Sommerferien in Mitau: Erzählungen von gestern und heute aus dem westfälischen Industriegebiet
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"Fern im Osten hängt die Sonne wie eine ausgestanzte Messingscheibe. An den Birkenzweigen rascheln die letzten Blätter. Es riecht nach Kartoffelfeuern und nassem Laub, Klaus und ich springen von den Fahrrädern und stellen sie gegeneinander. Wir werfen die Schultaschen auf den Boden und lassen uns behaglich stöhnend nieder. Solch ein Morgen ist viel zu schade, um ihn in der Schule zu verbringen. Fliegeralarm um halb acht betrachten wir als ein Gottesgeschenk."
- Aus "Fliegeralarm um halb acht"
Peter Gabriel
Peter Gabriel (1928-2023) wuchs im östlichen Ruhrgebiet auf und begann 1950 ein Studium der klassischen Archäologie, alten Geschichte und der Kunstgeschichte in Münster. Ab 1955 studierte er Pädagogik in Bielefeld. Nach dem Studium wurde er Lehrer und war bis zu seiner Pensionierung 1991 Rektor einer Grundschule in Hamm. Gabriel war Autor mehrerer Jugendbücher. Daneben schrieb er heimatgeschichtliche Artikel im Westfälischen Anzeiger und weiteren Zeitungen, im Jahrbuch Westfalen und in Heimatkalendern sowie Kindergeschichten in der Westfälischen Rundschau.
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Sommerferien in Mitau - Peter Gabriel
Mit hochachtungsvollem Glück-Auf
Am 3. Juni 1896 schrieb mein Großvater an den Grubenvorstand der Zeche vereinigte Dahlhauser Tiefbau: «Euer Hochwohlgeboren bitte ich ganz ergebenst, falls, wie ich erfahren noch einige Steiger auf den Euer Hochwohlgeboren unterstehenden Zechen angestellt werden, mich gütigst zu berücksichtigen. Ich habe mir erlaubt, den Lebenslauf nebst Zeugnissen beizufügen. Mit hochachtungsvollem Glück-Auf!» Es folgt der Namenszug: August Gabriel.
Der unlinierte, zum Vorschreiben benutzte Briefbogen ist genau in der Mitte gefaltet, links stehen Absender und Anschrift, rechts Bewerbung und Lebenslauf. Von allen Zechen, auf denen der junge Mann gearbeitet hatte, konnte er Führungszeugnisse vorlegen. Zusammen mit dem Abkehrstempel galten sie als Nachweis einer ordnungsgemäßen Kündigung. Wer wegen Streikhetze, Aufreizung zum Klassenkampf, sozialdemokratischen Umtrieben und ähnlichen Delikten entlassen worden war, stand auf einer der berüchtigten schwarzen Listen, die von den Personalabteilungen der Zechen geführt und untereinander ausgetauscht wurden. Er fand kaum wieder Arbeit.
Die Stimmung im Revier um die Jahrhundertwende wird charakterisiert durch den Leserbrief eines Bergmanns an die Gelsenkirchener Volkszeitung aus dem Jahr 1889. Im Streb, schreibt er, drohe dem Kumpel das Hangende auf den Kopf zu fallen. Über Tage bekomme die Plempe (den Säbel) des Gendarmen zu spüren, wer nur den Mund aufmache, satt zu essen und menschenwürdige Unterkunft für sich und seine Familie verlange. – Hinter diesen Worten spürt man noch die Emotionen, die der erste große Bergarbeiterstreik im Mai 1889 ausgelöst hatte. Sprichwörtlich bekannt war das raue Arbeitsklima in der Grube, nicht umsonst trugen viele Steiger einen Revolver bei sich, wenn sie einfuhren. Trotzdem drängte es immer wieder junge Leute, den Steigerberuf zu ergreifen, auch meinen Großvater.
Mit vierzehn Jahren war er aus der Elementarschule entlassen worden und hatte als Tagesarbeiter auf «Maria Anna & Steinbank» in Höntrop angefangen. Marianne, wie die Zeche abgekürzt genannt wurde, war aus einem Erbstollen hervor gegangen und in englischen Besitz geraten. Schlagzeilen hatte ihr Bankrott Anfang der 1860er Jahre gemacht. Hart bedrängt von den Gläubigern war über Nacht die Direktion verschwunden. 1868 erwarb der Bochumer Verein die Zeche bei einer Zwangsversteigerung. Trotz aller Modernisierungsmaßnahmen hatte sie mit Einbrüchen und Wasser zu kämpfen und blieb unrentabel.
Während der ersten beiden Jahre lernte der Großvater den Übertagebetrieb gründlich kennen. Die Tatsache, dass er nicht gleich unter Tage eingesetzt wurde, verdankte er der preußischen Gesetzgebung, sie verbot die Arbeit Jugendlicher im Untertagebetrieb bis zum 16. Lebensjahr. Die jungen Hilfsarbeiter wurden bei der Gezähe- und Materialausgabe, der Wagenreinigung und auf der Hängebank beschäftigt. Am Leseband mussten sie zusammen mit älteren, nicht mehr voll einsatzfähigen Bergleuten als Kohleklauber arbeiten, also Steine aus der geförderten Kohle aussortieren. Die Arbeit am Band war stumpfsinnig, Abwechslung gab es nur, wenn sich junge Burschen fürchterlich wirkende Geschosse aus Zeitungspapier und Kohlenstaub an die Köpfe warfen. Die Kohle gelangte in die Separation, hier erfolgte die mechanische Sortierung nach Staub-, Fein-, Nusskohle usw. Das Separieren war Voraussetzung für die Kohlenwäsche, bei der mit Hilfe bewegten Wassers die leichte Kohle vom schweren Gestein getrennt wurde.
Nach zwei Jahren fuhr der Großvater auf Zeche Marianne als Bremser und Schlepper ein und war bei dieser Arbeit bis zum 1. Mai 1887 tätig. Bremser und Schlepper, unter Tage für den Transport der Kohle zuständig, mussten die Kohlenwagen schieben, ziehen und bremsen oder als Pferdejungen die Züge zusammen stellen und begleiten. Die folgenden acht Jahre war der Großvater auf den Schächten I, II und III der Zeche Centrum in Wattenscheid, ebenfalls als Bremser und Schlepper, danach als Lehrhauer und Hauer beschäftigt. In dieser Zeit erlernte er unter anderem das Abteufen und Ausmauern von Schächten, den Ausbau mit patentierten Spurlatten und das Vorrichten von Seilbahnen.
Während Schleppern und Pferdetreibern nur 50–60 % des Hauerlohns zustand, verdiente der Lehrhauer bereits 90 %. Es war das Bestreben der meisten Bergarbeiter, möglichst bald als Kohlenhauer zu arbeiten. Betriebsführer Krämer von Schacht I stellte meinem Großvater das Zeugnis eines fleißigen und braven Arbeiters aus, der sich Vorgesetzten gegenüber stets zuvorkommend und durchaus lobenswert verhalten habe. Unter der Nummer 93257 wurde er als Hauer 1. Klasse zu den Spitzenverdienern gezählt, deren Schichtlöhne über vier Mark lagen. Abgezogen wurden davon dreißig Pfennige für Knappschaftsgefälle, Steuern, Lampenöl und Seife. Der monatliche Nettoverdienst eines Hauers betrug damals hundert Mark.
1893 meldete sich der junge Mann, zusammen mit 584 Bewerbern, zur Aufnahmeprüfung bei der Bergschule in Bochum an. Der Besuch war kostenlos, er bot strebsamen, jungen Leuten die Gelegenheit, neben der Arbeit das Bergfach zu studieren. Ohne das gute Führungszeugnis des Betriebsführers Krämer hätte mein Großvater nicht zu den 16,7 % angenommener Bewerber gehört. Der Bergbau, patriarchalisch regiert, erwartete von seinem Steigernachwuchs nicht nur eisernen Fleiß und Pflichtbewusstsein, sondern auch Gehorsam der Zechenleitung gegenüber.
Der zweijährige Kursus an der Bergschule begann im Oktober, je zwanzig bis dreißig Schüler saßen in der Klasse. Mein Großvater gehörte zu der einen Hälfte der Schüler, die von 15:00 bis 18:45 Uhr, mit einer viertelstündigen Pause, Unterricht hatten.
Morgens gegen halb fünf Uhr stand er auf und musste kurz vor fünf am Schacht sein. Auf dem letzten, mit Menschen beladenen Förderkorb ging es in die Tiefe. Die eigentliche Schicht begann um sechs Uhr, die Seilfahrt wurde also nicht auf die Arbeitszeit angerechnet. Mittags fuhr der Großvater mit den Steigern wieder aus, wusch sich, zog sich um und eilte nach Hause. Von dort ging es nach dem Mittagessen zum Höntroper Bahnhof und mit der Eisenbahn nach Bochum. Abends gegen acht Uhr war er wieder zu Hause und saß noch lange über seinen Büchern und Heften.
Unterrichtet wurde in Mathematik, Mechanik, Maschinenlehre, Markscheidekunst, Physik, Chemie, Bergbaukunde, Grubenrechnungswesen und Konstruktionszeichnen. Direktor der Schule war Bergrat Otto Schultz, unter seiner Leitung hatte sich die Anstalt zur bedeutendsten Bergschule Deutschlands entwickelt. Zum Lehrerkollegium gehörten: Dr. Broockmann, die Ingenieure Gellhorn und Herbst, Markscheider Lenz, Schaper und Althoff. Wenig beliebt waren die Bergwerksassessoren, die vor allem in Bergbaukunde unterrichteten. Sie sahen in den jungen Leuten ihre zukünftigen Untergebenen und behandelten sie entsprechend. Es kam vor, dass besonders schneidige Assessoren ihre Schüler das Aufstehen üben ließen, wenn es ihnen beim Betreten der Klasse zu langsam vorgekommen war.
Der von den Bergschülern seiner Strenge wegen gefürchtete Ingenieur Herbst behandelte in Mathematik: Ebene Trigonometrie, Stereometrie, Arithmetik und Algebra bis zu den Gleichungen zweiten Grades mit mehreren Unbekannten. Broockmann machte in der Chemie mit den wichtigsten Elementen und deren technisch bedeutsamsten Verbindungen bekannt. Er war Junggeselle, allgemein beliebt, konnte aber sehr ironisch sein. Die Fachwelt schätzte seine Arbeiten über Grubengas.
Im Hof der Bergschule diente ein zwanzig Meter tiefer Brunnen als Taucherschacht. Hier lernten die Schüler, die Pumpen zu bedienen, den Taucheranzug anzulegen und unter Wasser zu arbeiten. Die Tauchergruppe der Klasse D, zu der mein Großvater gehörte, bestand aus sieben jungen Männern, ein Tauchmeister leitete die Ausbildung.
Anfang August bekamen die Bergschüler Sommerferien, Mitte September fing der Schulbetrieb wieder an. Im letzten Jahr des Schulbesuchs war der Großvater Fahrhauer und verrichtete bereits Steigerdienste. Am 15. August 1895 fand die mündliche Prüfung statt, mein Großvater erhielt das Abschlusszeugnis mit der Gesamtnote «ziemlich gut». Die Prüfungskommission bescheinigte dem 26-jährigen, Betragen und Fleiß seien gut, der Schulbesuch sehr regelmäßig gewesen. Er hatte nun die Befähigung zum Maschinen- und Grubensteiger, konnte in der Hierarchie der Bergbaubeamten aufsteigen, allerdings nicht Obersteiger oder Betriebsführer werden. Dazu hätte es eines weiteren einjährigen Lehrgangs an der Bergschule bedurft. Die Herren des Lehrerkollegiums, der Kommissar des Königlichen Oberbergamtes und der Vorstand der Westfälischen Berggewerkschaftskasse bestätigten mit ihrer Unterschrift auch erfolgreiche Übungen im Tauchen und die Teilnahme am Unterricht in erster Hilfe bei Unglücksfällen.
Am 20. August 1895 begann mein Großvater als Hilfssteiger auf der Zeche vereinigte Dahlhauser Tiefbau, hier bewarb er sich im nächsten Jahr erfolgreich um eine Steigerstelle. Sein Gehalt, das in Goldstücken ausgezahlt wurde, betrug 120 Reichsmark im Monat, abzüglich des Knappschaftsbeitrages in Höhe von 5,2 Reichsmark. An Sonderleistungen gewährte die Zeche freien Brand (Kohle) und Dienstwohnung, im Werte von jährlich 50 bzw. 180 Reichsmark.
Im Frühjahr 1895 hatten der Großvater und die Höntroper Bergmannstochter Christine Hohoff bei dem Uhrmacher Blumenkemper in Bochum Verlobungsringe bestellt. Der Uhrmacher schickte sie per Nachnahme von acht Reichsmark zu und vermerkte auf der Rechnung: «Hoffentlich werden sie passen und zu Ihrer vollen Zufriedenheit sein. Mögen diese Ringe Ihnen beiderseits viel Glück und Segen bringen.»
Das Glück des Bergmanns blieb meinem Großvater bis 1917 treu, dann wurde er als 48-Jähriger bei einem Unfall so schwer verletzt, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte.
Paradetöpfe
Der Stolz meiner Großmutter Christine war ihre Küche. Die Einrichtung bestand aus einem Schrank, einer Anrichte, einem Tisch und vier Stühlen, einem Küppersbuschherd, der mit Steinkohle geheizt wurde und einer Konsole, auf der die «Paradetöpfe» standen. Sie standen nur da, wurden nie zum Kochen benutzt, aber regelmäßig einmal in der Woche mit Sidol eingerieben und blankgewienert. Im Laufe der Zeit hatte das Aluminium einen Glanz angenommen, der überirdischer Herkunft zu sein schien; ein geheimnisvolles, inwendiges Leuchten erfüllte den Raum. Elfenbeinfarbig waren die Küchenmöbel, strahlend weiß das Spülbecken, silbergrau die Herdplatte und bunt wie ein Orientteppich der mit Balatum ausgelegte Fußboden. Kaum anzufassen wagten wir Kinder die Türklinken; nach dem Putzen pflegte meine Großmutter sie mit alten Lappen oder Strümpfen zu umwickeln, damit nicht gleich wieder ein hässlicher Fingerabdruck auf dem Messing zu sehen war.
Besonders morgens, wenn das Sonnenlicht durch die Scheibengardinen in die Küche schien, der Kanarienvogel Hansi aus voller Kehle sang und sich der Pfeifkessel Mühe gab, ihn noch zu übertönen, herrschte eine wunderbare Stimmung in der Küche. Es roch nach verbranntem Holz, unter den Eisenringen knisterte das Feuer und warf seinen rötlichen Schein an die Decke. Im Winter spendete der Küchenherd den ganzen Tag über eine behagliche Wärme. Damit sie erhalten blieb, mussten ab und zu ein paar Schaufeln Kohle nachgefüllt und die Glut gestocht werden, wobei ein Funkenregen in den Aschenkasten fiel. Meine Schwester und ich liebten es, auf dem Stuhl sitzend, die Füße in den Backofen zu stellen, was Großmutter aber nicht gerne sah, da beim Hin- und Herwippen die scharfen Kanten der Stuhlbeine Spuren im Balatum hinterließen.
Ein großer Teil des Familienlebens spielte sich in der Küche ab. Hier wurde gekocht, gegessen, gebacken, eingeweckt, bügelte Großmutter, strickte Strümpfe, ondulierte ihr Haar mit einer Brennschere, las Großvater die Zeitung, schabte sich mit dem Rasiermesser die Bartstoppeln ab. Spiegel, Seife, Seifenschale und Pinsel standen griffbereit auf der Fensterbank über dem Spülbecken. – Zu den Besonderheiten der Küche gehörte ein Hörrohr, das in die Wand neben dem Herd eingelassen war und bis ins Kellergeschoss reichte; es ermöglichte die Verständigung zwischen den Etagen. Im Keller lagen zwei Räume, deren Fenster durch Eisengitter vor Dieben gesichert waren; in dem einen lagerten Vorräte, in dem anderen stand Großmutters Wäschemangel, ein Gestell aus Gusseisen mit Kurbel und zwei hölzernen Rollen, zwischen denen die Wäschestücke geglättet wurden.
Durch die vergitterten Kellerfenster sah man in den weiträumigen Hof, der von mehrstöckigen Häusern mit Balkons umgeben war.