichtigem Entsetzen fest. „Sie war so schön am Aufgehen. Schrecklich. Ich verstehe Ihren Schmerz, Frau Direktor. Wer konnte nur? Ein solcher Frevel! Haben Sie einen Verdacht?
„Darum komme ich zu Ihnen. Sie sitzen doch den ganzen Tag da drin. Haben Sie niemanden bemerkt? Ich möchte ja niemanden verdächtigen. Vielleicht hatten Sie Besuch, der nicht wusste, dass die Rose mir gehörte."
„Wo denken Sie hin?!"
„Oder Ihr Packer…"
„Wir haben gegenwärtig keinen Packer."
„Vielleicht kam jemand von der Straße herauf. Die Rose leuchtete so verführerisch."
„Ja, sie sah verführerisch aus. Ein Mensch mit einem Herz aus Stein, der sich nicht von einer solchen Rose verführen ließe!", sagt Frau Knopf.
„Ein herzloser Mensch, der eine solche Rose einfach abschneidet! Haben Sie wirklich niemanden den Weg heraufkommen sehen?"
„Wissen Sie, Frau Direktor, ich bin hier um zu arbeiten, nicht um auf Ihre Rosen aufzupassen. Zudem kann ich gar nicht durchs Fenster sehen. Sie wissen ja, unsere Vorhänge sind undurchsichtig."
„Aber doch nicht auf dieser Seite. Soll das übrigens ein Vorwurf sein?"
„Ganz im Gegenteil, Frau Direktor, wir sind Ihnen ja dankbar, dass Sie uns nicht bei der Arbeit beobachten wollen und dass wir nur gegen Osten die Fenster öffnen dürfen, aber von meinem Arbeitsplatz sehe ich nicht einmal durch das offene Fenster auf Ihre Rosen."
„Aber vielleicht haben Sie jemanden gehört?"
„Diebe schleichen leise heran, Frau Direktor."
„Ja, es muss schon so sein. Meine prächtige Rose, wie sie geduftet haben muss. Als ich an ihr vorbeifuhr, ist mir ihr Duft förmlich in meine geistige Nase gedrungen, wenn ich mich so ausdrücken darf"
„Sie dürfen, Frau Direktor. Es steht Ihnen gut. Ja, die Rose roch wirklich bezaubernd."
„Sie haben also an ihr gerochen‘"
„Natürlich", gesteht Frau Knopf freimütig.
„Was heißt natürlich? Das sind meine Rosen. Ich liebe es nicht, wenn fremde Menschen ihre Nasen in meine Rosen stecken. Vergessen Sie nicht, dass Ihr Verlag nur das Haus gemietet hat, nicht den Garten und auch nicht die Garage. Gestern Nachmitttag stand übrigens ein fremdes Auto drin. Mein Mann musste auf der Straße parken. Es war äusserst peinlich für ihn. Er hatte einen Geschäftsfreund bei sich und konnte nicht einmal in die eigene Garage fahren. Wirklich peinlich. Aber mein Mann ist viel zu feinfühlig und zu rücksichtsvoll, um zu reklamieren. Darum sage ich es Ihnen jetzt wieder einmal. Mein Mann hat gezittert vor Wut. Wenn er von einem Herzschlag getroffen wird, mache ich den Verlag dafür verantwortlich. Jawohl, so ist es, Frau Knopf. Ich hoffe, Sie haben verstanden."
„Das fremde Auto gehörte nicht mir."
„Vielleicht Ihrem neuen Chef?" (Damit meinte sie mich.)
„Nein, der kommt zu Fuß", belehrt sie Frau Knopf.
„Dann sagen Sie es Ihren Besuchern, dass das unsere Garage ist und nicht Ihre."
Ohne Gruß wendet sich die Frau Direktor von Frau Knopf ab, geht durch das Gartentor zurück, verriegelt es wieder von innen und geht über einen schmalen Kiesweg zur Villa, die hinter den Bäumen und den Rosensträuchern entlang des Kiesweges mehr zu ahnen als zu sehen ist.
„Achtung vor dem Hund?", muss Frau Knopf ungewollt lesen, als sie der Frau Direktor nachschaut.
„Die hat doch ihrer Lebtag nie einen Hund gehabt", denkt sie.
Dann wendet auch sie sich plötzlich ab, geht ins Haus, knallt die Tür hinter sich zu, murmelt etwas wie dumme Gans und setzt sich wieder an die Schreibmaschine. Bevor sie jedoch die nächste Bücherrechnung schreibt, nimmt sie die hellrot leuchtende, frisch aufgeblühte Rose aus der Vase und hält sie lange unter ihre plebejische, von Frau Direktor Ledergerber beleidigte Nase und zieht den herrlichen Duft ein.
„Himmlisch", flüstert sie und muss dabei an die mindestens zehn ebenso bezaubernden Knospen denken, die geknickt und niedergewalzt in den Blumenbeeten der Frau Direktor liegen als unschuldige Opfer des Autoverkehrs.
Gesucht, ein Packer
Frau Knopf ist meine Sekretärin. Zugleich ist sie Fakturistin und – wenn Not am Mann ist, und das ist gerade der Fall – auch Packerin. Kurz vor dem geschilderten Ereignis habe ich als neuer Verlagsleiter meine Stelle in dem idyllischen Häuschen angetreten. Angetreten habe ich auch: Frau Knopf, die Sekretärin, eine von ihrem um zwölf Jahre jüngeren Mann geschiedene Frau, dann eine halbe Buchhalterin, die allerdings in meiner Geschichte nicht nur deshalb nicht in Erscheinung tritt, weil sie nur nachmittags arbeitet, sondern weil sie so humorlos ist, dass sie sich zu stolz fühlte, in ihrem Leben auch nur ein einziges Buch zu verpacken, und deshalb den Ehrentitel „Packer" gar nicht verdient. Mitarbeiter meines Verlags, die auf den nachfolgenden Seiten auftreten dürfen, haben also mindestens den Versuch unternommen, in die Geheimnisse eines Verlagspackers einzudringen. Zu diesen gehören einmal Herr Kienspan, der damals noch Mädchen für alles war, uns aber schon bald verließ, um sich als Kaufmann auszubilden, und der später manches Comeback bei uns feierte. Mein erster wirklicher Packer aber war ein blasses, dunkeläugiges , schwarzhaariges Mädchen, das Tag für Tag eine Menge Bücher packte und die Pakete eigenhändig mit einem Leiterwagen zur nahen Post oder Bahnstation brachte. Da das Mädchen schon vor meinem Kommen gekündigt hatte, war ich gezwungen, als erste Amtshandlung einen Packer zu suchen. Und damit begann meine Leidensgeschichte.
Wir zählen das Jahr 1956. Das war noch die gute alte Zeit. Damals gab es noch Packer in Hülle und Fülle. Man durfte noch erwarten, dass sich ein Packer schriftlich um die ausgeschriebene Stelle bewarb. Es gab sogar welche, die ein Passbild beilegten.
Es war im Mai jenes Jahres, als das Inserat erschien: Gesucht kräftiger, ehrlicher Packer. Schriftliche Offerte erbeten usw.
Am nächsten Tag hatte ich sechzig Offerten auf meinem Pult liegen. Zwanzig der Offertsteller kamen leider nicht in Frage, weil sie bisher schon Packer waren und jetzt einen gehobeneren Posten als Bürodiener, Chauffeur, Vorarbeiter, Aufseher oder Kontrolleur suchten. Siebzehn schieden aus, weil sie ein Salär verlangten, das eine Anpassung aller anderen Saläre nötig gemacht hätte. Da aber der Verlagsleiter mindestens zehn Prozent mehr erhalten sollte als ein gewöhnlicher Angestellter, konnte ich es nicht verantworten, mein Gehalt von einem Tag auf den anderen zu verdoppeln.
Von den dreiundzwanzig verbleibenden waren immerhin einige einer eingehenden Prüfung wert. Fremdsprachige Arbeiter waren interessanterweise damals noch nicht darunter. Selbst was anfänglich wie Spanisch oder Türkisch aussah, stellte sich nach längerem Studium des Textes als eine Art von rudimentärem Deutsch heraus. Da ein Packer auch Paketbordereaux für die Post schreiben muss und Frachtbriefe für die Bahn, fielen weitere zwölf Bewerber aus der Wahl. Fünf wohnten zu weit weg, so dass sich die Arbeit in der kurzen Zeit zwischen Ankunft und Heimfahrt gar nicht gelohnt hätte. Drei gaben von vornherein an, nur vormittags oder nachmittags arbeiten zu wollen.
Nach Prüfung aller Offerten ergab sich folgende Rechnung:
60 – 20 – 17 -