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Rudolf Mittelbach hätte geschossen
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Rudolf Mittelbach hätte geschossen

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Rudolf Mittelbach ist Staatsanwalt in Hamburg und erzählt die Geschichte seines Freundes Heinrich Görgen. Der hat sich aus ärmlichen Verhältnissen zu einer gesicherten Existenz hochgearbeitet, bevor die Finanzkrise und hartherzige Bankiers seine Existenz bedrohen. Mit kühler und knapper Sprache, ohne Larmoyanz beschreibt der Autor die Mechanismen der bis heute andauernden Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf einzelne Menschen. "Erstaunlich, wie anschaulich hier die gefährlichen Manipulationen der Hochfinanz in einen spannenden Roman verpackt werden", schrieb ein Kritiker.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateApr 28, 2015
ISBN9783737541985
Rudolf Mittelbach hätte geschossen

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    Rudolf Mittelbach hätte geschossen - Friedrich von Bonin

    Impressum

    Epubli Verlag, Berlin

    Copyright © Friedrich von Bonin 2011

    ISBN 978-3-7375-4198-5

    Zu lang schon waltest über dem Haupte mir,

    Du in der dunklen Wolke, du Gott der Zeit!

    Zu wild, zu bang ist´s ringsum, und es

    Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke.

    (Der Zeitgeist, Hölderlin)

    2010

    1.

    Die gegenwärtige Krise zeigt uns deutlich, wohin Gier, übersteigertes Gewinnstreben und Maßlosigkeit von uns normalen Menschen, aber vor allem von Bankiers, und dem akkumulierenden Kapital führen kann. Alles ist durch die Krise ins Wanken geraten. Man verzeihe mir diese rebellisch anmutenden Sätze, die mir in meiner Funktion nicht wohl anständen, aber das Ausmaß der derzeitigen Krise, die Politiker und Bankmanager dazu führt, eine Milliarde Euro gewissermaßen als kleinste kalkulatorische Einheit zu behandeln und mit dieser Betrachtungsweise einfache sterbliche Menschen wie mich anzustecken, hat mich durch ihre Größenordnung, die sozialen Gefahren für unser Gemeinwesen und die Kosten, die sie verursacht, aus meinen gewohnten Denkbahnen geworfen.

    Ich bin Staatsanwalt in Hamburg, Rudolf Mittelbach ist mein Name, und ich sitze über der Leichenakte Heinrich Görgen.

    Draußen tobt der erste Sturm dieses Herbstes mit einer ungewöhnlichen Heftigkeit, der Wetterbericht hat Sturmböen in Orkanstärke vorausgesagt, und die spärlichen Bäume auf dem Gorch Fock Wall, an dem meine Behörde residiert, biegen sich unter der Naturgewalt, ihre Blätter, die noch kaum gelb geworden sind, dem Sturm preisgebend. Immer wieder prasseln Regenschauer, ebenfalls vom Sturm getrieben, fast waagerecht gegen meine Fenster, es ist mit einem Schlage kalt geworden. Haben gestern die Menschen noch, nur mit Hemd und Hose bekleidet, bei zwanzig Grad vor den Kaffeehäusern gesessen, so herrschen jetzt allenfalls sieben Grad, die wenigen Menschen, die durch die Stadt hasten, sind dick gegen Regen und Sturm vermummt, Regenschirme sieht man nicht, sie würden in dem Sturm auch nur verbogen.

    Die Akte Heinrich Görgen ist eine Leichenakte, so werden die Akten genannt, die über einen Toten handeln, dessen Tod nicht durch natürliche Umstände herbeigeführt wurde, sondern in irgendeiner Weise den Verdacht erregt, er könne gewaltsam oder mindestens unnatürlich sein. Gier und gewaltsamer Tod, nicht umsonst verbinden meine Gedanken diese beiden Erscheinungen, zeigt doch die Habgier in ihrer übersteigerten Form möglicherweise das ungeschminkte Wesen des Mannes, sein Böses, seine Wildheit, seine Gewaltbereitschaft, die allerdings durch die Zivilisation gezähmt wurde und durch Gewinnsucht sublimiert wird. Sagte ich das Wesen des Mannes, das Böse im Mann? Ich muss mich da versprochen haben, ich meinte natürlich das Wesen des Menschen, es wird erfasst von der Begehrlichkeit, strebend nach immer mehr und immer Größerem und immer Neuerem, in zunehmendem Masse beteiligen sich auch Frauen an der Jagd nach dem Geld und bereichern sie mit Ideen, die sich in der Krise als ebenso gefährlich herausgestellt haben wie die ihrer männlichen Kollegen. Auch sie sind unentbehrlicher Teil in diesem Mechanismus geworden. Dennoch: Wildheit und Gewalt sind männliche Eigenschaften, die Frauen wohl auch haben können, aber dann eher ausnahmsweise, wie es Männer gibt, die diese Wildheit nicht haben, sie in fast weibischer Weise entbehren. Ich zum Beispiel, Staatsanwalt in Hamburg, Oberstaatsanwalt, bekenne mich offen dazu: Ich bin nicht gewalttätig, Zeit meines Lebens bin ich der körperlichen Gewalt und überhaupt Auseinandersetzungen mit Erfolg ausgewichen. Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, Männern, die nie in einen Krieg verwickelt waren, in dem sich die bösesten Urtriebe der Männer und der Menschen so schrecklich entlarven, in dem sich die Zivilisation, auf die ich besonders stolz bin, als dünne Decke um den Urmenschen erweist, die sofort bricht, wenn es Gewalttaten gilt.

    Insoweit ist mit der Gier, die eine Form kultivierter Gewalttätigkeit ist, sogar gut leben, ist sie doch Ausdruck einer Zivilisation, die so weit als möglich friedlich, keinesfalls jedenfalls kriegerisch ist. Dieser Satz kann nicht unbedingt stehen bleiben, was nämlich, wenn die Habgier in einer Krise mündet, die soziale Verwerfungen zeitigt, Unruhen, die wiederum Gewalt produzieren und dann die Gewalttätigkeit des Menschen nackt und bloß legt. Was diese Krise noch hervorbringt, ist für uns Zeitgenossen am heutigen Tage nicht vorhersehbar, wir werden die Folgen jedenfalls alle zu tragen haben, der eine mehr, der andere weniger. Wenn es stimmt, was einer der bedeutenden zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaftler sagt, der die Habsucht verteidigt mit der Erwägung, sie sei in der Geschichte der Menschheit stets treibende Kraft für Kreativität und Fortschritt gewesen, dann wird dies nicht die letzte Krise dieser Art gewesen sein und sich eher noch verschärfen.

    Vor mir liegt die Leichenakte Heinrich Görgen, ich sollte die Akte nach Frankfurt zurückgeben, ich habe sie mir kommen lassen, um die Einzelheiten seines Todes für mich zu klären. Ich habe Heinrich Görgen gekannt, ja, zeitweise war er mir ein guter Freund. Schließlich taten sich aber unüberwindliche Gräben zwischen uns auf, seine Eltern waren arm, meine wohlhabend. Bis zuletzt habe ich, von meinen Eltern behütet erzogen, das Problem nicht erkannt, es auch vielleicht nicht sehen wollen. Nun gut, es gab vielleicht andere Gründe für unsere Entfremdung, aber die wären nicht unüberwindlich gewesen.

    2.

    Aufgewachsen bin ich am Rande des inneren Straßenringes, der das Zentrum meiner Heimatstadt Eimstadt umgibt, in einem dieser Bürgerhäuser, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden sind, prächtig, aber nicht zu prächtig, mit zwei Stockwerken, groß genug, damit meine Eltern, mein Vater ist Vorsitzender Richter am Landgericht meiner Heimatstadt gewesen, ihre drei Kinder, mich, den Ältesten, und meine zwei Schwestern darin großziehen konnten. An das Haus schloss sich ein kleiner Garten, gerade groß genug, damit wir darin tollen konnten, nicht zu groß, damit er von meiner Mutter noch gepflegt werden konnte. Die Villa lag noch zentral in dieser mittelalterlichen Stadt in der Nähe von Hamburg, die früher einmal Hansestadt gewesen war, jetzt aber diesen Titel nicht mehr führte. Unser Haus war geräumig, im Erdgeschoß befand sich hinter der Haustür und dem Windfang ein riesiges Wohnzimmer, das Platz bot für eine Sitzecke, wie meine Eltern sie nannten, einem niedrigen Tischchen mit drei bequemen Ledersesseln und einem ausladenden Sofa darum und, in der Nähe der bis auf den Boden reichenden Gartenfenster, den Esstisch mit zwölf Stühlen davor, aus Eiche der Tisch und die Stühle, deren Sitzfläche mit schwarzem Leder bezogen waren. Neben dem Wohnzimmer befand sich eine Küche, die groß genug war, um der Familie Alltags zu den Mahlzeiten an einem Tisch Platz zu bieten, im Übrigen mit Herd, Kühlschrank und Waschmaschine ausgestattet. Hier nahmen wir Kinder das Frühstück ein, die wir früh aufstehen und aus dem Haus zur Schule mussten, das Mittagessen ebenfalls getrennt, mein Vater kam an Sitzungstagen unregelmäßig nach Hause, das Abendbrot versammelte die ganze Familie pünktlich um ein halb acht in der Küche, sonntags im Wohnzimmer. Diese Mahlzeit war es auch, vor der mein Vater die Hände faltete, wartete, bis auch die Familie die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt hatte, dann ebenfalls den Kopf senkte und das Gebet sprach „Komm Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns aus Gnaden bescheret hast. Amen."

    Erst dann war es erlaubt, die Mahlzeit zu beginnen, es gab abends Brot mit Aufstrich zu essen und Tee zu trinken, für meinen Vater sonntags einen weißen Wein.

    Mein Vater war ein ehrfurchtgebietender Mann, nicht über ein mittleres Maß groß, aber mit einem bedeutenden Kopf, mächtig, kantig, mit einer breiten und hohen Stirn unter schlohweißem Haar, ich kann mich nicht erinnern, ihn mit braunem Haar gesehen zu haben. Unter der Stirn und den buschigen, ebenfalls weißen Augenbrauen hatte er bemerkenswert klare blaugraue Augen, mit denen er über den Tisch sah und die einen trafen, wenn man etwas falsch gemacht hatte. Keiner von uns Kindern mochte es gerne wagen, diesen Blick auf sich zu ziehen. Eine schmale Nase und ebenso schmale Lippen bildeten einen bemerkenswerten Gegensatz zu der großen Stirn, das Gesicht wurde nach unten durch ein kräftiges Kinn abgeschlossen. Seine linke Wange verunzierte ein großes rotes Feuermal, das sich, geriet mein Vater ausnahmsweise einmal in Zorn, tiefer rötete und den furchterregenden Eindruck des Gesichtes verstärkte. Ich habe meinen Vater selten ohne Anzug, weißes Hemd und Krawatte gesehen. Meine Mutter wirkte sich dagegen bescheiden aus, schmal, mit einem gütigen Gesicht, blickte sie unter braunen Haaren aus ebenso braunen Augen traurig auf uns herab, wenn wir Dummheiten gemacht hatten.

    Seit ich denken kann, war ich mit Dietrich Alpmer und Malte Matter befreundet, der erste der Sohn unseres Hausarztes, der zweite aus dem Hause des Rechtsanwaltes Matter stammend, der eines der angesehensten Anwaltsbüros in unserer Stadt betrieb. Oft habe ich meinen Vater achtungsvoll über diesen Rechtsanwalt erzählen hören, der als exzellenter Jurist, dazu als fleißig und beständig galt.

    Mit beiden Freunden streifte ich seit unserer frühen Kindheit durch Eimstadt. Als kleine Kinder spielten wir in den jeweiligen Gärten unserer Elternhäuser, die in erreichbarer Nähe lagen, seit wir in die Schule gingen, hatten wir unseren Radius erweitert und stöberten durch die Straßen unserer Stadt. Was gab es da zu entdecken. Da war zunächst der Stadtstreicher Heini, wie alle Welt ihn nannte, den wir verfolgten, wenn er durch die Straßen ging und ihm „Heini, Heini", hinterherriefen. Das machte gleichzeitig Spaß und war furchterregend, weil die Passanten, die Heini und uns sahen, beifällig lachten und uns sogar anspornten, furchterregend wurde es, wenn Heini sich plötzlich umdrehte und drohte, uns zu verprügelten, wenn wir nicht von ihm abließen. Einmal erschreckte er mich tatsächlich beinahe zu Tode, weil er nach einer solchen Drohung sich nicht wieder abwandte, sondern tatsächlich hinter uns, die wir in alle Richtungen auseinanderstoben, herlief und sich ausgerechnet entschied, mich zu verfolgen. Ich rannte, was ich konnte, suchte verzweifelt ein Geschäft, in das ich flüchten konnte und in das er mir nicht folgen würde. Ich war aber aus Versehen in eine stille Straße ohne Geschäfte gelaufen und hörte, wie er, der schneller laufen konnte als ich, mir immer näher kam, bis ich eine Straße mit Geschäften erreichte und in den nächsten Laden stürmte, ein Herrenbekleidungsgeschäft, in das er mir nicht folgte. Völlig außer Atem lehnte ich mich gegen den Verkaufstresen, um mich auszuruhen, wurde aber von dem Verkäufer angesprochen, der den Achtjährigen, der japsend an seinem Tresen stand, als störend empfand und hinausjagte. Vorsichtig steckte ich die Nase auf die Straße, aber Heini war verschwunden und blieb es auch, als ich im Trab nach Hause lief. Am gleichen Nachmittag vergewisserte ich mich, dass auch Dietrich und Malte entkommen waren.

    Durch die Stadt floss die Scharte, ein kleiner Fluss, der in früheren Jahren, so hatten meine Eltern erzählt, völlig verseucht worden war durch Abwässer, Dünger aus der Landwirtschaft und alles, was man sonst hineingeworfen hatte. In der Altstadt machte der Fluss immer noch einen sehr verdreckten Eindruck, vor der Stadt aber war er inzwischen so weit geklärt, dass wir ohne Bedenken darin schwimmen konnten. Im Ort selbst lagen in einem kleinen Hafen die Segelboote, die Eigentümern aus der Umgebung gehörten, vertäut. Wir konnten stundenlang am Ufer des Flusses sitzen und uns erträumen, wohin wir segeln würden, wenn wir groß wären. Dietrich kannte sich mit Booten aus, er wusste, wohin man von hier aus segeln konnte, gehörte doch eines der am Steg vertäuten Segelboote seinem Vater, der uns allerdings strengstens verboten hatte, es in seiner Abwesenheit zu betreten. Wir durften einmal mitfahren, aber nur aus dem Hafen heraus und an das Ufer des Flusses. Nicht nur Segelboote lagen im Hafen, auch Binnenschiffe, die ihre Fracht in unsere Stadt trugen und wieder beladen wurden. Das waren lange Schiffe, mit richtigen Wohnungen in den hinteren Bereichen, in denen auch die Steuerhäuser lagen, und einer kleinen Wohnung im vorderen Teil für den Bootsmann. Ein Schiff, das immer wieder kam, hieß Line und mit seinem Bootsmann, Richard, freundeten wir uns an. Er hatte uns gefragt, ob wir nicht einmal seine Kajüte sehen wollten und neugierig hatten wir zugestimmt. Wir waren auf das Schiff geklettert, achtern, wie er sagte, und waren den schmalen Laufgang an der Ladefläche vorbei nach vorne gegangen und dort über eine steile Leiter nach unten gestiegen, in sein Reich, wie er es nannte. Winzig war die Kajüte, nur mit einer schmalen Koje ausgestattet, mit einer kleinen Kochecke und, verschämt hatten wir die Köpfe gewendet, mit Zeitungsausschnitten mit nackten Mädchen über der Koje. An der Wand gegenüber aber waren Postkarten aufgeklebt, Karten von den Städten, wo sie mit Line schon überall gewesen waren. Hamburg, das war klar, aber dann die Elbe hinauf, durch den Mittelandkanal und auf den Rhein, bis nach Koblenz, dann wieder zurück, den Main bis Frankfurt, weiter über den Main aufwärts bis zur Donau und ins Ausland, bis Budapest, so zeigten die Karten, war die Line gekommen. Monatelang nach diesem Besuch antwortete ich auf die Frage, was ich werden wolle, „Bootsmann auf der Line."

    Mit sechs Jahren lernten wir Fahrrad fahren und fuhren hinaus aus der Stadt, im Sommer die zur Scharte, bis zu einer Stelle, an der man ungefährdet in den Fluss kommen konnte, um zu baden. Die Scharte war hier vielleicht vierzig Meter breit, tief allerdings, und floss nur träge. Wir drei Freunde konnten anfangs nicht schwimmen und planschten am Ufer im Wasser, bis Dietrich anfing, zu tauchen.

    „Wetten, dass ich ohne schwimmen zu können, über die Scharte komme?" Ein leichter Schauer packte mich, als Dietrich das triumphierend fragte. Ich wusste, wenn Dietrich heil an das andere Ufer kam, was da unerreichbar vierzig Meter weit entfernt lag, dann schwamm auch Malte hinüber und dann musste auch ich, koste es was es wolle, den Versuch wagen. Also tat ich so, als hätte ich die Frage nicht gehört, vergeblich allerdings, denn Malte ging sofort darauf ein.

    „Schaffst du nie, du ersäufst, lass es lieber, sonst kriegen wir mit deinen Eltern Ärger."

    Aber Dietrich hatte darauf nur gewartet, er sprang vom Ufer mit dem Kopf zuerst in das Wasser, blieb unter der Oberfläche unsichtbar, weil die Scharte Moorwasser führte, zwar sauber, aber dunkel. Nach bangen Sekunden tauchte er auf, er hatte ein Viertel des Flusses hinter sich, schnaufte, prustete und ging wieder unter Wasser. Wieder vergingen Sekunden und wieder kam er hoch, schnaubend, ächzend und tauchte erneut unter. Dann war er auf der anderen Seite zu sehen, stehend im seichten Wasser und triumphierend wie ein Sieger die Arme hochreißend. „Es ist ganz einfach, schrie er, „macht das mal nach!

    Wie ich es geahnt hatte, ließ sich Malte das nicht zweimal sagen, sprang ebenfalls in den Fluss, auch er kam nach drei Gängen auf der anderen Seite an, ebenfalls die Arme hochreißend. Was blieb mir zu tun? Ich sprang in den Fluss, tauchte unter und schwamm unter Wasser aus Leibeskräften, immer in die Richtung, in der ich das andere Ufer vermutete. Als mir die Luft ausging, tauchte ich auf, schnappte verzweifelt nach Luft, sah, dass ich in die richtige Richtung geschwommen war und tauchte wieder unter, mit vollen Kräften schwimmend. Nach einem weiteren Auftauchen und erneutem Schwimmen und einem dritten Auftauchen hatte auch ich das Ufer erreicht, wo ich mich erschöpft, aber zufrieden auf dem Gras niederließ, das an diesem Ufer wuchs.

    Ich erinnere mich genau an diesen Sommertag, als ich auf dem duftenden Gras lag, auf dem Rücken, in den Himmel blickend, die Sonne strahlte auf meinen Körper, der nach dem kühlen Wasser die warmen Strahlen genoss, hörte mit halbem Ohr die Prahlerei meiner beiden Freunde, an denen ich mich aber nicht beteiligte, wusste ich doch, dass ich allein nie auf den Gedanken gekommen wäre, den Fluss zu durchschwimmen. Statt dessen fühlte ich es unter mir im Grase krabbeln, Ameisen und Käfer trieben da wohl ihr Unwesen, hörte über und neben mir Spatzen tschilpen, die sich um eine Stück Futter zankten, beobachtete eine Lerche, die sich singend in den Himmel schraubte. Von fern hörte ich auf der anderen Seite des Flusses das Badeleben, Frauenstimmen, die ihre Kinder riefen, Männer, die sich unterhielten und Gleichaltrige, die am Ufer spielten. Ich war matt, zufrieden und zum ersten Mal in meinem jungen Leben bewusst glücklich.

    „Was habt ihr denn heute gemacht?" fragte meine Mutter am Abend bei der Mahlzeit und ich erzählte ihr von meiner Heldentat.

    „Mein Junge, Rudolf, die Stimme meines Vaters hatte einen ernsten Unterton, ohne dass sie böse klang, „ich möchte nicht, dass du das noch einmal machst, das ist zu gefährlich. Aber ich merke, dass du schwimmen lernen willst, morgen früh gleich darfst du dich in der Badeanstalt zum Schwimmlehrgang anmelden, da ist Herr Hülsen, der Bademeister, melde dich bei ihm und sag, dass ich dich schicke und er soll dir das Schwimmen beibringen.

    Und tatsächlich ging ich mich, und Dietrich und Malte folgten mir, zum Schwimmunterricht, den wir nach nur drei Tagen mit dem Freischwimmer beendeten. „Die können doch schwimmen, erzählte Herr Hülsen meinem Vater, „die brauchten bloß die Finger nicht zu spreizen, sondern zusammen zu legen, und dann schwammen sie los.

    Im Jahr darauf kamen wir drei, Dietrich, Malte und ich, auf das Gymnasium.

    3.

    Zum ersten Mal sah ich Görgen in der zehnten Klasse des Gymnasiums. Görgen stieß zu uns von einer Realschule, er war von Anfang an Außenseiter. Wir, das war eine Klassengemeinschaft von vielleicht zwanzig Schülern, davon zwölf Jungen und acht Mädchen, halbwüchsig, vierzehn, fünfzehn, einige sechzehn Jahre alt.

    Görgen war schön, ich nicht, noch heute bin ich nicht schön, etwas zu schwammig, nicht etwa fett, oh nein, aber eben auch nicht schlank, mit etwas Bauch, mit leicht angedeutetem Doppelkinn, blasser Hautfarbe, blonden Haaren, die unmerklich in grau übergehen und schütter werden. Schwammig war ich schon damals und neidisch auf die durchtrainierten Körper meiner Freunde. Obwohl ich, blass und blond, heimgesucht von einer entsetzlichen Pickelplage bis zum Abitur war, tat das meinem Ansehen unter den Freunden keinen Abbruch, alle hatten Pickel, also konnte der ebenfalls pickelbehaftete Jüngling nicht abseits gedrängt werden.

    Heinrich Görgen dagegen, der war Außenseiter, auch vermöge seines Aussehens. Kleiner als wir, und weniger entwickelt, hatte er feine, fast mädchenhafte Züge. Unter einer Stirn, die für sein Alter viel zu hoch war, hatte er weit auseinander stehende langgestreckte braune Augen, die schmal geschnitten waren und einen bestimmten Ausdruck hatten, der noch dadurch verstärkt war, dass er so gut wie keine Lider hatte, Schlupflider, wie wir sie bei asiatischen Menschen kennen, und tatsächlich hatte sein Gesicht etwas asiatisch fremdartiges mit der flachen kleinen Nase, die auf einen vollen roten Mund fiel, der den Eindruck des Mädchenhaften verstärkte, wenn nicht eigentlich hervorbrachte. Deutlicher wurde dieses Empfinden, wenn Görgen zu sprechen anfing, er war der einzige in der Klasse, dessen Stimme noch nicht gebrochen war, noch nicht einmal zu brechen angefangen hatte. Mit einem klaren Knabensopran brachte er seine Antworten vor, wenn er von Lehrern gefragt wurde, Antworten, die in aller Regel richtig waren und ihm das Lob der Lehrer nach kurzer Zeit einbrachten. War er Außenseiter schon aufgrund seines Aussehens, wurde er es noch mehr, weil er die Anerkennung der Lehrer erwarb und bald Primus der Klasse wurde. Der eigentliche und entscheidende Grund für seine Abgesondertheit war aber seine gesellschaftliche Herkunft. Wir alle, die wir in die zehnte Klasse gingen, waren Bürgerkinder, mein Freund Dietrich etwa kam aus einem Arzthaushalt, wir gingen zusammen mit Veronika über den Schulhof, der Tochter eines angesehenen Im- und Exportkaufmanns. Kinder von Rechtsanwälten, Apothekern, Ärzten und Handelsleuten waren wir, alle erzogen in dem Bewusstsein einer behäbigen Wohlhabenheit. Unsere Stadt war in den Jahren nach dem Krieg zunehmend verfallen, mit einer Altstadt, in denen Fachwerk der vorherrschende Baustil war. Fachwerk, das verfiel und demnächst hätte abgerissen werden müssen, hätten es nicht vorausplanende Stadtväter verstanden, einiges an Industrie in die Randbezirke der Stadt zu ziehen, in die umliegenden Dörfer, diese dann einzugemeinden und mit der von den Industriefirmen eingezogenen Gewerbesteuer eine Sanierung der Altstadt zu beginnen. Wir als Bürgerkinder hatten sogar die Freiheit, uns den Versammlungen von jungen Menschen anzuschließen, die sich gegen die Industrieansiedlungen am Rande der Stadt, besonders gegen ein Atomkraftwerk, das gebaut wurde, zu wehren.

    Ganz anders das Leben unseres Schulkameraden Heinrich Görgen, der in einem der umliegenden kleinen Bauerndörfer auf einem Hofe wohnte, den Hof zu nennen wegen der Kleinheit, der Vater hatte einige dreißig Morgen Land, fast schon vermessen war. Der nächst größere Hof hatte etwa achtzig Morgen. Görgen hatte nach ungefähr einem Jahr, kurz vor Ende des Schuljahres, etwas Vertrauen zu mir gefasst, warum er mich auserwählt hatte, war mir nicht erklärlich. Anfangs wehrte ich mich gegen seine Nähe, brachte sie mir doch den Spott meiner anderen Mitschüler ein, andererseits rührte mich seine schüchterne Anhänglichkeit und so folgte ich eines Tages seiner mehrfach vorgebrachten Einladung und fuhr an einem Sommertag mit dem Fahrrad hinaus auf das Land und in das Dorf, an dessen Rand Görgen wohnte. Ein winziges Bauernhaus erwartete mich da, umgeben von einer Wiese, auf der einige Schweine und Kühe ihr Wesen trieben, zwischen ihnen suchte ein kleines Hühnervolk sein Futter. Über dem Hof und dem Dorf war ein leichter Geruch nach Land, nach den Schweinen und den Hühnern, den ich aus der Stadt nicht gewohnt war. Görgen erwartete mich schon am Hoftor, begrüßte mich mit einem erfreuten Lächeln und führte mich in das Haus. Über eine Diele, an die die Ställe für die Kühe anschlossen waren, ging es in die Wohnräume, winzig, allerdings mit einer riesigen Küche, in der mich Görgens Mutter begrüßte. Sie war eine dralle, große Frau mit riesigen Brüsten, einem rotem Gesicht, in dessen derben Zügen ich die eleganten Züge meines Kameraden wiederzuerkennen suchte, vergebens. Auch der Vater, der den Hof zusammen mit zwei anderen Söhnen bewirtschaftete, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Schulkameraden, vierschrötig, kantig, stapfte er mit schweren Schritten in die Küche, begrüßte mit einer lauten Stimme zuerst seine Frau, die er hungrig nach dem Mahl fragte, dann seinen Sohn Heinrich und schließlich mich. Auch dieser mächtige Bauer hatte mit seinem Sohn keine Gemeinsamkeit, ebenso wenig wie die beiden Brüder, die weder die Feinheit ihres Bruders hatten noch Anzeichen der Intelligenz zeigten, die ich bei Heinrich mit der Zeit zu schätzen gelernt hatte. Später vertraute er mir einmal an, in seinem Dorf und in der Familie sei sein Aussehen häufig besprochen worden. Er komme wohl, so sagte seine Mutter, nach einer Tante von ihr, die ihr Onkel aus der Stadt geheiratet hatte und die ähnlich fein gebaut gewesen sein sollte.

    Im Kreise seiner Familie nahm ich den Kaffee ein, bekam von dem Kuchen zu schmecken, den die Bauersfrau selbst gebacken hatte und versuchte, dem Gespräch der Familie zu folgen, was mir Schwierigkeiten bereitete, sprachen doch der Bauer und seine Söhne plattdeutsch, das ich nur mäßig beherrschte und über Gegenstände der Landwirtschaft, von denen ich nichts wusste. Sie begegneten ihrem Sohn und Bruder mit einer achtungsvollen Höflichkeit, die seine Ausnahmestellung in der Familie noch betonte.

    Heinrich beobachtete mich aufmerksam, bemerkte wohl auch mein Unbehagen, jedenfalls lud er mich nicht noch einmal ein. Öfter aber folgte er mir nach der Schule in mein elterliches Haus, um an unserem Mittagessen teilzunehmen und besonders meinen Vater, je älter wir wurden, mit der Klugheit seiner Bemerkungen zu verwundern. Ich gebe zu, in den Stolz auf meinen Freund mischte sich dann und wann mit Neid. Gerne hätte ich von meinem Vater annähernd wohlwollende Worte gehört wie die, die er an Heinrich richtete.

    Es blieb eine schüchterne und scheue Freundschaft, die uns beide Jungen verband, die aber immerhin dazu führte, dass er als mein Freund an Zirkeln der Achtzehnjährigen teilnahm, denen ich angehörte und in denen wir anfingen, uns mit politischen Themen zu beschäftigen, mit Lyrik der anderen Art, die wir in der Schule nicht zu lesen bekamen. Francois Villon lasen und kommentierten wir, Baudelaire und Charles Bukowski, deren Gedichtbände jedenfalls meine Eltern lieber nicht in meinem Zimmer finden sollten. Auch nahmen wir an Versammlungen teil, die über das eben erbaute

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