So viel kann nicht jeder von sich haben
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Book preview
So viel kann nicht jeder von sich haben - Adriana Wolkenbruch
Anfang
Die Träumenden und die Wünschenden
halten den feineren Stoff
des Lebens in ihren Händen
(Franz Kafka)
Zurück
Ich bin wieder bei meinen Eltern. Es hat nicht geklappt. Arbeiten im Ausland. Seltsam war es dort. Versoffen und verwahrlost. Hier ist alles sauber und viel heller. Aber draußen. Aber draußen. Aber draußen… Es gab Berge und goldene Sonnenstrahlen im Nebel, sattes Grün und harte Brauntöne… frei herumlaufende Nutztiere… Einöde. Hier ist es jetzt fremder als früher. Fast so, als wäre ich hier nicht aufgewachsen. Aber das bin ich. Das bin ich doch. Ich…. Mir wird schwindelig, aber ich habe Angst woanders hinzugehen. Meine Schwester und ihre beste Freundin sitzen mit mir am Küchentisch. Mit mir…mit wem? Wer ist das? Ich kann nichts sagen, ich muss aussehen wie eine alte Frau mit kohlrabenschwarzen Haaren in einer dicken Decke. Aber ich bin ja wirklich in eine dicke Decke gewickelt. Meine Zunge verdreht sich, wenn ich etwas sagen möchte und mein Gehirn scheint schräg über mir zu schweben. Es ist nicht mehr in mir. Mein Kopf ist leer. Wie eine Qualle, ohne Gehirn, und deswegen in Todesangst, verharrend kauere ich auf dem Stuhl. Mir ist übel. Ich bin nicht mehr ich. Mein ich schwebt über mir. Bleib bei mir, denke ich. Wenn Du weiter weg schwebst, kannst Du nie wieder kommen. Mir ist übel, aber aus welcher Öffnung soll etwas heraus kommen? Wo alles an mir durchsichtig ist. Aber sie sehen mich. Meine Schwester versucht, mich möglichst unauffällig anzusehen. Aber mein Gehirn liest ihre Gedanken. Oder ist es mein durchsichtiger Körper, der kein Gehirn mehr hat und auf den der Inhalt fremder Gehirne schwebt? Ja, so ist es. Ich lächele. Meine Schwester will mir nur Gutes, versucht nicht zu zeigen, dass sie Angst hat. Ihre beste Freundin überlegt, was sie zu mir sagen könnte. „Ich, sagt eine ganz raue Stimme durch mich, „ich bin eine multiple Persönlichkeit.
Ich habe Todesangst. Ich möchte nicht sterben, weil ich die Hölle sehe. Sie liegt direkt vor mir und wartet auf mich. Alle kreischen dort und sind so durchgedreht, dass ihnen nichts mehr etwas ausmacht. Sie lieben den Schmerz und sie sind sadistisch. Und überall Feuer und sonst nur schwarze Hintergründe. Und da käme ich nie wieder heraus. Nicht einmal durch Sterben. Aber warum soll ich in die Hölle? Mir fällt nicht viel ein. Zunge herausstrecken auf dem Foto der Erstkommunion. Stuhl wegziehen, der Mitschüler fällt. Lachanfälle während des Unterrichtes. Gemeine, freche Bemerkungen. Bis zum achten Lebensjahr immer, wenn mir danach war. Danach vereinzelt. Manchmal feige sein. Leckeres Essen aus den Schränken holen und aufessen. Selbstbefriedigung. Das ist alles. Das ist alles. Das ist alles. DAS IST ALLES. Dafür die Hölle? DAFÜR DIE HÖLLE?!?! Ich lache verächtlich auf. Es ist ein heiseres, bitteres Lachen. Ein Lachen das schlimmer als ein Knurren klingt. Ich habe nicht auf Deutsch gelacht. Aber was heißt das überhaupt. Auf Deutsch lachen. Dumm. Dumm. Jetzt werde ich dumm. Hilfe. Wo ist mein Gehirn? Es ist wieder in meinem Kopf.
Es ist grau draußen und ich bin froh darüber. Es beruhigt mich. Würde die Sonne scheinen, würde man ja eher nach draußen gehen, wenn man könnte. Und ich könnte. Aber ich mag nicht. Eigentlich kann ich doch nicht. Ich fühle mich wie ein gehetztes Tier, dass endlich ein sicheres Versteck gefunden hat. Und es würde gar nicht auffallen, weil bei diesem Wetter die meisten Menschen im Haus sind. Aber nicht wie gehetzte Tiere, die ein sicheres Versteck gefunden haben. Eher wie Menschen, die in der Woche arbeiten und sich an einem grauen Sonntag ausruhen. Aber ich, ich ruhe mich seit Monaten aus und habe das Gefühl, mein ganzes Leben zu brauchen, um mich auszuruhen. Um ausgeruht zu sein. Und dann möchte ich als Faultier wiedergeboren werden, eines das im Regenwald lebt. Ich würde ungestört in Baumkronen hängen, fressen , mich selten fortpflanzen und müsste meinen Kindern nichts beibringen. Ich glaube als Mensch möchte ich keine Kinder bekommen. Man muss ihnen so viel Scheiße beibringen, denn man muss viele dumme Dinge tun, wenn man ein Mensch ist. Ich kann sowieso keine Kinder bekommen. Ich bin nämlich krank und muss Tabletten nehmen. Und daher bin ich viel zu müde, um Menschenkinder zu erziehen. Glaube ich. Ich kann nichts tun, außer mich auszuruhen. Eigentlich ein schöner Titel für einen deutschen Reggae- Song. Ich kann nichts tun, außer mich auszuruhen. Meine Augen fallen langsam zu, über einem Körper der tonnenschwer ist und den sein Gehirn nutzlos macht. Das Gehirn. Aber wie kann ein Gehirn ganze Geschichten erfinden, die insgesamt absolut logisch zur Realität passen- Geschichten die gruseliger sind als jeder Horrorfilm. Ich bezweifle, dass es nur Geschichten sind. Ich habe mein Gehirn nie geschädigt- keine Drogen. Aber vielleicht hätte es gerade das gebraucht. Ja, mein Gehirn hätte auf jeden Fall viel mehr Entspannung gebraucht. Ich möchte ein Faultier- Gehirn haben. Aber wer sagt, dass es den Faultieren besser geht. Schließlich hängen sie auch nur herum- erholen sich ihr ganzes Leben lang.
Ich muss eingeschlafen sein. Jetzt sehe ich, dass in den Lautsprechern meiner Musikanlage Kameras eingebaut sein könnten. Ich schreie und weine. Ich hatte schon immer das Gefühl, ich würde beobachtet. Und je öfter man ich sagt, desto wichtiger ist es einem, dass man eines hat. Ich. Ich. Ich. Ein ich das bei einem bleibt, ein ich, das nicht immer so unmäßig viel Angst hat, ein ich, dass Leben kann und nicht nur überleben. Mein ich. Ich. Ich. Ich. Ich mache wieder Kollagen. Schneide alles aus allen möglichen Zeitungen aus, was mir gefällt. Kollage. Ein Faultier, ein frecher Hund, eine große Portion Eis. Waldfrucht, Pistazie, Walnuss, Kokosnuss und noch eine Kugel Waldfrucht. Ich lächele. Ich. Ich. Ich. Ich schaue in allen möglichen Altpapiercontainern nach Hochglanzmagazinen. Ich sammele Hochglanzmagazine und fertige jeden Tag mindestens eine Kollage an. Danach fühle ich mich etwas ruhiger und dann kann ich nachts ein paar Stunden schlafen. Ich bin jeden Morgen dankbar, dass ich noch lebe. Die Hölle ist ein schlimmer Ort.
Meine Schwester ist wieder fort. Die Semesterferien sind vorbei. Vor meinem Auslandaufenthalt hatte ich Freundinnen. Alle haben die Hochschulreife. Auch ich. Ich habe die Hochschulreife. Ich wollte Kunst oder biologische Landwirtschaft studieren. Ich wollte Bücher schreiben. Ich hätte auch gern Philosophie und Literaturwissenschaften studiert. Ich wäre auch gern Lehrerin geworden, auch das hätte ich gemacht. Aber wieso wirkt meine gesamte Schulzeit in meiner Erinnerung so fade. Mein. Mein. Mein. Ich hatte doch etwas. Mein. Wieso wirkt meine Schulzeit in meiner Erinnerung so fade, wenn ich doch immer so aufgekratzt war? Fade. Zu wenig. Immer mehr. Ich wollte mehr und dahinter steckte dass das, was ich hatte schon zu viel war. Viel zu viel. Vielleicht hätte es anders sein müssen. Aber nicht mehr sondern weniger. Innen einsam. Äußere Einsamkeit bringt Frieden. Innere Einsamkeit kann Krieg bringen. Alles zu viel durchdacht. Weniger denken.
Ich klebe meine Kollage fertig und jetzt male ich an ihr herum. Zum ersten Mal bearbeite ich sie mit Farbe und Pinsel. Die lachende Käseverkäuferin, die Möwe, das Hochlandrind, das Kanu und der australische Ureinwohner scheinen nur noch dünn durch. Unter einer grünen Meerjungfrau, deren Blick ganz starr ist.
Meine Mutter fährt mit dem Auto vor die Schranke des Klinikgeländes. Sie drückt den Knopf, sagt ihren Namen und dass sie zum Gebäude zwölf möchte. „Ja, bitte", kommt als Antwort und die Schranke öffnet sich kurz darauf. Ich fühle mich wie eingefroren und als ob ich jahrhundertelang so überleben könnte. Ohne zu essen, abwechselnd dösend und schlafend. Vielleicht liegt das an den Tabletten, die der Psychiater mir verschrieben hat. Die Tabletten haben mir ein Gefühl der Erleichterung gegeben, weil mein Herz nicht mehr ständig rast, weil ich nicht ständig diese Angst habe, nicht ständig diese diffusen Vorstellungen, Vermutungen und Bilder, Worte…. Aber sie haben mich auch gleichgültiger gemacht. Nein, eigentlich nur kraftloser. Ich muss mich aufraffen, um zu Denken und zu Sprechen. Wenn ich daran denke, wie viel ich vor dem Auslandsaufenthalt gedacht, geredet und gelacht habe, beginnt eine heiße Quelle in mir zu brodeln. Sie produziert salziges, heißes Wasser, das mit großem Druck in meinen Kopf gepumpt wird und sich von innen gegen meine Augen quetscht. Und dann, dann legt sich ein großer Schatten über mich, eine große, endlose Traurigkeit.
Aber die Aussicht auf ein Gespräch mit einem Psychologen beflügelt mich, erleichtert mich ungemein. Er wird nicht überrascht, nicht betroffen reagieren. Er wird mein Inneres vielleicht verstehen können und es wird ihn nicht verwirren. Ich kann ihm alles erzählen.
Wir fahren einmal über das gesamte Klinikgelände, auf dem viele, viele Gebäude stehen. Einige sind älter, andere sehen eher nach Neubauten aus. Einige haben so etwas wie einen Garten, der eingezäunt ist. Mit einem