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Die Banalen und die Bösen: Eine politische Horrorgroteske
Die Banalen und die Bösen: Eine politische Horrorgroteske
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Die Banalen und die Bösen: Eine politische Horrorgroteske

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Neue Pflanzenarten werden entdeckt, unbekannte Parasiten befallen unsere Elite, bizarre Dämonen nisten sich ein bei Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik: Im Bundesministerium für Umweltschutz rückt der gewohnheitsmäßige Staatssekretär Martin Müller, eigentlich schon auf dem Abstellgleis, dadurch unerwartet in eine Position mit echtem politischen Einfluss auf. Er nutzt sie, um die Urheber dieser anbrechenden neuen Weltordnung aufzuspüren. Seine Odyssee führt ihn an der Seite seltsamer und überraschender Begleiter durch Lobbyisten-Wochenendseminare, modernes Universitätsmanagement, undurchsichtige Geheimdienstaktivitäten und Anti-Terror-Gefängnisse hinaus über die Grenzen dieser Welt, bis er schließlich zu seiner Verblüffung etwas entdeckt, das seine Mutmaßungen noch um ein Vielfaches übersteigt.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateSep 10, 2018
ISBN9783742722669
Die Banalen und die Bösen: Eine politische Horrorgroteske

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    Die Banalen und die Bösen - Jannis Oberdieck

    Teil 1: Die Banalen

    Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.

    Horst Seehofer 2010

    Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.

    Angela Merkel 2011

    1 - Eine Bedrohung der inneren Sicherheit

    Kennen Sie das Ministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit in Berlin, Stresemannstraße 128? Keine Angst, das Gebäude selbst ist weit weniger zusammengewürfelt als sein Name. Im Gegenteil zeigt es einen beeindruckenden und alles zusammenhaltenden Willen zu gemeinsamer Gestaltung, durchaus durchdacht und vielleicht sogar tiefschürfend. Als sechsstöckiges Eckhaus mit glatter Sandsteinfassade in etwas, das ich als gedämpftes Beige zu bezeichnen mir angewöhnt habe, erinnert es schnell und eher ungut an eine Zitadelle: Ein Eindruck, der sich durch asymmetrisch tief eingelassene Schießscharten schmal-langgezogener Fenster und einen ummantelten Erker ganz oben, der trefflichst für ein Ausgießen siedenden Öls geeignet wäre, ungemein festigt. Tatsächlich sind diese Fenster so schmal, dass, wenn auch der schmalste unserer Mitarbeiter sich von innen davorstellte, nur der mittlere Ausschnitt seines Torsos zu sehen wäre.

    Realiter bleibt jedoch selbst dieser reduzierte Anblick jeglich neugierigem Blick Auswärtiger entzogen, da man die Scheiben komplett verspiegelte. Das führt zu einem hübschen Effekt: Steht man unten vorm Gebäude, sind sämtliche Schießscharten erfüllt vom Himmel über Berlin in seinem wolkigen Grau oder Braun, gelegentlich gar Blau – sämtlich also Farben, die dem gedämpften Beige aufs Vortrefflichste kontrastieren. Man gewinnt so den Eindruck einer Trutzburg inmitten städtisch-verbauter Landschaft, hinter deren Fassade die Natur selbst souverän herrscht und majestätisch ihr Antlitz zeigt. Sehr hübsch für ein Umweltministerium, wirklich. Für diesen Effekt hat man gerne einen begrenzteren Lichteinfall der straßwärts gelegenen Büros in Kauf genommen.

    Wichtigere Mitarbeiter hingegen residieren abgewandt vom Rest der Bevölkerung weiter innen, ihre Büros geballt um einen großzügig gestalteten Lichthof in Gebäudemitte. Hier ist von Natur deutlich weniger zu spüren: Über den spiegelnd-graugefleckten Marmor des Bodens zieht einzig das diffuse Schattenspiel der Wolken jenseits des überdachenden Glases, witterungs- und klimafrei sogar für Allergiker geeignet. Dank dieser mangelnden Witterungseinflüsse sind hier die deutlich mehr Licht aufnehmenden Fenster verspielt in hellem Holz gehalten, das in Verbindung mit dem strahlend-weiß stuckierten Außenputz recht deutlich Erinnerungen an helle, freundliche Ferienanlagen evoziert. Hell, heiter und klar – so soll hier gearbeitet, ja: gelebt werden.

    Geht man im sechsten Stock den säulengesäumten Rundgang um diesen Lichthof entlang, so ist es fast atemberaubend, wie wenig die Mehrfachverglasung des Dachs vom alltäglichen Lärm Berlins sowie der derzeit waltenden Hitzewelle durchlässt: eine Oase der Stille, einzig durchbrochen vom gelegentlichen Trippeln geschäftiger Ledersohlen auf Marmor, ab und zu aufgeraut vom Rauschen eines einzelnen Flugzeugs als Zeugen der fortwährenden Existenz einer Außenwelt. Wahrlich, vergleichbare Architektur schuf man nur einst in der Antike, um jeden Besucher sogleich auf Größe und Majestät jener Götter einzustimmen, die verloren in ihren mystischen und unfassbaren Gedanken im Inneren der Tempel warteten.

    Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Ich gehe, ja: durchschreite diesen prunkvollen Säulengang (ministeriumsintern als „Canossagang" bezeichnet) auf dem Weg hin zu meiner Ministerin, deren dringender Ruf mich sogar in den Untiefen der dritten Etage noch ereilte. Und meiner Erfahrung nach kann sie es an Orakelhaftigkeit durchaus mit einstigen Göttern aufnehmen.

    Doch ich möchte mich nicht beklagen, so etwas setzt sich schnell als Berufsgewohnheit fest. Alles in allem gefällt es mir gut hier im neuen Gebäude, dem ersten niedrigenergetischen Passivhaus einer Bundesbehörde, flammendem Wahrzeichen ökologischerer Zukunft. 2011 zog meine Abteilung, die Abteilung Z, vom Hauptgebäude in Bonn aus nach Berlin: Die Zentralabteilung ist nämlich stets an der Seite des jeweils amtierenden Ministers, um als verlängerter Arm und Kommandostand fungieren zu können. Und die Minister ihrerseits müssen nach Berlin, ins pulsierende Herz unserer Demokratie, um sich so gut wie möglich in Fäden und Kontakte zu verstricken. Denn Ministeriumsarbeit ist heutzutage diffizil geworden: keine reine Verwaltungstätigkeit mehr, weltabgewandt dank Aktenkontakt, sondern gestaltend, wie es so schön heißt. Es gilt, Interessen und Wünsche einflussreichster Akteure mitunter zu erahnen, ehe diese selbst sie artikulieren und vielleicht knirschender Sand reibungslose Zusammenarbeit beeinträchtigt. Eine Tätigkeit, die viel mit Intuition und augurenhafter Deutung insignifikantester Zeichen zu tun hat, mit einem Wort: Politik eben. So gesehen gleicht die Ministerin bei Licht besehen vielleicht doch eher einer Oberpriesterin, beschäftigt mit ihrer Interpretation erratischer Omen und stetig am Spinnen roter Fäden, ihr inneres Ohr berauschend auf höhere Sphären ausgerichtet. Dabei stets begleitet und unaufdringlich geleitet von mir, der ich mit Hilfe meiner Abteilung ihren schlingernden Kurs in die Bahnen von Recht- und Gesetzmäßigkeit zurückzuholen versuche – eine zunehmend schwierigere Aufgabe, leider.

    Trotz allem: Dieser Umzug nach Berlin war eine gute Sache! Allein schon der Umstand, dass das Ministerium für Reaktorsicherheit in Bonn über einen eigenen Atombunker verfügte, durchsetzte die Arbeitsmoral unentwegt mit geschmacklosesten Witzen. Hier in Berlin hingegen heißt es klar: mitgefangen, mitgehangen. So etwas wirkt sich förderlich auf Mitarbeitermotivation aus, meine ich.

    Ach ja, das habe ich vergessen: Immer wieder trifft man Zeitgenossen, deren Haltung ich nicht anders denn als politische Naivität bezeichnen kann. Allen Fakten und Nachrichten zum Trotz wollen sie am Glauben festhalten, dass wir, notfalls auch gänzlich ohne demokratische Kontrollmechanismen, mehrheitlich doch von guten und verantwortungsvollen Menschen regiert werden. Dieser anheimelnde Wunsch erscheint mir häufig als weitgehend bruchlose Fortsetzung kindlicher Schutzbedürfnisse, wie sie zuerst an Eltern und später dann, sofern irgend möglich, an Lehrer herangetragen werden. Vielleicht nur eine säkulare Variante frommen Götterglaubens, der Quelle nach vermutlich verwandt. Falls auch Sie zu diesem Menschenschlag gehören, sollten Sie hier nicht weiterlesen. Eine Lektüre meines Berichts hat Ihnen nichts zu bieten und die Gefahr ist groß, dass Sie sich unentwegt diffus angegriffen fühlen. Wohlgemerkt also: Dieser Bericht ist nicht für Sie, ade. Mit den Worten des alten Politbarden Franz Josef Degenhardt bleibt mir nur zu wünschen, dass es Ihnen auch weiterhin gut ergehen mag hinter Ihrer von Jahr zu Jahr höher wachsenden Rosenhecke im hoffentlich abbezahlten Eigenheim, während sie die politischen Veränderungen ringsum einer sinnlosen Naturkatastrophe gleich schicksalsergeben ertragen. Vielleicht ist diese Haltung für das Gemüt sogar die beste. Ja, derart Zaghaftigkeit trennt uns heute von den pathetischen Worten Ferdinand Lassalles, dass alle große politische Aktion im Aussprechen dessen, was ist, beginne, wohingegen alle politische Kleingeisterei in dessen Verschweigen bestehe. 

    Alle, für die eine solche Idylle gegenwärtig jedoch schwer zu ertragen ist, lade ich hingegen ein, mir zu folgen. Denn mittlerweile stehe ich vor der Tür meiner Ministerin und nach üblich-dezentem Geklopfe trete ich umstandslos ein, schließlich werde ich erwartet. Alles im Büro dieser Ministerin signalisiert kraft Gestaltung: Hier ist einer jener Orte, von denen aus die Welt regiert wird! Gute zehn Meter muss der eintretende Büßer zurücklegen, ehe er vor ihrem hehren Schreibtisch anlangt. Zehn Meter über hochflorigen Teppich, der jegliches Schrittgeräusch schluckt und einen akustisch bereits auf ein Nichts reduziert. Rechter Hand dabei die Glasfront, von der aus die Ministerin ihr Panopticon von Bienenstock überschauen kann, die Fenster aller leitenden Angestellten im Blick, tief unten der todbringende Marmorboden für besonders schlechte Tage. Linker Hand die glatte Wandtäfelung aus poliertem Marmor im gedämpften Beige der Außenfassade, in der sich aufgereihte Halogenlichter unzähliger Deckenlampen ebenso spiegeln wie in der gegenüberliegenden Fensterfront, so dass sie sich im wechselseitigen Spiegelspiel bis ins Unendliche fortzusetzen scheinen. Jetzt am frühen Nachmittag ist der Effekt jedoch nicht so atemberaubend, da hier, derart nahe am himmlischen Glasdach des Lichthofs, noch genügend natürliches Sonnenlicht den Raum, besser: die Halle flutet. Dafür bricht es sich auf der gläsernen Schreibtischplatte der Ministerin, strahlt ihr Gesicht von unten her an und verleiht ihrer weiß-blonden Mähne die unaufdringliche Güldenheit einer Aureole.

    Erst als ich direkt vor ihrem Schreibtisch stehe, fällt mir auf, dass die Ministerin heute schrecklich aussieht, schrecklicher als sonst. Diesmal liegt es nicht an ihren Haaren: Die ihren Kopf um mehr als das Doppelte vergrößernde Haarpracht ist perfekt geföhnt und bewegt sich auch, als sie ruckhaft von ihren Unterlagen kurz zu mir aufblickt, nur eben dort, wo sie Stylistenvorstellungen entsprechend sollte, überwiegend brettartige Konsistenz also. Dann senkt sie ihr sorgenumwirrtes Haupt vorerst wieder und blättert scheinbar konzentriert durch Papiere vor ihr, lässt mich zurück mit diesem vagen Eindruck, dass heute etwas mit ihr nicht stimmt.

    Dieses Spiel bin ich gewohnt: An guten Tagen (für sie) darf ich bis zu zehn Minuten stehend vor ihrem Schreibtisch warten, während sie die Hackordnung zementiert. Man muss das verstehen: Die Backhus war bis vor sechs Monaten nur Verkehrsministerin gewesen, dem Hörensagen nach ein Posten für jene, die zwar Wahlstimmen einbringen, denen man jedoch echte Verantwortung besser nicht zu übertragen gedenkt. Das Umweltressort hingegen ist nun für sie ein deutlicher Schritt nach vorn, ihre eigentliche Bewährungsprobe, wobei sie inhaltlich mit diesem schwer fassbaren, fast nicht einzugrenzendem Gebiet noch nie zu tun hatte. Umso wichtiger ist daher für manche ein starkes Auftreten gerade gegenüber jenen Mitarbeitern, die sich besser auskennen und auf die man zwingend angewiesen ist. Glauben Sie mir, ich habe viele Minister und in den letzten Jahrzehnten vermehrt auch Ministerinnen kommen und gehen gesehen, ich weiß derlei einzuordnen.

    Grundsätzlich gehört die Backhus ohnehin nicht zu jenem Typ, der Mitarbeiterkontakte pflegt und einen gewissen Wohlfühlfaktor am Arbeitsplatz wertzuschätzen weiß. Sobald sie ernannt worden war, habe ich mir ihren Lebenslauf angesehen: Abgebrochenes Studium der Volkswirtschaft (Versuch, in Vaters Fußstapfen zu treten), nach elf Jahren Studium (keine Nebenjobs, alles von Papa finanziert) schließlich Abschluss in Medizin (Großvaters Fußstapfen), mit Ach und Krach bestanden. Dann Ausbildung zur Fachärztin abgebrochen, kann sich also nicht mit eigener Arztpraxis selbständig machen, also zurück an die Uni und Promotion. Danach drei Jahre Mutterschaft mit der Reihe nach drei Kindern, zog deshalb zurück zum Vater und dessen Kindermädchen. Armer Ehemann! Vater nennt sie immer noch »Röschen«, vielleicht wegen ihrer Stacheln, sie ihn »Papa«. Neue Versuche, als angestellte Ärztin Fuß zu fassen, scheiterten radikal, deshalb weitere Kinder. Bis hierhin ewige Tochter, Studentin und Mutter nebenher, gescheitert im Arbeitsleben, dafür wissenschaftliches Interesse immerhin.

    Letzteres jedoch wohl auch eher Wunschdenken (oder Flucht vor allgegenwärtiger Familie), letztes Jahr wurde ihre Doktorarbeit als Plagiat entlarvt. Ein Gutachter: »eindeutiges Plagiat«, ein anderer sogar: »grobes Schlampen«, an der Uni München wird ihre Promotion Studierenden inzwischen als Negativbeispiel dafür präsentiert, wie Doktorarbeiten auf keinen Fall auszusehen haben (Das glauben Sie mir nicht? Schlagen Sie es nach!). Die Hochschule Hannover jedoch erkennt den Doktortitel nicht ab, da nur ein »mittelschwerer« Fall von Plagiat vorliege. Trotz erfundener Quellen und etlicher durch copy & paste aus anderen Werken zusammengeschusterter Seiten sei »kein durch Täuschungsabsicht geleitetes Fehlverhalten« gegeben. Halt das übliche Problem: Lässt man Leute erst Karriere machen, wird es für alle peinlich, Titel wieder abzuerkennen. Ob die beste Lösung aber wirklich darin besteht, Leute für zu dumm zum Schummeln zu erklären?

    Schließlich brachte wiederum der Vater, früherer Ministerpräsident, die Backhus in einem Landesfachausschuss unter und hievte sie letztlich auf Landtagswahllisten. Erst Schwierigkeiten, üble Gerüchte über den Sieg in einer Kampfabstimmung dank Wahlfälschung. Dann kometenhafter Aufstieg, jedoch immer begleitet vom bösen Verdacht, als eine der bislang ganz wenigen Frauen dieser Partei unverdient nach oben gekommen zu sein, Frauenquote und so weiter. Hartes Brot, würde bei mir wohl ebenfalls eine gewisse Unnahbarkeit nach sich ziehen. Den ganzen Weg über immer flankiert von einem bestimmten BILD-Redakteur, der sie zum Herzschmerz-Adel der deutschen Volksseele erhob (»Trotz ihres Erfolges ist auch sie manchmal einsam«) und vielleicht deshalb später zu ihrem Pressesprecher wurde. Mit Eintritt in die große Politik natürlich alles nicht mehr nachvollziehbar, Intransparenz ohne Ende. Als Verkehrsministerin zumindest gingen ihr offenbar 1,6 Milliarden Euro »verloren«, immer wieder undurchsichtige Lobby-Kungeleien. Insgesamt aber eigentlich ganz sympathisch in ihrer Lebensuntauglichkeit unter harter Schale.

    Problem aber natürlich der Charakter: Behauptet in Interviews immer noch, nicht als Ärztin selbständig geworden zu sein »wegen der Kinder« (über die sie in anderen Interviews spricht, als wären es Kapitalinvestitionen, »gewinnbringende Zukunft«), lässt sich gerne als »promovierte Gynäkologin« bezeichnen. Ei der Daus, da hat´s aber jemand nötig: diesen ganzen Kram mit eigenen Füßen und Aus-dem-Schatten-des-Vaters-Heraustreten. Oder dessen Ansprüchen gerecht zu werden, je nachdem. Spielt gerne die Karte Frau-in-männlicher-Politikwelt aus und erklärt sich zum Opfer patriarchalischer Intrigen. Fordert eine Emanzipation der Männer, zwei Bücher dazu geschrieben (dem Vater gewidmet?). Auf peinliche Fragen wird grundsätzlich nicht geantwortet weil »diskriminierend«. Erklärt andererseits geringeres Einkommen von Frauen als »biologisch bedingt« - immer so, wie´s passt. Besonders schön ein Interview: Gleichberechtigung sei erreicht, »wenn durchschnittliche Frauen in Führungspositionen sind«, zumindest rudimentäre Selbsterkenntnis also vorhanden.

    Kennt man so einen Hintergrund, versteht man Vieles besser. Für mich persönlich kam dabei erstmal heraus, dass die Backhus kein geregeltes Arbeitsleben gewohnt ist, Erwartungen an kollegiale Einstellung also schon im Vorfeld gedämpft. Ist auch tatsächlich so: Sitzt von morgens bis abends hier mit einer andauernden Fokussiertheit, die ich mir nur als Ausdruck innerer Wut erklären kann. Verlangt sich 120% ab (und allen anderen auch), zerbricht regelmäßig daran und meldet sich anschließend eine Woche krank. Will sich und der Restwelt beweisen, dass sie das hier kann, und zwar am besten besser als die Besten. »Tough«, finden viele, »beratungsresistent« die anderen, allgemein aber ist unser Ministerium Kummer gewöhnt. In einer Verwaltungsbehörde sind die gewählten Volksvertreter schließlich immer die größte Schwachstelle, sozusagen der Hemmschuh effizienter Bürokratie. Die neue Chefin immerhin lässt uns bislang in Ruhe arbeiten, statt mit einer Umstrukturierung nach der nächsten anzukommen und zentrale Positionen fachfremd zu besetzen. Himmel, sie hat ja sogar mich wieder aus der Abstellkammer geholt und in Betrieb genommen! Manchmal jedoch, in ganz kurzen Momenten, wenn das Hamsterrad zum Stehen kommt, sieht sie müde und recht traurig aus. Ist es das? Lag das auch soeben in ihrem Blick, als sie kurz zu mir aufsah?

    Montagvormittag immerhin. Vielleicht hat der Ehrgeiz ihr auch am Wochenende kein Privatleben gelassen. Ja, das Gesicht wirkt eindeutig abgespannt, verkniffener als letzte Woche. Die Halogenlampen spiegeln sich stärker als sonst auf ihrer Haut, Schminke heute wohl mit dem Spachtel aufgetragen als zusätzlichen Rüstungsschutz. Wirkt sie deshalb so leblos? Aber nein, Adern zeichnen sich trotzdem noch violett ab, unkaschiert muss es wie eine akute Blutvergiftung aussehen. Was also hat sie bloß? Liegen ihre Augen vielleicht tiefer als sonst?

    Endlich ist die Backhus fertig, schaut wieder auf und schaltet um zu diesem beunruhigenden Grienen, das man von Wahlplakaten und Werbespots für keimfreies Wohnen kennt, strahlend weiße Zähne wie aneinandergereihte Grabsteine. »Ah, Müller, da sind Sie ja. Setzen Sie sich doch.« Natürlich, als hättest du mich vorher nicht bemerkt. Bis dahin also: die Ministerin privat, unbeobachtet, offizielle Version, immerhin nur knapp über fünf Minuten heute. Jetzt endlich Platz genommen in einem der weichen Besprechungsstühle, Auftakt zum Hauptfilm. Wie weit sich ihr Zahnfleisch inzwischen durch aggressive Weißmacher bereits zurückgezogen hat, ein Viertel ihres Grienens schon Rosa! Oder liegt es daran, dass sie die Zähne so bleckt?

    »Vielleicht interessiert es Sie, dass die Kanzlei Münkler & Koch unseren Gesetzesvorschlag für die neue Energiegewinnungssteuer geprüft hat. Ich habe hier jetzt das Gutachten. Bedauerlicher Weise sind sie zu dem Schluss gekommen, dass der Vorschlag so ziemlich allen EU-Gesetzen zur Förderung regenerativer Energien widerspricht«, seufzt sie müde. »Also werden wir das wohl nicht durchkriegen.« Werfe über Kopf einen Blick auf das Siegel der Anwaltskanzlei, siehe da: tatsächlich Münkler & Koch, die Interessensvertretung der Großen der Atomindustrie. Als ich letztes Mal eine Rechnung von denen für ähnliche Expertise sah, war ich mir sicher, dass jemand das Komma falsch gesetzt haben musste. Warum zeigt sie es mir? Mich mit der Nase darauf stoßen, dass sie solche Informationen lieber von Externen einholt statt aus unserer Abteilung? Soll sie doch: Mal sehen, wie lange ihr Budget das noch hergibt.

    »Wir werden die privaten Haushalte also zukünftig nicht mit einer Abgabe für Windräder belasten können?«, frage ich mit geheucheltem Interesse und setze nach: »Reduzieren wir dann die Freibeträge für Unternehmen?« Durch solche kleinen Vorstöße lässt sich wunderbar austesten, wie weit die neue Chefin schon in ihr Amt hineingewachsen ist. Immerhin gab es in letzter Zeit verstärkte Proteste, da die Energiewende über die Stromsteuer verbrauchs- statt einkommensabhängig finanziert wird und damit vor allem an Geringverdienern hängenbleibt. Zwar ist inzwischen längst nicht mehr klar, in welche Richtung diese „Wende" letztlich führen wird: Der Anteil regenerativer Energien (ohne Strom aus Biomasse) stagniert schon lange bei unter 20%, jedes Jahr jedoch braucht diese Wende dennoch mehr Geld. Backhus´ Vorgänger z.B. hat in seinem letzten Amtsjahr final beschlossen, dass durch sie auch die Entsorgung der Atommüll-Altlasten finanziert werden müsse, sozusagen eine nachträgliche Steuer auf früher verbrauchten Atomstrom. Das brachte ihm die Beförderung zum Minister für Wirtschaft und Technologie ein, während sich nun andererseits Meldungen über Hartz-IV-Empfänger häufen, die ihren Strom nicht zu zahlen vermögen.

    Die Backhus starrt mich einen Moment entgeistert an, heute ist sie wohl nicht so recht auf Posten. Kurz gestatte ich mir, diesen entsetzten Blick zu genießen, noch einmal ein wenig jung und idealistisch gefühlt, grinse dann breit: Hey, hier in der Behörde machen wir solche Scherze, ab und zu zumindest. Keine Panik, sowas gehört zum Arbeitsleben. Die Backhus aber nun sieht erst recht aus, als wäre ich ihr auf die Füße getreten. Lange genug ist sie schon im Amt um zu wissen, dass ihr Ministerium Umweltschutz in einer die zarte Pflanze der Wirtschaft möglichst wenig gefährdenden Weise gestalten soll. Glücklicher Weise unterbricht jedoch ein heftiger Hustenanfall mögliche Gedanken über Restrukturierungsmaßnahmen.

    Ermattet blickt sie letztlich wieder auf. Ob sie mir das übelnimmt, dass ich im Sitzen größer bin? Ihrer gewohnt frenetischen Energie nachspürend, bricht sie das verstörende Vorgeplänkel ab: »Weshalb wollten Sie mich sprechen, Herr Müller?«, rettend-formelle Dienstlichkeit im Blick. Zu Ihrer Information: Tatsächlich habe ich dieses Gespräch beantragt, da regelmäßige Dienstaussprachen bei uns nicht Usus sind, dafür ist unsere Ministerin denn doch zu eigenständig, nunmehr wurde unser Meeting ministerial spontan genehmigt.

    Also blättere ich eilfertig in Unterlagen, raschle ein wenig damit herum und gebe ihr Zeit, sich wieder zu sammeln. Dann die schlechte Nachricht: »Ich dachte, Sie sollten sich dieses Schreiben vielleicht lieber persönlich anschauen, bevor es auf dem Drei-Monats-Ablagestapel landet... Ein Professor Gnüster von der Uni Magdeburg, Institut für Biochemie und Zellbiologie, hat mit seinen Studenten eine Exkursion nach Morsleben gemacht, um Einflüsse auf die umliegende Flora zu untersuchen. Er behauptet, dabei elf neue Arten entdeckt zu haben.«

    Im Gesicht der Chefin knirscht es: Morsleben gilt immerhin als dunkelstes Kapitel in der Geschichte unseres Ministeriums, seit eine Amtsvorgängerin eigenmächtig entschied, den ehemaligen Salzstock dort als Endlager für bundesdeutschen Atommüll zu nutzen. In die einsturzgefährdeteren Teile des Bergwerks waren die Fässer einfach hineingekippt worden, bei einer späteren Begehung hatte sich herausgestellt, dass in manch Stollen Wasser hochzog, Fässer allmählich verrosteten und uranhaltige Partikel ins Grundwasser einsickerten. Das Entsetzen erreichte jedoch seinen Höhepunkt, als man bemerkte, dass den abgeschlossenen Verträgen zufolge die Kosten für eine etwas dauerhaftere Entsorgung vom Bund allein übernommen werden müssen. Seither wird unser Ministerium auch gerne als »Ministerium für dauerhafte Umweltzerstörung« verspottet. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum es gegenwärtig umso wichtiger ist, eben diese Scharte mit der Energiewende auszuwetzen.

    »Elf neue Arten?«, blafft die Backhus, offenbar Visionen radioaktiver Mutationen ohne Ende vorm inneren Auge, tanzende Pilze wie bei Disney, die gemeinsam Spottlieder aufs Umweltministerium anstimmen und Pressekonferenzen geben. »Na ja, um ehrlich zu sein, stammt der Begriff „Arten" eher von mir«, beschwichtige ich daher. »Der Professor drückt sich da etwas umständlicher aus. Moment, ich habe mir die Stelle angestrichen...« Kurzes Blättern, während die Ministerin hoffentlich in ihre Komfortzone zurückschnellt. Geistige Notiz, so etwas zukünftig schonender einzuleiten: Wer stets austeilt, kann nicht unbedingt auch einstecken, dann Aufmerksamkeit heischendes Wedeln mit Seite Fünf des betreffenden Schreibens. »Hier. Der Begriff der Art impliziere, dass die Gattung bekannt sei. Bei den elf eingesammelten Exemplaren sei das Genom jedoch überwiegend nicht klassifizierbar...«

    Wieder bricht die Ministerin in einen Hustenanfall aus, drückt sich energisch ein Stofftaschentuch vor den Mund wie zur Einleitung einer Selbsterstickung, konvulsivisch bebende Schultern und bronchiales Röhren, das jedem Platzhirsch Ehre macht. Als der Anfall verebbt, blickt sie betroffen auf rote Flecken im Stoff, nun deutlich in sich zusammengesackt. Auch ich bin erschrocken: Allmählich habe ich ja immerhin ebenfalls dieses Alter erreicht, in dem man das Funktionieren seines Körpers mit zunehmendem Misstrauen beobachtet und eine gewisse Solidarität entwickelt zu jenen, die bereits ernsthaft mit Krankheit und Verfall ringen. Alter ist nichts für Feiglinge.

    »Fühlen Sie sich nicht wohl, Frau Doktor Backhus?«, beruhige ich die Ministerin daher mit gut polierter Anteilnahme. Mache ihr sogar die Titel-Freude. Wenn sie so ängstlich aus ihren Augen herausschaut, den Kopf leicht schräg auf eine hager-knochige Schulter geneigt, erinnert sie mich stets an von einer Ölpest überraschte Vögel, alles Aufgeplusterte verklebt, schutz- und fassungslos vor verschmierter Welt. Vermutlich eine Nebenwirkung ihres sonst so aggressiven Auftretens, Variante des Stockholm-Syndroms oder Artverwandtes. Persönlich ist mir nicht wohl dabei, wenn sie derartige Gefühle in mir weckt. Ob es ihr gegenüber Frauen genauso ergeht, oder spricht sie da wirklich Reste männlichen Beschützerinstinktes an?

    »Nein, schon gut, ich muss mir offenbar am Wochenende irgendetwas eingefangen haben...« Von der Willenskraft, die sie sonst wie einen Schutzschild vor sich herträgt, ist nichts mehr übrig. Es bleibt ein brüchiges Vakuum, durch das sie mich zwangsläufig näher zu sich saugt. Sobald sie sich erholt hat, wird sie mich dafür büßen lassen, dass ich sie in einem Moment der Schwäche erlebte.

    Mit plötzlichem Ruck strafft sie ihre Schultern, schüttelt blutigen Auswurf und kreatürliche Sterblichkeit in Eins von sich, ordnet den ganzen Körper neu: »Herr Müller, es muss auf jeden Fall verhindert werden, dass dieser wirre Professor seinen krausen Befund an die Medien weitergibt. Sie wissen ja, wie diese Umweltaktivisten so sind. Solche Art von Negativ-Publicity können wir im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Lassen Sie herausfinden, welche Unternehmen das Institut da in... in..«

    »Magdeburg«, helfe ich aus, meine Blicke folgen ihrer fahrig gestikulierenden Hand, mit der sie etwas in weite Fernen weist.

    »Ja, genau da, die dieses Institut mittragen. Wir müssen wohl ein paar Hebel in Bewegung setzen und ein wenig sanften Druck ausüben.« Ich nicke, brauche mir jedoch nichts zu notieren, denn mit dieser Reaktion habe ich bereits gerechnet.

    Plötzlich jedoch ein Rückfall, die Ministerin wird, so gut Bräune und Schminke gleichermaßen es gestatten, bleich: »Es sei denn... Könnte es sich dabei um so etwas wie diesen Genmais handeln, der ja auch überall auftaucht? Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, ob dieses... unbekannte Genom irgendwo in den USA patentiert ist. Sonst haben wir ruckzuck eine Patentrechtsklage am Hals, vielleicht vor einem internationalen Schiedsgericht...« Einen Moment lang verstummt sie angesichts unwägbarer Konsequenzen und Forderungen in Milliardenhöhe, dann bricht ein noch heftigerer Hustenanfall aus ihr hervor. Endlich nicht mehr durchgeschüttelt von ihrem persönlichen Erdbeben starrt sie ungläubig auf schwarze Klumpen im roten Schleim des Taschentuchs.

    Ich wieder mal viel zu nah an ihr dran, Empathie und so, weshalb mir zunächst lediglich auffällt, dass sich auf ihrer Stirne Schweiß gebildet hat. Dann erst folge ich ihrem Blick und merke, dass es nicht an der zitternden Hand der Ministerin liegt. Wahrlich und wahrhaftig, die schwarzen Klumpen auf rotem Grund bewegen sich! Einer kriecht eindeutig sich windend, zusammenziehend und vorwärtsrobbend das Taschentuch empor Richtung Daumen, ehe die Backhus es mit einem Schreckenslaut auf die immer noch vor Sonne gleißende Schreibtischplatte entlässt. Habe gar nicht mitbekommen, dass ich aufgesprungen bin: Finde mich erst wieder, als ich mich entsetzt an die gegenüberliegende Wand presse, während die Ministerin mich fassungslos und hilfesuchend ansieht. Natürlich ist mir sofort klar, dass dies keine Trichinen, Platt-, Faden-, Zungenwürmer oder sonstigen Viecher sind, die man in Mittel- bis Oberschicht aus exotischem Urlaub mitbringen mag. Auch mit biologischer Kriegsführung hat dies offenbar nichts zu tun, sieht schlicht nicht aus wie Überträger von Pest, Typhus, Milzbrand, Cholera oder Ruhr, kurzum: Ich tappe völlig im Dunklen, eine plötzlich unerklärbar und bedrohlich gewordene Welt springt mich von Taschentuch und Ministermiene her an. Vorläufig und dringlichst: Ist dies ANSTECKEND? Und: Darf man im Fall einer Ministerin überhaupt den Seuchenschutz alarmieren?

    Wir beide ahnen es noch nicht weil ohnehin erschüttert, aber was da vor und zwischen uns auf dem Schreibtisch madig und schleimig vor sich hin tiert, ist das erste Omen eines bevorstehenden Endes der Welt. Und ausnahmsweise meine ich das einmal ganz wörtlich. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, noch einmal zu entscheiden, ob Sie weiterlesen.

    2 - Von der neuen Achse des Bösen

    Das Krankenzimmerbett der Backhus liegt unter einem großen Sauerstoffzelt, das wie ein zerknitterter Duschvorhang von einem Alugestell herabstürzt, zweifellos eine ganz eigene Art von Himmelbett für eine ganz eigene Art von Prinzessin. Trotzdem hält der trotz beginnenden Alters noch aufdringlich gesund und trainiert wirkende Chefarzt stets gesunden Abstand. Er trägt unvorteilhaft einen gelb-pummeligen Ganzkörperanzug aus antistatischem Plastik, den Kopf hinter einer durchsichtigen Haube in Sicherheit, seine Stimme von einem auf die Wange geklebten Mikro leicht übersteuert. »Sehen Sie, Herr Müller, ein Befall durch unbekannte Organismen ist keine Kleinigkeit«, tönt es aus seinem sinnhaft in Mundhöhe montierten Lautsprecher in der Qualität eines billigen Fernsehers, während er zerstreut durch sein Haar streichen will, sich dabei letztlich aber nur Falten in die Haube drückt. Sie wird von einem über seinem Kopf schwebenden Heiligenschein gehalten, dessen rückwärtige Stütze ein steifer Sauerstoffschlauch bildet. Warum habe ich nicht auch einen derartigen Schutzanzug bekommen? Will er einfach damit angeben, was es in einem Privatkrankenhaus so alles gibt? Hat man vielleicht gar keinen zweiten Anzug? Restunruhe bleibt auf jeden Fall.

    Ansonsten bleibt befriedigt festzustellen, dass die MIDAS-Klinik bei dieser Hitzewelle dasselbe Problem hat wie unsere städtischen Krankenhäuser: Man muss literweise Desinfektionsmittel vergießen, bis sich Atmung, Geruchs- und Geschmackssinne gänzlich damit zugesetzt haben. Der Kaffee auf jeden Fall, den mir Dr. Dobermann in die Hand drückt, schmeckt aufdringlich nach Desinfektion. Aber vielleicht ist der gute Onkel Doktor inzwischen auch bereits derart daran gewöhnt, dass er Kaffee grundsätzlich nur noch so trinkt. Während ich mich noch verwunder, stapft der Chefarzt derweil raschelnd zur sanft glimmenden Tafel mit ministerialen Röntgenbildern und tappt der Reihe nach klobig auf einige davon. »Die Dichte dieser Parasiten ist nur geringfügig größer als die des durchschnittlichen organischen Gewebes. Unsere digitalen Röntgenaufnahmen zeigen daher recht zuverlässig größere Konzentrationen im Bereich der Lunge«, tapp: Weiß auf Schwarz ein Brustkorb im Schneegestöber mit leicht deformierter Birne, offenbar das Herz, überlagert vom helleren Weiß des Rückgrats vor geisterhaft durchscheinenden Rippenbögen, tapp: »des Gehirns«, gewöhnungsbedürftige Darstellung eines halb durchsichtigen Schädels, wiederum schneedurchstöbert, aus der die Zähne der Ministerin noch immer markant und weiß als Blickpunkt strahlen. Groß-runde Augenhöhlen zeichnen sich deutlich ab, als hätte die Backhus in ungewohnter Retrogefälligkeit eine altmodische Fliegerbrille getragen, tapp: »und des Rückenmarks«, irritierender Weise jedoch ein Bild der Schulter diesmal, Oberarmknochen und Gelenkpfanne sehr schön zu erkennen, unverschneit, »weil da der Unterschied in der Dichte hinreichend groß ist. Das sind aber auch genau die Bereiche, in denen eine operative Entfernung am riskantesten wäre und der Patientin nur wenige Eingriffe auf einmal zugemutet werden können.« Gefällig nicke ich und versuche, der audio-akustischen Schnellpräsentation zu folgen, bleibe jedoch an der verblüffenden Schulter hängen.

    »Hinzu kommen dann noch diverse Schatten in anderen Organen, die wir erst noch genauer klassifizieren müssen«, tapp, tapp und tapp generalstabsmäßig, ich jedoch folge nun nicht mehr. In diesem Moment erst wird mir nämlich klar, was dieses seltsame Schneegestöber zu bedeuten hat. Bei genauerem Hinsehen sind die weißen Flocken eigentümlich länglich, einige gewunden, insgesamt beunruhigend madenhaft. Dr. Dobermann streicht unterdessen über seinen Heiligenschein, als wolle er ihn aufpolieren. Endlich merke ich, dass er mich erwartungsvoll ansieht. »Schön, schön«, murmle ich, um seine Arbeit und die des Krankenhauses wertzuschätzen, woraufhin wir beide ob dieser unpassenden Bemerkung ins Stocken geraten.

    Unsere Augen schweifen unweigerlich von der Innen- Richtung Außenansicht, hinweg über die vielen medizinischen Geräte, die das Krankenbett umstehen, entlang der Schläuche, die in den Körper hinein- und hinausführen. Wahrscheinlich Sauerstoff, um die Lunge zu entlasten, rationalisiere ich, doch mein Magen fühlt sich flau an: eventuell der Unterdruck hier im Raum zwecks Keimbindung. Unser direkter Vergleich von Innen und Außen führt jedoch zumindest mich ebenfalls auf unangenehme Konsequenzen: »Sie... Sie müssen ihr das Gehirn aufschneiden?« Die Ministerin selbst sitzt derweil aufrecht im Schneidersitz auf ihrer Matratze und fixiert mich mit einem Blick, den ich nicht zu deuten vermag: stiller Heroismus? bestätigter Trotz, dass derlei Dinge stets ihr passieren? Auf jeden Fall ungebeugt, lauernd geradezu.

    »Nicht notwendiger Weise«, lächelt Doktor Dobermann auf eine Art, die er wohl für beruhigend hält. »Unsere Untersuchung dieser Parasiten läuft noch. Es besteht ebenso die Chance, dass wir die Dinger durch gezielte Bestrahlung oder chemische Präparate töten und zersetzen können. Dafür müssen wir dann aber zunächst klären, ob die Reste tatsächlich durch den Körper abbaubar sind. Immerhin handelt es sich ja um gänzlich körperfremde Stoffe.« Ein wenig ratlos blicke ich der Reihe nach ins Rund des neuen Hofstaats der Ministerin, zu ihrem freundlich-rollbaren Patientenmonitor mit Doppelschläuchen, der giftgrünen Batterie von Spritzen- und Infusionspumpen nebst Tropfständer, diesem unbekannten Ding mit Druckanzeiger und viel geringeltem Telefonkabel, dem robust wirkenden Beatmungsgerät im SciFi-Stil der 90er. Umfassend verkabelt in ihrer Mitte: eben und immer noch unsere Ministerin als Spinne im Netz, irritierender Weise fast stolz ob ihrer Position. Natürlich ist sie einerseits als Fast-Ärztin hier auf heimischem Terrain, nichtsdestotrotz jedoch bewundernswert in ihrer wohl eingeübten Widerstandsfähigkeit, keine Frage. »Das heißt also, Ihre Prognose könnte auch gut ausfallen?«, wunschdenke ich zaghaft.

    Mit aufmunterndem Rascheln klopft mir Doktor Dobermann auf die linke Schulter. »Nun, das hängt wie gesagt voll und ganz von den Untersuchungsergebnissen des Labors ab. Bisher jedoch verhalten sich die Parasiten erstaunlich gutartig: Sie fressen nur so viel, wie auch nachwächst. Also machen Sie sich mal keine Sorgen: Das hier ist immerhin kein öffentliches Krankenhaus und Frau Backhus ist privatversichert, eigentlich müssten wir also sogar mit einer Invasion außerirdischer Körperfresser zurechtkommen«. Meinem prüfenden Blick begegnet er mit wölfisch-grinsend gebleckten Zähnen und professioneller Zuversicht, sehr zufrieden mit sich ob seines kundenorientierten Scherzes. Ohne Schutzhandschuhe würde er mir in diesem Moment vielleicht eine Werbebroschüre in die Hand drücken.

    »Chie chehen alcho«, meldet sich die straff sitzende Ministerin nun erstmals zu Wort und zieht entschlossen den Absaugschlauch aus ihrem Mund, »dass die Lage derzeit unter Kontrolle ist, es aber noch kein Zeitfenster für den erfolgreichen Abschluss meiner Behandlung gibt. Entsprechend müssen daher Sie als mein Stellvertreter vorübergehend die Amtsleitung übernehmen. Bitte notieren Sie sich die wichtigsten Handlungsdirektiven. Herr Doktor Dobermann, wir müssen Sie nun nicht weiter von Ihrer Arbeit abhalten.«

    Der gute Onkel Doktor wirkt einen Moment verblüfft, ehe er sich höflich verzieht, untermalt vom zerstreuten Versuch, seinen Scheitel zurecht zu streichen, Unbeschädigtheit wieder herzustellen. Für meinen Zustand hingegen: Verblüffung gar kein Ausdruck mehr! Erstens nämlich Kontrolle: während sie bei lebendigem Leib hin und wieder aufgefressen wird? Zweitens sodann natürlich Amtsleitung: ich? Muss mich setzen. Recht hübsch, dieser Kontrast hell-ockerfarbener Wände und seuchengrünen Inventars, stelle ich im Schockzustand fest, die Ministerin jedoch erkennt scharfsichtig wie stets einen gewissen Handlungsbedarf: »Kommen Sie bitte möglichst nahe, Herr Müller. Ich bin nicht so gut bei Stimme.« Als sie sich räuspert, klingt es nach aufkommendem Schleim­auswurf und einen Moment lang fürchte ich, dass sie die Folie zwischen uns rot-schwarz sprenkelt.

    Mit Beinen aus Pudding schiebe ich mir einen Besucherstuhl bis unmittelbar vor das Sauerstoffzelt, im Sitzen geht es einigermaßen. Aktenkoffer, Anweisungen notieren, natürlich. Ihr Gesicht hängt dabei unmittelbar vor der Plastikfolie, innerlich noch immer Achterbahn. »Zunächst einmal, das hat im Moment äußerste Priorität, müssen die Sachpläne zur Energiewende schnellstmöglich untereinander

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