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Tonstörungen: Malernovelle
Tonstörungen: Malernovelle
Tonstörungen: Malernovelle
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Tonstörungen: Malernovelle

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In der Novelle wird - quasi im Zeitraffer - das Leben eines in die Jahre gekommenen Malers aufgerollt. Der Autor spürt den sozialen Einflüssen nach, durch die der Künstler geprägt wurde und die darin gipfelten, dass sich bei ihm eine Redestörung entwickelte. Dieses Manko begleitete seinen Lebensweg von Kindheit an und ließ ihn einerseits schmerzlich an Grenzen stoßen und mit seinem Selbstbild hadern, andererseits aber zu Ausdrucksformen gelangen, die ihm öffentliche Anerkennung brachten. Die Beziehungen des Malers und seine verpassten Chancen werden beleuchtet, wobei der Erzählstrang nicht im Privaten haften bleibt, sondern in Exkursen Einblicke in sein künstlerisches Schaffen bietet. Im Alter muss er sich noch einmal mit dem Phänomen mangelnder sprachlicher Präsenz befassen, weil eine ihm verbundene Person vergleichbare Probleme hat. Er fühlt sich verantwortlich, dem jungen Menschen zu helfen, wobei ihm aufgrund seiner Lebenserfahrung Strategien einfallen, die ausprobiert werden. Örtlich wird ein Bogen zwischen Hamburg und Paris, zeitlich zwischen den spießigen 1950er-Jahren und dem leichtfertigen Jetzt geschlagen.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit wären zufällig.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateFeb 13, 2019
ISBN9783742705402
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    Book preview

    Tonstörungen - Wilhelm Koch-Bode

    Begleitperson

    Am Gänsemarkt würden sie aussteigen. Endlich. Steif, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Knie eng zusammengepresst, hockt er neben der jungen Frau. Bewacht sie aus den Augenwinkeln. ‚Das Schlimme‛ denkt er, ‚kommt nicht! Es fängt gar nicht erst an. Heute bleibt alles gut. Gefahr vorbei‛. - Tatsächlich, manchmal bleibt alles gut, aber oft wird es schlimm, richtig schlimm. Noch drei Stationen bis Gänsemarkt. ‚Halte durch! Bitte!‘ kommt es lautlos von seinen Lippen.

    Verdammt … hat nicht geklappt … geht los, der Mist. Die Vorboten sind immer gleich: Angewinkelte Arme. Geballte Hände. Scharrende Füße. Pendelnder Kopf. Flache Atmung. Spätestens jetzt fängt sein Herz an zu rasen. Das Gesicht der Frau läuft rot an, auf Nase und Stirn perlt Schweiß. Ihr magerer Körper wird von einem Stakkato trockener Hustenstöße geschüttelt. Hört sich an wie das aufgeregte Gekläff eines kleinen Hundes - eines Spitzes oder so ähnlich. Mit lautem Quietschen - wie bei einer Schranktür, die hektisch hin und her schwenkt - schnappt sie nach Luft. Der Mund weit offen, die Hände an die Ohren gelegt - etwa so, wie der Mensch auf einem Gemälde, das Der Schrei heißt und das ihm der Großvater in einem Buch gezeigt hat. Mit dem Oberkörper schaukelt sie vor und zurück, fasst sich an die Kehle, rudert wild mit den Armen, stampft mit den Füßen auf, zieht die Beine an die Brust. Nach zwei, drei Minuten ebbt das Keuchen ab. Schlapp, mit noch schweren, aber langsameren Atemzügen, sitzt sie da. An der nächsten Haltestelle steigen Mutter und Kind aus und gehen zu Fuß weiter.

    Während vier, fünf Minuten hat der Junge sich wie im freien Fall gefühlt: voller Angst, wo und wie er lande, die Mutter sich überlassend, während sie ums Überleben kämpft. Dass es hier um etwas ganz Bedrohliches ging, um etwas, das einen ganz schlimmen Ausgang nehmen könnte, hatte er schon beim ersten Mal gespürt. Den gehetzten Blick der Mutter, ihr Ringen um Luft, auch das Aufsehen, das sie hervorrief, erlebte er wohl noch zwölf-, dreizehnmal - nicht nur in der Straßenbahn, ebenso in Wartezimmern bei Ärzten. ‚Heute bleibt sie still‛, ‚nichts passiert‛, ‚sie kriegt gut Luft‛. Sein stummes Flehen beendete der Junge erst, wenn die Mutter im Sprechzimmer verschwand. Leider hatte er nicht immer Erfolg, aber dann kam wenigstens eine von den weiß angezogenen Frauen und brachte sie ganz schnell raus. Mit rotem Kopf hockte er da, bis sie endlich abgefertigt war. Manchmal biss er sich ein paar Nägel ab. Wenn er es nicht hinkriegte, beim Abendessen die Fingerkuppen so nach innen zu biegen, dass die Stellen nicht gleich ins Auge fielen, musste er eine Schimpfkanonade des Vaters - willensschwach, undiszipliniert, liederlich, einer mit schlechten Angewohnten, die auf die Eltern zurückfallen, sei er - über sich ergehen lassen.

    Der Junge bekam mit, dass die Mutter nicht nur in der Tram, sondern auch anderswo diese schrecklichen Anfälle kriegte. So gingen die Schuberts, den Jungen allein lassend, abends eigentlich gern mal ins Kino. Sie besaßen auch ein Abo fürs Theater. Nach ein paar Monaten gaben sie die Besuche aber ganz auf, denn - so hatte er es aufgeschnappt - die Mutter überkam es auch dort. Deshalb hatte das Paar wohl schon einige Male überstürzt den Saal verlassen müssen.

    Oft hielten den Jungen Phantasien fest - von einem qualvollen Erstickungstod, seinem eigenen wie dem der Mutter. Unterwegs mit ihr, fieberte er in größter Anspannung - auf den nächsten Ausbruch wartend. Obwohl er den Verlauf dieser seltsamen Anfälle mittlerweile kannte, wurde er jedes Mal neu von Entsetzen gepackt. Wenn es dann vorbei war, atmete er erleichtert auf, fühlte sich aber nur für den Moment frei, denn die Not der Mutter war ja nicht vorbei. Die Angst um sie blieb sitzen, gleichzeitig schämte er sich für sie. Schließlich entgingen ihm nicht die Reaktionen der Leute - wie sie seine Mutter anstarrten, extra zur Seite guckten, sich woanders hinsetzten. Oder fragten: Haben Sie was verschluckt? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie einen Arzt? Soll ich Ihnen auf den Rücken klopfen? Oder sich murmelnd austauschten: Unverantwortlich, so in die Straßenbahn zu steigen! Ja, ’ne wandelnde Bazillenschleuder! Man steckt sich bei der noch an! Die scheint wohl mit galoppierender Schwindsucht unterwegs zu sein!

    Mitten in einem Spektakel zu sein, obwohl er nur stiller Begleiter der Hauptfigur war - das war für den Jungen alltägliches peinliches Erleben. Und ihn beschäftigten Fragen, die er den Eltern nicht zu stellen wagte: Was ist denn eine Bazillenschleuder? Was bedeutet galoppierende Schwindsucht? Schleudern war, wenn der Großvater ihn an den ausgestreckten Armen hielt und sich mit ihm im Kreise drehte. Zwar hatte er keine Ahnung, was Bazillen sind, aber das Wort hörte sich nicht gut an. Klang irgendwie nach Stechen, Beißen, Kratzen, Kribbeln oder so. Jedenfalls hatte die Mutter nur dagesessen und nichts geschleudert. Und galoppieren? Das taten Pferde. Wieso nahmen die Leute an, sie hätte etwas mit einem Pferd zu tun, dessen Namen er nicht verstanden hatte … Geschwind so, Schwimmsucht oder so ähnlich? Geschwind hatte was mit Schnellsein zu tun … aha, schnelles Husten war wohl gemeint, aber zum Schwimmen ging die Mutter gar nicht. Wieso konnten die fremden Leute ihr irgendwas Geheimnisvolles wie Schwimmsucht ansehen?

    Was nun genau mit seiner Mutter los war, konnte Rudi sich nicht erklären. Oft war sie traurig. Weinte, ohne dass er irgendeinen Grund sah. Einmal hatte er im Treppenhaus des Mietshauses, in dem er wohnte, Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Die Pohlsche und die Sauerkraut - so nannte die Mutter Frau Pohl und Frau Sauer - hielten im Schwatzen inne und grienten ihn an, als er die Treppe heraufkam, aber er hatte gerade noch gehört, dass sie die Schubert für schwermütig und hüsterisch hielten. Verlegen drückte er sich an den fülligen Matronen vorbei. Nun ja, hüsterig kam hin und schwermüdig hörte sich irgendwie nach einer Last an, die sie trug, und nach Müdigkeit. Wurde sie etwa nur schwer müde? Das war ihm noch nicht aufgefallen. Die Pohlsche und die Sauerkraut so über seine Mutter tratschen zu hören, hatte ihn doch sehr geärgert.

    Die seltsamen Anfälle, die Frau Schubert bekam, überhaupt ihre Gesundheit, besser: ihr Kränkeln, schienen eine Herausforderung für Spezialisten zu sein. Jedenfalls verbrachte Rudi im Schlepptau der Mutter viel Zeit in Wartezimmern verschiedener Arztpraxen. Sie konnte ihn ja noch nicht sich selbst überlassen. Und im Kindergarten war er nicht, was in den 1950er-Jahren normal war, denn Frauen, die nicht arbeiten gingen, behielten die Kinder meistens zu Hause. Einmal bekam er mit, wie sie dem Vater vom letzten Arztbesuch erzählte. Das Nervenkostüm ist zu dünn, habe der Doktor gesagt und Fege dat tiefe Düster nie. Klar, dass vegetative Dystonie damals noch nicht zu Rudis Sprachschatz gehörte. Dat Düster - war damit das Düstere gemeint? Eigentlich sprach sie nicht so - also dat für das, wie manche Leute. Düster war ja so ähnlich wie dunkel. Konnte man Düsteres wegfegen? Klar - mit Licht. Aber warum sollte man das nicht tun? Und ein Nervenkostüm? Nerven hatten irgendwie mit dem Kopf zu tun. Ein Kostüm zog sie manchmal auch an - blau, dicker Stoff. Hieß das, dass ein Hut ein Nervenkostüm ist? Ach so, dann brauchte sie einfach nur etwas Wärmeres zum Aufsetzen.

    Irgendwas machte Frau Schubert zu schaffen. Rudi kriegte manchmal Krach mit … nein, so schlimm war es nicht … lautes Reden vielleicht … wie Katzen jaulen und Hunde bellen. Warum dann so schlechte Laune war, kapierte er nicht. Erst als Jungendlicher, als er genug gelesen und im Kino gesehen hatte, reimte er sich die eine oder andere Erklärung zusammen. Natürlich spekulierte er nur herum, aber konnte es nicht sein, dass sie sich irgendwie eingepfercht fühlte? Dass das übereilt zustande gekommene Ehebündnis sich als Joch erwies? Dass sie bereute, dem Drängen Schuberts, der zwischen fünfzig und fünfundsiebzig Prozent mit dem Kriegstod rechnete und deshalb Lebensziele wie Ehe, Kinder und sowas unbedingt noch schnell abgehakt haben wollte, nachgegeben hatte? Ohne das Gegenüber wenigstens ein bisschen mit seinen Ecken und Kanten kennengelernt zu haben? Na ja, jedenfalls fühlte sie sich wohl nicht wie auf Rosen gebettet. Freude hatte sie an gar nichts und außerhalb des Hauses traute sie sich so gut wie nichts zu. Und dann auch noch auf jemanden angewiesen, der selber unzufrieden war und für Spaß nicht viel übrig hatte?

    Herr Schubert wirkte selten gut gelaunt. Eigentlich war er ja noch jung, schien aber verbittert wie ein um Haus und Hof gebrachter Gutsherr. Ein Verlierer, der allerdings sorgsam darauf bedacht war, körperlich in Bestform zu bleiben. Stundenschwimmen - er hatte das Totenkopfabzeichen in Gold für zwei Stunden -, 10.000-Meter-Lauf, Riegenturnen gehörten selbstverständlich zum Wochenprogramm. Aber er haderte wohl heftig mit seinem Los als subalterner Büromensch, dem bräsige Amtsschimmel ohne Fronterfahrung Weisungen erteilen konnten. Rudi hatte einmal ein Gespräch zwischen Großmutter und Großvater, denen von Mutters Seite, mitgekriegt. „Die Ehe unserer Kleinen, seufzte der Opa, „steht nicht unter einem guten Stern. Sie - so ‘ne zarte Elfe - verbandelt sich ausgerechnet mit so ‘nem kantigen Zinnsoldaten. „Ja, pflichtete die Oma ihm bei, „wäre sie bloß nicht zum Maitanz in Jork gegangen oder hätte wenigstens Schubert seinen Fronturlaub anders genutzt, statt sich zur selben Zeit da rumzutreiben - dann wär‘ sie jetzt mit Oskar Oostermann, dem guten Jungen, zusammen. Säße auf ’nem schönen, großen Obsthof. Und wenn wir sie dann besuchten, gingen wir durch die prächtige Prunkpforte! Ja, Oskar hätte sie geheiratet, auch wenn das den alten Oostermanns enorm gegen den Strich ging, für die nur die Tochter eines Obsthofes mit ordentlicher Mitgift als Bäuerin in Frage kam. Um das Gezeter der Alten ein für allemal abzuwürgen, hatte der junge Oostermann schließlich klare Kante gezeigt und seine Mutter daran erinnert, dass sie aus einer Elbfischerkate stammte, der Opa ein Stintfänger mit drei Reusen und die Oma Obstpflückerin, und dass sie als Dienstmagd auf dem Oostermann-Hof angefangen hatte. Aber dagegen sei damals ja wohl nichts einzuwenden gewesen, oder? Woraus habe denn ihr Brautschatz bestanden, bitte? Oskar hatte sowieso Oberwasser; ohne ihn lief auf dem Hof nichts. Er musste nicht einmal mehr in den Krieg, denn schon 1941 war er als Invalide aus Russland zurückgekehrt. An Kopf und Rumpf Bombensplitter abbekommen, die Fleischwunden vernarbt, das rechte Auge aus Glas, was für ihn, der einen scharfen Blick auf sein Obst brauchte, ziemlich fatal war.

    Nun, die Rechnung, dass die als Jungbäuerin in Betracht gezogene Elfe ihn demnächst beim Beäugen des Reifezustands von Äpfeln und Birnen unterstützen würde, ging nicht auf. Herr Schubert kam ins Spiel. Ein forscher Typ mit geschliffenen Manieren, dazu von schnellem Entschluss: Feldpostbriefe - im nächsten Urlaub Verlobung - im übernächsten Hochzeit. Die junge Frau folgte ihm aus der Idylle des Alten Landes in die Steinwüste Hamburgs, wo er eine Wohnung genommen hatte. Nach ein paar Tagen fuhr er zurück an die Westfront; Frau Schubert arbeitete, wie es sich gehörte, in einer Munitionsfabrik. Jedenfalls solange, bis Rudolf auf die Welt kam. Nachdem Herr Schubert aus diesem Anlass eine Woche Heimaturlaub bei Mutter und Kind verbracht hatte, entschwand er wieder - Mutter und Kind waren allein. Manchmal sonntags, wenn auf dem Hof die Arbeit ruhte, setzte Oskar Oostermann sich in den Zug nach Hamburg, um die Soldatenfrau mit Obst, Trockenfrüchten, Marmelade und selbst gekeltertem Most im Gepäck zu besuchen. Deren Entscheidung für das zackige Mannsbild hatte ihn zwar gekränkt und, ja, traurig gemacht, klar, aber seine Zuneigung nicht gelöscht. Kann sein, dass er insgeheim damit rechnete, dass Schubert aus dem Krieg nicht zurückkäme - so, wie es ihm ja beinahe ergangen wäre. Auf jeden Fall setzte er alles daran, ihr freundschaftlich verbunden zu bleiben. Und so brach der Kontakt auch nicht ab, als der Krieg längst vorbei war und Oskar die von seinen Eltern gut gelittene Tochter vom Hof drei Häuser weiter geheiratet hatte. Natürlich gab es später nicht mehr viele Begegnungen, jedenfalls keine geplanten, - nein, das wäre unschicklich gewesen, aber wenn Frau Schubert mal mit Rudi bei ihren Eltern im Alten Land war, kam es über die Jahre doch zu einigen Zufallstreffen auf der Straße oder in irgendeinem Laden. Später wagte er sogar, sie ab und zu mal anzurufen und zu hören, wie es im Leben so läuft. Und weil er bei ihrem Vater ab und zu etwas nähen, ändern oder ausbessern ließ, wurde die Schneiderstube zur Relaisstation für den Hin-und Her-Transport von Grüßen und Infos über Erwähnenswertes aus dem Alltag hüben wie drüben.

    Von ihren neuen Verwandten wurde die junge Mutter nicht sehr geschätzt, denn sie kam, wie die alten Schuberts stichelten, aus einfachen Verhältnissen - in Stade Büro gelernt und sich als Stenotypistin verdingt. Der alter Herr Schubert war immerhin Hauptsekretär bei der Bahn und amtierte auf einem Haltepunkt in der Lüneburger Heide als Stationsvorsteher. Auf diese Stellung bildete sich die alte Frau Schubert eine Menge ein. Sie kam aus einer Altonaer Schusterfamilie mit sieben Kindern und war Verkäuferin in einem Hamburger Juweliergeschäft gewesen. Nun ja, zumindest stellte sie ihre frühere Stellung so dar und erwähnte gern nebenbei, dass der eine oder andere wohlhabende Kunde ihr seinerzeit den Hof gemacht habe. Okay, in Wahrheit war sie in dem Juwelierhaushalt Dienstmädchen gewesen und hatte neidisch das Ladenmädchen beäugt. Das stand adrett angezogen im Geschäft und gaffte durchs Schaufenster, wenn sie Hundedreck vom Trottoir kratzte oder Schnee in die Gosse schob. Da kam ihr der aufstrebende Jungeisenbahner natürlich gerade recht. Der erwies sich ja auch als gute Partie - das Bahnwärterhaus in der Heide, das er ihr bot, quasi ein eigenes Reich; später die Vorsteherwohnung im Bahnhof, in dem die Familie residierte, fast eine herrschaftliche Bleibe. Und dann auch noch Beamtengattin … fast eine Gnä‘ Frau … wie die Gnädigste, die in der Etage über dem Schmuckladen thronte.

    Stolz trug sie auf dem Mantel einen Fuchskragen und gab mit ihren Gläsern aus Bleikristall an. Sowas kannte sie aus dem Juwelierhaushalt. Schuberts Schwester Mechthild, Mecki genannt, hatte eine Banklehre gemacht und einen Eiermann geheiratet. Okay, zugegebenermaßen war der nicht als fliegender Händler mit Eierkartons hausieren gegangen, sondern hatte einen Großhandel betrieben und andere für sich laufen lassen. In den letzten Kriegstagen war er gefallen; nach einer kurzen Anstandsfrist verheiratete Mecki sich mit dessen bestem Freund, einem Molkereibesitzer. Sie besaß ein Tafelservice aus Meissener Porzellan und silbernes Besteck. Jeweils 24-teilig. Die alte Schubert und Mecki kriegten auch, wie es sich in ihren Kreisen gehörte, einen Persianermantel, grau die eine, schwarz die andere. Ach, und einen Brillantring und eine Krokotasche dazu. Die junge Frau Schubert machte sich aus solchen Sachen nichts, weshalb sie in Gegenwart des Mutter-Tochter-Gespanns meist auch nur wenig zum Gespräch beitragen konnte.

    Zur Schwägerin Mecki zu sagen, ging schon mal gar nicht; das Weibsbild war und blieb ’ne Mechthild für sie. Punktum! Der Igel von der Hör Zu! war viel zu drollig, um als Namenspatron für solch eine Zicke herhalten zu müssen. Sie hatte auch vermieden, die Schwiegereltern mit Vater und Mutter anzusprechen, wie es in vielen Familien üblich war. Das Beim-Vornamen-nennen, wie ihr Mann sich das bei ihren Eltern herausnahm, wurde erst später modern. Um wenigstens etwas Distanz zu bekunden, kam Frau Schubert auf eine eigenwillige Variante des Hamburger Sie - Guten Tag, Schwiegermutter, ist Ihnen nicht zu warm im Pelz? Guten Tag, Schwiegervater, geht’s mit Ihrer Blase ein wenig besser? So angeredet zu werden, hatte die Alten zwar zuerst befremdet, aber beim zweiten Hinhören fanden sie es eigentlich ganz schick, denn es klang irgendwie vornehm - wie in besseren Kreisen. Selbstverständlich duzten sie das Frauenzimmer und konnten damit wenigstens, was ihnen sehr gelegen kam, ein gewisses Ungleichgewicht im Verhältnis betonen.

    Allein mit Frau Schubert, konnten die alte Frau Schubert und Mechthild es manchmal nicht lassen zu betonen, wie hoch angesehen sie doch seien im Vergleich zu ihren Leuten in der Elbmarsch, und zu sticheln, dass dort ja eigentlich nur jemand etwas gilt, der aus der Obstbauernschaft

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