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Vergessene Zeit: Kriminalroman
Vergessene Zeit: Kriminalroman
Vergessene Zeit: Kriminalroman
Ebook498 pages7 hours

Vergessene Zeit: Kriminalroman

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About this ebook

Melanie soll für einen Sammelband "Mörderische Weihnachten" eine Kurzgeschichte verfassen, trödelt aber uninspiriert durch die Augusthitze, bis ihre entnervte Lektorin sie in eine einsame Hütte am Eulenburger See verbannt. Nach einem heftigen Unwetter findet Melanie dort einen jungen Mann, der an Amnesie leidet und möglicherweise entführt worden ist. Damit, dass sie ihn bei der Polizei abliefert, ist der Fall aber nicht erledigt - ihr "Findelmann" bittet sie, bei der Aufklärung des Falls zu helfen, damit er seine rätselhaften Alpträume loswird. In mühsamer Kleinarbeit tragen die beiden die einzelnen Mosaiksteinchen zusammen, verlieben sich ineinander und stehen schließlich zusammen der Leisenberger Kripo verblüfft vor der Lösung.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateSep 19, 2015
ISBN9783737558815
Vergessene Zeit: Kriminalroman

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    Book preview

    Vergessene Zeit - Elisa Scheer

    Alles frei erfunden!

    Imprint

    Vergessene Zeit. Kriminalroman

    Elisa Scheer

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2015 Elisa Scheer

    ISBN 978-3-7375-5881-5

    1

    Sie drehte sich langsam um und hob die Pistole... Nein, Blödsinn. Wo sollte sie die denn so plötzlich herhaben? Eine Tasche vielleicht – und wieso hatte die Gute dann keine Dokumente bei sich? Und hatte dieser miese Kerl von vorhin, der im Nikolauskostüm, ihr die Tasche nicht geklaut? Was hatte ich denn eben geschrieben?

    Verdammt, ich musste mich wirklich besser konzentrieren! Wütend sah ich von meinem Laptop auf, und mein Blick fiel auf den Kalender, auf dem der 31. August rot umringelt war. Abgabetermin - hässliches Wort, weiß Gott!

    Weiter im Text! Verdammt, warum war es auch so entsetzlich heiß? An solchen Tagen bereute ich es, direkt unter dem Dach zu wohnen: Augusthitze und dazu der Auftrag, eine Kurzgeschichte zum Thema Mörderische Weihnachten zu schreiben - üble Kombination.

    Einen schönen Titel hatte ich schon, Ihr Mörderlein kommet. Oder vielleicht doch lieber Lauter die Kugeln nie pfeifen? Egal, tolle Titel waren das geringste Problem – ein Königreich für eine Story, die dazu passte!

    Im Mittelpunkt sollte ein mörderischer Kaufhaus-Nikolaus stehen (die Geschichte spielte sicherheitshalber in den USA), aber wen sollte er warum umbringen? Und warum war meine Heldin so bescheuert? Wie sollte die überhaupt an eine Waffe – ach so, ja USA, National Rifle Association, da hatten ja alle immerzu eine Knarre parat. Oder sollte ich die Geschichte lieber doch nicht in den USA -? Ich wusste verdammt zu wenig darüber! Und bei diesem knappen Vorlauf war auch keine Zeit mehr für ausgiebige Recherchen. Kurz stellte ich mir vor, wie ich im August nach New York jettete und das Personal bei Macy´s oder Bloomingdale´s damit elendete, welche Gepflogenheiten ihre Nikoläuse zu gegebener Zeit hatten. Crazy Kraut wäre wohl noch der freundlichste Kommentar.

    Ich strich den Nikolaus und außerdem die Schusswaffen. Von Kalibern und ballistischen Vergleichen wusste ich so gut wie nichts, und solche Geschichten waren auch nicht mein Markenzeichen, eher sah ich mich in der Nachfolge Agatha Christies, raffinierte Whodunits, die aber mehr Platz brauchten, als mir für eine Kurzgeschichte in dieser dämlichen Anthologie zur Verfügung stand.

    Ich brauchte eine raffinierte Minigeschichte... Warum mordete jemand an Weihnachten? Weil ihm seine Familie tierisch auf den Keks ging, das wusste sogar ich. Aber tragisch sollte die Geschichte nicht sein, kein Blutbad im Kinderzimmer oder so, weil die beleidigten Zwerge das falsche Computerspiel bekommen hatten.

    Oberste Regel: Der Tote musste unsympathisch sein. Der Leser sollte seine Zeit nicht mit Mitleid verschwenden, sondern fieberhaft weiterlesen und auf Spuren achten. Ach ja, jede Menge falsche Fährten brauchte man natürlich auch noch. Reizend, ich hatte ja nicht einmal eine echte Fährte!

    Zurück zum Thema! Wer könnte das Opfer sein? Jemand, der allen Leuten das Falsche zu Weihnachten schenkt? Oder gar nichts? Ein Weihnachtsmuffel? Oder ein absoluter Weihnachtsfanatiker? So was konnte ja auch extrem nervend sein, man musste bloß an Heinrich Böll denken, Nicht nur zur Weihnachtszeit... Nein, das würde man sofort als Plagiat erkennen! Allerdings, wenn man genügend Änderungen vornahm... Vielleicht konnte es a) ein Mann sein und b) jemand, der nur vom ersten Advent an so überschnappte? Aber das mussten die anderen doch aushalten können, ohne zum Messerchen zu greifen?

    Ach, das war alles nichts! Und diese Küchenzeile sah schon wieder so schlampig aus... Nein, sitzen geblieben, keine Frustputzerei! Aber wenigstens abspülen könnte ich doch, sonst lenkte mich die Unordnung nur von meiner eigentlichen Arbeit ab. Wirklich nur abspülen!

    Eine Stunde später ertappte ich mich dabei, dass ich Gewürze sortierte und die abgelaufenen wegwarf. Das Geschirr war gespült, abgetrocknet (das machte ich sonst nie) und verräumt, die Granitarbeitsplatte schimmerte makellos in der gleißenden Augustsonne, und mir lief der Schweiß in Strömen herunter. Nein, ich konnte diese Gewürzaktion jetzt nicht halbfertig liegenlassen, wie sah das denn aus! Also, das sollte ich jetzt noch fertigmachen, dann duschen und etwas Frisches anziehen, und dann zurück an die Arbeit. Wie spät – oh, schon halb zwei? Seit heute Morgen saß ich an meinem Weihnachtsmord, und was hatte ich bis jetzt geschafft? Absolut gar nichts, nur die Küche war ordentlich. Reizend, wirklich! Sicher, ohne einen anständig engen Abgabetermin wäre meine Wohnung wahrscheinlich längst knietief zugemüllt, aber so konnte es doch wirklich nicht weitergehen!

    Hastig sortierte ich die Gewürze fertig, verräumte alles, trug schnell den Müll nach unten (bei dieser Hitze musste man das gleich tun, sonst begann er zu stinken, und auf diese Scharen von winzigen Fruchtfliegen legte ich auch keinen gesteigerten Wert) und duschte ausgiebig. Frisches T-Shirt, frische Shorts – mich sah hier ja keiner.

    Jetzt aber!

    Am besten machte ich mir zuerst ein Handlungsgerüst. Oder zuerst eine recht weihnachtliche Mordmethode? Vergiftete Lebkuchen? Vom Christbaum erschlagen? Von einer schön langen Christbaumkugelscherbe aufgespießt? Mit O du fröhliche in den Wahnsinn getrieben?

    Verdammt!

    Zurück zum Opfer! Ein älterer Familienvater, Typ Haustyrann. (Agatha Christie, Hercule Poirots Weihnachten) Allen würde es besser gehen, wenn er nicht mehr da wäre. Er schikaniert die Tochter, die noch zu Hause lebt und eine lange Pflege vor sich sieht, er schikaniert die anderen Kinder, die nur zu Weihnachten kommen, macht ihre Ehepartner herunter, blafft ihre Kinder an, besteht auf weihnachtlichem Getue... Das war doch alles kein Mordmotiv! Am zweiten Feiertag ist schließlich alles vorbei und man kann aufatmend wieder in sein Auto fallen...

    Wie war das bei uns, an Weihnachten? Daddy freute sich, uns zu sehen, hatte den Baum mit all dem Schrott geschmückt, den wir früher gebastelt hatten, aus Goldpapier, das vor lauter Uhu-Flecken ganz blind geworden war, beschenkte uns reich und nicht immer passend, kochte passabel und nervte nur, was den spannermäßigen Weihnachtsspaziergang betraf. Da mussten wir nämlich bei allen Leuten durch die Fenster spähen, was die für einen Weihnachtsbaum hatten – womöglich schöner als unserer? Und wenn man dann gemein war und feststellte, dass ein monochrom in Gold oder Creme geschmückter Baum einfach edler aussah als unser Kindergartensammelsurium, hielt Daddy den Standardvortrag über emotionale Werte vs. kalten Ästhetizismus. Jaja.

    Ich konnte die zwei Tage gut aushalten, und Angela und Matthias wohl auch. Matthias schätzte seinen Schwiegervater offenbar sehr, jedenfalls war er nie der, der genervte Geräusche am Telefon von sich gab, wenn wieder einmal ein Besuch anstand – das war nur meine kleine Schwester, die Reiseziele im Inland als öde empfand. Und Daddy wohnte in einem Vorort von München, das war nicht einmal eine Stunde mit dem Auto, also völlig unter ihrer Würde. Sicher, mit Kenia, Feuerland oder schicken vier Tagen Hongkong konnte das nicht mithalten, aber zwei Tage Forstenried waren ja wohl das Schlimmste nicht. Weit und breit kein Mordmotiv – höchstens ein Motiv, auf dem Rückweg gleich beim Wertstoffhof vorbeizufahren, weil Daddy keiner neuen Küchenerfindung widerstehen konnte und seine Patentputzmittel, Wunderhobel, Garniermaschinchen, Spezialtoaster und Fettfreigrillpfannen uns dann andrehte. Früher war er nur an jedem Straßenverkäufer in der Neuhauser Straße hängen geblieben, mittlerweile hatte er leider das Teleshopping entdeckt und so den Wareneingang mindestens verdreifacht. Letztes Mal kriegte Angela einen Satz Plastiknäpfe, mit denen man dreimal so viel geruchsneutral im Kühlschrank aufbewahren konnte, und ich bekam Patentkleiderbügel, um Ordnung im Schrank zu schaffen.

    Wir tauschten unauffällig, aber wirklich brauchen konnten wir die Teile aus minderwertigem Kunststoff trotzdem nicht. Matthias dagegen hatte einen Satz von vier CDs bekommen, Die größten Hits des Rock‘n Roll („Nicht im Handel erhältlich!") und wurde von uns heftig beneidet.

    Nein, kein Mordmotiv. Und jetzt war es glücklich fast vier.

    Weiter im Text! Weiter war gut... ich hatte ja immer noch nichts! Noch drei Wochen... vielleicht pennte meine Muse heute einfach? Aber die schien mir eher in Urlaub gefahren zu sein, jedenfalls hatte sie keinen Pieps von sich gegeben, seitdem ich an diesem Auftrag saß. Auf Inspiration warten – das konnte dauern. Und ein leerer Bildschirm hatte etwas sehr Deprimierendes an sich. Ich sollte etwas hinschreiben, irgendwas.

    Eine Frau erschießt den Nikolaus.

    Na gut, aber warum? Wenn er einer von unseren Nikoläusen war, dann kam er vom Jobdienst der Uni, ein harmloses Drittsemester oder so. Wie wär´s mit einem Hauch Verhängnisvolle Affäre? Nicht schlecht. Sie hatte was mit ihm, als er im Sommer als Surflehrer gejobbt hat – und nun will er nicht loslassen und kommt extra zu ihnen als Nikolaus und macht Andeutungen, die nur sie versteht. Und ihr Mann ist steinreich (deshalb ist auch eine Waffe im Haus) und sie will weder das Geld noch die beiden wohl erzogenen Kinder verlieren, nur weil sie sich mal mit einem Surflehrer amüsiert hat.

    Ja, stimmig war das schon – aber wie sollte ich daraus ein Rätsel basteln? Sicher, das Motiv lag nicht auf der Hand, aber meine altbewährte Kommissarin Gabriele Gärtner kriegte das doch im Handumdrehen heraus!

    Ich brauchte falsche Fährten. Und eine weniger offensichtliche Mordmethode. Aber vergiftete Lebkuchen? Mit naschhaften Kindern im Haus? Natürlich könnte der reiche Ehemann aus Versehen so einen Lebkuchen... sie bricht zusammen, ihr geliebter Mann! Nein, Blödsinn, da war ihr Motiv doch noch viel offensichtlicher!

    Man könnte eine richtige Nikolausparty veranstalten... Mehr Gäste, mehr Motive? Aber dass alle Gäste diesen zufällig aufgetauchten Nikolaus kennen sollten – waren sie alle bei diesem Surfurlaub?

    Ich hatte schon wieder keine Lust mehr. Halt – die Gastgeberin erzählt ihrer Freundin, wer der Nikolaus ist, und die kann mit dem Namen etwas anfangen, weil er ihre kleine Schwester geschwängert hat und dann verschwunden ist...

    Ich begann hektisch zu tippen. Und der Ehemann ist eifersüchtig, weil der Nikolaus einen Kopf größer ist und muskulös wirkt (unter der roten Kutte??) und seiner Frau so zweideutige Blicke zuwirft... Drei Verdächtige – reichte das nicht für eine Geschichte von fünfundzwanzig Druckseiten? Ich amüsierte mich köstliche fünf Minuten lang damit, die Seite so einzurichten, dass eine getippte exakt einer gedruckten Seite entsprach.

    Los, einen Verdächtigen noch! Eine weitere Mutter hat einen erwachsenen Sohn, dem dieser Nikolaus einen wissenschaftlichen Hilfsjob weggeschnappt hat. Erstklassiges Mordmotiv, diese Jobs wurden doch so grausig schlecht bezahlt! Ich speicherte den bisher verfassten Schwachsinn, klickte so lange auf ENTER, bis ich den Kram nicht mehr sehen musste, und begann von neuem. Nix mit ermordetem Nikolaus!

    Zickenalarm? Böse junge Frau, die die einen verführt, die anderen erpresst und überhaupt nur aufs Geld schaut... Sie könnte in ihre eigene Falle laufen... Und wie sollte die Falle aussehen?

    Fünf.

    Nichts Brauchbares geschrieben, nichts eingekauft, nicht in der Sonne gelegen, den herrlichen Sommertag nicht genossen. Ich war doch wirklich die Allerärmste weit und breit, alle anderen lagen jetzt an irgendeinem Sandstrand.

    Könnte ich auch, wenn ich die doofe Geschichte gleich im Juni geschrieben hätte! Und irgendwann musste ich Mord pauschal für die zweite Auflage noch einmal durchsehen... Meine Steuererklärung war auch noch nicht gemacht... Nichts mehr zu trinken im Haus...

    Erstmal einkaufen! Im Hochsommer war die Innenstadt zwar ekelhaft, heiß, staubig, alle netten Läden hatten Betriebsurlaub, die Ozonwerte waren schauerlich, in den Straßen stand die Hitze – aber wenigstens waren die Wege kurz. Ich holte mir einige Flaschen Diätcola, Zigaretten, ein paar Tüten Chips und einige Mikrowellenmenüs – kochen konnte ich bis heute noch nicht, mit vierunddreißig war das auch keine besondere Leistung.

    Das San Carlo sah viel versprechend aus. Hatte ich mir nicht ein leckeres Eis mit Früchten verdient? Eigentlich nicht, musste ich zugeben. Ach, egal, vielleicht regte das Eis mich ja an! Ich stapelte meine Einkäufe im Schatten des Tisches auf, setzte mich und zückte mein Notizbuch, in dem ich Ideen, wenn sie denn mal kamen, sofort zu notieren pflegte. Im Allgemeinen so kryptisch formuliert, dass ich später nicht mehr viel damit anfangen konnte.

    Die Kellnerin nahm meine Bestellung entgegen; ich zündete mir eine Zigarette an und starrte auf die jungfräulich weiße Seite.

    Eis – Schnee und Eis – eingeschneit – Hüttenkoller – Aggressionen kochen hoch – Freundeskreis mit alten offenen Rechnungen – in die Wunde am Hinterkopf passt genau die Skibindung des Oberverdächtigen, aber der war´s natürlich nicht, sondern jemand, der ihn reinreißen wollte... und am Ende war´s dann noch jemand anders, und die Wahl der Waffe war der nackte Zufall, weil das die einzigen Ski waren, die nicht weggeschlossen waren... wer hatte zum Skischuppen keinen Schlüssel?

    Gar nicht so blöde!

    Aber jetzt musste ich diesen Freundeskreis skizzieren – knapp (fünfundzwanzig Seiten!), aber signifikant (sonst waren für den geübten Leser die Motive zu unklar). Konnte das Opfer wunde Punkte getroffen haben? Lebenslügen aufgedeckt?

    Mein Eis kam. Schokolade, Nuss, Kokos – und dazu dieses hinreißende Waldbeerenkompott, das es nur hier gab.

    Ich löffelte und spürte, wie sich meine Laune hob. Extrem lecker, wirklich. Man könnte einem Diabetiker Zucker ins Essen – fiel der dann ins Koma, oder brauchte er bloß eine Insulinspritze? Das ließ ich lieber, davon verstand ich rein gar nichts. Müsste man alles mal recherchieren – aber dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit.

    Alle meine Entwürfe waren blöde, dämlich wie der Schicksalsfilm der Woche! Wenn ich so weiter machte, endete ich noch als Drehbuchschreiberin bei einem der minderen Privatsender. Fette Kohle gab das ja vielleicht, aber der schlechte Ruf... Nein, ich wollte meinen Namen richtig gedruckt sehen, auf den schönen schwarzen Krimis von Winkler & Lange.

    Los, an die Arbeit. Weihnachtsfeier in einer Firma? Gift im Punsch aus dem Plastikbecher? In einer Firma gäbe es wenigstens Motive satt, vielleicht will einer rationalisieren und Leute rausmobben, überlegte ich. Verstand ich was von Firmenabläufen? Nein, aber ich wusste, wen ich da fragen konnte.

    Hm. Das gefiel mir auch nicht so recht. Gab es denn nicht irgendeine wirklich zündende Geschichte? Einen Plot, der sich praktisch von selbst schrieb?

    Mein Eis war gegessen und mein schlechtes Gewissen regte sich wieder. Jetzt hatte ich den Nachmittag wirklich komplett vertrödelt – mehrere unbrauchbare Plots mit gigantischen Löchern in der Logik waren wirklich keine Ausbeute, ein gut gekühlter Magen und eine aufgeräumte Küche auch nicht.

    Mist, wirklich! Wütend auf mich selbst, zahlte ich, sammelte meine Tüten ein schlurfte nach Hause.

    Fast sieben. Und noch hatte es kein bisschen abgekühlt. In den engen Altstadtgassen staute sich die Hitze, und es stank nach Autoabgasen, Döner, Pizza und angegammeltem Gemüse, ganz abgesehen von den Leuten, deren Deodorant vor der Sommerhitze kapituliert hatte.

    An Tagen wie diesen hätte ich mir ein biederes Reihenhäuschen irgendwo draußen – Waldstetten, Kirchfelden, Mönchberg richtig gut vorstellen können. Andererseits...Summer in the City: draußen sitzen, nächtliche Spaziergänge, Biergärten, das Helenenbad, in zehn Minuten in allen Kinos, Theatern und Museen (abgesehen von Ludwigskron). Mit vierzig konnte ich immer noch über ein Reihenhäuschen nachdenken – wenn ich bis dahin genügend Krimis geschrieben hatte und genügend Leute sie auch gekauft hatten. Wenn ich natürlich so weitermachte wie heute, konnte ich froh sein, wenn ich mein kochendheißes Möchtegern-Loft nicht verkaufen musste, dachte ich finster und wartete auf den knarrenden Lastenaufzug. Wie in einem Avantgarde-New York-Film...

    Die Hitze traf mich wie ein Schlag, als ich meine Tür aufgeschlossen hatte. Grauenvoll! Und alle Fenster gingen auf die gleiche Seite raus (Südwesten, was sonst), also konnte man keinen Durchzug machen. Ich verräumte meine Einkäufe, knackte gleich das erste Cola und ließ fast einen halben Liter durch meine Kehle laufen. Lauwarm, äh. Ich setzte die Flasche ab, rülpste kunstvoll und lautstark und stellte die Flasche in den Kühlschrank.

    Das Laminat unter meinen nackten Füßen klebte. Schweißfüße oder dreckiger Boden? Schweißfüße, ermahnte ich mich streng, jetzt wurde geschrieben und nicht etwa gründlich feucht aufgewischt!

    Ich scrollte wieder weiter, bis ich die bisherigen Peinlichkeiten nicht mehr sehen musste, und dachte intensiv nach. Der bisherige Ansatz war ohnehin total falsch, ich sollte besser von einer Person ausgehen – von der Person des Opfers natürlich.

    Hm – also das Opfer. Ja.

    Das Opfer. Eine Frau, das zieht besser. Eine Exfrau... ohne Kinder, sonst taten die mir nachher wieder Leid, die mutterlosen Lämmchen. Ich war für Krimis zu weichherzig, jedenfalls hätte ich nie diese gruseligen Serienkillerdinger schreiben können, bei denen man schon glauben konnte, die Autorin (es gab wirklich grausame Frauen) sei ein bisschen krank im Kopf. Ja, aber so etwas sollte ich jetzt ohnehin nicht verbrechen, also konnte ich nicht endlich mal bei der Sache bleiben?

    Der Fußboden war wirklich ganz schön schmierig, und man sah, wo ich vorhin mit schweißfeuchten Füßen gestanden hatte.

    Das Opfer. Eine Exfrau. Jetzt musste sie erst einmal einen Namen kriegen, dann konnte ich sie mir doch gleich besser vorstellen. Ein bisschen Jetset, ein bisschen gewöhnlich. Blondgesträhnt, vielleicht sogar geliftet... Priscilla. Nein, so hieß hier wirklich keiner. Am besten etwas Bodenständiges, das sich hip aufmotzen ließ. Franziska -> Frances, tippte ich. Nein, Franziska war ein netter Name, ich brauchte was, das mir selbst unsympathisch war. Wie hatte diese dusselige Kuh im Deutsch-LK geheißen, die, die immer so esoterische Interpretationsversuche gestartet hatte? Wo sogar die arme Kursleiterin unwillkürlich die Augen zum Himmel verdreht hatte, sobald die  - die Gerlinde, genau! sich wieder fingerschnipsend gemeldet hatte und anfing: „Ich würde ja meinen, dass..."

    Die Charakteristik in der Abizeitung war nur knapp am Tatbestand von Verleumdung und Beleidigung vorbeigeschrammt – nein, nach der Abizeitung suchte ich jetzt nicht! Auch nicht zur Entspannung! Na gut, wenn ich das Personengerüst hatte, dann vielleicht. Also, Gerlinde. Gerlinde war ziemlich prima. Natürlich würde sie sich Linda nennen, das hatte etwas angenehm Internationales.

    Gut, Linda, Nachname später, Ende dreißig, blondgesträhnt, geldgeil (natürlich), kleineren Drohungen und Erpressungen nicht abgeneigt. Einen Job musste sie natürlich auch haben, etwas Schickes und zugleich Bescheuertes – Klamotten? Nagelstudio? Permanent Make-up? Oder etwas Besseres? Anwältin? Unternehmensberatung? So eine hatte doch dann wohl genug Geld... Brokerin? Und ein paar Kunden falsch beraten?

    Boutique gefiel mir noch am besten. Wie konnte man da vergrätzte Kundinnen einbauen? Die gute Linda konnte sich verplappert haben, wenn eine Kundin sich von verschiedenen Herren hatte beraten und vielleicht sogar beschenken lassen. Das war gar nicht so schlecht!

    Und dann war da natürlich noch der Exmann, dessen neues Glück sie gefährdete. Wer hatte wen verlassen? Am besten sie, wegen eines Jüngeren, Fitteren, der aber dann die Fliege gemacht hatte – ein Klischee am anderen. Und nun wollte sie den Ex zurück, und weil sie viel glamouröser war als Nummer zwei, hatte die einen Heidenschiss vor ihr. Auch ein Motiv... Mehr! Diese Linda musste stellenweise ein bisschen dumm sein, so dass sie nicht merkte, wenn sie dem Falschen etwas Verräterisches erzählte, zugleich aber gewitzt genug, manche Leute gezielt zu erpressen. Ihr Bruder vielleicht noch – Erbprobleme?

    Und wieso sollten die alle sich auf einer Weihnachtsfeier versammeln? Die müsste ja dann schon sie selbst veranstalten – Nummer zwei würde weder sie noch die Kundin noch den Bruder einladen.

    Gut, die Kundin könnte zugleich geschäftlich mit dem Ehemann zu tun haben, und der Bruder ist vielleicht ein netter Kerl und immer noch mit seinem Schwager befreundet. Aber wer würde Linda einladen?

    Jemand müsste sie mitbringen, und dann sind alle zu höflich, sie rauszuschmeißen... Dann könnte der Mord aber doch eigentlich nicht mehr geplant sein? Hm.

    Dann brauchte ich eine Waffe, die immer schon da war. Und natürlich noch eine/n Verdächtige/n, der es dann auch war. Viel Zeit hatte ich schließlich nicht, das alles auszuarbeiten.

    Apropos Zeit – jetzt war es Viertel nach acht, und ich musste meinen Freitagskrimi gucken. Das war schließlich streng dienstlich, vielleicht kam ich ja auf gute Ideen. Und um zwanzig nach zehn kam noch ein Krimi... Mal schauen, was ich abkupfern konnte!

    Ich speicherte meine schrägen Notizen, lümmelte mich auf mein fast authentisches Fifties-Sofa mit der nierenförmigen Rückenlehne und den dünnen gespreizten Beinchen und griff zur Fernbedienung.

    Nichts gegen die Fünfziger, Nierentische, Petticoats, Heinz-Erhard-Filme... aber einen Fernseher von damals hatte ich dann doch nicht gewollt. Ein Riesengehäuse und ein winziger Bildschirm? Nur ein Programm? Nein, für mich musste es schon ein 16:9 Flachbildschirm sein. Leider hatte das Finanzamt mir nicht abgekauft, dass ich ihn nur zu beruflichen Zwecken brauchte. Rechner ja, Fernseher nein, da war die Tante hinter dem Schreibtisch unerbittlich geblieben: Sie behaupte ja auch nicht, sie sehe sich nur WiSo an!

    Der Krimi war das Übliche, und der fiese Geschäftsmann (den spielte ja auch immer derselbe, oder? Ein Blick auf ihn und man wusste: Du bist gleich tot, Süßer) war bloß erschossen worden. Das konnte ich nicht gebrauchen. Aber die Schwester der Ehefrau, die mit diesem fanatischen Blick – aus der könnte man vielleicht etwas machen. Einen fanatischen Blick sollte ich auch verwenden. Andererseits verlangten die klassischen Regeln, keine Wahnsinnigen einzubauen. Gut, nicht wirklich durchgeknallt, nur so ein bisschen, und der (oder die) Betreffende durfte das gelegentlich schon mal anklingen lassen. Dann war ich doch fair, oder?

    Ich kritzelte einige Stichpunkte in mein Notizbuch und war eigentlich schon recht zufrieden mit mir. So viel fehlte doch gar nicht mehr? Mordmethode? Mordmotiv? Handlung? Aufbau? Die übrigen Charaktere? Naja, schon noch so einiges...

    Bis zum Einunddreißigsten wäre ich noch gut beschäftigt, eindeutig.

    Der nächste Krimi spielte in einem düsteren Milieu – Downtown L.A.? – und gab für meine Zwecke schon gar nichts her. Außerdem verstand ich ihn nicht, und dass der ermittelnde Beamte mit der Hauptverdächtigen etwas anfing, erschien mir dann doch leicht unrealistisch. Aber spannend war das Ganze, auch wenn es als Flop des Tages abqualifiziert wurde. Und danach gab es noch einen Spionagethriller aus dem Fünfzigern, schwarzweiß – in jeder Hinsicht: edle Amis und böse Russen, die alle aussahen wie Stalin persönlich.

    Oh – zehn nach zwei! Ich fuhr mir gerade noch matt mit einem Abschminkpad übers Gesicht, putzte mir flüchtig die Zähne und fiel ins Bett.

    Dass der Wecker um acht Uhr loströtete, freute mich wenig. Acht Stunden Schlaf war doch wohl das Mindeste, was ich vom Leben erwarten konnte! Und das waren nur - äh – weniger als sechs, jedenfalls. Und auf dem Tisch stand mein Laptop. Zugeklappt, aber trotzdem der personifizierte Vorwurf.

    Nach dem Zähneputzen setzte ich mich schicksalsergeben an den Schreibtisch. Also, weiter im Text!

    Das Nachthemd war auch nicht mehr das Frischeste. War wohl die Hitze – um halb neun Uhr morgens hatte es schon mindestens fünfundzwanzig Grad, und diese Luftfeuchtigkeit... Nein, ich durfte an Waschen, Bettbeziehen und ähnlich schöne Dinge gar nicht denken.

    Linda, die Böse.

    Ich las mir durch, was ich zu ihr notiert hatte, und schnaufte angewidert. So ein Schwachsinn! Aber löschen wollte ich das auch nicht, vielleicht konnte ich noch irgendetwas davon verwenden? Also scrollte ich wieder weiter und starrte auf den frustrierend leeren Bildschirm.

    Mörderische Weihnachten... Verdammt, dazu musste sich doch etwas finden lassen – und zwar etwas, das ich nicht irgendwo geklaut hatte.

    Und wenn der Christbaum abbrannte? Und genau der Richtige in den Flammen umkam? Wer sollte vermuten, dass das kein Unfall war?

    Nein, das war auch Blödsinn. Ich brauchte ein kleines, feines Familienverbrechen. Und wie wäre es denn mit dem alten Alibi-Trick? Die Ich-Erzählerin war es am Ende selbst?

    Uralt. Und wenig originell, wirklich.

    Musste es eigentlich überhaupt ein Mord sein? Konnte gerade an Weihnachten nicht etwas Harmloseres Genügen – verschwundene Geschenke oder so? Mörderische Weihnachten – da konnte ich es nicht billiger geben. Mord musste sein, ganz klar.

    Der Nikolaus kommt doch. Und er hat ein Engelchen dabei, das auch richtig engelhaft aussieht – und das ist dann die Mörderin (lange offene Rechnung). Gar nicht so übel...

    Und das Engelchen brauchte sofort einen Namen, etwas Girliemäßiges vielleicht – nein, dann wusste jeder sofort, dass es nicht so engelhaft war wie es aussah... Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin. Sehr wahr...

    Nein, etwas Harmloses wäre besser. Viel besser.

    Hm.

    Ach, Quatsch. Engelchen, bäh!

    Entnervte Schwiegertochter zieht der Schwiegermutter beim Gansbraten eins über. Klang nach Schlagzeile und vor allem nach einem glasklaren Fall. Zu offensichtlich.

    Weihnachten im WG-Milieu? Da konnte ich wenigstens mitreden, während des Studiums hatte ich kurz in einer WG gewohnt, in Westschwabing, dort, wo Schwabing nicht mehr so schön und touristisch ist, dafür aber auch nur noch halb so teuer. Aus den Dauerkrisen dort müsste man doch was machen können?

    Aber die mussten Weihnachten immer nach Hause zu ihren Alten, und auch ich hatte mich damals immer brav nach Forstenried aufgemacht, mit einer Plastiktüte voller Geschenke.

    Aber der WG-Gedanke gefiel mir. Man könnte das Ganze am ersten Feiertag nachmittags spielen lassen, wenn alle satt und leicht gereizt vom elterlichen Gänsebraten (wahlweise Karpfen) zurückkehren, seltsame Geschenke in der Tasche und, angefeuert vom Glühwein, erzählen, welche Pannen es dieses Mal gegeben hat. Und dabei sagt einer etwas Falsches...

    Das sollte ich mal schnell festhalten. Und danach musste ich wirklich dringend unter die Dusche!

    Dringend waren noch ganz andere Dinge, stellte ich im Badezimmer fest, zum Beispiel ein Peeling, eine Feuchtigkeitsmaske und vor allem ein Termin beim Friseur. Knapp schulterlange dunkelblonde Haare sahen zwar nicht so aus, als bräuchten sie die Hand eines Könners, aber wenn ich sie selber schnitt, wurden sie erstens schief und weigerten sich zweitens, sich nach innen zu drehen.

    Nichts gegen braune Augen, aber die Ringe darunter! War das das Alter? Die Hitze? Hormonelle Wassereinlagerungen? Nein, das hatten wir gerade erst gehabt. Wahrscheinlich mangelnde Pflege.

    Ich kramte nach dem Peeling-Gel und schrubbte mir das Gesicht, dann band ich mir die Haare streng zurück und trug die Reste der Gratispackung Honig-Mandel-Maske auf. Hatte ich gelbe Zähne? Nein, das lag an dieser bläulichen Maske.

    Die Fingernägel sahen aus wie Fingernägel eben aussehen, wenn man die ganze Zeit tippt – auch wenn es nur Schwachsinn ist. Diese Nagelhaut!

    Also trug ich noch dick Nagelhautentferner auf und ließ Wasser in die Badewanne laufen, eher lauwarm, um mich zu erfrischen.

    Sobald ich den Nagelhautentferner wieder abgewischt und die überschüssige Maske vorschriftsmäßig mit einem Kosmetiktuch (gut, eigentlich war es ein Stück Klopapier) abgenommen hatte, zog ich mich mit der Nagelfeile in die Wanne zurück, kippte etwas Öl ins Wasser und aalte mich. Herrlich! Und niemand sagte schließlich, dass man alt und hässlich werden musste im Dienst der Schriftstellerei, oder? Vielleicht landete ich ja mal einen richtigen Bestseller, nicht nur solide Verkaufszahlen, und dann musste ich ja medientauglich aussehen. All diese Talkshows, Buchmessen und so. Das Ölbad war also praktisch dienstlich.

    Leider konnte ich es aber nicht ewig hinziehen, ich musste, völlig aufgeweicht, doch mal aus der Wanne raus. Sicher, mit sorgfältigem Abtrocknen und ebenso sorgfältigem Eincremen konnte man wieder etwas Zeit schinden – und dann musste man ja auch noch einen geeigneten Bikini und einen Pareo auswählen.

    Schließlich blieb mir aber nichts anderes übrig, als mich doch wieder vor den Rechner zu setzen. Der Balkon lag noch im Schatten, und diese WG-Variante war noch sehr arm an Details.

    Vielleicht zuerst den Zeitplan? Am Nachmittag des ersten Feiertags kommen alle zurück, latente Gereiztheit breitet sich aus, man wirft sich Heuchelei und/ oder Herzlosigkeit vor, der Streit eskaliert, alle gehen wutschnaubend und ziemlich angetrunken ins Bett.

    Am nächsten Morgen findet man einen Mitbewohner in der Küche, tot. Mit der Kaffeemaschine erschlagen? Das konnte ich später regeln.

    Kommissarin Gärtner kommt (etwas knatschig, sie hat Weihnachten auch etwas Besseres vor) und verhört alle. Schließlich stellt sich heraus, dass zwar alle ein Motiv hatten, dass aber jemand ganz anderes der Schuldige war (oder die? Wie wär´s mit einem reinen Übernachtungsgast, der diese Debatten vielleicht sogar noch angeheizt hat, damit alle verdächtig sind?)

    Gar nicht so übel!

    Ich tippte diesen Entwurf schnell in den Laptop, bevor ich wieder alles vergaß. Schon sieben Seiten, und noch keine Story, nur ein paar lumpige Plots.

    Aber damit hatte ich mir doch wohl wieder eine kleine Pause verdient?

    Also wischte ich den Fußboden, wonach ich ja schon gestern gegiert hatte, schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen, schließlich war schon Mittag, und legte mich aufs Sofa. Nicht zum Dösen, nein! Um über passende Namen nachzudenken!

    Also, das Opfer... Thomas? Nachnamen brauchten die alle ja gar nicht, oder? Doch, die Polizei hatte bestimmt nicht vor, die ganze Bande zu duzen. Thomas Mühlbauer.

    Seine böse, so harmlos wirkende Freundin: Sandra (auch so ein Hassname, da hatte es so eine im Kindergarten gegeben, die mir immer die wichtigsten Legoteile weggenommen hatte) Preußler. Preußler war gut.

    Und die anderen... noch zwei Frauen und ein Mann, eine Vierzimmerwohnung mit Wohnküche, Bad und Gästeklo, renovierungsbedürftiger Altbau. Ich konnte es in München spielen lassen, da kannte ich mich immer noch ganz gut aus. Schwabing? Oder Haidhausen? Oder – schäbig, aber absolut trendy: Giesing? Das war noch zu regeln.

    Eine Frau sollte eine strikte Veganerin sein, dann konnte man schon um den Gänsebraten Terror inszenieren. Die kriegte einen Birkenstocknamen, Johanna oder Maria. Nachname? Später. Die andere ist mehr von der flotten, aber zielstrebigen Sorte (Jura?), Typ höhere Tochter, aber ohne viel Kohle, sonst würde sie ja kaum in einer WG mit so durchgeknallten Typen hausen.

    Dann noch Leonard, der Softie, von den Frauen nicht ernst genommen, von Thomas, dem Macho, verachtet und als schwul beschimpft (wieso beschimpft? Dazu konnte dann der schwule Assistent der Kommissarin weise Worte sprechen).

    Ja, das war bis jetzt eindeutig die beste Geschichte. Ich fügte die Ergänzungen an und fischte die fertige Pizza aus dem Ofen. Sie stank durchdringend nach Thunfisch. Ich schnitt sie in acht Stücke, warf den Fernseher an und suchte nach dieser hinreißend wirren Telenovela. Auf dem Sofa lümmeln, verfolgen, wie Don Miguel seine Tochter Clararosa daran hindern will, einen Windhund zu heiraten, wo der brave Enrique doch schon in den Kulissen lauert, Pizza essen: So sollte jeder Tag sein!

    Ich fegte die Krümel nachlässig auf den frisch geputzten Boden und begann den Verdacht zu hegen, dass der Windhund Alejandro nicht so windig und der brave Enrique nicht so brav war, wie Papa glaubte. Clararosas liebendes Herz hatte wohl den besseren Instinkt... Man traf sich in Acapulco und es gab eine Schlägerei zwischen den beiden Rivalen – Abspann.

    Heuchelei... auch kein schlechter Streitpunkt, dazu Tiermord, Frauenfeindlichkeit, Zickengehabe, die Frage, wer die Klobrille nie runterklappte (Stehpinkler sterben eher?), Religion und Weihnachten als Kommerzveranstaltung – das reichte doch für den Krach des Jahres mit Generalabrechnung und der Aufzählung aller alten Sünden, nach dem Motto und als wir damals nach Sizilien getrampt sind, hast du auch immer... und ich krieg von dir noch tausend Lire wegen damals, in Rom... Mit dir hat man sich auf jeder Reise schämen müssen, verlangt in der Provence eine Maß Bier...

    Ja, hier konnte ich fündig werden. Gott, war das Sofa bequem... Und worum ging es in dieser Serie? Irgendwie Mode... eine verschwundene Kollektion... die sahen alle so chirurgisch gestylt aus... und diese Blonde, die war ja wohl ein bisschen -

    Das Telefon weckte mich. Was, halb vier? Ich rappelte mich auf, schmeckte Thunfisch im Mund, fühlte Schweiß im Nacken und stolperte zum Telefon.

    „Seeger?"

    „Na gut, dass ich dich mal an die Strippe kriege!"

    Oh Scheiße – Kathrin, meine Lektorin! Dafür hatte ich seit Tagen den Anrufbe-

    antworter drangehen lassen, dass sie mich jetzt im Halbschlaf erwischte?

    „Hallo, Kathrin", murmelte ich unlustig.

    „Wie geht´s voran?"

    „Ach, ganz gut", log ich rasch.

    „Sehr schön! Pass auf, komm doch am Montag vorbei und zeig mir, was du schon hast. Du weißt ja, wie eng wir die Termine für das Lektorat und den Druck gemacht haben, also muss ich schon hinterher sein, dass alle pünktlich abgeben. Am Einunddreißigsten, das geht doch klar?"

    „Natürlich", antwortete ich benommen, weil ich mir erschrocken den Montag vorstellte, an dem ich meine zahlreichen verworfenen Versionen vor Kathrins kritischem Auge ausbreiten musste.

    „Gut, dann sagen wir doch gleich am Montag um neun, ja?"

    „Lieber nachmittags, versuchte ich das Unvermeidliche etwas hinauszuzögern, „am Vormittag muss ich zum Zahnarzt.

    „Ach, du Arme! Was Schlimmes?"

    Ich überlegte einen Moment. Ein bisschen schlimm, vielleicht? Das konnte man noch als Ausrede verwenden, falls notwendig. „Naja, geht so, ein Loch im Backenzahn. Bohren und Füllen, du weißt ja."

    „Beileid. Gut, dann um zwei, nach der Mittagspause?"

    „Okay, um zwei", stimmte ich schwächlich zu und legte auf.

    Verdammt! Bis Montag um zwei musste ich etwas vorzuzeigen haben! Das waren nur noch sechsundvierzig Stunden, und wenn ich zweimal acht Stunden Schlaf abzog, sogar bloß noch dreißig. Und jetzt hatten die Läden zu!

    Egal, ich konnte ja später den Pizzaservice anrufen, aber jetzt musste ich etwas arbeiten. Am besten machte ich mir eine Liste aller Streitpunkte.

    * Johanna ist sauer auf Thomas, weil er von dem leckeren Gänsebraten zu Hause erzählt hat.

    * Die Juristin ist sauer auf Thomas, weil er behauptet, sie wird es nie zu was bringen, weil ihr die Babypausen dazwischen kommen.

    * Der Softi, Leonard, fühlt sich von Thomas verscheißert

    * Die Freundin verteidigt Thomas dauernd, aber sie weiß, dass er sie abservieren will, und wenn sie ihn nicht haben kann, dann soll ihn keine haben.

    Was waren das denn für bescheuerte Motive!

    Nur die Freundin – ach ja, Sandra – hatte ein einigermaßen brauchbares Motiv.

    Und wenn man es noch koppelte? Vielleicht versetzt ihm einer nachts nur einen leichten Messerstich, aber er verblutet, weil ihm zu Hause jemand einen Gerinnungshemmer verpasst hat? Erbsüchtiger Bruder, der selbst auf Sandra steht?

    Nein, das Eifersuchtsmotiv konnte ich streichen, Sandra war ja schon wieder so gut wie verfügbar. Also nur Erbschaft? Oder Rache, vielleicht hatte Thomas seinen Bruder bei den Eltern irgendwie schlecht gemacht – oder dessen Freundin angemacht?

    Genau! Das würde auch Sandras unterdrückte Wut erklären. Und die Eltern würden natürlich behaupten, ihre beiden Söhne hätten sich immer gut verstanden, es habe nie Meinungsverschiedenheiten gegeben... Eltern behaupteten doch immer so etwas, nicht? Damit wäre diese Spur doch schon ganz gut getarnt.

    War das nicht fast ein bisschen viel für fünfundzwanzig Seiten? Nein, wenn man ökonomisch erzählte, dann nicht.

    Aber jetzt brauchte ich erst mal wieder eine Pause. Die Sonne schien gerade so verlockend auf meinen Balkon, also ließ ich den Pareo fallen und drapierte mich auf der Sonnenliege, wo ich prompt wieder einschlief.

    Die Abendkühle weckte mich wieder – was, fast zehn? Dann hatte ich nur noch vierundzwanzig Stunden Zeit, bis Kathrin mit verächtlicher Miene mein klägliches Ergebnis studieren würde. Aber heute Abend ging wirklich nichts mehr. Und meine linke Seite brannte ziemlich. Ich studierte sie im Badezimmerspiegel und trug dann dick Dopposolare auf. Hoffentlich gab das bis morgen die ersehnte Bräune!

    Eigentlich wurde ich sehr schnell braun, aber wenn ich mich uneingecremt in die Augustsonne legte, konnte ich ja auch nichts Besseres erwarten.

    Wenigstens erwachte ich am Sonntag ziemlich früh und voller guter Vorsätze, die schon fast an Tatendrang grenzten. Ich duschte, warf mich in einen anderen Bikini, wusch den von gestern durch, räumte etwas auf und setzte mich dann entschlossen vor meinen Rechner. Also, die Idee stand. Oder war das auch wieder Schwachsinn? Nein, eigentlich ging es – einigermaßen.

    Zeitablauf? Beginn mit dem ersten Feiertag, am Nachmittag. Schließlich brauchten ja wohl alle noch ein Schläfchen, nach dem fetten Weihnachtsessen. Frisch ans Werk!

    Erleichtert schloss Johanna die Wohnungstür auf und stellte die Tüte mit den eher seltsamen Weihnachtsgeschenken ab. Noch niemand zu Hause? Die anderen machten wohl noch in Familie? Umso besser, dann konnte sie ihre Ausbeute ohne spöttische Kommentare verräumen, sich einen Tee kochen und an dem Flugblatt arbeiten, das sie nächste Woche zum AK mitbringen sollte.

    AK oder Arbeitskreis? Wusste der gemeine Leser mit der Abkürzung etwas anzufangen? Aber Johanna konnte ja schlecht in ihre Gedanken überflüssige Erklärungen einbauen, oder?

    Warum bekam man zu Weihnachten immer so sinnloses Zeug? Spitzenverzierte Wäsche, mit Elasthan darin? Als ob sie jemals solchen Kunstfaserkram tragen würde – was da an Schadstoffen bei der Produktion anfiel! Und diese Pantoffeln – was hatten ihre Eltern eigentlich gegen Birkenstock? Dass Frank ihr eine CD geschenkt hatte, ging ihr eigentlich auch gegen den Strich, denn das Abspielen würde wieder nur unnütz Strom verbrauchen.

    Aufatmend sah sie sich in ihrem Zimmer um – naturbelassene Kiefer, Sisalteppich (ungefärbt), Kissen und Vorhänge aus ungebleichter Baumwolle – perfekt! Wer so lebte, verursachte so wenig Schaden wie möglich an dieser sterbenden Welt. Andere dagegen... Es gab wirklich Leute, die man liquidieren sollte, um die Gemeinschaft und damit die ganze Erde zu schützen...

    Prima, da hatte ich ja schon ein Mordmotiv angedeutet! Oder war das zu plump? Dachte der Leser später Wenn sie so dick aufträgt, war die es schon mal bestimmt nicht, und wenn nur diese Sandra einen

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