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Wolf: Von der Einsamkeit der Außenseiter
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Ebook351 pages5 hours

Wolf: Von der Einsamkeit der Außenseiter

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Es ist die Geschichte von Wolf Heckenborg und Jens Hansen. Es ist die Geschichte zweier Homosexueller, die sich finden, sich wieder verlieren, sich erneut finden. Und es ist die Geschichte zweier Menschen, die versuchen gegen jeden Widerstand ein gemeinsames Leben zu führen.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJul 21, 2017
ISBN9783742780300
Wolf: Von der Einsamkeit der Außenseiter

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    Wolf - Jan-Hillern Taaks

    01. Kindheit und Jugend des Wolf Heckenborg

    Wolf Heckenborg kam am 13. April 1982 zur Welt. Er ist das vierte und letzte Kind der Eheleute Rudolf Heckenborg und seiner Ehefrau Irene, geborene Obartz. Eigentlich hatten die Eltern kein viertes Kind haben wollen. Die Eltern machten sich gegenseitig Vorwürfe, denn das Kind passte nicht mehr in ihr Leben, das von gesellschaftlichen und geschäftlichen Verpflichtungen geprägt war. Mutter Irene, eine elegante, schöne Frau mit der Figur und dem Gesicht einer 20-Jährigen hatte sogar daran gedacht, sich das Kind wegmachen zu lassen. Das hatte sie denn doch nicht getan, weil ihr letztlich der Gang zum Arzt peinlich gewesen war. Welche Gründe hätte sie dem Arzt sagen sollen? Sie war gesund, es gab keine finanziellen Probleme und sie hatte ein großes Haus. Gründe zur Abtreibung wären bestenfalls dünne Fabrikate. Religiöse Betrachtungen spielten keine Rolle. Ja, man ging zur Kirche bei Trauungen, Taufen und bei Trauerfeiern, aber das auch nur, um gesehen zu werden, und man zahlte die Kirchensteuer.

    Aber nun war Wolf da, es wurde getauft, bewundert und beiseitegelegt. Wolf war ein Kind, das den Eltern nicht nur Freude brachte, im Gegenteil. Schon als kleines Kind hatte er ein ausgeprägtes Eigenleben, und er hatte Probleme, sich in die Familie einzupassen. Der Junge galt als schwierig, und man vermied es, ihn vorzuzeigen, wenn die Eltern Gäste empfingen. Er wurde weggesperrt. Irene hatte seinetwegen ein weiteres Kindermädchen eingestellt, aber auch das Kindermädchen hatte Mühe, mit dem Jungen fertig zu werden.

    Der sehr gut aussehende Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er galt in der Fachwelt als gerissener Geschäftemacher, als ein Mann, der wusste, wie man Geld macht. Er war auf Empfängen und Gesellschaften ein gern gesehener und charmanter Gast. Er hatte mit der Hilfe seines Schwiegervaters Alfons Obartz ein Handelsunternehmen aufgebaut, das sich mit der Einrichtung von Arztpraxen und Krankenhäusern befasste. Musste ein Krankenhaus modernisiert werden, Herr Heckenborg hatte stets die entsprechenden Geräte verschiedener Hersteller zur Hand, wenn sie gebraucht wurden. Galt es, irgendwo eine Radiologie aufzubauen, er lieferte die Geräte und installierte sie in Rekordzeit. Das Unternehmen Heckenborg unter dem Namen Medical Equipment and Supplies war inzwischen weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Während der Aufbauphase hatte Irene mitgeholfen, jetzt hatte Rudolf einen tüchtigen Geschäftsführer eingesetzt, und er sowie Irene ließen es ruhiger angehen, was die geschäftlichen Anforderungen betraf. Man hatte ja Jemanden, so sagten sie, und sie lebten entsprechend.

    Mit wachsendem Geschäftserfolg und wachsendem Reichtum gönnte sich die Familie zunehmend mehr Luxus. Sie bewohnte bei Harburg eine große Villa mit einem parkähnlichen Garten. Die Einrichtung des Hauses war vom Feinsten, dafür hatte bereits Irene gesorgt. Irene hatte nun zwei Haushaltshilfen und einen Gärtner, Rudolf leistete sich einen Chauffeur. Und nun gab es auch das Kindermädchen und ein Fräulein für die älteren Kinder. Wahrhaftig, so dachten viele außenstehende Menschen: Die Heckenborgs waren eine glückliche Familie mit vier offensichtlich gesunden Kindern.

    Irene und Rudolf waren ein schönes und gut aussehendes Paar, und sie passten gut zueinander, so hieß es allgemein. Sie waren überall zu finden, wo sich die elegante Welt aufhielt, sie waren in den richtigen Clubs, sie spielten Tennis und Golf, und sie waren da zu finden, wo sich auch die Geschäftswelt aufhielt. In der Tat, manches Geschäft wurde in diesen Clubs oder bei Veranstaltungen in die Wege geleitet. Es waren kurze Sätze, fast Nebensätze, und dann traf man sich in der passenden Umwelt wieder - in Arztpraxen oder Krankenhäusern, wo man über Investitionen sprach und über Geld.

    Für Rudolf hatte das Glück im Jahr 1967 angefangen, als er Irene Obartz auf einer Party bei Freunden traf. Sie war schön, wunderschön, und nach einem Tanz mit ihr stand für ihn fest, dass Irene die Frau seines Lebens war. Er traf sie am nächsten Abend in einem griechischen Restaurant wieder, es sah zufällig aus, war es aber nicht. Er merkte schnell, dass die schöne Irene ihn mochte, und es dauerte auch nicht lange, da machte er seinen Antrittsbesuch bei Alfons Obartz, dem verwitweten Vater.

    Alfons hatte im Laufe der letzten drei oder vier Jahre viele Freunde und Bewunderer von Irene kennengelernt. Als sich Rudolf vorstellte, hatte er gleich das Gefühl gehabt, dass er der richtige Mann für sie sei. Er mochte ihn, weil er gut aussah, aber vor allem, weil er politisch und geschäftlich gut informiert war. Gewiss, er war Bankangestellter in gehobener Position, aber er konnte in allen Fragen der Wirtschaft mitreden, und das gefiel Irenes Vater so sehr, dass er ihm anbot, mit ihm in der Medical Equipment and Supplies GmbH mitzuarbeiten. Rudolf hatte damals nicht sofort zugestimmt. Er hatte sich die Mühe gemacht, sich das Unternehmen genauer anzusehen, und er hatte schnell erkannt, dass das Unternehmen eine große Zukunft haben würde.

    Rudolf trat schließlich in das Unternehmen als stellvertretender Geschäftsführer ein, kurz darauf wurde die Verlobung gefeiert, und kaum ein Jahr später heiratete Rudolf seine Irene. Er war glücklich, und er sah sich und seine Zukunft gesichert. Auch Vater Alfons war sehr zufrieden, denn Rudolf entpuppte sich als ein tüchtiger Geschäftsmann, der seine Ideen gewinnbringend umzusetzen verstand.

    *

    Walter, geboren 1970, war das erste Kind der Heckenborgs, der Stolz des Ehepaares. Er war bereits als Säugling ein lieber Kerl, und er entwickelte sich prächtig. Vor allem Mutter Irene verbrachte viel Zeit mit dem Jungen, und sie förderte seine frühe Entwicklung mit großer Hingabe und einer gehörigen Portion Ehrgeiz. Walter war still, er konnte gut zuhören, und er wusste, wann er den Eltern zu gehorchen hatte. In der Schule zeigte er Leistungen im oberen Durchschnitt, er studierte an der Universität Betriebswirtschaft, dann absolvierte er noch eine Banklehre, ehe er in dem väterlichen Betrieb tätig wurde.

    Walter sah ungewöhnlich gut aus, wie den Eltern von allen Seiten immer wieder bestätigt wurde. Er war groß, blond, blauäugig, sportlich, und er hatte ausgesprochen gute Manieren. Er konnte sehr charmant sein und er vermittelte dennoch den Eindruck, als wisse er immer, was er wolle. Er lachte viel, und er war der Liebling nicht nur seiner Eltern, sondern auch seines Großvaters Alfons, der leider starb, als Walter gerade 13 Jahre alt war.

    Walter nahm bereits in frühen Jahren an allen gesellschaftlichen Veranstaltungen und Verpflichtungen der Eltern teil, und er erwarb sich das, was die Eltern den gesellschaftlichen Schliff nannten. Auf einer der abendlichen Veranstaltungen im Hause der Heckenborgs lernte Walter, inzwischen 22 Jahre alt, auch seine spätere Frau Karola gleichen Alters kennen. Sie war die Tochter eines bekannten Immobilien- und Kunsthändlers, und sie brachte gutes Geld mit in die Ehe. Karola war eine fast vollkommene junge, gut aussehende Dame, stets bestens gebildet und informiert, und sie spielte sehr gut Klavier, wie Irene immer wieder liebevoll betonte. Walter und Karola zogen nach ihrer in besten Kreisen gefeierten Vermählung in eine Villa ein, die sich ebenfalls in Harburg und ganz in der Nähe der väterlichen Residenz befand.

    Das zweite Kind des Ehepaares Heckenborg war Elisabeth, so stand es auf dem Geburtsschein. Elisabeth hieß auch die jüngere Schwester von Rudolf, und Rudolf dürfte an sie bei der Namensgebung gedacht haben. Die Tochter wurde jedoch sogleich Lisbeth genannt, keiner war je auf den Gedanken gekommen, sie Elisabeth zu nennen. Lisbeth war ein gutes Jahr nach Walter zur Welt gekommen, im Jahr 1971. Sie war ein lebhaftes Mädchen, ganz anders als der ruhige und wohlerzogene Walter. Lisbeth war so etwas wie ein kleiner Kobold. Bereits im Kindergarten machte sie allerlei Unfug, und in der Grundschule hatte sie die unglaubliche Fähigkeit, mit ihrem Unfug die Lehrer auf Trab zu halten. Auf der höheren Schule wurde es auch nicht viel besser. Sie hatte oft wechselnde Freundinnen, und sie hatte auch sehr früh Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht, sehr zum Entsetzen der Eltern, denn diese Bekanntschaften waren in den Augen der Eltern meist recht fragwürdig, was Lisbeth nicht störte. Sie entwickelte sich zu einer sehr schönen, jungen Frau, die nicht gewillt war, in die Fußstapfen der Mutter zu treten.

    In Wahrheit hatte die Mutter kaum Zeit für die wilde Lisbeth. Ihre Zeit, wenn sie denn mal Zeit für ihren Nachwuchs hatte, galt dem Erstgeborenen, während die eigenwillige Lisbeth dem Kindermädchen überlassen blieb. Lisbeth entwickelte bereits sehr früh ein lebhaftes Interesse an der Mode, und sie entwarf mit einigem Talent Damenbekleidung, wobei sie sich auch Gedanken darüber machte, wie die Kleider und Blusen herzustellen seien, welche Stoffe und vor allem auch, wie viel von den Stoffen zu verwenden sei. Liesbeth war ganze 12 Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal selbst ein Kleid nähte, das sie auch anzog und ihren Freunden und Freundinnen vorstellte. Dieses Talent fand allgemeine Bewunderung, allerdings nicht bei den Eltern. Sie waren der Meinung, dass sie lieber in der Schule lernen sollte, als sich der Mode hinzugeben.

    Vier Jahre nach Walter, im Jahr 1974, kam Herbert zur Welt, der schon sehr früh eine an Neugier grenzende Wissbegierigkeit entwickelte, die alle Welt in Erstaunen versetzte.

    Das ist unser Wissenschaftler, flötete Mutter Irene voller Stolz, wenn sie den Jungen den Gästen vorstellte, was nicht sehr oft vorkam. Für den Jungen hatte sie ebenfalls wenig Zeit, und mit seinen vielen Fragen konnte sie herzlich wenig anfangen. Wie seine Schwester wurde er der Kinderschwester überlassen. Er war nicht so lebhaft wie Lisbeth, aber er war praktisch überall da zu finden, wo man ihn nicht vermutete. Seine Neugier war sehr groß, und als Kleinkind krabbelte er überall herum, still, fast immer mit einem interessierten Gesicht.

    Bereits auf dem Gymnasium entwickelte sich bei Herbert der Wunsch, Medizin zu studieren. Herbert war beliebt, allerdings nicht bei den Eltern, die er kaum zu sehen bekam und für die er viel zu neugierig war. Er sah gut aus, war groß gewachsen und sportlich. Er hatte Freunde und bald auch Freundinnen, er absolvierte die Tanzschule mit einigem Schwung und großer Freude. Man kannte ihn als einen Menschen, der stets freundlich und fröhlich war. Ja, er konnte ärgerlich werden, aber richtig wütend hatte ihn noch keiner erlebt. Auf dem Gymnasium erbrachte er Bestleistungen, und sein Studium verfolgte mit großem Ehrgeiz, ohne jedoch gelegentliche Tanzvergnügungen mit Freunden und Freundinnen zu vernachlässigen. Gelegentlich nahmen ihn die Eltern wahr. Aber sie wussten nicht so recht, was sie mit ihm anfangen sollten. Als er schließlich nach dem Medizinstudium seinen Doktortitel bekommen hatte, waren sie voller Stolz. Ein Doktortitel? Das war doch etwas!

    *

    Zwölf Jahre nach Walter kam Wolf zur Welt. Mit Staunen betrachtete er nach der Geburt die Welt um sich herum, aber er ließ die Gesichter, die sich zu ihm beugten, nicht an sich heran. Als er ein Kleinkind war, weinte er, wenn man ihm zu nahe kam, etwas später wehrte er die Menschen ab, und er zögerte auch nicht, Gesichter, die ihm zu nahe kamen, zu schlagen und zu zerkratzen. Besonders wütend wurde er, wenn sich Walter ihm näherte. Niemand konnte erklären, warum das so war. Kam Walter in seine Nähe, schrie der kleine Wolf, und später attackierte er ihn sogar. Gesine, eine der beiden Kinderschwester, hatte einmal angedeutet, dass Walter den Kleinen quäle, wenn niemand zuschauen würde. Irene war empört, als sie das hörte, und die Kinderschwester wurde bald ersetzt.

    Wolf wehrte auch seine Eltern und Lisbeth ab, wenn sie in seine Nähe kamen, wenngleich nicht mit der gleichen Heftigkeit. Es gab eine Ausnahme. Herbert ließ er an sich heran, mehr noch, war Herbert in seiner Nähe, so freute er sich, und wenn Herbert ihn einmal hochnahm, so kuschelte sich der kleine Wolf an ihn. Wolf schien zu wissen, dass er bei den Eltern und den älteren Geschwistern nicht willkommen war, Herbert war die Ausnahme. Herbert nahm gelegentlich den Kleinen zu sich hoch, nahm ihn auch mit in sein Zimmer, Herbert erzählte interessante Geschichten, und Herbert konnte sehr gut zuhören, wenn Wolf etwas zu sagen hatte. Oft krabbelte Wolf in Herberts Bett, auch wenn Herbert nicht da war, und er wartete auf ihn.

    Wolf kam als Dreijähriger in den Kindergarten. Bereits nach vier Monaten musste Irene den Jungen wieder aus dem Kindergarten nehmen. Er war untragbar geworden. Er prügelte sich, und wenn er wütend war, kannte er keine Grenzen. Die Eltern der anderen Kinder forderten vehement seine Entlassung, nein, Entlassung sagten sie nicht - sie sagten: Entfernung. Es war Hilde, das geplagte Kindermädchen, das mit der Leitung des Kindergartens zu sprechen hatte, weil die Eltern dafür keine Zeit gehabt hatten. Wolf blieb nach seiner Entfernung vom Kindergarten zu Hause, und Hilde musste sich um nichts anderes kümmern als eben um Wolf, der nie das tat, was man von ihm wollte.

    Nach der Einschulung wurde das Verhalten von Wolf nicht viel besser. Alle drei oder vier Monate wurden die Eltern zitiert, und die wiederum schickten Hilde, die mit dem Klassenlehrer und dem Schulleiter zu reden hatte. Die Mutter konsultierte auch einen Kinderpsychologen, der außer mit guten Ratschlägen und hohen Rechnungen nicht helfen konnte. Der Psychologe hatte sogar vorgeschlagen, den Jungen in eine Anstalt zu stecken. Aber davon wollten die Eltern nichts hören, denn ihn in eine Anstalt zu schicken war gesellschaftlich irgendwie anrüchig.

    Hilde brachte den Jungen zur Schule und holte ihn auch wieder ab, nur um sicherzugehen, dass er auch nach Hause kam. Die Eltern waren mit dem Kindermädchen der Meinung, dass man den Jungen nicht allein lassen könne, und so sperrten sie ihn oft ein, nur um Ruhe vor ihm zu haben und um sicherzugehen, dass er nicht davon lief.

    Schließlich kam Wolf aufs Gymnasium, wo man die älteren Brüder Walter und Herbert in guter Erinnerung hatte. Wolf blieb schwierig, auch im Gymnasium wurde er bald untragbar. Nein, er prügelte sich nicht mehr so oft mit Mitschülern. Es waren die Mitschüler, die einem Streit mit ihm aus dem Wege gingen, denn der wilde Wolf kannte so gut wie keine Grenzen, wenn er mal ausrastete. Aber Wolf wurde vor allem bei den Lehrern bekannt, weil er das, was die Lehrer vortrugen, nicht so einfach akzeptieren wollte oder konnte. Was kein Mensch so richtig wahrnahm: Wolf lernte schnell und war oft besser informiert als die Lehrer, und so kritisierte er sie oft, weil er es besser wusste. In Fächern, die ihn interessierten, bereitete er sich zu Hause auf die Stunden vor. Zu den Fächern übrigens gehörten Mathematik und Geschichte - diese Fächer schienen nicht zusammenzupassen, aber Wolf interessierte sich dafür, und er erwarb sich ein erstaunliches Wissen in diesen beiden Fächern. Er machte dabei auch vom Internet Gebrauch, und er holte sich von dort viele nützliche Informationen. So gut er mit dem PC umzugehen verstand, er legte keinen großen Wert auf Computerspiele, die er als seelenlos empfand.

    Wolf wuchs zu einem kräftigen Jungen heran, breit, muskulös und auf eine merkwürdige Art attraktiv. Er hatte ein fast rundes Gesicht, kleine, tief liegende Augen, die beim Grinsen fast ganz verschwinden konnten, eine leicht nach oben gebogene Nase und einen breiten Mund mit breiten Lippen. Die einst blonden Haare waren dunkler geworden, und die grau-grünen Augen hatten eine gewisse Anziehungskraft. Eine Schönheit? Beim besten Willen konnte man das nicht sagen. Aber er war ein Mensch, auf den man aufmerksam wurde, und man drehte sich nach ihm um. Woran das lag, konnte man nicht so einfach sagen.

    Wolf musste die Schule verlassen, nachdem er sich ganz wider Erwarten mit einem Lehrer geprügelt hatte, und das auf dem Schulhof. Der Lehrer hatte ihn angesprochen, Wolf hatte keine Antwort geben wollen, dann hatte ein Wort das andere gegeben, schließlich hatte der Lehrer ihm eine Ohrfeige gegeben. Das Resultat war eine Prügelei gewesen, sehr zur Belustigung der herumstehenden Schüler. Zwei Lehrerkollegen, die herbeigeeilt waren, hatten die Kontrahenten getrennt.

    Wie ein Tier ist der Typ auf mich gesprungen, hatte der aufgebrachte Lehrer der Polizei gesagt. Der Lehrer hatte Wolf natürlich unverzüglich angezeigt. Die geplagten Eltern zahlten dem Lehrer eine gute Summe, um die Sache beizulegen, was den Lehrer veranlasste, die Anzeige zurückzuziehen. Wolf wurde in ein Internat geschickt. Da war 1995, Wolf war 13 Jahre alt. Der Abschied von zu Hause war ihm leicht gefallen. Walter und Liesbeth waren einfach nicht da, und Herbert, der jetzt vor den Abiturprüfungen stand, hatte nicht viel Zeit. Dennoch saßen die Beiden am letzten Abend in Herberts Zimmer, beide ein wenig traurig. Herbert tröstete Wolf, und er meinte, vielleicht sei es ganz gut, wenn der Kleine mal in eine ganz andere Umgebung komme.

    Aber sei ein wenig vorsichtig, mahnte Herbert. Es war gut gemeint, Wolf wusste das.

    *

    Das war in dieser Zeit, als Rainer Wolter, Ehemann von Rudolf Heckenborgs Schwester Elisabeth, verstarb. Die Familie von Rudolf hatte keine engere Verbindung zu Rainer gehabt, obgleich Tante Elisabeth regelmäßig die Familie ihres Bruders besuchte. Das hatte sie vor ihrer Ehe mit Rainer getan, und das hatte sie auch während der Ehe beibehalten. Rainer jedoch hatte nichts von diesen Familienbesuchen gehalten, er hatte andere Interessen. Die Heckenborgs und die Wolters bewegten sich nicht in den gleichen Kreisen. Die gute Gesellschaft war für die Heckenborgs sehr wichtig, aber die Wolters hielten nichts davon. Wenn sie einmal bei einem Empfang oder Konzert oder einem Vortrag erschienen, so galt ihr Interesse dem, was geboten wurde, nicht den Menschen, die dorthin gingen.

    Rainer war einem Herzschlag erlegen, was für alle Beteiligten sehr überraschend, vor allem unerwartet gekommen war. Niemand hatte damit gerechnet, denn Rainer war groß, schlank, sah nicht nur sportlich aus, sondern war auch sportlich aktiv gewesen. Rainer Wolter war als Anwalt nach einigen sehr spektakulären Prozessen in der anscheinend heilen und oft auch schillernden Welt sehr bekannt und damit auch sehr reich geworden. Er galt als ein Staranwalt, der sich vor allem auf Finanz- und Steuergeschäfte spezialisiert hatte. Die Höchstsätze für rechtlichen Beistand und Beratung lagen bei € 500,00 pro Stunde.

    Er war erst 53 Jahre alt gewesen, als er starb. In der Presse gab es Nachrufe, und seine Witwe, Tante Elisabeth, kämpfte sich durch die Trauerfeierlichkeiten und die behördlichen Erfordernisse. Als das endlich erledigt war, verreiste sie für drei Monate. Wie sie ihrem Bruder sagte, wolle sie für eine Weile unerreichbar sein. Sie hatte eine überaus glückliche Ehe geführt, die Trennung durch den Tod war ihr sehr schwer gefallen, was sie nach außen hin nicht zeigen wollte, und was in Wahrheit auch keinen Menschen etwas anging. Und so war sie ganz einfach weg und unerreichbar gewesen, was Irene nicht so ganz verstehen konnte.

    Rainer Wolter hinterließ Elisabeth sein recht beträchtliches Vermögen in Millionenhöhe. Kinder hatte es in dieser sehr guten Ehe nicht gegeben, Rainers Eltern lebten nicht mehr, und andere Erben gab es nicht. Wie hoch das Vermögen war, war zumindest den Heckenborgs nicht bekannt, Elisabeth sprach nicht darüber, und sie wurde auch nicht darüber befragt - außer vom Finanzamt. Und den Dialog mit dem Finanzamt regelte Elisabeths Steuerberater. Irene hätte natürlich gern mehr gewusst, und sie meinte einmal, dass Elisabeth gut betucht sein müsse, obwohl sie offensichtlich sehr bescheiden in Klein-Flottbek wohne, und obwohl man sie auf keiner Gesellschaft sehe. Ja, sie hatte die Villa, in der sie mit Rainer gelebt hatte, verkauft.

    Für mich reicht eine Wohnung, mehr brauche ich nicht, hatte sie Rudolf gesagt.

    Insgesamt wusste die Familie Heckenborg so gut wie nichts über Elisabeth, obgleich sie mindestens einmal pro Monat Rudolf und Irene besuchte. Gewiss, es waren Pflichtbesuche, aber sie kam. Elisabeth war etwas jünger als Irene, sah noch recht gut aus, aber sie schien sich nicht für eine zweite Ehe zu interessieren. Sie war eine großgewachsene Frau mit einem herben Gesicht, die gerne lachte, die gern in Konzerte ging und die im Übrigen sehr zurückgezogen in Klein Flottbek in einer Vierzimmerwohnung zur Miete lebte. Weder Rudolf noch Irene kannten die Wohnung, Elisabeth hatte sie auch noch nie eingeladen. Das hinderte Elisabeth aber nicht, mit ihrem Wagen alle vier Wochen nach Harburg hinauszufahren. Es war so etwas wie eine manchmal lästige Pflichtübung, denn Elisabeth mochte Irene nicht besonders gut leiden, und Irene konnte mit ihrer Schwägerin gar nichts anfangen. Die Interessen lagen viel zu weit auseinander. Warum tat sie es dennoch? Warum fuhr sie nach Harburg hinaus zu einer Frau, zu der sie keine innere Beziehung hatte? Sie selbst hatte keine Antwort darauf. Aber Rudolf und Irene waren nun einmal Familie, und das allein beinhaltete Verpflichtungen.

    Von Irene erfuhr Elisabeth natürlich, wie sich die Kinder entwickelten. Kinder waren immer ein guter Gesprächsstoff, denn Elisabeth zeigte sich stets interessiert. Sie war auch interessiert, vielleicht, weil sie keine eigenen Kinder hatte. Walter war im Jahr 1996 ein junger Mann von 26 Jahren, schlank, großgewachsen, der sich geschäftlich prächtig entwickelt habe, so jedenfalls sagte Irene. Seine Frau Karola hatte einen Sohn zur Welt gebracht, der der Liebling der ganzen Familie war. Wenn Irene über ihren Enkel erzählte, so schien sie vor Rührung feuchte Augen zu kriegen. Der Enkel hieß, dem Wunsch von Karola entsprechend, Karl, und er werde Karu genannt, denn der zweite Name war Rudolf. Karola und Irene verstanden sich sehr gut, beteuerte Irene, und sie sagte, dass sie die gleiche Interessen hätten. Karola hatte noch einen Bruder, der vermutlich das Geschäft des Vaters übernehmen werde.

    Das ist verständlich, denke ich, meinte Elisabeth, und sie sagte weiter, dass Walter wohl auch Rudolfs Unternehmen weiterführen werde.

    Das war auch der Plan der Familie Heckenborg. Der elegante Walter war der Kronprinz und Erbe. Walter arbeitete bereits seit einigen Jahren im Unternehmen des Vaters unter der Leitung des Geschäftsführers Henri Harper. Darauf hatte Rudolf bestanden. Henri Harper, ein Niederländer, war bereits seit mehr als 10 Jahren im Unternehmen, und war inzwischen auch ein Freund und Vertrauter von Rudolf. Rudolf war nicht blind. Walter war noch viel zu unerfahren und zu wenig aggressiv, um führend im Unternehmen mitzuarbeiten. Aber er würde gewiss lernen, wie Rudolf hoffte und wie Herr Harper bestätigte. Herr Harper hatte aber auch einige Bedenken, über die er nicht sprach. Walter konnte hinterhältig sein, und einigen Mitarbeitern gegenüber benahm er sich überaus schäbig. Einmal hatte Herr Harper darüber reden wollen, aber Rudolf hatte davon nichts wissen wollen. Und so war es bei vorsichtigen Andeutungen geblieben, die zu nichts führten.

    Lisbeth, jetzt 25 Jahre alt, lebte in Berlin und arbeitete in einem bekannten Modesalon. Irene war stolz auf die einst so wilde Liesbeth, die in Fachkreisen trotz ihrer Jugend bereits einen gewissen guten Ruf genoss. Irene und ihre Tochter telefonierten von Zeit zu Zeit, aber die Tochter schien viel zu beschäftigt zu sein, um die Eltern mal in Hamburg zu besuchen. Irene bedauerte das natürlich sehr, aber sie meinte auch:

    Wir dürfen uns nicht beklagen. Und dann fuhr sie fort: Manchmal lese ich in der Presse über Lisbeth, und neulich fand ich auch mehrere Photos von ihr in unserer Zeitung - man hatte sich sehr positiv über ihre Entwürfe geäußert. Und wenn ich so etwas lese, so bin ich froh.

    Der jetzt 22-jährige Herbert studierte Medizin. Er hatte ein sehr gutes Abitur gemacht, und er hatte ohne Probleme die Zulassung zum Studium der Medizin erhalten. Herbert wohnte nicht mehr zu Hause. Er hatte sich in der Nähe der Universität eine kleine Wohnung gemietet, die er mit drei anderen Studenten in einer Wohngemeinschaft teilte. Irene hatte ihn einmal dort besucht, hatte sich aber nicht lange aufgehalten. Sie sagte zu Elisabeth, dass die Welt der Studenten eine andere Welt sei, das sei nicht ihre Welt. Ihrer Meinung nach fehle der Wohngemeinschaft jeder Stil. Was sie damit meinte, war Elisabeth nicht ganz klar, aber sie fragte nicht.

    Und Wolf? Irene hoffte, dass er sich im Internat entwickeln würde. Noch habe man nichts gehört, was negativ sein könnte. Sie wusste, dass Herbert mit Wolf Verbindung hatte, aber Herbert erzählte nie viel, wenn er mal telefonierte. Sie selbst wusste nichts von Wolf, und sie musste auch zugeben, dass ihr Jüngster für sie ein Fremder sei.

    Wolf ist eben anders, sinnierte Irene. Ich weiß nicht, was da passiert ist. Wie konnte er sich so anders entwickeln als Herbert oder Walter.

    Elisabeth hatte natürlich keine Antwort. Ihrer Meinung nach hatten die Eltern einfach viel zu wenig Zeit für Wolf gehabt. Aber, so sagte sie sich auch, sie habe keine Erfahrung mit Kindern. Sie dürfe nicht mitreden, auch wenn sie eine eigene Meinung hatte, die von der ihrer Schwägerin sehr oft abwich.

    *

    Für die nächsten drei Jahre ging alles gut, was Wolf betraf, so glaubten die Eltern, weil sie nichts hörten. Sie wussten ganz einfach nicht, was passierte, soweit es Wolf anging. Zumindest Irene war über die Neuerungen der Mode besser informiert als über ihren jüngsten Sohn. Wolf schrieb nicht, er reagierte nicht auf die E-Mails der Eltern, und er telefonierte nicht. Während der Schulferien kam Wolf nach Hause, wo ihn nichts zu Hause halten konnte. Er verließ das Haus, wann es ihm passte. Er trieb sich oft in Hamburg herum und kam spät wieder zurück, gelegentlich blieb er auch über Nacht fort. Wo er gewesen war, sagte er nicht, und die Eltern hatten es aufgegeben, ihn danach zu fragen, denn er Junge würde bestenfalls freche Antworten geben. Wie es im Internat sei? Wie in der Schule? Wolf erzählte so gut wie gar nichts, und die Mutter, die vorgab, verzweifelt zu sein, erfuhr nichts vom Leben ihres Jüngsten. Er lieferte die Zeugnisse ab, die durchschnittlich waren mit Ausnahme von Mathematik, da stand sehr oft eine Eins oder eine Zwei zu lesen. Aber regelmäßig stand auch zu lesen, dass sein Sozialverhalten den Lehrern und den Mitschülern gegenüber zu wünschen übrig lasse.

    Das Verhältnis zwischen Wolf und Herbert jedoch war unverändert gut, auch wenn Herbert nicht mehr zu Hause wohnte. Wolf besuchte ihn während der Ferien in der Wohngemeinschaft. Herbert hatte nie viel Zeit, aber wenn er sie hatte, und wenn Wolf mit ihm zusammenkam, so herrschte Harmonie, mehr noch, geschwisterliche Zuneigung. Wolf erzählte über sich, und seinerseits wollte er wissen, was Herbert mache. Wolf wusste, dass er sich seinem Bruder öffnen konnte, denn Herbert konnte zuhören, und er konnte schweigen. Die Eltern ahnten gar nicht, dass sich die beiden Brüder so gut verstanden, und dass Herbert für den Jüngsten die Bezugsperson war. Sie wussten noch nicht einmal, dass Wolf den älteren Bruder besuchte.

    Ich bin schwul, erklärte Wolf eines Tages seinem Bruder. Für Wolf war das ein großes Problem gewesen, und er hatte lange gebraucht, um seine Neigung zum gleichen Geschlecht zu erkennen und um mit irgendeinem Menschen darüber zu reden. Erst hatte er nicht glauben wollen, dass ihn Jungen und Männer mehr anzogen als Mädchen und Frauen. In seiner aggressiven Art hatte er es mal mit einer Frau probiert, aber es war völlig daneben gegangen. Die Frau hatte gelacht, was ihn tief verletzt hatte. Er war sich so sicher gewesen, er hatte geglaubt, er sei unwiderstehlich, was Männer wie Frauen angehe, und er könne es mit Jedem. Im Internat machte man es miteinander, aber man lachte auch über die, die schwul waren. Er war es, wie er schmerzhaft erkannte.

    Wolf

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