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Die versteckte Welt
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Die versteckte Welt

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About this ebook

"Sollte sie einfach nur mal durch das Schlüsselloch gucken? Ganz kurz nur! Vielleicht konnte sie ja irgendetwas erkennen!
Doch Fehlanzeige. Es war rein gar nichts zu sehen.
Rike nahm ihre Taschenlampe in die Hand. Dann öffnete sie so leise wie möglich die schwere Eisentüre.
Nun stand sie mit dem Rücken zur Tür. Die kleinen Härchen an ihren Armen standen senkrecht. Sie zitterte wie Espenlaub. Der Lichtkegel der Taschenlampe leuchtete den Raum nur sehr dürftig aus. Sie blickte in unzählige, angsterfüllte Augen. ..."

Rike steht überwiegend im Schatten ihrer jüngeren Schwester Nele, die mit guten Leistungen brilliert und zudem weiß, wie sie ihre Eltern für sich einnehmen kann. Auch in der Schule muss sie sich immer wieder gegen einige ihrer Mitschüler behaupten.
Als Rike auf einem Flohmarkt einen alten Kaugummikasten ersteht, ahnt sie nicht, welches Geheimnis er birgt. Auf der Suche nach Antworten gerät sie immer mehr in den gefährlichen Bann sagenumwobener Geschichten. Natürlich will Rike sich selbst etwas beweisen und fällt eine folgenreiche Entscheidung ...
Ein Buch für Leute von 11 - 99 Jahren!
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 31, 2013
ISBN9783847626244
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    Die versteckte Welt - Ina van Lind

    Prolog

    Dienstag, 14. August 1917:

    Karl lag auf dem Boden. Wie ein Stein, der vom Himmel gefallen war.

    Völlig erschöpft, die Nase platt am Waldboden, schmeckte er bei jedem Atemzug den modrigen Geruch der Erde. Ihm war eisig kalt, nur seine Hände und Arme brannten wie Feuer. Die Beine dagegen spürte er kaum. Gerade so als würden sie nicht zu ihm gehören. Deswegen versuchte er auch unaufhörlich mit den Zehen kleine Kreise zu zeichnen. Es dauerte nicht lange, dann fühlte er plötzlich ein Kribbeln, als würden Ameisenkolonnen an seinen Beinen aufmarschieren und Kontakt zu allen Nervensträngen suchen. Karl biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und machte ein paar unsichere Schritte. Er wollte weg von diesem Ort. Nach Hause, zu seiner Mutter.

    Seine Schulter schmerzte bei jedem Schritt. An den Händen und Unterarmen bemerkte er Schürfwunden. Daher kam also das brennende Gefühl auf seiner Haut. Sein Hemd war schmutzig und am Ärmel entdeckte er zudem einen großen Riss. Die Hose sah nicht viel besser aus. Er versuchte, den Dreck abzureiben. Vergeblich.

    Karls Herz schlug schneller. So konnte er unmöglich seiner Mutter unter die Augen treten!

    Er sah sie bereits vor sich. Ihr eingefallenes, blasses Gesicht mit den stets müden, traurigen Augen. Karl bildete sich ein, sogar ihr Seufzen zu hören. Dieser winzige Ausdruck einer Klage war für ihn viel schlimmer als jede Strafpredigt oder Ohrfeige. Er wusste, sie würde sofort Nadel und Faden hervorholen und das Hemd und die Hose flicken, denn Geld für neue Kleidung hatten sie nicht. Außer Kartoffeln und trockenem Brot gab es zuhause kaum etwas zu essen. Und das alles nur, weil dieser blöde Krieg war – und sein Vater tot.

    Karl sah sich um und rief: „Jakob?".

    Nichts.

    „Bist du hier?"

    Stille.

    „Wo bist du, Jakob?" Seine Stimme zitterte.

    „Jakob?"

    Doch so oft er auch nach ihm rief, Jakob blieb verschwunden. Schluchzend sank Karl nieder und bedeckte das Gesicht mit seinen schmutzigen Händen. Seine Schultern bebten.

    Unvermittelt sickerte ein kleines Bruchstück einer Erinnerung durch das Dunkel seiner Gedanken. Ihm fiel dieser fremde Junge mit den langen, schwarzen Haaren wieder ein, der ihn so hasserfüllt angesehen hatte, dass ihn selbst jetzt noch eine gewisse Furcht beschlich. Dabei war der Junge höchstens so alt wie er oder Jakob. Bestimmt war er auch noch keine sieben.

    Es hatte doch so harmlos begonnen:

    Jakob war wieder einmal aus dem Waisenhaus ausgebüxt, um mit ihm zu spielen. Sie hatten ein paar Brombeeren stibitzt und gerecht aufgeteilt. Da hatte Jakob eine Idee.

    „Du, ich weiß ein neues Spiel! Das hier …, Jakob hatte auf die Beeren gedeutet, „… ist ein Zaubermittel. Wenn wir die Beeren essen, landen wir in einer anderen Welt. Dort lebt ein König - mit seinem Volk natürlich. Und außerdem gibt es einen …

    Jakob hatte eine kurze Pause gemacht. Anscheinend musste er erst überdenken, was es Besonderes geben könnte.

    „Vielleicht einen Zauberer?", hatte Karl begeistert Jakobs Überlegungen fortgesetzt. Er schwärmte für Abenteuerspiele und konnte den Beginn kaum erwarten.

    „Genau! Dort lebt ein ganz gemeiner Zauberer, der den König vom Thron stürzen will, damit er das Reich regieren kann."

    Damit verblassten Karls Erinnerungen. Als ob er geträumt hätte und plötzlich aufgewacht wäre.

    Er schniefte und suchte seine Hosentaschen nach einem Taschentuch ab, doch das Einzige, was er zutage förderte, war ein Stein. Ungläubig starrte er ihn an.

    Tiefrot funkelnd und angenehm glatt lag er in seiner Hand. Er kannte sich zwar nicht mit derartigen Schätzen aus, aber ihm fiel sofort ein, dass die Vermieterin ihrer Wohnung gelegentlich einen roten Stein an einer goldenen Kette um den Hals trug und prahlte, wie wertvoll er sei. Hastig schob er ihn in seine Hosentasche zurück.

    Zuhause musste er ein sicheres Versteck finden. Wenn seine Mutter den Stein entdeckte, ging sie vielleicht davon aus, dass er der Vermieterin den Anhänger geklaut hatte.

    Und das hatte er sicher nicht getan.

    Oder womöglich doch?

    Wie kam dieser Stein bloß in seine Tasche? So sehr er es auch versuchte, er erinnerte sich nicht mehr daran.

    Kapitel 1: Rike, ein Flohmarktbesuch, ein Buch, eine Kugel und ein Zaunkönig

    Samstag, 22. Oktober 2011:

    Der Regen klopfte im Takt auf das Dachflächenfenster. Rike kauerte in ihrem Bett und lauschte. Klang es nicht so, als würde jemand mit den Fingern ans Glas pochen? Doch als sie schaudernd aus dem Bett stieg, um nachzusehen, zitterte sie noch mehr als vorher und kletterte mit eiskalten Füßen wieder zurück unter die Bettdecke.

    Was war das nur für eine seltsame Nacht? Wieso schlug ihr Herz wie wild und warum konnte sie nicht einschlafen? Der Wecker zeigte doch schon fast Mitternacht. Sie tastete nach dem Lichtschalter und las noch einmal in dem Buch, das ihr eine merkwürdige, alte Frau auf dem Trödelmarkt zugesteckt hatte.

    Rike hatte sich am Morgen, zusammen mit ihrer Schwester Nele und ihrem Vater, an einem Flohmarktstand altes Blechspielzeug angesehen, als die Händlerin einen uralten Kaugummiautomaten anpries, der ihren Worten nach wahre Wunder bewirken würde.

    Der Kasten mit der abgeblätterten roten Farbe hatte zwar alles andere als magisch ausgesehen, doch Rike bettelte, bis ihr Vater endlich die fünf Euro herausrückte, die er kosten sollte. Die Frau schaufelte eine beachtliche Anzahl ihrer „unglaublichen, geheimnisumwobenen, einmaligen  Spezialkaugummikugeln hinein, die sie in einem großen Bonbonglas mit der Aufschrift „Zauberkugeln aufbewahrte und drückte Rike ein betagtes Buch in die Hand. „Bewahre es gut! Du wirst feststellen, dass es von überaus großem Nutzen ist!"

    „Die Farbenwelt - Eine Abenteuerreise zu dir selbst", so stand in glitzernden, mystischen Schriftzeichen auf dem Buchdeckel.

    Zuhause hatte Rike sofort zu lesen begonnen. Im ersten Kapitel ging es um die Farbe Grün, die anscheinend im Zusammenhang mit einem Landstrich namens Averda stand.

    In den nächsten Kapiteln ging es um die Farben Weiß, Rot, Blau, Gelb, Orange, Lila, Braun und Schwarz.

    Auf den letzten Seiten hatte jemand etwas notiert. Namen von Personen und Edelsteinen und Eigenschaften, die den Steinen oder Farben zugeordnet wurden.

    … Grün: Frisch, gesund, aber auch unreif, bitter. Charakteristisch: Der Smaragd ist der Stein der Hoffnung, ebenso gilt er als der Stein der Weisheit, der geistigen Schöpfung und des esoterischen Wissens. Zugehöriges Land: Averda. Zugehörige Personen: Amin Abiden Vernon, Adelina Avalon (Piccio) …

    So ging es weiter, Farbe für Farbe. Rike packte das Buch weg. Was für ein Quatsch! Für sie ergab das alles keinen Sinn.

    Aber natürlich probierte sie noch am gleichen Abend, neugierig wie sie war, eine der Kaugummikugeln. Eine grüne. Furchtbar bitter hatte sie geschmeckt. Schlimmer noch als Grapefruit. Rike schüttelte es sogar jetzt noch bei dem Gedanken daran ab.

    Doch es passierte nichts. Absolut nichts. Die Alte hatte ihnen wohl das Gerät nur aufgeschwatzt, um ihnen ein paar Euros aus der Tasche zu ziehen. Rike schloss müde die Augen, kuschelte sich in ihr Kissen und war im Handumdrehen eingeschlafen.

    Der Nebel, der sich vor ihr ausgebreitet hatte wie ein fließendes, graues Seidentuch, lichtete sich plötzlich und gab den Blick frei auf eine ihr fremde, verborgene Welt.

    Für einen Moment glaubte Rike sogar, ein Wispern zu hören. Eine helle Frauenstimme flüsterte etwas von einer Reise in das ewig grüne Land Averda.

    Dann sah Rike auf ein Tal mit saftigen, grünen Wiesen, auf denen eine Schafherde weidete. Daneben stritten sich lautstark drei Kinder, wer das nächste Spiel bestimmen durfte und auf dem angrenzenden Acker klaubten ein Mann und eine Frau Kartoffeln in einen Korb. Die Frau richtete sich auf und drückte schmerzverzerrt eine Hand gegen ihren Rücken.

    Bei der Gelegenheit bemerkte Rike, welch einfache, derbe und vor allen Dingen furchtbar altmodische Sachen die Menschen trugen.

    Gegenüber der Weide erspähte Rike eine Anhöhe, die ein kleiner Tannenwald umsäumte. Ein Bach floss in ein nahe gelegenes Sumpfgebiet.

    Und noch etwas fiel Rike auf: Stille. Es herrschte ungewöhnliche Ruhe. Kein Straßenlärm, kein Dröhnen von Baumaschinen, oder ähnlichem. Nichts. Nur beschauliche Stille.

    Doch schon flog eine Schar Zaunkönige heran, landete auf einem nahen Baum und begann wild zu kreischen.

    Der ältere Junge erstarrte zunächst in seiner Bewegung, als er die Vögel bemerkte, dann jagte er davon.

    Im selben Augenblick rumpelte ein Einspänner den Feldweg entlang, bis er bei dem Acker ankam. „Brrrr", knurrte der alte Mann, der ihn lenkte.

    Er trug einen dunklen, zerknitterten Anzug. Der Hemdkragen sah abgewetzt aus und war zudem schief geknöpft. Seinen Hut benutzte der Greis offenbar auch als Kissen. Völlig zusammengedrückt saß er auf seinem Kopf. Mit seinen grauen, buschigen Augenbrauen, dem gezwirbelten, weit abstehenden Schnurrbart und der verlotterten Kleidung sah er aus wie eine alte Vogelscheuche.

    Erstaunt sah die Frau zu ihrem Mann.

    „Das ist der alte Zaunkönig Refugio aus Brunolino", raunte er ihr zu.

    „Zaunkönig?"

    „Sein Spitzname, weil sich in seiner Nähe immer ein paar der kleinen Vögel aufhalten!"

    „Und was will der hier?"

    Der Mann zuckte nur mit den Schultern.

    Unter Ächzen stieg der bucklige Zaunkönig Refugio aus dem Gefährt und sah sich prüfend um.

    „Wo ist er?", brüllte er ohne ein Wort der Begrüßung.

    „Guten Tag, der Herr. Auch wenn Ihr es eilig habt, solltet Ihr doch so viel Zeit erübrigen, uns zumindest zu erklären, wen oder was Ihr sucht." Zorn schwang in der Stimme des jüngeren Mannes mit.

    „Wen ich suche? Das will ich Euch gerne sagen. Ich suche Euren Bengel. Sein Fjäl-Fräs hat meinen Sohn angegriffen."

    Die Blicke der Mutter huschten über den Acker, hin zum Misthaufen, hinter dem sich ihr Sohn nun versteckt hielt.

    „Weshalb? Was ist passiert?", erkundigte sich der Vater des Jungen.

    „Euer Bursche war in meinem Garten. Ich nehme an, er wollte wieder einmal Fressen für diesen elenden Vielfraß ergaunern. Mein Enkelsohn hat ihn dabei ertappt. Und dieses unnütze Vieh hat sofort meinen Enkel heimtückisch angegriffen."

    „Wie könnt Ihr Euch so sicher sein, dass es sich dabei um unseren Sohn handelt? Es gibt schließlich viele Buben hier in der Gegend, die sich auf den ersten Blick doch alle sehr ähnlich sehen."

    „Das mag wohl sein, doch keiner der anderen Rangen wird von einer Bestie begleitet und zudem habe ich einen Zeugen."

    „So? Einen Zeugen?"

    „Ja. Mervyn Sem Silas kam an unserem Garten vorbei und hat das Geschehen beobachtet. Und mein Enkel nannte sogar noch den Namen Eures Bengels, bevor er das Bewusstsein verlor. „Mervyn Sem Silas! Das soll Euer Zeuge sein?, ereiferte sich der Vater.

    „Wieso verdächtigt Ihr unseren Sohn? Das verstehe ich nicht. Franjo ist ein guter Junge, er würde niemals …", unterbrach ihn die Mutter und versuchte, ihren Jungen zu verteidigen, doch mit einer heftigen Handbewegung stoppte der alte Mann ihren Redefluss.

    „Platz da!" Er stieß die Frau mit seinem Gehstock zur Seite, musterte die beiden verängstigten Kinder mit finsterem Blick, dann marschierte er geradewegs auf das Haus zu und riss die Türe auf.

    „Komm heraus, du elender Dieb! Und bring das Untier gleich mit!"

    Nichts rührte sich.

    Refugio schlug mit seinem Stock gegen die Holztür.

    „Raus! Sofort! Wenn ich dich erwische, ergeht es dir schlecht. Sei ein Kerl und stelle dich!"

    Der Vater hatte inzwischen den alten Mann eingeholt.

    „Es ist niemand im Haus. Franjo ist mit seinem Onkel schon den ganzen Tag im Wald, um Holz zu machen. Lasst uns jetzt weiterarbeiten. Die Zeit drängt. Es wird bald Nacht."

    Die Mutter suchte indessen mit fieberhaften Blicken das Gelände ab, konnte ihren Sohn aber nirgends mehr ausfindig machen. Franjo war längst in den nahen Wald geflüchtet, um sich zu verstecken.

    „Das werdet Ihr mir büßen!", geiferte Zaunkönig Refugio über seine Schulter hinweg, bahnte sich einen Weg zurück und kletterte in sein Gefährt.

    „Los, Brauner", herrschte er sein Pferd an und gab ihm die Peitsche.

    Franjos Eltern sahen dem Gefährt noch lange nach, bis die endlose Weite des blaugrauen Horizonts es gemächlich schluckte.

    Kapitel 2: Was ist ein Fjäl-Fräs?

    „Rike! Aufstehen! Frühstück ist fertig!" Rike streckte sich im Schlaf, trat mit dem rechten Fuß gegen die Bettdecke und kickte dabei ihren alten, zerfledderten Schlummerhasen aus dem Bett.

    „Menno!" Sie blinzelte ins Licht der Nachttischlampe, die wieder einmal die ganze Nacht hindurch gebrannt hatte und quälte sich aus dem Bett.

    Beim Frühstück hing sie ihren Gedanken nach.

    „Du bist so ruhig heute", stupste sie Papa an. 

    „Ach, ich bin nur müde."

    „Du Papa, wir sollen doch nachts, bevor wir einschlafen, das Licht ausmachen, oder?, mischte sich Nele ein. Ihre Stimme hatte diesen „Seht-ihr-wie-vernünftig-ich-bin-im-Gegensatz-zu-meiner-blöden-Schwester-Ton drauf, den Rike absolut nicht leiden konnte.

    Papa zog die Augenbrauen hoch, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Nur Mama fiel natürlich wieder einmal auf die Masche herein.

    „Das weißt du doch, Liebes. Erstens kostet es zu viel Strom und zweitens ist es nicht erholsam, wenn man bei Licht schläft."

    „Aber die Frida hat schon wieder die ganze Nacht das Licht brennen lassen!", rief Nele. Rike kniff die Augen zusammen und funkelte Nele böse an. Warum musste Nele ständig petzen? Und warum nannte Nele sie Frida? Sie wusste genau, dass Rike, die eigentlich Friderike hieß, diesen Namen verabscheute.

    „Kann mir jemand von euch sagen, was ein Fjäl-Fräs ist?", lenkte sie deshalb schnell vom Thema ab.

    „Ein Fjäl-Fräs? Mama schüttelte den Kopf. „Also Rike, was du immer wissen willst!

    Nele meckerte wie eine Ziege, was Rike mit frostigem Blick quittierte.

    Papa, der bisher ungerührt in der Zeitung las, bequemte sich nun doch, den Kopf über den Rand zu strecken. „Wenn du es schon nicht weißt, Rike, wer soll es denn dann wissen? Du schaust dir doch alle Fernsehsendungen über Tiere und Pflanzen an und liest im Lexikon von A bis Z darüber nach. Ich kann dir nur sagen, dass die deutsche Bezeichnung für den Fjäl-Fräs Vielfraß ist. Mehr weiß ich darüber leider auch nicht."

    Nach dem Frühstück fischte Rike ihr Tier-Lexikon aus einem Stapel Bücher und las:

    Der Vielfraß gehört zur Familie der Marder. Sein Äußeres ist eine Mischung zwischen Bär, Marder und Hund. Er versprüht wie das Stinktier übelriechende Düfte und verfügt über einen sehr guten Geruchssinn. Der immer hungrige Vielfraß ist ein erbarmungsloser Jäger, der Hasen, Füchse und sogar Rentiere und Elchkälber erlegt. Größere Tiere tötet er, indem er ihnen auf Bäumen sitzend auflauert und sie heimtückisch im Sprung erlegt. Außerdem nimmt er Vogelnester aus und frisst gerne süße Beeren.

    Die Beschuldigungen des Zaunkönigs konnten also stimmen. Rike fragte sich jedoch, ob Franjos Eltern es tatsächlich erlauben würden, ein gefährliches Raubtier als Haustier zu halten. Im Buch fand sie nichts darüber, dass Fjäl-Fräs auch Menschen angreifen würden, doch gerade das hatte der Zaunkönig behauptet.

    Immer wieder ging sie die Traumfetzen durch, die ihr noch im Gedächtnis waren. Alles hatte vollkommen realistisch gewirkt. Rike zückte sogar ihren Atlas, doch sie fand keinen Ort, kein Land mit dem Namen Averda.

    „Rike? Mama stand in der Tür. „Machst du Hausaufgaben?

    „Nein, noch nicht. Ich hab was nachgesehen. Aber ich fang gleich damit an."

    „Du, ich geh mal zu Oma Luise rüber. Sie hat eben angerufen. Sie fühlt sich ganz elend."

    „Oh. Was hat sie denn?"

    „Ach, eine starke Erkältung."

    „Dann wünsch ihr gute Besserung von mir. Ich besuch sie bald mal."

    Oma Luise war nicht ihre wirkliche Oma, sondern eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, aber die beste Ersatzoma, die man sich vorstellen konnte. Sie hatte früher auf Rike und Nele aufgepasst wenn Not am Mann war.

    Oma Luise fand immer Zeit für sie, hatte stets ein offenes Ohr, wusste immer einen guten Rat, kannte jede Menge Hausrezepte gegen allerlei Wehwehchen und backte die besten Kuchen und Kekse. Sie liebte Kartenspiele, spielte „Mensch ärgere Dich nicht" auch fünfmal nacheinander, ohne genervt auf die Uhr zu sehen und puzzelte mit ihnen um die Wette, zumindest dann, wenn sie ihre Brille auf der Nase hatte.

    Außerdem besaß sie die zwei drolligsten Haustiere, die es auf der ganzen Welt gab. Minka, die weiße Katze mit drei schwarzen Flecken im Fell. Das rechte Ohr war schwarz wie Kohle, die linke, vordere Pfote und die Schwanzspitze ebenso. Und Schoko, der kniehohe Labradormischling mit kakaobraunem Fell und einem hellen Fleck auf der Brust.

    Aber auch ohne die beiden Fellträger war Oma Luise die Beste.

    Kaum hatte Mama die Haustüre hinter sich zugezogen, spazierte schon Nele in Rikes Zimmer, blieb vor dem Nachttischchen stehen und blätterte im Farbenbuch.

    „Kann ich mir das hier mal ausleihen? Ich könnte es gut für Kunst gebrauchen. Da machen wir nämlich zurzeit …"

    „Nein", knurrte Rike und Nele verstummte augenblicklich.

    Kapitel 3: Das Margeritenmädchen

    Rike stand am Fenster. In dem alten, winterlich kahlen Kirschbaum im Garten konnte sie einen Raben ausmachen, der unentwegt zu ihr herübersah. Zumindest erweckte er den Anschein, genau das zu tun. Ein Rabe als Spion. Blödsinn! Sah sie nun schon am helllichten Tag Gespenster?

    Eine Stunde später, nach einem Riesenschnitzel mit Pommes Frites, lag Rike faul auf dem Sofa, doch Papa machte dem ganzen einen Strich durch die Rechnung. „Wer solch fette Fritten isst, bald mehr an Bauch und Hintern misst. Darum machen wir jetzt einen Spaziergang und der wird ziemlich lang."

    Rike verkniff sich ein Grinsen, versuchte aber trotzdem mit fadenscheinigen Ausreden ein Daheimbleiben zu erreichen. Doch Papa ließ sich nicht erweichen. Auch Mama musste mit, obwohl sie sich noch viel heftiger als Rike dagegen wehrte.

    „Halt, wartet auf mich, ich hole nur noch schnell meinen Rucksack!", rief Nele. Ohne ihren Überlebensrucksack, wie Papa ihn nannte, ging Nele nicht aus dem Haus. In ihm transportierte sie ausnahmslos lebenswichtige Sachen, wie ein altes Universal-Klapptaschenmesser, das sie von Opa hatte, einen Block und Buntstifte, eine Taschenlampe, Kekse, eine Schnur, eine Trillerpfeife, ein Fernglas, Haargummis, Taschentücher …, nun ja, eben alles, was in einen Überlebensrucksack hineingehörte.

    Der Kinderwanderweg war an diesem grauen Novembertag einsam und verlassen. Trotzdem stritten sich Rike und Nele an den Mitmach-Stationen darum, wer als Erste dran war.

    „Das nächste Mal darf aber dann ich", nörgelte Rike.

    „Seht mal, da vorne ist jemand!", rief Nele.

    „Na und."

    „Aber guckt mal wie die aussieht!"

    Eine Frau stand etwa hundert Meter von ihnen entfernt.

    „Uih, ist denn schon wieder Fasching?, lästerte Papa. Mama stieß ihn unauffällig in die Seite. „Also Klaus, bitte!

    Nun starrte auch Rike die Frau an.

    „Die sieht aber seltsam aus, oder?", nuschelte Nele.

    „Wie eine, eine …" Rike suchte nach dem richtigen Wort.

    „Wie eine Braut, die ihre eigene Hochzeit verpasst hat."

     Mama hatte recht. Die Frau passte überhaupt nicht an diesen Ort. Sie trug ein weißes Kleid, das bis zum Boden reichte und darüber einen langen, weißen Umhang. Sie wirkte mädchenhaft, unglaublich zierlich. So dünn, als wollte sie tunlichst vermeiden, einen Schatten zu werfen. Lange, hellblonde

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