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Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt
Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt
Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt
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Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt

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Level, Erfahrungspunkte, Lebensenergie: Wo kommen diese in fast jedem Computerspiel auftauchenden Konzepte eigentlich her? Die Antwort lautet: Sie stammen aus drei kleinen braunen Büchlein, die 1974 in den USA veröffentlicht wurden. In ihnen befanden sich die Regeln für "Dungeons & Dragons" (D&D), das erste Fantasy-Rollenspiel.
Alles was danach kam, von "The Bard's Tale" bis "World of Warcraft", hat seinen Ursprung in diesen sogenannten Pen&Paper-Rollenspielen, die man mit Papier, Bleistift und Würfeln spielte. Viele derer, die man heute als Generation C64 oder als Nerds bezeichnet, saßen in den Siebzigern und Achtzigern mit Freunden um den Küchentisch und durchstreiften als Zwerge oder Elfen Verliese voller Monster.

Der Einfluss von Rollenspielen auf die Populärkultur ist immens: Sie tauchen in Dutzenden Filmen und Büchern auf, "Simpsons"- Erfinder Matt Groening und die Schauspieler Vin Diesel, Robin Williams oder Mike Myers sind ebenso erklärte D&D-Fans wie der Schriftsteller George R. R. Martin, Technikpionier Elon Musk oder Comedystar Steven Colbert.

Zum vierzigjährigen Jubiläum von "Dungeons & Dragons" zeichnen die Autoren Konrad Lischka und Tom Hillenbrand die Geschichte der Fantasy-Rollenspiele in diesem aufwendig produzierten Buch nach. Über vier Jahre haben die beiden dazu recherchiert und mit Dutzenden Veteranen aus der weltweiten Spieleszene gesprochen, darunter Richard Garriott, Designer der "Ultima"- Computerspiele, Steve Jackson, Miterfinder des interaktiven Buchs ("Der Hexenmeister vom flammenden Berg"), Ian Livingstone ("Warhammer", "Tomb Raider") und Werner Fuchs, dem Macher des erfolgreichsten deutschen Rollenspiels "Das Schwarze Auge".

Zusätzlich haben die Autoren Dutzende alte Fotos ausgegraben, darunter viele verschollene und nie zuvor gezeigte Bilder aus den Anfängen des Rollenspiels.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateOct 7, 2016
ISBN9783741855580
Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt

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    Drachenväter - Tom Hillenbrand

    Einleitung ¦

    Die erste virtuelle Welt

    © Will Merydith, CC BY-SA 2.0, http://flic.kr/p/8qUcGQ

    Einleitung ¦

    Die erste virtuelle Welt

    I got my twelve sided die and I’m ready to roll with a wizard and my goblin crew,

    My friends are comin’ over to my mom’s basement bringin’ Funyuns and the Mountain Dew, I got a big broad sword made out of cardboard and that stereo’s a-pumpin’ Zeppelin,

    It’s that time of the night we turn on the black light let the dungeons and the dragons begin, It’s D&D!

    Fighting with the legends of yore.

    It’s D&D!

    Never kissed a lady before (nope).

    Now ‚The Lord of the Rings‘ the ‚Dark Crystal‘ and things,

    We use these as a reference tool.

    And when we put on our cloaks and tell warlock jokes we’re the coolest kids in the school.

    – Stephen Lynch, „D&D Song"

    Frau S. machte sich Sorgen um ihren Sohn. 17-jährige haben immer Flausen im Kopf, doch Daniels neues Hobby erschien ihr äußerst beunruhigend – noch beunruhigender als die Gruftie- und Punk-Phase, die der Junge im Vorjahr durchlebt hatte. Damals war es um Musik gegangen, grässliches Gedudel, aber immerhin irgendwie nachvollziehbar. Doch was trieb das Kind nun bloß? Jedes Wochenende traf sich Daniel neuerdings mit anderen Teenagern in einem Gemeindehaus am Stadtrand. Erst spät in der Nacht kam er zurück. Stets nahm ihr Sohn die große Tennistasche mit, vollgestopft mit Getränken, Schokolade und Erdnussflips, die er aus der Vorratskammer räuberte. Vor allem aber packte er viele Bücher ein.

    Dicke Folianten waren das, sie okkupierten seit einiger Zeit alle freien Flächen in Daniels Kinderzimmer. Worum es in diesen Büchern ging, ließ sich nicht so genau feststellen, denn sie waren in Englisch verfasst, und die Sprachkenntnisse von Frau S. waren etwas angestaubt. „Dragons" stand auf dem Cover, Drachen, das konnte sie noch entziffern. Ansonsten war sie auf die Bilder angewiesen, und die waren schauerlich: Teufel oder Dämonen waren dort abgebildet, außerdem leicht bekleidete Mädchen, weswegen sie vermutete, dass die Bücher mit jenen Heavy-Metal-Platten zu tun hatten, von denen ihr eine andere Erziehungsberechtigte berichtet hatte. Ging es also um Okkultismus? Veranstaltete ihr Sohn in diesem Gemeindezentrum mit anderen Halbstarken irgendwelche Rituale? Und welche Rolle mochten die Erdnussflips dabei spielen?

    Abgenutzte alte Würfel aus einem „Dungeons & Dragons"-Set: Klassische Rollenspiele waren die erste virtuelle Welt, ganz ohne Computer. ¦ © Marc Majcher, CC BY-SA 2.0

    Cover eines Werbekatalogs des D&D-Verlags TSR aus dem Jahr 1979: Größtes Spielephänomen der siebziger und achtziger Jahre.

    Cover des AD&D „Players Handbook", Ausgabe von 1980: Die Auflage dieser Regelbücher ging in die Millionen.

    „Es ist nur ein Spiel, Mama, hatte Daniel vorhin auf Nachfragen entnervt erklärt. Dann hatte er sich die schwere Tasche auf den Rücken gewuchtet und war verschwunden. Frau S. ging ins Zimmer ihres Sohnes und schaute sich erneut einige der seltsamen Bücher an. Sie nahm eines in die Hand, einen großformatigen Band mit orangefarbenem Rücken, auf dem „Advanced Dungeons & Dragons stand. Auf dem Cover war ein rauschebärtiger Zauberer abgebildet, um den mehrere geflügelte Dämonen kreisten. Auf der Rückseite stand „Role Playing Game. Frau S. ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes und schlug den Begriff im Langenscheidt nach. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo die vielbändige Brockhaus-Enzyklopädie stand und suchte dort unter „Rollenspiele.

    „Das Schwarze Auge oder „Dungeons & Dragons sind inzwischen Teil der Popkultur geworden.

    Jetzt war sie erst recht beunruhigt.

    Als ihr Sohn gegen ein Uhr nachts nach Hause kam, war Frau S. noch wach. Bevor er die Chance hatte, seine Tasche abzustellen, schoss seine Mutter auf ihn zu: „Wieso triffst du dich mit diesen Drogensüchtigen?"

    Daniel, der zwar entschieden zu viele Chips gegessen und zu viel Cola getrunken hatte, aber ansonsten völlig nüchtern war, brachte nur ein entgeistertes „Was?" hervor.

    „Diese Rollenspiele. Ich habe es nachgeschaut. Das ist eine Therapieform, die von Psychologen verwendet wird. Bei Drogensucht."

    Was Daniel (Name geändert) in den achtziger Jahren widerfuhr, nur weil er mit ein paar Freunden Fantasy-Rollenspiele spielen wollte, dürfte heutzutage kaum noch jemandem passieren. „Das Schwarze Auge oder „Dungeons & Dragons sind inzwischen Teil der Popkultur geworden. Die meisten Menschen unter sechzig haben schon einmal etwas von Rollenspielen, Charakterklassen oder Erfahrungspunkten gehört.

    Das war in den Siebzigern und Achtzigern völlig anders. Fantasyspiele, bei denen jeder Beteiligte die Rolle eines Zauberers oder Kriegers übernahm und dann gemeinsam mit anderen Abenteuer erlebte, waren damals etwas gänzlich Neues. Der Begriff „Spiel bezog sich Mitte der Siebziger ausschließlich auf Brett-, Würfel- oder Kartenspiele. Entsprechend reagierten die meisten Menschen, auf „Dungeons & Dragons spielende Teenager so, wie sie auf Neues meistens reagieren: mit Unverständnis und Angst.

    Daniels Mutter beruhigte sich seinerzeit übrigens erst, nachdem sie mit der Mutter eines anderen Rollenspielers gesprochen hatte. Als sie begriff, dass ihr Sohn Orangensaft trinkend in einem Hobbykeller herumhockte, während andere Teenager kiffend die Hamburger Reeperbahn unsicher machten, gefielen ihr Rollenspiele plötzlich viel besser.

    Innenseiten aus dem TSR-Katalog von 1979: Neben D&D und AD&D verlegte die Drachenschmiede zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche andere Produkte, etwa das Western-Rollenspiel „Boot Hill, das Agenten-RPG „Top Secret oder das nach der nuklearen Apokalypse angesiedelte „Gamma World".

    Zinnfiguren-Diorama: Spiele, in denen historische Schlachten mit Miniaturen nachgestellt werden, sind mit den Rollenspielen verwandt. Zunächst stellte man reale Begebenheiten nach, später spielte man auch Fantasyschlachten  ¦ © Will Merydith, CC BY-SA 2.0, http://flic.kr/p/9XeAQJ

    Würfel und Zinnfiguren bei einer Rollenspielsitzung: Die häufig verwendeten Miniaturen stammen ursprünglich aus Wargames, die es bereits vor den Rollenspielen gab. ¦ © Will Merydith, CC BY-SA 2.0, http://flic.kr/p/8qYLgy

    Fast vier Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von „Dungeons & Dragons durch die Amerikaner Gary Gygax und Dave Arneson ist es heute kaum noch vorstellbar, dass es Rollenspiele als Form des Eskapismus einmal nicht gab. Zwar ist die Zahl jener, die sich mit einem dicken Stapel Spielbücher, Bleistiften und Würfeln an den Küchentisch setzen, um Orks und Drachen zu erschlagen, inzwischen rückläufig – dafür ist die jener, die dies mithilfe des Computers tun, gigantisch. Sogenannte Massively Multiplayer Online Role Playing Games (MMORPG) wie „World of Warcraft oder „Eve Online" haben weltweit über 15 Millionen Spieler. Allein in Deutschland dürfte die Zahl der Computerrollenspieler im Millionenbereich liegen.

    Dank des Internets ist die Idee, sich online eine zweite Identität zuzulegen und virtuelle Welten zu durchstreifen, für Millionen von Menschen selbstverständlich geworden. Sie ergab sich teilweise aus den

    Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Technologie. Vor allem aber stammt die Idee der virtuellen Welt aus jenen Rollenspielen, die in den Achtzigern und Neunzigern zu einer der populärsten Spieleformen wurden.

    MMORPGs haben weltweit über 15 Millionen Spieler

    Rollenspiele waren deshalb so erfolgreich, weil sie etwas vorwegnahmen, das ohne für alle verfügbares Internet nicht möglich war: Sie schufen eine gemeinsame virtuelle Erfahrung. Zu fünft oder sechst saß man zusammen, als Elf, Zwerg oder Waldläufer, und ließ sich von einem Spielleiter durch eine Geschichte führen. Zufallselemente wurden durch Würfel simuliert. Es war wie ein Onlinespiel, nur eben ohne Computer.

    Verschiedene Ausgaben von D&D (im Uhrzeigersinn, von links oben): Die Fortgeschrittenenversion AD&D (1989), D&D-Spielerbuch (1983), D&D-Basisbuch (1981), D&D-Spielerbuch (2000).

    Frühes D&D-Charakterblatt: Jede Spielfigur hat sechs Attribute. Hinzu kommen Charakterklasse, Lebenspunkte, Kampfwerte und Spezialfähigkeiten wie Infravision. ¦ Scan: PlaGMADA.org

    D&D-Erstausgabe (1974): Das Urspiel bestand aus drei unscheinbaren braunen Heftchen wie diesem.

    Die Grundideen des Rollenspiels – von Charakterklassen über Stufen (Levels) bis hin zu Belohnungssystemen (Erfahrungspunkte) – finden sich heute in fast allen Computerspielen und Onlinesimulationen. Das liegt daran, dass jene Nerds, die in den vergangenen Jahren mit dem Aufstieg von Computer und Internet gesellschaftlich und wirtschaftlich an Einfluss gewonnen haben, mit Rollenspielen aufgewachsen sind. „Dungeons & Dragons" (D&D) war, neben dem Homecomputer von Commodore, das Nerdspielzeug par excellence – damit konnten unsportliche Jungs mit zu großen Brillengestellen den muskelbepackten Barbaren geben, durften endlich einmal selbst Helden sein.

    Viele Rollenspieldesigner wandten sich später Computerspielen zu. Es ist wohl kein Zufall, dass das legendäre „Deus Ex, ein Egoshooter mit Rollenspiel- und Stealthelementen, von Warren Spector entwickelt wurde, der jahrelang Pen&Paper-Rollenspiele für TSR geschaffen hat – oder dass viele Level im düsteren „Doom ausgerechnet von Sandy Petersen Level entworfen wurden, jenem Spieledesigner, der auch das Pen&Paper-Rollenspiel „Call of Cthulhu" schrieb.

    Ex-Rollenspieler sind überall. Jedes Mitglied der Generation C64 dürfte in seinem Bekanntenkreis zumindest einen haben, der früher „diese Fantasyspiele gespielt hat. Etliche bekannte Persönlichkeiten haben früher Rollenspiele gespielt oder spielen sie immer noch, darunter „Simpsons-Erfinder Matt Groening, der Schriftsteller George R. R. Martin oder die Schauspieler Vin Diesel, Robin Williams und Mike Myers. Auch der Sänger Ozzie Osbourne, der Comedystar Steven Colbert und die Pornodarstellerin Sasha Grey sind erklärte D&D-Fans.

    Miniatur eines Beholders: Dieses fliegende, magiebegabte Monster ist ebenfalls eine D&D-Erfindung.

    Aber wo kamen Rollenspiele überhaupt her? In diesem Buch geht es nicht nur um die Erfolgsgeschichten von „Dungeons & Dragons oder „Das Schwarze Auge (DSA) und ihren Einfluss auf die Populärkultur, sondern auch um die Wurzeln des Phänomens.

    Sie liegen zum einen in Militär- und Strategiespielen, die sich bis ins alte Preußen zurückverfolgen lassen, und zum anderen in den einzigen virtuellen Welten, die es vor der Erfindung von Rollenspielen und Internet gab: in Büchern. Fantasygeschichten wie der „Herr der Ringe" waren stets auch Entwürfe ganzer Welten, mit Karten, Göttern, Reichen und Völkern. In ihnen siedelten fantasiebegabte Männer wie der Schuster Gary Gygax ihre ersten Abenteuer an. Sie wollten wie Gandalf oder Conan sein, wie Elric oder Buck Rogers. Und deshalb erfanden sie Spielmechanismen, die es Millionen erlaubten, die Abenteuer dieser Figuren selbst zu träumen und zu erleben. Sie waren die Drachenväter und sind die wahren Helden dieses Buchs.

    Die Welt ist eine Scheibe ¦

    Vorläufer des Rollenspiels

    © Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

    Baron Reiswitz ¦

    Preußens Dungeon Master

    Der erste Dungeon Master der Geschichte dürfte Georg Leopold Baron von Reiswitz gewesen sein. Der Kriegsrat entwickelt Anfang des 19. Jahrhunderts für Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, ein Kriegsspiel. Die Erfindung besteht aus einer Reihe von Spielfiguren verschiedener Waffengattungen, ferner quadratischen Bodenplatten, die verschiedene Geländeformen wie Berge, Hügel, Wiesen, Wälder, Siedlungen und Flüsse repräsentieren und die man immer wieder neu zusammensetzen kann. Die Utensilien liegen in mehreren Schubladen eines Möbelstücks, das man leicht für eine Kommode halten könnte. Es befindet sich heute gut erhalten im Besitz der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und steht im Schloss Charlottenburg in Berlin.

    Reiswitz erfand den „Vertrauten" - eine frühe Version des Spielleiters.

    Die Deckplatte der Spielkommode lässt sich aufldappen und drehen, sodass man ein in 15 mal 18 quadratische Felder unterteiltes Spielfeld erhält. In elf Schubladen der Kommode liegen quadratische Holzbausteine, aus denen sich ein Spielfeld zusammenbauen lässt.

    Außerdem ist da noch das Regelwerk, mit dem der König ein „denkwürdiges Schlachttheater in „sein Zimmer zaubern kann. So preist Reiswitz seine aus Holz, Papier und Metall konstruierte virtuelle Realität 1812 in der Anleitung an. Eine Besonderheit seines Kriegsspiels hat „Dungeons & Dragons stärker als alle anderen Details geprägt: Reiswitz’ Kriegsspiel sieht neben zwei Spielparteien (zwei bis zehn Mitspieler insgesamt) auch eine dritte Funktion vor: den sogenannten Vertrauten. Er „berechnet und bewertet als Spielleiter und Recheninstanz die Auswirkungen der pro Spielrunde getätigten Spielzüge, wie der Kulturwissenschaftler Claus Pias Reiswitz‘ Regeln zusammenfasst.

    In Reiswitz‘ Kriegsspiel kann in einer Mannschaft ein Oberbefehlshaber mehrere Kommandanten befehligen. Wenn aber ein Blick aufs Spielfeld ergibt, dass der Befehlsfluss unterbrochen ist und die Kommunikation erst wieder hergestellt werden muss, dürfen die Spieler keine Order austauschen – das würde der Situation ihrer Charaktere widersprechen. Außerdem verlangt Reiswitz, dass sich die Mitglieder einer Mannschaft mit kurzen Notizen auf Karten verständigten, damit die Gegenspieler nichts von den internen Absprachen mitbekommen.

    Aufgebaute „Kriegsspiel-Landschaft: Ein „Schlachttheater in des König „Zimmer zaubern". ¦ © Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

    Kriegskommode: Reiswitz‘ Spiel ließ sich ordentlich in diesem Möbel verstauen. ¦ © Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

    Reiswitz arbeitet sehr detaillierte Regeln aus, um bestimmte Abläufe mit reproduzierbaren Ergebnissen zu simulieren. Wie schnell sich bestimmte Einheiten bewegen können, gab Reiswitz für jede Einheit in „Schritt pro Minute" an – mit speziellen Zirkeln messen die Spieler die Entfernungen auf dem Spielfeld ab. Weitere Einschränkungen: Läuft eine Infanterieeinheit eine Runde lang im Sturmschritt, muss sie sich beim nächsten Zug mindestens eine Gangart langsamer bewegen.

    Der Sohn von Kriegsspielerfinder Georg Leopold von Reiswitz entwickelt das Spielsystem weiter. Der junge Leutnant Georg Heinrich Rudolf von Reiswitz systematisiert vor allem den Einsatz von Würfeln. Er legt nach Versuchen auf dem Berliner Schießplatz Mittelwerte zur Wirkung von Waffen fest, verfügt in seiner Neuauflage des Kriegsspiels aber auch, dass man den Zufall einbeziehen muss. Mit einem Würfel werden Abweichungen vom Referenzwert für die Waffenwirkung bestimmt, weil ja Mittelwerte in der Wirklichkeit nie konstant auftreten. In ähnlicher Weise simulieren die meisten Rollenspielsysteme noch heute den Zufall. Auswürfeln müssen die Spieler damals wie heute alles Erdenkliche.

    Der König und seine Offiziere sind von den virtuellen Schlachten gefesselt.

    Spielsteine des „Kriegsspiels": Engländer und Amerikaner waren neidisch auf die preußische Erfindung. ¦ © Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

    Der junge Reiswitz ist mit seinem Kriegsspiel recht erfolgreich – Friedrich Wilhelm III. spielt es wohl wie schon das Vorgängermodell, sein Sohn Wilhelm I. empfiehlt es und drängt so lange, bis es preußischen Offizieren vor 185 Jahren offiziell als Trainingswerkzeug nahegelegt wird.

    Damals, zu Reiswitz‘ Zeiten, tauchen nur sehr wenige Menschen in Spielwelten ab. Der König von Preußen war da eine Ausnahme. Das Militär-Wochenblatt berichtet 1874 rückblickend, Friedrich Wilhelm III. habe mit Söhnen, Offizieren und Adjutanten oft bis in die Nacht gespielt, sodass „die sonst zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde, 1/2 11 Uhr, weit überschritten" wurde. Die erfundenen Welten entwickelten offenbar einen derartigen Sog, dass sich die Spieler die Nächte um die Ohren schlugen.

    Die Zeit der Kosims ¦

    Krieg als Spiel

    Das Reiswitzsche Kriegsspiel war ein Trainingsmittel für Militärs. Zwar hatte Friedrich Wilhelm III. so viel Spaß daran, dass er bis tief in die Nacht spielte, aber im Vordergrund stand der Nutzen, nicht das Vergnügen. Kriegsspiele sollten militärische Konflikte simulieren.

    Diese Prämisse behält das Genre über Jahrzehnte bei. In Großbritannien, in den Vereinigten Staaten – wo immer Konfliktsimulationen auftauchen, kommen sie aus einem militärischen Umfeld und sollen dem intellektuellen Training dienen. In Großbritannien veröffentlichen Ende des 19. Jahrhunderts einige Militärs Konfliktsimulationen (Kosims) nach dem Vorbild des deutschen Kriegsspiels. Die britische „Times" beschreibt eines dieser Werke 1888 so:

    „It is to advance strategical studies, to direct the thoughts of officers to the immense importance of well-devised combinations in a campaign, to do for them much of what the Kriegsspiel has done for the officers of the German army, that Lieutenant Snell has proposed his new war game."

    Das ist exemplarisch für die Kosims dieser Zeit: Sie dienen der Ausbildung von Soldaten, Realitätsnähe ist wichtig. Ein Beispiel dafür: Der britische Spieleautor Fred T. Jane entwirft 1898 das Marinekriegsspiel „The Naval War Game. Darüber hinaus veröffentlicht er Jahrbücher mit technischen Details aller weltweit im Einsatz befindlichen Kriegsschiffe – das war die Keimzelle des heute noch aktiven Rüstungsfachverlags „Jane’s Information Group. Das Ziel seines Spiels beschreibt Jane so: „The essential idea has been to produce something by which any problems can be worked out with the greatest possible simulation of actuality."

    Um etwas ganz anderes geht es 1913 dem Schriftsteller H.G. Wells in seiner publizierten Anleitung für Kriegsspiele mit Miniaturen namens „Little Wars. Wells ist der erste Autor, der das preußische Kriegsspiel zu einer reinen Freizeitveranstaltung ohne jeden Vorwand der Nützlichkeit weiterentwickelt. Wells will einfach ein unterhaltsames Spiel schaffen, das „zwei oder vier Amateure an einem Nachmittag und Abend mit Spielzeugsoldaten durchspielen können, wie er in „Little Wars schreibt. Wells ist ein bekannter Schriftsteller in Großbritannien, sein Regelbüchlein erregt 1913 entsprechend viel Aufmerksamkeit. Ein Artikel in der Wochenzeitung „Illustrated London News von Anfang 1913 zeigt Wells bei einer Partie „Little Wars". Die Zeichnung veranschaulicht, wie das Spiel funktioniert hat: Der Autor sitzt auf dem Fußboden in einer Spiellandschaft mit Bäumen, Häusern, Kavallerie und Kanonen (die tatsächlich Spielzeugkatapulte sind).

    Am Ende seiner kleinen Spielanleitung schreibt Wells einen „beunruhigenden und ärgerlichen Satz für die Bewunderer und Praktizierenden des Großen Kriegs: „Wer ‚Little Wars‘ drei oder vier mal gespielt hat, erkennt, was für eine verpfuschte Angelegenheit der Große Krieg sein muss, mit all den „zerschlagenen und blutüberströmten Körpern, zerstörten Gebäuden und alltäglichen Grausamkeiten."

    Beim Spielablauf mischt Wells das klassische rundenbasierte Hin und Her mit einem beschleunigenden Regelelement, das man vielleicht als Vorgriff auf Echtzeitstrategiespiele sehen kann: Wells‘ Regeln schränken die Zeit ein, die Spieler haben, um ihre Figuren zu bewegen: „Etwa eine Minute sollte einem Spieler zugestanden werden, um 30 Mann zu bewegen und dann noch eine Minute für jede Kanone. Für einen Spielzug mit 110 Mann und drei Kanonen sollte der Spielleiter einem Spieler also sieben Minuten zugestehen."

    Erst geht es um militärische Erziehung, später ums reine Vergnügen.

    Offiziere beim Kriegsspiel: Konfliktsimulationen entstanden als Trainingswerkzeug in der Militärausbildung.

    Anders als die preußischen Militärs, die beim Kriegsspiel die Fitness und Moral einzelner Truppenteile mit verschiedenen Zahlenwerten differenziert angaben, will Wells das Spiel so weit es geht vereinfachen, um es massentauglich zu machen. Wells schreibt: „Während wir die Landschaft der Spielfläche perfektioniert haben, strichen wir aus dem Spielablauf alle Eintönigkeiten, Unklarheiten und Sackgassen. Der Einfachheit halber habe man sich entschieden, dass „jeder Mann gleich geschickt und mutig sein solle.

    Diese Erkenntnis Wells‘ ist wichtig für die weitere Entwicklung und spätere Popularisierung der Tabletop- und Rollenspiele: Der Game-Designer erkennt, dass der Entwickler eines Unterhaltungsprodukts ein anderes Ziel hat als Militärs beim Kriegsspiel. Wells will nicht die bestmögliche Simulation, sondern ein funktionierendes, also unterhaltendes und fesselndes Spiel schaffen.

    In den USA wird das preußische Kriegsspiel 1879 populär. Damals versucht der Offizier und West-Point-Absolvent Charles Adelle Lewis Totten Konfliktsimulationen als Trainingselement zu etablieren. 1880 erscheint sein Buch „Strategos. Der Offizier widmet es den „American Soldiers, from an interest to whose improvement the following pages have derived. Von Tottens Kriegsspieladaption lässt sich David Wesely bei seinem Dungeons&Dragons-Vorgänger „Braunstein inspirieren. „Strategos hat einige Elemente mit dem sechsundneunzig Jahre später erschienenen „Dungeons & Dragons" gemeinsam:

    „Little Wars"-Partie: Das Strategiespiel mit Miniaturen wurde von dem Science-Fiction-Autor H.G. Wells (vorne im Bild) erfunden. ¦

    © Illustrated London News Ltd/Mary Evans

    ~ Es gibt einen Schiedsrichter, der als Schnittstelle der Spieler zur Simulation dient: „The decision of the Referee will in all cases be final, and should not be questioned. He should, however, generally conform to the rules and methods herein given, and, whenever for good cause he differs therefrom, he should give his reasons." Ganz ähnlich ist die Rolle des Dungeon Masters in D&D.

    ~ In „Strategos geht es um Wahrscheinlichkeiten. Truppenteile haben im Kampf je nach Art der gegnerischen Einheit eine bestimmte Chance auf einen Sieg. Ähnlich ist es in „Dungeons & Dragons und allen späteren Rollenspielen, gleich ob analog mit Dungeon Master oder am Computer: Bei den allermeisten Handlungen hat man nicht jedes Mal Erfolg. Wahrscheinlichkeiten führen zu unterschiedlichen Resultaten, manches klappt bei dem einen Spieler, während es bei dem anderen schiefgeht. Rollenspiele funktionieren wie Tottens Konfliktsimulation, weil die Erfolgschancen im Regelwerk nachvollziehbar festlegt sind. „Strategos ist Simulation per Statistik, wie Totten im Vorwort schreibt: „Its ‚Rules and Tables‘ posses a value which is entirely independent of their mere use in the game-room. Considered thus independently, they suggest a method of studying the true bearing of military statistics upon operations of war, …

    ~ Über den Erfolg von Angriffen wird in „Strategos per Würfel entschieden. In Tabellen ist für jede Wahrscheinlichkeit notiert, mit wie vielen Würfen was zu werfen ist. Ein Beispiel aus den „Strategos-Regeln für den Ablauf eines Angriffs: „The chances stand 3:2 in favor of Blue. Hence following Rule VIII Blue is entitled to three throws and Red to two, and, since Blue is acting upon offensive, he will throw first."

    Konfliktsimulationen für Zivilisten macht Charles Roberts 1952 zu einem Geschäft. Er hat in der US-Armee gedient, arbeitet in der Werbebranche und ist Reservist eines Infanterieregiments der National Guard. Roberts will Taktik trainieren und bastelt sich in Ermangelung von Alternativen selbst eine Konfliktsimulation. Von 1954 an verkauft er eine zweite Version seines „Tactics" getauften Spiels direkt an Kunden. Die Nachfrage ist nicht groß, aber größer, als Roberts erwartet hat. Er erinnert sich 1983 so an die Anfänge seines Spieleverlags Avalon Hill:

    „Almost as a lark, in 1954 I decided to publish ‚Tactics‘ as a part time venture under the corporate name The Avalon Game Company, the name coming from the site of an historic village near my home. Memory, in the absence of records, tells me about 2,000 games were sold and the effort either netted or lost thirty dollars. I learned something about the marketing of games in this reconnaissance-inforce and four years later decided to have a go on a larger and more serious scale. Needing a new charter, I applied for the same name. At the last minute a conflict was apparent with a local firm and the name Avalon Hill was selected simply because I live on it (…) to this day, as a matter of fact. Let me emphasize that Avalon Hill was not founded to pioneer in wargaming. I was convinced that there was a market for realistic games of specialty format, designed to appeal to those who enjoy intellectual challenges and prefer competition wherein skill is a primary virtue."

    „Gettysburg" (1958): Avalon Hills Brettspiel ist der Klassiker unter den Konfliktsimulationen, kurz Kosims.

    2000 verkaufte Spiele in vier Jahren – das klingt nicht nach viel, aber man muss bedenken, dass Mitte der fünfziger Jahre Konfliktsimulationen als Gesellschaftsspiel nicht existierten. Nahezu zeitgleich mit

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