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In Sibirien: Roman
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In Sibirien: Roman

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Dieser Zug war vollgestopft mit Frauen, unter ihnen die Lehrerin Lena, die in letzter Sekunde dem Terror der deutschen Faschisten entronnen war und nun hoffte, als treugläubige Kommunistin in Moskau ein neues zu Hause finden. Sie geriet aber in die unheimlichen geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1937, wurde zu Lagerhaft auf der Halbinsel Tschuktschen verurteilt. Dort am Rande des Nördlichen Eismeeres, wo nur noch eine schmale Wasserstraße Asien von Amerikas trennt, hat sie 19einhalb Jahre Gold geschürft. – Karl-Heinz Jakobs erzählt in diesem Jahrhundert-Epos vom Schicksal der Lena in Sibirien, von Glaube, Liebe und Hoffnung, von Freundschaft, Kameradschaft und Einsamkeit in den Eiswüsten am Rande der Welt.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateNov 20, 2013
ISBN9783847661528
In Sibirien: Roman

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    In Sibirien - Karl-Heinz Jakobs

    ZUM BUCH

    Stolypinski nennt man seit Zarenzeiten die Eisenbahnzüge, mit denen Verurteilte nach Sibirien gebracht werden. Dieser Zug war vollgestopft mit Frauen, unter ihnen die Lehrerin Lena, die in letzter Sekunde dem Terror der deutschen Faschisten entronnen war und nun hoffte, als treugläubige Kommunistin in Moskau ein neues zu Hause finden. Sie geriet aber in die unheimlichen geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1937, wurde zu Lagerhaft auf der Halbinsel Tschuktschen verurteilt, Dort am Rande des Nördlichen Eismeeres, wo nur noch eine schmale Wasserstraße Asien von Amerikas trennt, hat sie 19einhalb Jahre Gold geschürft. – Karl-Heinz Jakobs erzählt in diesem Jahrhundert-Epos vom Schicksal der Lena in Sibirien, von Glaube, Liebe und Hoffnung, von Freundschaft, Kameradschaft und Einsamkeit in den Eiswüsten am Rande der Welt.

    Einige der unheimlichen und gespenstischen Ereignisse im Roman gehen auf Texte und Briefe von Dorothea Garai (1899 - 1982) zurück und auf Gespräche mit ihr, die 1977 geführt wurden.

    Aus der Kröten- und Schleimperspektive eines Alexander Solshenizyn ist die eigentliche, tragische Wahrheit dieser unheimlichen geschichtlichen Ereignisse überhaupt nicht zu verstehen, geschweige denn zu beschreiben.

    Alfred Kurella 1973 in einem Brief an Dorothea Garai

    „Wat sacht Ihr nu? – Heute hab ick für `ne Dose Kondenzmilch mit `ner Großfürstin jepennt."

    Ernst Thälmann in Moskau zu Ruth von Mayenburg und Ernst Fischer

    ­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­_______________________________

    Karl-Heinz Jakobs

    In Sibirien

    Roman

    Copyright 2013 Karl-Heinz-Jakobs

    Titel der gedruckten Erstausgabe:

    Die Abenteuer der Rubina

    Personen und Handlung sind erfunden

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel: Die Verhaftung

    Chitrowski Markt

    Freunde

    Stalins Antlitz

    Hochzeit

    Flucht

    Warten

    Zweites Kapitel: Das Verhör

    Zelle

    Besuch

    Wünsche

    Hoher Meißner

    Geständnis

    Drittes Kapitel: Die Reise

    Schattenflug

    Sieben Frauen

    Ein Kirchenlied

    Lisa

    Tod auf der Strecke

    Tatarsk

    Tod im Waggon

    Neues Leben

    Das Ochotskische Meer

    Viertes Kapitel: Das Lager

    Front

    Wald

    Sterbebaracke

    Der erste Tag des Friedens

    Fünftes Kapitel: Moskau

    Schamanentrommel

    Die Sonne steht still

    Minus neun

    Moskau

    Sechstes Kapitel: Die Verbannung

    Bahnsteig D

    Verwandlung

    Daheim

    Mulackstraße

    Polonaise

    Minus eins

    Erstes Kapitel: Die Verhaftung

    Chitrowski Markt

    Der Chitrowski Markt in Moskau liegt dort im Zentrum der Hauptstadt, wo die Jausa in die Moskwa mündet. Während sich die Moskwa in mehreren Schleifen durch das Stadtgebiet von West nach Ost windet, fließt die Jausa in großem Bogen von Nord nach Süd und prägt mit malerischen Brücken und imposanten Kais das Stadtbild der Innenstadt östlich des Kreml.

    Hier im Dreieck zwischen Moskwa und Jausa bildet die Flußmündung ein Tal, in dem sich die Nebel der Niederung mit Rauch und Gestank aus Fischbratküchen, dem Dampf aus Wurstkesseln und dem Machorkaqualm aus Kaschemmen, Nachtasylen und Bordellen mischt. Das ist der Chitrowski Markt. Umgeben von Kirchen, Parks und Kathedralen, von Regierungsgebäuden, Kasernen und Universitäten, bildet er eine Insel des Elends inmitten der strahlenden Metropole mit ihren Palästen, Türmen und Triumphbögen. Alles, was schön und angenehm ist an Moskau, wird dem Pokrowskij Bulwar zugerechnet, ihm und den anderen Prachtstraßen der russischen Hauptstadt, Arbat unter ihnen, Twerskaja und Gartenring. Alles was häßlich ist an Moskau, wird dem Chitrowski Markt zugeschoben und anderen fragwürdigen Vierteln, der Sucharewskaja zum Beispiel oder der Smolenskaja.

    Es war Herbst, später Herbst 1936, Herbst jenes Jahres, in dem Lena in die tragischen und unheimlichen geschichtlichen Ereignisse hineingerissen wurde, von denen hier die Rede sein soll.

    Um den Chitrowski Markt hatte Lena immer einen großen Bogen geschlagen. Vor dem Elend in seiner jämmerlichsten Gestalt hatte sie Scheu.

    „Aber auch du wirst dorthin kommen, sagte Ervin, als tröste er sie, „wart’s nur ab. Irgendwann landet jeder einmal auf dem Chitrowski Markt.

    „Ist das eine Drohung oder eine Prophezeiung."

    „Weder ... noch, sagte Ervin, „es ist nur eben Moskau. Hier ist alles anders als woanders in der Welt. Während die Rathausuhr in Berlin rechts herum läuft, sagte er, „in Richtung auf eine ungewisse Zukunft, die Uhr in Prag am Jüdischen Rathaus links herum, in Richtung auf einen unerklärlichen Ursprung, haben die Uhren in Moskau Zeiger, deren Umdrehungsrichtungen wechseln und niemand ahnt, in welcher Zeit er sich augenblicklich befindet."

    Einmal, auf dem Weg zum Lehrinstitut für Zivilingenieure am eleganten Pokrowskij Bulwar, verirrte sich Lena tatsächlich im unüberschaubaren Gewirr der Müllhalden, der Gäßchen und Hinterhöfe des Chitrowski Marktes. Aus der düsteren Woronzowofeld-Straße kommend hatte sie, statt in den Boulevard abzubiegen, den sie als solchen nicht erkannte, den Weg in die Podkolokolnij-Gasse eingeschlagen, und plötzlich war sie vom Rauch und Dampf des Chitrowski Marktes umgeben, von Bettlern, die schamlos eiternde Wunden vorzeigten, von Huren, die Lumpen lüfteten, von Kindern, die mit krallenartigen Fingern nach ihr griffen, von Kerlen, die in zerrissenen Kitteln und steifen Hüten die fremde Verirrte musterten, als überlegten sie, wozu diese einfach und sauber gekleidete hübsche Dame wohl zu gebrauchen sei.

    Benannt war der Chitrowski Markt nach Chitrow, Nikolai Petrowitsch, Generalmajor, dem in den Achtzehnhundertfünfzigern die öden Felder des Stadtbezirks Mjasnizkaja im Flußwinkel von Moskwa und Jausa westlich des Pokrowskij Bulwars gehörten. Grundstück für Grundstück hatte er an Spekulanten verkaufen müssen, an Stepanow, Bardadym und Bunin, an Rumjanzew, Jaroschenko und Kulakow, die im Auftrag der Stadt und auf deren Kosten Nachtasyle, Waisenhäuser und Suppenküchen einrichteten und gewaltige Gewinne einstrichen, wenn sie für eine Schlafstelle im Gemeinschaftssaal zwei Kopeken nahmen, für ein Einzelbett im „Dreistöcker" fünf Kopeken und für ein Zimmer zu dritt pro Person acht Kopeken.

    Hier auf dem Chitrowski Markt hatten sich schon immer die Verratenen und Verunstalteten versammelt, die Gedemütigten, Gemaßregelten und dem Galgen Entsprungenen, während hundert Meter weiter auf dem Pokrowskij Bulwar die reichsten Familien Moskaus in Prunkvillen residierten: Sawwa Morosow, der Volksfreund, ebenso wie die Kriegsgewinnler Bachruschin, Chlebnikow und Rasturgujew.

    Nach der Oktoberrevolution waren die Spekulanten auf dem Chitrowski Markt enteignet und vertrieben worden, ihre Häuser hatten andere Namen erhalten. Die ehemalige Verbrecherkneipe Sibirien hieß: Partisan, das ehemalige Bordell Zwangsarbeit hieß Roter Stern und über dem niedrigen Eingang des ehemaligen Nachtasyls Schweinehaus im Hinterhaus des Gebäudekomplexes, das früher dem Waffenschieber Kulakow gehört hatte, prangte nun in roten verschnörkelten Buchstaben: Hotel Erster Mai. An Stelle der halbnackten und kahlgeschorenen riesenhaften Gestalten, die zu Zeiten des Zaren in den Häusern die Aufsicht führten und aussahen, als wären sie einem Gemälde Repins entstiegen, wurden zu Lenas Zeiten die Häuser auf dem Chitrowski Markt von riesenhaften Krüppeln in quergestreiften Matrosenhemden regiert, die einst als Blaujacken in Odessaer und Kronstädter Flotten blutige Meutereien gegen das zaristische Regime angeführt hatten.

    Die Regierung hatte die Verstümmelten des Weltkrieges, die Krüppel der Revolution und des Bürgerkrieges, die Geistesgestörten und aus ihrer Lebensbahn Geworfenen in den Hohen Norden und den Fernen Osten deportiert. Dort sollten sie in weltfernen Klöstern und auf einsamen Inseln ihren Lebensabend beschließen. Den Namen Solowezki flüsterte man sich hinter vorgehaltener Hand zu, und Schauer des Grauens überlief die Tuschelnden beim Weitergeben des Wortes. Aber viele der Deportierten waren nicht in der Wildnis geblieben, sondern hatten sich auf die Beine gemacht, um in der Stadt ihrer Hoffnung zu leben, in Odessa, Brjansk und Petrograd, in Minsk, Tula und Charkow. Wer in Moskau illegal leben wollte, versteckte sich in den Kellern, Ruinen und Hinterhöfen des Chitrowski Marktes.

    Lena war nicht die einzige gutgekleidete Fremde auf dem Chitrowski Markt. Zu zweit, zu dritt flanierten in Pelze oder in dicke Tuchmäntel gehüllte neugierige Damen und Herren durch die zerfallenden Gassen, fotografierten und notierten. Hier schnappte Lena ein Wort in Englisch auf, dort eins in Französisch. Die Ausländer schienen begierig zu sein, einen sozialistischen Slum zu erleben. Es gab viel zu entdecken und spöttisch zu kommentieren.

    Lena war erschrocken angesichts des Gewimmels eitriger und schorfiger Jammergestalten, inmitten von Krüppeln und Gehetzten. Müllhaufen säumten die Straße. Während sich Lena mühsam der Kinder erwehrte, die sie umjohlten und versuchten, sich an ihrem Mantel festzukrallen, rief sie umstehende Männer zu Hilfe:

    „Hallo, Sie da, bitte helfen Sie mir, und als der Angesprochene sich nicht rührte, sondern sie nur ruhig betrachtete, als spreche sie nicht seine Sprache, wandte sie sich an den nächsten: „Lieber Herr, ich habe mich verirrt, wie komme ich zurück zum Pokrowskij Bulwar?

    Keine Antwort.

    Vor dem ehemals Kulakowschen Haus, das früher Das Bügeleisen genannt wurde, spie ein Feuerschlucker unter dem Gejohle der Umstehenden meterlange Flammen in die Horde abgerissener Kinder, die lärmend davonstoben und wiederkamen, wenn der Artist Atem schöpfte. Über offener Flamme kochte eine dicke Kasachin Kascha in einem großen eisernen Kessel. Vor einer Tonne, die liegend auf Rädern montiert und mit der Inschrift: Kwas! versehen war, standen frierende Zerlumpte, die mit alten Konservendosen oder zerbeulten Blechbechern in der Hand warteten, vom tatarischen Verteiler bedient zu werden. Mitten auf dem Platz hatte ein Schausteller sein Pferdekarussel aufgebaut.

    Daneben trieb mit schwarz angemaltem Gesicht ein Schlangenbändiger seine Possen, indem er den Kopf des Reptils küßte, während sich der kinderarmdicke Leib um seinen Körper ringelte. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Durcheinander irrte Lena an einer Fischbratküche vorbei, wo Heringe in spritzendem Öl brieten und an einer Kochstelle, deren Besitzerin mit gellender Stimme ihr Produkt ausrief:

    „Frische Kaldaunen! Frische Kaldaunen! Frische Kaldaunen!"

    „Löcher stopfen! Löcher stopfen! rief aus der Tür des ehemals Rumjanzewschen Hauses ein Mann mit Holzbein und zwei Reihen Stahlzähnen, die blitzten, sobald er den Mund auftat. „Brandlöcher stopfen, Schußlöcher, Dreiangeln ... Alles stopfen wir ohne Ansehen der Person ... Ich sehe, rief er Lena zu und musterte sie von oben bis unten, alles an ihr sah frisch und sauber aus, „Sie haben nichts zu stopfen, aber Ihr Mantel gefällt mir und auch die Stiefelchen sind sehr schön, was wollen Sie dafür haben?"

    Mit schroffer Bewegung wandte sie sich von dem Schausteller ab.

    „Das ist der Chef der Krebse", erläuterte leise eine wohlklingende Männerstimme neben ihr.

    Ein Mann in zerknautschtem Schlafanzug und dickem Schal um den Hals hatte sich ihr genähert:

    „Krebse, das sind die Schneider, sagte leise mit einschmeichelnder Stimme der Mann im Schlafanzug, unter dem es bei jeder Bewegung leise knisterte, „Krebse sind die bedeutendsten Künstler auf dem Chitrowski Markt. Was nachts hinten in ihren Werkstätten eingeliefert wird, verläßt Stunden später in veränderter Form vorn den Laden: Kein Mensch, der hier seinen nachts gestohlenen Pelz sucht, wird ihn eine Stunde später wiedererkennen ... Sie sind fremd hier? Darf ich Sie einführen in die Moskauer Unterwelt?

    „Nein."

    „Sie haben keine Wahl, er wies mit der Hand in die Runde: „Wie wollen Sie hier je wieder herausfinden?

    Lena war von dem Knistern bei jeder Bewegung des Mannes im Schlafanzug irritiert.

    „Wer sind Sie denn?"

    „Ich bin der Dichter Satinajew" sagte mit geschmeidiger Stimme der Mann.

    „Und warum treiben Sie sich hier herum, anstatt im Haus der Literatur Lesungen zu geben?" fragte Lena streng.

    „Die Zeit ist nicht geeignet, im Haus der Literatur futuristische Lesungen zu geben", sagte Satinajew vorsichtig.

    „Ach, ein Futurist sind Sie! rief Lena in beleidigendem Ton, angesichts des Dichters in seinem lächerlichen Aufzug verlor sie ihre Zurückhaltung: „A-e-i-o-uuu, Otko! - U-i-a-o-eee, Okto! äffte sie: „ja, denken Sie wirklich, wenn Malewitsch mit Holzlöffeln in den Knopflöchern durch Moskau spaziert, rief sie, „oder wenn Krutschenik sich mit einem Bindfaden ein Kopfkissen um den Hals hängt, könnten Sie heute mehr als faule Eier ernten? In Zürich hatten wir Hugo Ball mit ähnlichem Unfug, in Paris Tristan Tzara, in Berlin ...

    „Gnädige Frau, sagte Satinajew lächelnd, „was regen Sie sich auf? Ich kenne die von Ihnen genannten Personen nicht. Ich bin ein Futurist aus dem Jahr 1913, und hier ist meine frei gewählte Welt.

    „Frei gewählte Welt! rief Lena, und an einen unsichtbaren Zeugen gewandt: „Den Chitrowski Markt nennt er seine frei gewählte Welt! Daß ich nicht lache!

    „Ich habe mich im Krieg vor dem Militärdienst gedrückt und in der Revolution habe ich durch Abwesenheit geglänzt, sagte lächelnd der Dichter, „heute habe ich mich Ihnen als Führer durch den Chitrowski Markt angeboten. Keineswegs wollte ich Sie kränken oder, was Sie offenbar befürchtet hatten, Sie etwa mit eigenen Gedichten belästigen. Ich bin auch nicht teuer. Wenn Sie mir fünf Kopeken für meine Dienste geben, nehme ich Sie dankend an.

    „Gut, sagte Lena, sie kramte in ihrer Aktentasche und reichte dem Dichter einen Rubelschein, „bitte nehmen Sie, das ist für Ihre Bemühungen. Und nun schaffen Sie mich weg von hier.

    Gleichmütig steckte der Dichter den Schein in die Brusttasche seines Schlafanzuges, der wiederum knisterte bei jeder Bewegung.

    „Was knistert da in Ihrem Anzug?" fragte Lena.

    „Oh, sagte Satinajew, „stört es Sie?

    „Es irritiert mich."

    „Es sollte Sie nicht irritieren, sagte Satinajew geschmeidig, „es sind nur die Zeitungen, die ich um meinen Körpereb gunden habe. Es ist morgens manchmal schon recht kalt, wissen sie, außerdem bereite ich mich auf den Winter vor, ich trainiere sozusagen für die kalte Jahreszeit, probiere dieses, probiere jenes, um nicht zu erfrieren später, übrigens, er beugte sich leicht vor, „die Iswestija hält viel besser die Kälte ab als die Prawda, er beugte sich noch weiter vor, „aber sagen Sie das, bitte, nicht weiter, ich möchte nicht schuld sein am Niedergang der Prawda.

    Eine Frau ohne Augenlider, ohne Nase und Lippen trat hinzu.

    „Wer ist die", herrschte sie Satinajew an.

    „Oh, sagte Satinajew unterwürfig, „das ist ..., er sah hilfesuchend zu Lena hin, die mit gekrauster Stirn die Hinzugetretene musterte, und da Lena keine Anstalten machte, ihn aufzuklären, ergänzte er, als habe er ein Geheimnis zu verkünden: „Das ist eine Genossin aus dem Ministerium."

    „Von welchem Ministerium?"

    „Vom Ministerium für Barmherzigkeit."

    „Das gibt es nicht."

    „Das sollte es aber geben", sagte Satinajew.

    „So? sagte die Frau ohne Augenlider, ohne Nase und ohne Lippen, indem sie sich an Lena wandte, „vom Ministerium sind Sie also.

    „Nein, sagte Lena, „ich bin Dozentin an der Militärakademie.

    „Das ist ja noch schöner, sagte die Frau ohne Augenlider, ohne Nase und ohne Lippen, „dann teilen Sie der Partei und Stalin mit, daß wir vom Chitrowski Markt fest auf dem Boden des Marxismus-Leninismus stehen ...

    Wegen ihrer Behinderung fiel es ihr schwer, Lippenlaute auszusprechen und Lena hatte Mühe, sie zu verstehen. Ihr Gesicht war von großflächigen Brandnarben verunstaltet, aus den beiden oberen Löchern schauten zwei glasige Augen:

    „ ... Und wir billigen die Hinrichtung der Verräter mit Sinowjew und Kamenjew an der Spitze, fuhr die Lippen-, Lid- und Nasenlose fort, „wir verstehen, daß wir beiseitegeschoben werden mußten, um dem Aufbau des Sozialismus nicht im Wege zu stehen. Das Proletariat soll sich nicht erschrecken bei unserem Anblick ...

    Bei einem Blick zur Seite bemerkte Lena, wie Satinajew, Hände auf dem Rücken, verlegen lächelnd vor sich hin blickte, als beobachte er einen ungewöhnlichen Vorgang im Straßenstaub.

    „ ... Aber wir können mehr leisten für das Allgemeinwohl, als hier herumzulungern. Habe ich nicht nützliche Hände? rief die Lippen-, Lid- und Nasenlose, und hielt Lena ihre Hände entgegen, feingliedrige und stark vernarbte Finger, „und hat Anatoli nicht starke Hände? Sie wies auf den Mann ohne Beine, dessen Unterleib auf dem Rollwägelchen festgeschnallt war, der so Angeredete hielt Lena seine Hände entgegen. „Sagen Sie Stalin und der Partei, fuhr die Lippen-, Lid- und Nasenlose fort, „daß wir bereitstehen. Ich würde mich nicht genieren, in einer Spezialabteilung der Automobilwerke am Produktionsband zu stehen - um das Proletariat nicht zu ängstigen mit einer Gesichtsmaske. Und Anatoli, sagte die Lippen-, Lid- und Nasenlose, der Mann ohne Beine, dessen Unterleib auf dem Rollwägelchen festgeschnallt war, hielt Lena erneut seine Hände entgegen, „Anatoli könnte ohne weiteres in derselben Abteilung auf einem Spezialstuhl sitzen und ebenfalls seine Arbeit zum Wohle des Volkes verrichten. Man hat uns zu Ungeziefer degradiert. Aber wir sind kein Ungeziefer, sondern Verunglückte, deren Herz für die Revolution genau so stark schlägt wie das Ihrige ..."

    Lena konnte den Blick in das verstümmelte Gesicht nicht länger ertragen. Vergebens sah sie sich nach Satinajew um, der nun, abgewandt, die Hände auf dem Rücken, eine interessante Bewegung am Himmel zu studieren schien. Und dem habe ich einen Rubel gegeben? fuhr es Lena durch den Sinn, einen Rubel dafür, daß er mich hier teilnahmslos stehen läßt? Na, warte, Bürschchen, dachte sie, du wirst was von mir zu hören kriegen.

    „ … Das Schicksal hat uns gedemütigt, fuhr die Lippen- Lid- und Nasenlose fort, als Lena ihren Blick wieder auf sie richtete, „aber es hat uns nicht untergekriegt. Anatoli, der Mann ohne Beine, dessen Unterleib auf dem Rollwägelchen festgeschnallt war, zeigte Lena seine Hände, „ist kein illegaler Bombenhersteller geworden, obwohl er einer der gesuchtesten Sprengmeister der Roten Narewarmee war. Und ich bin keine Prostituierte geworden ... Sie machte eine kleine Pause, als wolle sie die Wirkung ihrer Worte in Lenas Gesicht ablesen, „ja, sagte sie aggressiv, „lachen Sie nur ..."

    „Ich habe nicht gelacht", verteidigte sich Lena, die eher erschrocken als amüsiert war von den Worten der Verunstalteten.

    „Ich weiß, daß Sie innerlich lachen, sagte die Frau, „das beweist aber nur Ihre geringe Kenntnis der menschlichen Natur. Ich bin mit meinem Gesicht hier die Umschwärmteste von allen. Ich könnte Tausende verdienen bei perversen Ausländern, die sich an meinem Gesicht aufgeilen. Aber ich tus nicht. Ich bin Bolschewikin. Einem Genossen gebe ich mich freiwillig und umsonst hin, aber keinem Volksfeind und Ausbeuter, und mag er noch so reich sein und mir den Himmel auf Erden versprechen.

    Glutrot ging die Sonne unter und legte sich über die Türme und Paläste des Kreml und des Roten Platzes wie eine Gloriole, als Lena, geführt von Satinajew, den Chitrowski Markt verließ.

    „Sie haben mich mit dieser Frau alleingelassen, fuhr Lena den Dichter an, „Sie haben sich wie ein Unbeteiligter verhalten, obwohl ich Sie bezahlt habe.

    „Hier! sagte Satinajew, er zog den Rubelschein aus der Brusttasche seines fadenscheinigen Anzugs, „hier haben Sie Ihr Geld.

    „Unterstehen Sie sich!"

    „Was soll ich mit einer solchen Summe anstellen? Jedem, dem ich den Schein auf den Tisch lege, wird vermuten, ich hätte ihn gestohlen!"

    „Führen Sie sich nicht auf wie ein Kleinkind! Wer war die Frau?"

    „Sofija Nikolajewna Burgina", sagte Satinajew mürrisch, indem er den Geldschein wieder wegsteckte.

    „Sie betonen den Namen so sonderbar."

    „Sie kennen ihn nicht?"

    „Muß man ihn kennen?"

    „Aber Sie kennen sicher den Namen des Genetikers Burgin."

    „Burgin?, sagte Lena erschrocken, „was hat diese Frau mit Akademiker Burgin zu tun?

    „Sie war seine Frau."

    „Sie war die Frau des Akademikers Burgin?, sagte Lena langsam wie in Trance, „sie war die Frau des Mannes, der im vergangenen Jahr wegen Sabotage erschossen wurde?

    „Ja, sagte Satinajew, „so ist es.

    Lena wußte Bescheid. Jeder in der Sowjetunion wußte Bescheid, mochte er in Kirgisien leben oder am Tschirachtschai. Lena wußte Bescheid und erinnerte sich. Die Berichte in den letzten Jahren über Burgin in der Zeitung hatten sie erschüttert, ein Name, der wie Wawilows oder Lyssenkos 1936 in aller Munde war. Es ging, wie sie wußte, um den merkwürdigen Streit in der Biologie über die Vererbbarkeit anerzogener Eigenschaften, an dem die ganze Nation teilgenommen hatte, obwohl nur wenige etwas davon verstanden. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, die mit politischen Verdächtigungen und persönlichen Beleidigungen geführt wurden, hatte es den ersten Toten gegeben, Akademiemitglied Burgin.

    Wie alle im Volke, die nichts von Genetik verstanden, hatte sich Lena instinktiv auf der Seite derjenigen gestellt, die von der Vererbbarkeit anerzogener Eigenschaften träumten: Wenn es möglich war, den neuen, den sozialistischen Menschen zu schaffen, indem man ihm alle negativen Eigenschaften nahm, die ihm in Jahrtausenden von tierischen Zustandsformen bei der Menschwerdung anerzogen worden waren, müßte es auch möglich sein, Reis und Hirse so zu erziehen, daß sie in unwirtlichen Gebieten zu reichen Ernten führten, ein Nahrungsmittel-Überfluß ungeheuerlichen Ausmaßes wäre die Folge ... Lena glaubte fest daran.

    Aber Leute wie Burgin hatten nicht nachgelassen, das Gegenteil zu beweisen: Hungersnöte würden ausbrechen, die Menschen würden beginnen, sich selbst aufzufressen. Scheußlich, dieser Kerl mit seinen inhumanen Prophezeitungen! Und als die Hungersnot tatsächlich ausbrach, als hätte er sie herbeigeredet, hatte jedermann im Volke gewußt, wer Schuld daran war. Volksfeind Burgin! Kopf ab! hieß es auf den Leserbriefseiten in den Zeitungen.

    Es war die Zeit, als jedermann im Volke sich berufen fühlte, an Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft teilzunehmen und seine persönliche Meinung darzulegen, ein Triumph der Demokratie, wie Lena sie verstand. Aber Lena hatte auch Respekt vor dem Mann und seinem: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, amen! Sie spürte, daß Satinajew sie von der Seite betrachtete, spöttisch, wie sie mit kurzem Blick feststellte.

    „Und was ist der Frau mit ihrem Gesicht passiert?" fragte sie.

    „Das Haus, in dem sie wohnte, brannte kurz nach der Hinrichtung ihres Mannes ab, sie konnte nur das nackte Leben retten, und nun glaube ich, sagte Satinajew lächelnd, „habe ich Ihnen genug Stoff zum Nachdenken gegeben ....

    Vergessen war der Auftrag, im Lehrinstitut für Zivilingenieure nach dem Rechten zu sehen. Sie war schon wieder halb auf dem Pokrowskij Bulwar, sah schon die Lichter des Hauses der Rasturgujews, das sie wie einen Leuchtturm in stürmischer See begrüßte, als sie plötzlich stehenblieb. Aus den Tiefen des Pokrowskij Bulwars erscholl ein Chorgesang, der ihr in Mark und Bein schnitt. Es war Stalins Lieblingslied:

    „Wetschernij swonn, hallte es von weit und in getragenem Tonfall durch die beginnende Nacht, die ersten blassen Sterne waren schon zu sehen, danach aber kam nicht wie üblich das Bomm ..., Bomm ..., Bomm ..., sondern ein Geknatter aus Maschinengewehren: rattattattatta ..., rattattattatta ..., rattattattatta ... Erst, nachdem auch die Wiederholung des ersten Verses mit Geknatter verklungen war und nachdem Lena sich orientiert hatte über die Richtung, aus der die Salven kamen, fiel ihr ein, daß vielleicht die Insassen der Dscherschinskij-Kaserne zwischen Dreifaltigkeitskirche und Christi-Auferstehungs-Kathedrale etwas zu feiern hatten, den Jahrestag der Revolution vielleicht, dem zu Ehren sie übten? Auch die nächsten beiden Verse des von Stalin so sehr geliebten Liedes wurden von Geknatter aus Maschinengewehren begleitet: „Kak mnogo dum, rattattattatta ..., rattattattatta ..., rattattattatta ...„na wadschit on", rattattattatta ...., rattattattatta ..., rattattattatta ...

    Es wurde eine sternklare Nacht. Auf dem Weg nach Hause, wie immer zu Fuß, sah sie hoch oben die fernen Lichter auf den Sperlingsbergen jenseits der Moskwa. Heute erheben sich dort in Marmor und weißem Sandstein, in einem Stil, der an asiatische Tempelbauten erinnert, nur höher, nur ausladender, nur massiger, die Türme und Kastelle der Lomonossow-Universität. 1936 gehörten die Lichter zu Irrenanstalt und Fußballstadion.

    Flackernd spiegelten sich die erleuchteten Mauern des Kreml in den ruhig dahinziehenden dunklen Wassern des Flusses, der dieser Kapitale ihren Namen gegeben hat. Lena liebte diese Stadt über alles. Sie liebte diese Stadt, weil sie vor neun Jahren hier Asyl gefunden hatte, nachdem sie Hals über Kopf aus dem arbeitslosen Deutschland ins Vaterland der Werktätigen geflohen war. Den Ausdruck Vaterland der Werktätigen gebrauchte sie aus vollem dankbarem Herzen. Trotzdem fühlte sie sich in letzter Zeit so eingeengt, daß es ihr fast das Herz abschnürte.

    Die Moskwa mündet in die Oka ... hatte sich Lena getröstet, die Oka rauscht in die Wolga, die Wolga fällt ins Kaspische Meer, dessen südliches Ufer bis nach Persien reicht, bis nach Persien! Mit zahlreichen Kanälen ist Moskau auch mit den Weltmeeren verbunden ... Nein-nein, dachte sie dann in manchmal aufsteigender Hoffnung, man war nicht abgeschnitten von aller Welt, wenn man in Moskau lebte, nein-nein, nein-nein, nein-nein.

    Freunde

    1936, dem Jahr, in dem meine Erzählung beginnt, lebte Lena nun schon neun Jahre in Moskau, war im Rang einer Genossin Oberleutnant Dozentin an der Militärakademie geworden, wo sie Deutsch unterrichtete. Den guten Ruf, den sie bei den angehenden Obersten und Generalen genoß, verdankte sie ihrer Findigkeit beim Ausknobeln neuer Methoden des Unterrichts. Großen Erfolg hatte sie, wenn sie versuchte, den ihr anvertrauten Offizieren Grammatik, Orthografie und Vokabeln mit Hilfe deutscher Volks- und Kunstlieder beizubringen. Sie hatte ein Buch zu dem Thema veröffentlicht mit dem Titel: ‘Wir singen und lernen deutsch dabei’. Ihr ganzes Repertoire an Liedern hatte sie mit nach Moskau gebracht, angefangen von Im schönsten Wiesengrunde bis zum Lied von der Erde von Mahler. Wenn sie mit ihrer klaren Stimme, die mal sanft, mal schneidend klang, die Melodien vorsang, saßen die hochrangig uniformierten Männer mit den Händen auf den Schenkeln da und lauschten gebannt. Allerdings war ihr anfangs übel geworden, als die zukünftigen Truppenführer: Reicht mir in der Todesstunde ..., ein Lied aus dem Repertoire der Berliner Arbeiterbühne, im Stil eines Donkosakenchors zu singen begannen. Das korrigierte sie umgehend mit wortreichen Standpauken ... Hier in Moskau hatte sie ihr Element gefunden.

    Sie war nun vierzig ... Donnerwetter, wie die Jahre vergehen, man findet kaum Zeit, sich zu besinnen, ... hatte schlohweißes Haar, war klein und zart mit einem anmutigen Gesicht, aus dem die Reife einer geprüften Persönlichkeit sprach. Wenn sie sich in ihrer maßgeschneiderten Uniform auf der Straße zeigte, drehten sich manchmal Leute nach ihr um angesichts einer so reizenden, jugendlich wirkenden Person in Militärbluse, der das Haar weiß unter der Uniformmütze hervorquoll und sich breit über die Schultern ergoß. Sie war verheiratet, doch ohne Mann.

    Das Unglaubliche war geschehen: Karcsi lebte mit einer anderen Frau zusammen, ausgerechnet mit der Siebenstern, die sich 1923 schon in Wien an ihn herangemacht hatte, als er und andere Überlebende der niedergeschlagenen Ungarischen Räterepublik in Baracke 23 des ehemaligen Grinzinger Seuchenhospitals Unterschlupf gefunden hatten. Damals hatte die Siebenstern ihr, Lena, weichen müssen. Doch nun hatte sie ihm in Moskau aufgelauert und galt als seine Sekretärin:

    „Dieses häßliche Geschöpf mit spitzer Nase und breitem Kinn ..." ereiferte sie sich, wenn sie sich bei Ervin beklagte.

    „Wozu beschreibst du sie mir, ich kenne sie doch."

    „Und?"

    „Was und?"

    „Habe ich recht?"

    „Nein, natürlich nicht, aber eine Frau in deiner Situation kann nicht anders reden."

    „ ...der die klobigen Schuhe, die sie trug, von den klapperdürren, schwarz behaarten Beinen wie Abfalleimer abstanden."

    „Jaja, sagte Ervin, „jaja.

    Von Zeit zu Zeit trafen Lena und Karcsi sich heimlich, wenn sie nicht weiterwußte und Rat brauchte, politischen Rat, versteht sich, auf dem Gebiet war er besonders beschlagen.

    „Auf dem Gebiet ist er besonders verschlagen", sagte Ervin, wenn wieder einmal, zu seinem Unmut, Karcsi ihr Thema war.

    Lenas Freundschaft mit Ervin war 1923 in Baracke 23 des ehemaligen Grinzinger Seuchenhospitals durch Karcsi zustande gekommen, Károly, wie in ordentlichem Ungarisch sein Vorname lautete, Károly Rubin. Immer wieder verblüffte sie der Gegensatz zwischen den Freunden. Längst waren sie zu politischen Gegnern geworden. Aber waren sie in ihrem Innersten nicht immer noch Freunde? Befreundet als Jugendgespielen und als Offiziere der Ungarischen Räterepublik?

    Die Freunde sprachen selten von ihren Erlebnissen in den Revolutionsmonaten vom 21. März bis 1. August 1919. Aus Andeutungen und Erzählungen anderer, manchmal aus Zeitungsberichten hatte sich Lena mit der Zeit ein Bild machen können von dem, was damals geschehen war, als Ervin, der Skeptiker, einundzwanzig Jahre alt, Militärkommandant von Kecskemét war und Karcsi, ebenso alt, Divisionskommissar beim Sieg der Roten Armee über die königlich rumänische Armee bei Szolnok.

    Es gab ein Foto aus jener Zeit, das zwei schmächtige Jünglinge in Badehosen zeigte, die sich übermütig wie Kinder gegenseitig mit Wasser spritzten. „Das Duo Infernal am Balaton", stand handschriftlich darunter. Wenn sie das Foto ansah, konnte sie ein Lächeln nicht verkneifen. Was muß das für eine Armee gewesen sein, die solche Kinder zu Kommandanten und Kommissaren gemacht hatte?

    Nun lebten die Freunde in derselben Stadt, und hatten keinen Kontakt zueinander. Karcsi, der sich in mehreren Sprachen auszudrücken verstand, war ins Sekretariat der Kommunistischen Internationale aufgestiegen, und Ervin, ein erfolgloser Schriftsteller, bereitete sich darauf vor, Moskau zu verlassen. Fünf Jahre hatte er vergeblich versucht, seinen Roman über die Ungarische Räterepublik herauszubringen, Romain Rolland hatte ihn Stalin persönlich empfohlen, doch stets hatte es geheißen, nein! es sei ein zum Roman aufgeblasenes defaitistisches Pamphlet, das dem Leser die Unmöglichkeit einer proletarischen Revolution plastisch vor Augen führe ...

    In der Sucharewskaja hatte Lena einmal bei einem Einkaufsbummel, ohne Uniform natürlich, ein hübsches Kleid aus Musselin ergattern können. Als sie Karcsi davon erzählte, sagte er abweisend:

    „Das ist Diebesgut. Man kauft nicht auf der Sucharewskaja."

    Als Ervin davon hörte, schnaubte er:

    „Der hat gut reden. Er kauft in Regierungsläden. Wieso erzählst du ihm solche Dinge, die er nicht versteht und nie verstehen wird."

    Auf der Smolenskaja hatte sie preiswert eine hübsche Vase erworben, deren Herkunft ebenso ungewiß war.

    „Gospodin, Gospodin, rief sie in komischer Verzweiflung: „Wenn Karcsi das wüßte!

    „Ich kann diesen Namen nicht mehr hören, sagte Ervin, „das nächste Mal wirst du die Klappe halten, wenn Typen wie Karcsi fragen, woher du deine kleinen Nettigkeiten beziehst.

    Das Leben in Rußland war ungewiß geworden in jenem Jahr.

    Vor vier Monaten war Gorki gestorben. Lena hatte die Nachricht in der Straßenbahn aufgeschnappt. Eine schluchzende Frau war eingestiegen und hatte die Fahrgäste mit ihrem Kummer irritiert.

    „Weshalb weinen Sie denn?" fragte Lena.

    „Gorki ist tot."

    Der Satz ging im Wagen von Mund zu Mund.

    „Woher wollen Sie das wissen?"

    „Es kam vorhin im Radio durch."

    Und als sich die Fahrgäste klar darüber wurden, daß an der Wahrheit der Nachricht nicht zu zweifeln war, hielt der Straßenbahnfahrer an und legte eine Gedenkminute ein. Gorki war tot. Ein nicht zu ersetzender Verlust war eingetreten.

    „Und wer kriegt nun die Stelle?", jammerte das armselige Weib, das bei der Vollkollektivierung vor vier, fünf Jahren heimatlos geworden am Rand der Smolenskaja stand und auf reinlichem weißem Tuch mit geklöppelter Umrandung Zwiebeln und Mohrrüben aus dem Hausgarten feilbot.

    „Die Stelle, sagte Lena, „wird wohl für immer offen bleiben.

    „Gorki war der einzige, dem Stalin vertraute, antwortete das Weib, „nun sagt niemand mehr Stalin die Wahrheit.

    „Gorki, sagte Ervin verächtlich, „dieser Schwadroneur, und wandte sich ab.

    Die eisernen Ringe, die sich Lena ums Herz legten, wurden immer enger.

    Eine Weile später hieß es: Freiheitskämpfer! Meldet euch an die spanische Front, der Schakal marschiert auf Madrid. Mit Schakal war General Franco gemeint. Auch Lena hatte sich gemeldet. Sie wollte als Krankenschwester ins Feld ziehen, aber General Malischkin, der Chef der Militärakademie, verkündete:

    „Die Rote Armee beteiligt sich nicht am Freiheitskampf der Spanier. Aber wer die Armee verläßt, kann sich freiwillig melden."

    Zwölf Offiziere der Militärakademie quittierten den Dienst und gingen nach Spanien an die Front. Es hatten sich noch mehr gemeldet, angenommen wurden aber nur zwölf. Lenas Gesuch, die Armee zu verlassen, wurde abgelehnt mit der Begründung: „Und wer bringt uns dann Deutsch bei?"

    Lena war unabkömmlich 1936, denn mit dem Fach, für das sie zuständig war, verfolgte die Leitung des militärischen Abschirmdienstes einen ganz besonderen Plan. Die Deutschstämmigen unter den Kommandeuren mit Oberst Kuchelbeker an der Spitze waren die fleißigsten gewesen beim Erlernen des Deutschen, und da sie es in der schlesischen Sprachfärbung lernten, sprachen manche von ihnen es, als wären sie in Schlesien geboren. Sie hatten die Theorie entwickelt, sich nach Deutschland einschleusen zu lassen, um das Dritte Reich von innen zu zerstören. Wie es zu machen sei, darüber wurde heftig gestritten. Die einen sagten, sie, die nun ein Deutsch im einheimelnd schlesischen Klang sprachen, könnten ohne sprachlich aufzufallen, von Frankreich oder England aus nach Deutschland einwandern und Sabotage-Aufgaben übernehmen. Die anderen waren der Meinung, und zu ihnen gehörte Oberst Kuchelbeker, daß ihnen eine Schlüsselrolle zufiele, wenn sie mit dem verführten deutschen Arbeiter in ihrer Sprache und ihrem Jargon sprächen.

    Als sie Ervin davon erzählte, schaute er Lena kopfschüttelnd an:

    „Das sind keine Kommandeure, das sind Traumtänzer. Nach zwei Sätzen wird der deutsche Arbeiter sie der Gestapo ausliefern. Die können doch nicht im Ernst meinen, der deutsche Arbeiter sei von Hitler verführt worden. Hitler hat ihm Arbeit und Brot gegeben und dafür dankt der deutsche Arbeiter ihm. Dafür zieht der deutsche Arbeiter das Braunhemd der SA an. Die SA, das ist der deutsche Arbeiter."

    Dann fand der Prozeß gegen Sinowjew, Kamenjew und einem Dutzend anderer hoher Parteifunktionäre statt, der mit Todesurteilen gegen alle endete ... Nun war niemand mehr seines Lebens sicher ... Doch Stalin ließ in aller Öffentlichkeit die neue Verfassung des Landes diskutieren, die Redefreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit garantierte:

    „Der arbeitenden Bevölkerung und ihren Organisationen, verkündete Stalin und das ganze Land hing mit dem Ohr an den Radioapparaten, „der arbeitenden Bevölkerung und ihren Organisationen werden Druckerpressen, Papiervorräte, öffentliche Gebäude, Straßen, Verkehrsmittel und alle anderen wesentlichen Voraussetzungen zur Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte zur Verfügung gestellt. Das Gesetz garantiere den Bürgern der UdSSR die Unverletzlichkeit der Person. Niemand dürfe in Haft gesetzt werden, außer durch Beschluß eines ordentlichen Gerichts. Die Unverletzlichkeit der Wohnstätte jedes Bürgers sowie das Briefgeheimnis seien durch Gesetz geschützt.

    „Es ist die demokratischste Verfassung der Welt", jubelte im fernen Los Angeles der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der vor Hitler an die Pazifikküste geflohen war, ein Wort, das die hiesigen Zeitungen in Millionenauflage nachdruckten. Lena las es gierig.

    „Ein solches Wunderwerk wie die stalinsche Verfassung, memorierte sie die Worte des weit entfernt lebenden Dichters, „hat es noch nie und nirgends gegeben.

    „Aber wo soll sie gelten? fragte Ervin spöttisch, „hier in Moskau etwa? Moskau ist eine Stadt mit sieben Leben, die Übergänge sind fließend, und ich habe in keinem ihrer irrwitzigen Leben Anzeichen vom Wirken einer neuen Verfassung gespürt.

    Lena hatte an den Fingern abgezählt, was er mit sieben Leben gemeint haben könnte und kam nicht dahinter. Weshalb sieben? Sie begriff es nicht. Was sie herausbekam, waren entweder mehr oder es waren weniger als sieben Leben. Wahrscheinlich redete er wieder einmal in seinen schwer zu durchschauenden Metaphern.

    Was hielt ihn noch in Moskau? Er hatte seinen ungarischen Paß behalten und stand schon mit einem Fuß in Paris. Er konnte sich nun alles erlauben. Adieu, Ervin, adieu, mein Freund, dachte sie, wer weiß, wann wir uns wiedersehn. Es hatte schon viele Abschiede in ihren bisher vierzig Lebensjahren gegeben. Auch dieser Abschied, der nun bevorstand, ging ihr zu Herzen. Sie wußte, Ervin würde nicht bleiben in Paris. Sein Ziel war Madrid und die Internationalen Brigaden. Das durfte in Moskau aber nicht bekanntwerden. Sie gehörte zu den Wenigen, denen er sich anvertraut hatte. Aber wozu diese Geheimniskrämerei?

    „Ich will nicht unter sowjetischem Befehl kämpfen. Ich traue den Politkommissaren nicht."

    „Du warst selbst Politkommissar."

    „Ich war Kampfkommandeur, sagte Ervin und hob stolz das Kinn, „Politkommissar war Karcsi, und das war unter einem anderen Stern.

    „Es war unter dem roten Stern der ungarischen Räterepublik."

    „Eben, sagte Ervin, „genau das wollte ich damit ausdrücken.

    Als der Prozeß gegen vier der höchsten Parteiführer mit dem Todesurteil gegen sie und dem Dutzend Mitverschwörer endete, glaubte Lena, nicht weiterzukönnen. Sie empfand sich plötzlich wie ein Mensch ohne Bindungen. Wenn so ehrenwerte Führer sich als Verräter entpuppten, wem war dann noch zu trauen? Auch Radek dann nicht, Karl Bernardowitsch, den sie als Volksredner liebte und verehrte. Keiner verstand es wie er, unpopuläre Maßnahmen der Regierung in volkstümlicher Sprache so vorzubringen, daß sie plötzlich einen vaterländischen Sinn erhielten. Mit ihm und dem bereits erschossenen Kamenjew hatte sie an der Bahre Clara Zetkins Totenwache gehalten, für sie eine Ehre ohnegleichen. Radek würde wohl einen eigenen Prozeß kriegen. Aus der Partei ausgeschlossen war er schon. Jetzt saß er in der Lubjanka, dem Staatssicherheitsgefängnis, und wartete auf den Staatsanwalt.

    Natürlich in der Lubjanka. Sie selbst, Lena, käme dort nie hinein. Die Lubjanka war für die höheren Genossen bestimmt. Auf sie wartete, wenn es darauf ankäme, bestenfalls die Butyrka, das Gefängnis für Kriminelle und niedrigere Staatsverbrecher.

    „Butyrka! Butyrka! rief Ervin entrüstet, „du siehst Gespenster. Du bist nicht wichtig genug, um in die Butyrka zu kommen. Was willst du denn da? Die Butyrka ist etwas für Verbrecher. Du gehörst in die Universitätsbibliothek und nicht in den Knast. In den Knast kommen Leute mit Einfluß und von Bedeutung. Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein.

    In der Pokrowskij-Kathedrale, las sie in der Zeitung, war ein Mann festgenommen worden. Gläubige hatten beobachtet, wie er sich mit zwei Fingern bekreuzigte. Während die Gemeinde sich ins Gebet vertiefte, war er nach vorn geschlurft und hatte mit zwei Fingern demonstrativ das Kreuz geschlagen. Unter den Gläubigen entstand Gemurre, das sich zu lauten Beschimpfungen steigerte. Beherzte Männer schoben sich aus den Reihen des Gestühls, eilten zu dem Kerl hin, um ihn zur Rede zu stellen, der immer noch vorn stand und sich erneut mit zwei Fingern bekreuzigte.

    Während der Pope die Gnade des Herrn auf den Gotteslästerer herabflehte, eilten andere ihm zu Hilfe, und umringten ihn zu seinem Schutz. Als die Miliz eintraf, hatten die Uniformierten Mühe, zu dem Altgläubigen vorzudringen. Bei der Festnahme wehrte er sich, und erst als Verstärkung eintraf, konnten er und die wenigen Gleichgesonnenen überwältigt werden. Für die Altgläubigen des zaristischen Adels, stand anderntags in der Zeitung, sei im neuen Rußland kein Platz. Lena las den Bericht mit versteinter Miene.

    Die Altgläubigen, Staroobrjadtschestwo nach russischem Sprachgebrauch, das wußte man doch, gab es vor allem unter den Bauern. Bei den Adligen wurde es Ende des vergangenen Jahrhunderts lediglich Mode, sich an Wladimir den Heiligen und die Zeit der ersten Taufe der heidnischen Rus vor tausend Jahren zu erinnern. Es galt als elegant, sich mit zwei Fingern zu bekreuzigen. Die Aristokratia tat es aus Übermut, tat es, um sich demonstrativ von der Religion des Zaren abzusetzen, der Anstalten machte, die Leibeigenschaft zu mildern.

    Sich mit zwei Fingern zu bekreuzigen und den Namen des Gekreuzigten wie Ïisus auszusprechen, war schon immer gefährlich gewesen und hatte vor dreihundert Jahren zu Folter und Scheiterhaufen geführt. Lena begriff nicht den Tumult um die Altritualisten. Aber andererseits, warum konnte der Kerl zum Bekreuzigen nicht drei Finger nehmen wie ordentliche Orthodoxe? Sie war hin und her gerissen wie immer.

    Gerüchte über einen zerschlagenen Staatsstreich gingen um. Von schwarzen Limousinen war die Rede. Sie selbst hatte eines Nachts ein solches Fahrzeug in hohem Tempo durch die Stadt kurven sehen. Tagsüber hatten sich die geschlossenen Lieferwagen, auf deren Seitenflächen in mehreren Sprachen das Wort Brot stand, in beängstigender Weise vermehrt. Jeder in der Stadt wußte, daß in ihnen nicht Lebensmittel, sondern Gefangene transportiert wurden. Aber weshalb dann das Versteckspiel und ausgerechnet mit Brot, das knapp war im ganzen Land und nach dem sie manchmal stundenlang anstehen mußte.

    Eines Tages hieß es, Oberst Kuchelbeker sei ermordet. Drei seiner engsten Freunde wurden der Tat verdächtigt und zwei Tage später standrechtlich erschossen. Unmittelbar danach hatte sich die Parteigruppe an der Militärakademie aufgelöst und der Lehrkörper wurde drastisch reduziert. Auch sie war entlassen worden, war nun nicht mehr Dozentin, sondern einfache Lehrerin. Auch der Titel Oberleutnant war ihr aberkannt worden, der ihr als Militärangehörigen zustand. Daß sie sang- und klanglos zurückgestuft worden war, kränkte sie. Sie hatte sich schon auf ein Leben im Dienst der Roten Armee eingestellt, der sie treu dienen wollte.

    Oberst Kuchelbeker hatte zu ihren Schülern gehört. Sie konnte sich gut an seinen weichen Bariton erinnern, wenn er Im schönsten Wiesengrunde sang. Lena ließ sich nicht irremachen in ihrer Theorie, daß die Pläne, die an der Militärakademie geschmiedet wurden, verraten waren und daß der Tod des Obersten von Berlin gesteuert war. Es gab aber auch den Verdacht, daß er sich aus Verzweiflung über den Zustand der Roten Armee selbst die Kugel gegeben habe.

    Wer an Selbstmord glaubte, behielt seine Meinung für sich und bemühte sich, darauf angesprochen, den Mord zu verurteilen und der Hinrichtung der Rädelsführer zuzustimmen. Unverzüglich hatte auch sie zugestimmt, als General Malischkin sein rechtes Auge auf sie richtete, denn in dieser Frage gab es kein Zaudern. In dieser Frage wie in vielen anderen damals gab es auch keine Freunde, gab es weder Bruder noch Schwester. Seit dem Bürgerkrieg trug General Malischkin über der Narbe links eine schwarze Augenklappe, die sich im Laufe der Zeit zu einem schmutzigen Grau verfärbt hatte.

    In der Chinastadt, las sie in der Zeitung, dem Wohn- und Verwaltungsviertel im Zentrum Moskaus, das sich östlich des Kreml dem Roten Platz und der Basiliuskathedrale anschließt, wurde der vierzehnjährige Oleg Tamakow mit dem Orden Held der Arbeit ausgezeichnet, weil er dem Staatssicherheitsdienst gemeldet hatte, seine Eltern hätten die Hinrichtung der geständigen Verräter Sinowjew und Kamenjew als ein Verbrechen bezeichnet. Die Zeitungen brachten den Bericht über den Jungen auf der ersten Seite mit Foto, als Beispiel für die vorbildliche Tat eines außergewöhnlichen Menschen. Lena versuchte in den Zügen des Abgebildeten zu lesen. Es war ein ernstes Kindergesicht, hell, sympatisch und treuherzig.

    Sie las den Bericht mehrmals, versuchte geduldig dahinter zu kommen, was manchmal nur angedeutet war, doch auch zwischen den Zeilen fand sie keinen Hinweis auf Meinungsfreiheit und Unverletzlichkeit der Person, wie die künftige stalinsche Verfassung es postulierte. Sie erfuhr von den Bemühungen des jugendlichen Denunzianten, als neu ernannter Straßenvertrauensmann, Ordnung in die chaotischen Beziehungen der Bürger zueinander zu bringen. Das war auch nötig, denn die Gesetzlosen in der Stadt waren schon zur Bedrohung der ordentlichen Bürger geworden. Den Eltern, die dem Urteil eines Sondergerichts zufolge schwere Strafen abbüßten, rief der Sohn im Zeitungsinterview zu: Bessert euch! Und kehrt als Geläuterte in die Gesellschaft zurück!

    Lena hatte Mitleid mit den Verurteilten, die nun, wer weiß wo, dahinvegetierten. Sie hatte keine Vorstellung davon, wo das sein könnte, und das beunruhigte sie.

    Ervin hatte sie hinaus in den Park gezogen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war, sagte er:

    „Noch zwei Wochen, dann fahre ich."

    „Ja, du mit deinem ungarischen Paß. Und wenn sie dich an Horthy ausliefern?"

    Einen Moment stutzte er. Alle Kommunisten, deren Admiral Horthy von Nagybánya, der Sieger über die Ungarische Räterepublik, habhaft wurde, waren erschossen worden. Dann lachte er:

    „Das wäre fatal, in der Tat, aber das tun die nicht. Die haben ja Gottseidank keine Grenze mit Ungarn."

    „DIE" rief sie zornig, „bist du schon so verroht, daß du deine Genossen die nennst? Oder wen meinst du, wenn du DIE sagst?

    „DIE, sagte Ervin, „das sind die Elfenreigen auf morgendlichen Wiesen, DIE, das sind Rotkäppchen und die Großmutter ohne den Wolf und die, das sind die Pfeifenrauchringe aus dem Knasterkocher des allersanftesten Vaters der Werktätigen.

    „Verdammt noch mal, rief sie, „kannst du nicht ein einziges Mal deine trotzkistischen Sticheleien lassen?

    Das Wort trotzkistisch hatte sie, wie es allgemein üblich war damals, gewohnheitsmäßig ausgesprochen, ohne genau zu wissen, was es bedeutete. Niemand im weiten Land hatte eine genaue Vorstellung von dem Wort, das zu einem Schreckensruf geworden war. Mal wurde es genutzt, um Parteimitglieder zu Abtrünnigen zu stempeln, mal wurde es genutzt, um eine besonders niederträchtige Art von Vaterlandsverrat zu brandmarken.

    Schwach hatte sie die Vorstellung, daß Trotzki die Möglichkeit bestritt, allein im industriell unentwickelten Rußland den Sozialismus einzuführen. Nach Trotzkis Meinung könne der Sozialismus nur in einem industriell hochentwickelten Land beginnen, Deutschland zum Beispiel, um sich wie ein Buschfeuer über den Erdball auszudehnen. So ungefähr hatte sie es verschwommenen Zeitungsberichten entnommen, die sie wie die Chiffren einer Geheimschrift zu entschlüsseln versuchte.

    In den oft seitenlangen Beschimpfungen Trotzkis fand sie keinerlei sachliche Auskünfte über das Wesen seiner Anschauungen. Schriften von ihm, die sie in Bibliotheken suchte, waren aus den Regalen verschwunden. In Büchern, die ihn zitierten, waren die entsprechenden Absätze geschwärzt. Sie hatte die Seiten gegen Licht gehalten, um vielleicht doch etwas zu entziffern. Vergebens. Die schwarze Tinte war undurchdringlich.

    Aber der Mann war ein Mitkämpfer Lenins gewesen, er hatte der Revolution als Außenminister und Kriegskommissar gedient und den Aufstand der Kronstädter Konterrevolutionäre niedergeschlagen. Und plötzlich sollte er zu einem Verräter geworden sein? Konnte man das glauben? Wie, wenn es sich um einen grotesken Irrtum handelte? Aber weshalb gewährten ihm dann die Regierungen kapitalistischer Länder bereitwillig Asyl, anstatt ihn als ihren Todfeind von Land zu Land

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