Karkanischer Kreis: Ein südosteuropäisches Reisetagebuch
By Carlo Reltas
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About this ebook
Carlo Reltas lädt seine Leser ein, ihn auf seinen Fahrten und Wanderungen durch Hauptstädte und andere bedeutsame Städte Südosteuropas zu begleiten. Er teilt seine Eindrücke, seine Erlebnisse und verwebt sie mit historischem sowie politisch-sozialem Hintergrund, manchmal auch Kommentaren. Zum Schluss ruft er sogar eine neue Hauptstadt für Europa aus.
Das erzählende Sachbuch "Karkanischer Kreis" ist eine Melange aus Städteporträts, politisch-historischen Reminiszenzen und Skizzen zu besonderen Personen. Für den Autor führt der "Karkanische Kreis" nach Europa. Mit der Ausrufung einer weiteren EU-Hauptstadt ist das Buch auch ein Beitrag zur Europa-Debatte. Gleichzeitig bietet es eine Lesereise.
Der Autor war jahrzehntelang Journalist und Manager einer internationalen Nachrichtenagentur. Seit dem Ausstieg aus dem Nachrichtengeschäft lebt er am Odenwaldrand und auf Reisen.
Carlo Reltas
Carlo Reltas wurde 1950 in Rheine geboren. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und der Romanistik war der Diplom-Politologe drei Jahre als Lehrer tätig, bevor er 1976 eine journalistische Karriere begann. Reltas arbeitete als Politik- und Nachrichtenredakteur für zwei Regionalzeitungen und eine deutsche Nachrichtenagentur. Ab 1987 baute er in Bonn, später in Berlin die deutsche Filiale einer internationalen Nachrichtenagentur mit auf, ab 1990 als Geschäftsführender Redakteur. 2015 nahm er Abschied vom Nachrichtengeschäft. Reltas hat bis in die 90er Jahre systematisch alle EU-Länder und ab der Jahrtausendwende ganz Osteuropa und die Karibik bereist. Seit dem Ausstieg aus dem News-Business lebte er am Odenwald-Rand. 2017/2018 verbrachte er in Abu Dhabi. Seit 2020 wohnt er in Seoul.
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Karkanischer Kreis - Carlo Reltas
Carlo Reltas
KARKANISCHER KREIS
Ein südosteuropäisches Reisetagebuch
Der Kreis ist ein langer, gewundener Weg.
Der Weg des Karkanischen Kreises führt ins Herz Europas.
C. Reltas
Carlo Reltas
Karkanischer Kreis
-
Ein
südosteuropäisches
Reisetagebuch
CARE Verlag
Heppenheim
Z-LogoTitelbild:
Die unfertige Kathedrale des Heiligen Sava in Belgrad,
das größte Kirchengebäude in Südosteuropa (2002)
Alle Fotos (außer Autorenporträt):
C. Reltas
© Copyright by CARE of Sattler, 2017
eBook 2019
ISBN: 978-3-748542-19-3
CARE of Sattler
Bensheimer Weg 29, 64646 Heppenheim
carlo.reltas@outlook.de
Vertrieb:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Inhalt
Cover
Wahlspruch
Titel
Impressum
DIE GROSSE ERSTE RUNDE (September 2002)
Besuch bei Damen und der Tochter
Oleg – Cicerone von Černivci
Zwanzig Stunden bis Odessa
Die Schöne an der See und die Schönen
Blauer Montag am Schwarzen Meer
In der Holzklasse nach Moldawien
Chişinǎu: Wohlleben in einem armen Land
Im Schneckentempo nach Rumänien
Bukarest – verwundet und wunderlich
Im Bosporus-Express
Am Goldenen Horn
Kultur-Mix – ein bulgarisches Intermezzo
Thessalonikisches Tagebuch eines Alien
Die Schatten von Skopje
Serbien am Scheideweg
Zagreb – zwischen k. u. k. und EU
Fahrt entlang der grünen Save
Ljubljana – Idyll und Ideale unter der Burg
DIE KLEINE ZWEITE RUNDE (August 2015)
Goldene Stadt am Dnjepr
Erstaunliches und eigenartiges Minsk
Altes Ragusa, junges Dubrovnik
Kriegsopfer Mostar und Sarajevo
Priština – Europas neueste Hauptstadt
Die Riesen von Skopje
Tirana – Hauptstadt der Shkipetaren
Ernste Lage im früheren „Operettenstaat"
DANACH
Černobyl, Mežyhirja, Babyn Jar (2016)
SCHLUSSSTEIN
Ein Nachwort aus Prag (2016)
Karten
Über den Autor
Vom selben Autor
DIE GROSSE ERSTE RUNDE
(September 2002)
Dank an
Oleg, Jean-François, Sandra & Tim, Pierre-Michel, Jérôme und Vessela
Besuch bei Damen und der Tochter
„Dzien dobry, Polska! Wie auf dem Nordostkurs rund um die Ostsee, zu dem Karl vier Jahre zuvor aufgebrochen war, so führt auch sein Weg nach Südosten auf dem Karkanischen Kreis entlang der Karpaten und über die Balkan-Halbinsel zunächst nach Polen. Verschlafen war er dem Berliner Nachtzug nach Krakau entstiegen. Am Bahnhof wartet schon der Obwarzanki-Verkäufer mit seinen frisch gebackenen Sesam- und Mohnkringeln. Diesen Kringeln wird Karl auf seiner Reise noch öfters begegnen, Obwarzanki hier, ähnliche Namen an den Stationen der Reise bis hin nach Istanbul, wo ein verwandtes und gleichermaßen beliebtes Gebäck Simit heißt. Die Kringel duften warm. Er nimmt gleich zwei davon. „Dzien dobry, Polska! Guten Morgen, Polen!
Die alte Königsstadt Krakau ist noch feucht vom morgendlichen Sommerregen. Karl und seine Berliner Freundin wandern am begrünten Stadtring entlang, der nur wenige hundert Meter südlich des Bahnhofs beginnt. Nora begleitet ihn auf seiner Südosteuropatour bis in die alte polnische Königsstadt und wird am folgenden Tag von dieser ersten Station des karkanischen Kreises in die deutsche Hauptstadt zurückkehren. Ihr gemeinsames Ziel ist das Gästehaus der Jagiellonen-Universität. Wer hat dort nicht alles studiert, der unvergleichliche Seher Stanislaw Lem zum Beispiel, der weltberühmteste Science-Fiction-Autor, der sich selber lieber mit feiner Ironie einen „heimwerkelnden Philosophen" der Moderne nannte. Oder Wislawa Szymborska, die Szymborska, die große alte Dame der polnischen Poesie und Literaturnobelpreisträgerin von 1996. In den Tagen seines Besuchs zusammen mit Nora leben beide noch in der Stadt, wo nach wie vor das Herz der polnischen Literatur schlagen soll. So war es nur logisch, dass die Europäische Union just im Milleniumsjahr 2000 auch Krakau zur Kulturhaupstadt Europas erkoren hat. Angetroffen aber haben die beiden die beiden nicht, nicht im Uni-Gästehaus und auch nicht im Garten des Literaturhauses, wo sie angeblich ein- und ausgingen.
In der Floriansgasse, über die einst auch die polnischen Herrscher Einzug in die Stadt an der Weichsel hielten, steigen sie in die zweite Etage ihrer Wissenschaftlerherberge und schauen aus den breiten Fenstern auf diese Fußgängerstraße, unten Geschäfte aller Art und der auch in Osteuropa allgegenwärtig gewordene McDonald‘s. Zur Rechten fällt der Blick nochmals auf den mächtigen Barbakan, die wuchtige Bastei mit meterdicken Ziegelmauern, die die spätmittelalterlichen Stadtherren zum Schutz ihrer Reichtümer außen vor das Florianstor gesetzt haben. Zur Linken mündet die Florianska in den Hauptmarkt, wo das steht, was es zu beschützen galt, die Reichtümer der Stadt, nicht zuletzt versammelt in den Tuchhallen, dem prächtigen, langgestreckten Gebäude inmitten dieses Haupthandelsplatzes.
Nachdem die beiden Berliner die Unibetten ausprobiert und sich auch sonst gut erholt haben, wollen sie unbedingt einer anderen Dame ihre Reverenz erweisen oder – genau genommen – sie schauen und bewundern: die Dame mit dem Hermelin, ein Meisterwerk Leonardo da Vincis, das 1800 vom Fürsten Adam Jerzy Czatoryski erworben wurde und nun normaler Weise im Czatoryski-Museum zu sehen ist. Aber ach, just bei ihrem Besuch befindet sich Cecilia Gallerani mal wieder auf Reisen. Doch Karl wird die schöne Geliebte des Mailänder Fürsten Ludovico Sforza einige Jahre später doch noch zu Gesicht bekommen. Die junge Italienerin mit dem verträumten Blick zur Seite und dem eigenartigen Streicheltier auf dem Arm kommt als eines der „Gesichter der Renaissance" 2011 nach Berlin. Von dieser Ausstellung im Bode-Museum bringt er ein Plakat mit heim und hängt es zu Hause auf, so dass er sich am Anblick der in Krakau mit großem Bedauern vermissten Schönen seitdem täglich ergötzen kann.
Im Viertel nahe dem Czatoryski-Museum lockt so manches Café zur Einkehr. Mit Jolanda, Karls Tochter, die ab Herbst 2005 als Erasmus-Studentin fast ein Jahr in Krakau verbringt, kehrt er dort gerne ein. In einer romantischen Stube mit alten Nähmaschinen und anderem Zierrat von anno dunnemals schlürfen sie heiße Schokoladen. Noch nostalgischer wirkt das Ambiente im „Es war einmal in Kazimierz" (Dawno temu na Kazimierzu). Das Restaurant im alten Judenviertel Kazimierz mit diesem elegischen Namen nimmt den Besucher mit auf eine Zeitreise. An der Längsseite des Hauses zur Straße scheinen sich Zugänge zu fünf verschiedenen Lädchen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu befinden. Betritt man das Haus von der zum Szeroka-Platz mündenden Schmalseite taucht man jedoch in ein Speiselokal aus einer vergangenen Welt ein. Auch hier die unvermeidliche Singer-Nähmaschine, ein reich verzierter eiserner Ofen, alte Holztische, siebenarmige Leuchter, in den Regalen Werkzeug traditionellen Handwerks – der ganze Raum gibt Zeugnis von Krakaus jüdischer Kultur vor dem Holocaust. Karl und seine Tochter lassen sich dort eine Kartoffelsuppe munden, die wunderbar schmeckt, jedoch so stark mit Knoblauch gewürzt ist, dass sie ärgste Befürchtungen für den Rest des Abends hegen. Aber Jolandas Studienkollegen und Freunde lassen sich nichts anmerken, als Tochter und Vater nach ihrem nostalgischen Abendmahl zum Konzert im jüdischen Kulturzentrum eintreffen.
Die berühmteste Klezmer-Band Krakaus mit Namen Kroké, was nichts anderes als das jiddische Wort für Krakau ist, spielt endlich mal wieder in ihrer Heimatstadt. Mit Viola, Flöte, Akkordeon, Bass und Schlagzeug ist die Besetzung etwas anders als die einer traditionellen Klezmer-Combo. Vor allem scheuen Tomasz Kukurba und seine Mitstreiter bei der Modernisierung des Klezmer nicht die elektronische Verstärkung bis hin zur Verzerrung. Klezmer ist ja sowieso schon sehr dynamisch. Aber Krokés Temperament und Musik wird manchmal geradezu wild, geht zurück zum Zarten und beschleunigt erneut – und das alles mit atemberaubender Virtuosität in mal rasantem, mal getragenem Spiel. Ist das noch Klezmer? Ist das nun Jazz? Es ist KROKÉ! Das junge Publikum im neu verglasten Foyer des Kulturzentrums ist hingerissen vor Begeisterung.
Nach dem Konzert verziehen sich die Musikenthusiasten in die Kneipen rund um den Neuen Platz mit seinem Marktrundbau in der Mitte. Als Karl sieben Monate später zusammen mit seinem Sohn Fabian erneut nach Krakau reist, um Jolanda nach dem Erasmus-Jahr mitsamt ihrem neu erworbenen polnischen Hausstand nach Berlin zurück zu verfrachten, da geht es wieder zur Kneipenszene am plac Nowy. Es ist WM-Zeit. In den Hinterräumen oder im Obergeschoss der Schankstätten flimmern die Großbildschirme. Deutschland gegen Argentinien, Italien gegen Ukraine – die Emotionen unter den Erasmus-Studenten aus allen möglichen Ländern Europas und ihren polnischen Gastgebern wogen hoch. Fußballkonflikte sind die Schönsten, denn nach Frust oder Freude, nach Sieg oder Niederlage sind Versöhnung und Frieden beim Bier danach schnell wiederhergestellt.
Doch zurück zur Karkanien-Tour: Das Kazimierz mit seinen Synagogen, dem jüdischen Friedhof und den sonnigen Straßencafés am Szeroka-Platz gehören natürlich auch zum Programm von Nora und Karl. Auch dem Touristenstrom zur Königsburg Wawel schließen sie sich an. Oberhalb der Weichsel am Südrand des Stadtrings gelegen, hat man von dort einen schönen Blick über die Flusslandschaft und auf die Industrievorstädte. In der ehemaligen Emaillewaren-Fabrik Oskar Schindlers ist dort inzwischen ein staatliches Geschichtsmuseum entstanden, das die Zeit der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 zum Thema hat und natürlich auch das Schicksal der Juden im Krakauer Ghetto.
Das Innere der Burg entfaltet monarchische Pracht, in der Kathedrale mit ihren berühmten Toten wie auch im eigentlichen Schloss mit seinen vielen Prunksälen. In Erinnerung bleibt Karl der Audienzsaal, mit dem die polnischen Herrscher schon vor Jahrhunderten die Gesandten fremder Länder zu beeindrucken vermochten, nicht wegen der Gobelins, nicht wegen der Kassettendecke mit den holzgeschnittenen Charakterköpfen, sondern weil hier historisches Ambiente mit Leben erfüllt wird. Ein Streicherquartett spielt auf, in historischen Gewändern zwar, aber voller Leben und mit dem Schwung der Jugend und der Anmut der polnischen Violonistin, die als Burgfräulein verkleidet mit ihrem hingebungsvollen Spiel an die verträumte Dame mit dem Hermelin denken lässt.
01 Krakau-08Marien-Basilika am Hauptmarkt
Am Abend kehren Nora und Karl am Hauptmarkt in eines der renommiertesten Restaurants am Platze ein, das Restauracja Wierzynek. 1364 steht über dem Eingang. Die Ursprünge des Gourmet-Tempels sollen bis auf ein gigantisches Festmahl auf dem Krakauer Hauptmarkt zurückgehen, das König Kasimir der Große im Jahr zuvor anlässlich der Hochzeit seiner Enkelin Elisabeth mit Kaiser Karl IV. gegeben hat. Auf Knedliki, Knödel zu Hirschbraten, eine Spezialität tschechischen Ursprungs, fällt die Wahl der Besucher aus Berlin. Zusammen mit einem schweren ungarischen Rotwein lassen sich Nora und Karl dieses traditionelle Abendmahl in gediegenem Ambiente im ersten Obergeschoss schmecken. Brokatvorhänge, geschnörkelte Stühle, blütenweiße Servietten und schweres Besteck geben dem Dinner ein quasi-bourgeoises Gepräge. Oder doch gar ein Königlich-Kaiserliches? Wie auch immer, die lange Stadtwanderung und das köstliche Mahl bescheren ihnen einen tiefen Schlaf im Uni-Gästehaus.
Der Morgen in Krakau beginnt für Karl an jenem Tag mit einer Laufrunde auf dem grünen Parkring, der anstelle des Stadtwalls heute die Altstadt umschließt. Der Lauf bietet Gelegenheit zum Abschiednehmen, vom Barbakan, vom Schloss, vom Slowacki-Theater und von diversen Kirchtürmen entlang der Strecke. Noch einmal geduscht, noch einmal gepackt – und schon stehen sie nach eineinhalb Tagen wieder auf dem Bahnsteig. Nora bleibt noch ein wenig, bevor sie am Nachmittag nach Berlin zurückreist, Karl besteigt den D-Zug zur polnischen Ostgrenze nach Przemysl, wo er in den Nachtzug nach Černivci in der ukrainischen Bukowina wechseln will. Die Eisenbahn fährt über die Weichsel. Auf der südlichen Flussseite begrenzte das Bahngelände das jüdische Ghetto nach Osten. Bald nachdem das Industriegelände mit der ehemaligen Emaillewarenfabrik passiert ist, die für viele Juden zur Arbeits- und Zufluchtsstätte vor den Schergen des NS-Regimes wurde, knickt die Bahn nach Osten ab. In Richtung Tarnow, Reszow, Przemysl und Ukraine verläuft sie zunächst entlang der Autobahn.
Während zur Rechten die Autos brausen, sind weit im Norden jenseits der Weichsel die Türme der Stahlwerke von Nowa Huta zu erkennen. An einem Sonntag sind Karl und seine Tochter Jolanda dorthin mit der Straßenbahn gefahren, bis vor das Tor des Kombinats mit seinem imposanten Verwaltungsgebäude im Stil der Stalin-Ära. Hinein auf das riesige Werksgelände, das sich inzwischen in den Händen des weltweit größten Stahlkonzerns ArcelorMittal befindet, konnten sie nicht. Die Schranke ist nur für Werksangehörige zu passieren. Wohl aber pilgern sie anschließend über eine Ringstraße der 1949 speziell für die Arbeiterschaft des Eisenhüttenkombinats gegründeten sozialistischen Musterstadt. Ihr Ziel? Eine Kirche mit einer besonderen Geschichte! Die Wohnungsblöcke, die sie auf dem Weg dorthin passieren, haben grüne Vorgärten mit nun schon Jahrzehnte alten Bäumen. Das grüne Ambiente lässt erahnen, dass hier ein „Arbeiterparadies" geplant war. Erkennbar ist diese Neue Heimat in die Jahre gekommen und bedarf sie der Renovierung. Gleichwohl lässt sich nachvollziehen, dass in dieser neuen Wohnstadt für das nahe, aber doch durch einen Parkgürtel auf Abstand gehaltene Werk eine eigene Identität der Bewohnerschaft entstanden ist.
Nowa Huta ist zwar ein Stadtteil von Krakau, aber es ist verständlich, wenn mancher Einwohner der „Neuen Hütte nur ein- bis zweimal im Jahr ins Zentrum der Königsstadt fährt. Man hat ein eigenes Zentrum mit einem Zentralplatz, der inzwischen bemerkenswerter Weise nach Ronald Reagan benannt ist. Man hat Sportanlagen, Kinos und man hat Kirchen. Die allerdings mussten sich die frommen Arbeiter mit jahrelangem Drängen erst erstreiten. Die „Kirche der Mutter Gottes, der Königin von Polen
hat eine elliptische Form, die in dem abgeschrägten Flachdach optisch besonders nachdrücklich zur Geltung kommt. Das in den 60er Jahren konzipierte Bauwerk hat eine große Glasfront nach Nordwesten und ein elegant geschwungenes Betonkleid. Überragt wird die „Arche des Herrn", wie das Gebäude in Anspielung auf seine äußere Form auch genannt wird, von einem 70 Meter hohen stählernen Kreuz. Unter einem hölzernen Kreuz hatte der damalige Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla, bereits in den frühen 60er Jahren am selben Platz Messen im Freien abgehalten.
Als sich Jolanda und Karl am Ziel ihrer Stadtwanderung diesem modernen Kirchenbau nähern, dessen Architekt Wojciech Pierzyk sich ganz offenbar von Le Corbusiers berühmter Kapelle Notre Dame du Haut de Ronchamp beeinflussen ließ, hören sie aus dem Inneren Gesang. Sie treten an die Glasfront und lugen in den Sakralbau. Es ist Sonntagvormittag. Eine Messe wird gefeiert. Behutsam öffnen sie eine der Portaltüren. Das 1977, also noch in der sozialistischen Ära eingeweihte Gotteshaus ist voll besetzt. Die Gläubigen singen andächtig und doch mit Inbrunst. Diskret ziehen sich die beiden Nichtkatholiken zurück. Aber auch von außen ist dieser Bau für Polens Erste Dame, die Mutter Gottes, die auch am Revers von Solidarnocs-Führer Lech Wałesa nie fehlte, höchst staunenswert.
Die Fahrt nach Nowa Huta hat sich also gelohnt. Auf dem Rückweg vom Haus der Königin in die Stadt der Könige begegnet den beiden ein ehemaliger Mitstreiter Wałesas. Vom Plakat der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) lächelt Lech Kaczynski. Der konservative Politiker hat gerade Ende Oktober 2005 die Wahl zum Staatspräsidenten gewonnen und sich dabei nicht zuletzt auf das katholische Lager gestützt. Zwei Monate zuvor hatte die PiS mit dem Slogan „Polska solidarna vs Polska liberalna (Solidarisches Polen gegen liberales Polen) auch die Regierungsmehrheit errungen. Ein weiteres Plakat, das die beiden Deutschen durchs Fenster der Tram erblicken, klingt fast wie ein Kommentar darauf: „Nie dla idiotów.
Aber das ist nur die polonisierte Version des europaweiten Media-Markt-Slogans „Ich bin doch nicht blöd". Hier im wild wuchernden Gewerbegebiet zwischen Nowa Huta und dem historischen Krakau hat sich natürlich auch der deutsche Handelsriese breit gemacht.
Mit der Straßenbahn sind Jolanda und Karl wieder nach Krakau zurückgekehrt. Mit der Eisenbahn verlässt er es nun auf dem Weg nach Osten mit Nowa Huta am nördlichen Horizont. Mit im Abteil sitzen zwei polnische Damen und ihre Töchter. Neugierig befragen sie den ausländischen Mitreisenden. Die älteren Damen sprechen ein wenig Deutsch, ihre Töchter Englisch. Stolz sind sie auf ihr prächtiges Krakau und erfreuen sich an Karls Lob und Komplimenten für ihre Metropole. Als er vom Abendmahl des Vorabends berichtet, stöhnen sie: „Ja, das Restauracja Wierzynek, einfach großartig! Was er denn verspeist habe? „Knedliki!
Sie verdrehen die Augen – vor Verzückung.
Oleg – Cicerone von Černivci
Oleg steht an der Bahnsteigkante, ein großer, dunkelblonder Mann von etwa dreißig Jahren, eher Ende zwanzig. Karl ist er sofort aufgefallen. Denn die meisten anderen Wartenden schnattern miteinander, Marktfrauen mit riesengroßen Plastikreisetaschen von geringem Eigengewicht, prall gefüllt mit westlich-modischer Billigware aus den Supermärkten und Kaufhäusern Polens, die sie Gewinn bringend auf den fliegenden Märkten ihrer ukrainischen Heimat weiter zu verkaufen gedenken. Er dagegen geht in Gedanken verloren auf dem Perron von Przemysl auf und ab.
In dieser polnischen Grenzstadt war Karl nolens, volens dem Zug entstiegen. Spurwechsel! Die Transitreisenden müssen über drei durchgehende Bahnkörper hinübergehen zu einer Gleisanlage, die dort beginnt. Da gehen die Züge nach Osten in die Ukraine ab. Doch zwischen Ankunft und Weiterfahrt war ihm eine knappe Stunde Zeit geblieben, um der immer noch habsburgisch geprägten Altstadt dieser ehemals größten Garnisonsstadt Galiziens einen Kurzbesuch abzustatten. Über Kopfsteinpflaster und an barocken Gebäuden vorbei geht er die Franziskanerstraße hinunter. Er passiert die gleichnamige Kirche und schreitet über den Rynek, den Marktplatz mit seinen Patrizierhäusern, die von der reichen Vergangenheit Przemysls als Handelsplatz zwischen Krakau und Kiew, zwischen Schwarzem Meer und Ostsee zeugen.
Er blickt hoch zur katholischen Kathedrale und zur Burg aus dem 17. Jahrhundert. Aber ihm bleibt gerade noch die Zeit, hinunter zu spazieren zum Fluss San, wo im Zweiten Weltkrieg gemäß dem Molotow-Ribbentrop-Abkommen die Demarkationslinie zwischen Russen und Deutschen verlief. Karl bleibt auf der östlichen, der Altstadtseite, ersteigt wieder die Höhe, überquert am Altstadtrand die vielbefahrene Hauptstraße nach Lemberg, um wieder zum Bahnhof zu gelangen, wo sein Zug – ebenfalls mit dem Ziel Lemberg (ukrainisch: Lviv) – auf ihn warten sollte.
Bevor er den Bahnsteig Richtung Ukraine betreten kann, gilt es, schon die erste Kontrolle vor dem Eintritt in das Nachbarland über sich ergehen zu lassen. Gültiges Ticket, gültige Identitätspapiere? Ohne diese Überprüfung wird man nicht auf diesen Teil des Bahnhofs gelassen, der durch einen hohen Gitterzaun vom Teil für die polnischen Inlandszüge abgetrennt ist. Karl hat zwar ein Ticket von Krakau bis Czernowitz oder besser Černovcy, wie es auf Polnisch und Russisch heißt, oder noch besser Černivci, wie der ukrainische Name lautet, aber eine Platzkarte nur für die Strecke bis zur Grenze. Für den innerukrainischen Nachtzug fehlt ihm noch das Schlafwagen-Supplement. Was tun? Die vollbepackten Händlerinnen sehen nicht gerade so aus, als ob sie ihm Auskunft auf Englisch geben könnten.
Also fragt er den jungen Mann an der Bahnsteigkante. Es stellt sich heraus, dass Oleg, wie er sich mit Namen vorstellt, sogar ein wenig Deutsch beherrscht. Karl solle sich keine Sorgen machen. An der Grenzstation Mostyska würden die ukrainischen Schaffner an Bord kommen, die die entsprechenden Aufschläge verkaufen. „Wohin fahren Sie denn? fragt der junge Akademiker. Oleg ist nämlich Lektor für Ukrainisch an der Universität von Warschau. „Černivci? Das trifft sich gut! Da will ich auch hin.
Karl und Oleg unterhalten sich angeregt über Gott und die Welt. Nach knapp drei Stunden tauchen tatsächlich die Kondukteure auf. Ganz perfekter Gastgeber, bezahlt Oleg Karls Zuschlag für den Schlafplatz bis Černivci in ukrainischer Währung. Karl hat noch keine Griwna in der Tasche. „Das kannst du mir ja morgen zurückzahlen", bemerkt der junge Lektor. Natürlich freut sich Karl über diesen freundlichen und eloquenten Reisegefährten. Die weiteren eineinhalb Stunden Fahrt bis Lemberg vergehen wie im Flug. Dort richten sie in ihrem Kurswagen nach Černivci die Betten her. Ankunftszeit an ihrem Zielort ist in aller Herrgottsfrühe, um vier Uhr zwanzig genau. Deshalb wird es Zeit, sich in die Horizontale zu begeben.
Vorher will Oleg aber noch Eines klären. Dass Karl um halb fünf Uhr morgens einige Stunden im Wartesaal verbringen will, bevor er sich bei einem Rundgang die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt der Bukowina anschaut und am Nachmittag in den Zug nach Odessa am Schwarzen Meer steigt, hält er für keine gute Idee. Er solle ihn doch nach Hause begleiten. Dort könne man sich ein paar Stündchen ausruhen. Danach könne er ihm gerne seine Heimatstadt zeigen. Karl hat schon auf seiner Ostsee-Umrundung die geradezu bedingungslose osteuropäische Gastfreundschaft kennen gelernt und bei den Diskussionen mit Oleg auf der bereits stundenlangen Fahrt auch seinen neuen Freund schätzen gelernt. So hat er keine Bedenken, dankend zuzusagen. Er legt sich zur Seite. Noch eine Weile hört er das Rattern der Räder und das Flüstern in den anderen Schlafkojen. Dann ist er eingeschlummert.
Noch ziemlich verschlafen steigen Oleg und Karl um Viertel nach Vier von ihren Pritschen. „Mann, mir kommt’s so vor, als sei ich gerade erst eingeschlafen, stöhnt Karl. „Du kannst froh sein, dass du jetzt nicht bis zum Morgengrauen in der Bahnhofshalle ausharren musst, bevor du mit deiner Besichtigungstour beginnen kannst
, meint Oleg. Recht hat er. Pünktlich um 4 Uhr 20 fährt der Nachtzug in Černivci ein. Schnell durchschreiten sie einen leeren Kuppelraum, die Haupthalle des unten im Tal des Flusses Pruth gelegenen Bahnhofs. Vor dem weißen, klassizistischen Gebäude verstauen sie ihr Gepäck in einem Taxi. Und schon geht die Fahrt über das Kopfsteinpflaster der Gagarin-Straße, die zunächst am Bahngelände entlang führt und sich dann in einer Rechtskurve den Hügel hinauf zum Stadtzentrum schwingt. Nur der Oberleitungsbus kommt ihnen auf der Steigung entgegen. Links und rechts stehen zwei- bis viergeschossige Bauten, die alle noch aus vorkommunistischer Zeit stammen könnten.
Oben im Zentrum geht die Gagarin- in die Golowna-Straße über, die sich über den ganzen Hügelrücken bis in den Süden der Stadt zieht. Eine schöne Kirche taucht zur Rechten auf, dann eine Zweite. „Das ist meine Kirche, weist Oleg mit dem Finger aus dem Taxi. „Die römisch-katholische Heiligkreuz-Kirche. Sie ist schon fast 200 Jahre
, bemerkt er stolz. Klar, die polnischstämmigen Ukrainer suchen natürlich die papsttreue Kirche auf. „Wir feiern an diesem Wochenende das große Gemeindefest. Wir schlafen uns erst aus. Aber heute Nachmittag gehe ich mit dir dorthin."
Das Taxi rattert weiter über das regennasse Pflaster. Nach ein paar hundert Metern fahren sie längs über den Zentralplatz mit dem zu österreichisch-ungarischen Zeiten errichteten Rathaus auf der Hügelkuppe. Der noch müde Karl nimmt kurz den Rathausturm wahr, nickt kurz ein, bis ihn Oleg im weiteren Verlauf der Golowna-, also Hauptstraße auf das nächste Gotteshaus zur Linken aufmerksam macht, die rosafarbene rumänisch-orthodoxe Kathedrale. „Und dahinter – kannst du jetzt nicht sehen – würdest du die armenische Kirche entdecken, weiß sein Stadtführer. So „erfährt
Karl bereits im Morgengrauen im doppelten Sinne das Multikulturelle der Bukowina-Hauptstadt.
Durch ein grünes Spalier von Straßenbäumen auf den Bürgersteigen, weiter vorbei an Altbauten und über Kopfsteinplaster braust der schweigsame Chauffeur. Nachdem der Zentralpark zur Rechten hinter ihnen liegt, erreichen sie schließlich die Ringstraße im Süden, den Nesaležnosti-Prospekt, die Unabhängigkeitsallee. Hier stehen links und rechts fünfstöckige Wohnblöcke aus den 60er Jahren. Der damalige sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow hatte im Rahmen seiner Wirtschaftsreformen auch den Wohnungsbau forciert, für damalige Verhältnisse hochmoderne Bauten. Endlich wurde nicht nur in den Aufbau von Schwerindustrie und Militär investiert, sondern auch in ein besseres Leben für die Bevölkerung. Hier war auch Olegs Familie eingezogen.
Die Blöcke stehen mit der Schmalseite im rechten Winkel zum breit angelegten, ebenfalls von Baumreihen flankierten Prospekt. Karl folgt Oleg zu einem der Eingänge. Gleich im Erdgeschoss steckt er seinen Schlüssel in eine der Wohnungstüren. Als sie in den Flur treten, kommt ihnen im kurzen T-Shirt barfuß eine junge Frau in Slip entgegen. Sie hat ihren Bruder erwartet, reibt sich die schläfrigen Augen und schaut verwundert aus der Wäsche, als sie sieht, dass Oleg nicht allein ist. Der Bruder stellt den deutschen Gast seiner jüngeren Schwester vor, erklärt, dass sie beide noch todmüde seien, und bereitet auf die Schnelle im Wohnzimmer ein Morgenlager für Karl. Die vielen Kissen mit Häkelüberzügen werden zur Seite gelegt und Bettzeug zurecht gerückt. Dann wünschen sie sich zum zweiten Mal in dieser Nacht einen guten Schlaf.
Als sich Karl um halb Neun aus dem Bettzeug herausschält, hört er Geräusche aus der Küche. Oleg war bereits einkaufen und bereitet das Frühstück. Seine Schwester Marija ist schon fort, zur Arbeit in einem Büro. Sie ist die einzige der Familie, die permanent in ihrer Heimatstadt Černivci lebt. Die Mutter schafft als Krankenschwester in Rom. „In Italien? fragt Karl verwundert. „Ja, so ist es. Und mein Vater arbeitet als Ingenieur in einem Stahlwerk in Donezk in der Ostukraine. Ich selber bin, wie du weißt, als Lektor in Warschau tätig. So ist die Familie in alle vier Himmelsrichtungen verteilt
, erläutert Oleg mit einem leicht gequälten Lächeln.
Der schmale Küchenraum bietet doch Platz für ein Tischchen, an dem die beiden sich niederlassen. Es gibt die typischen Elemente des ukrainischen Frühstücks: Weißer Frischkäse sowie frische Gurken und Tomaten, dazu Graubrot und natürlich etwas Fleischwurst.
Gestärkt von dieser Brotzeit machen sich die beiden auf den Weg. Bei der Sberbank-Filiale an der Ecke Golowna/ Nesaležnostiti-Prospekt spendet der Automat dieser größten russischen Bank tatsächlich die Landeswährung Griwna, so wie es Oleg dem ungläubigen EC-Kartenhalter Karl versprochen hat. So für alle Eventualitäten ausgestattet, ziehen sie durch Nikitas 60er Jahre-Wohnblocksiedlung in Richtung Innenstadt. Sie wählen den Weg über die parallel zur Golowna verlaufende Fedkovyča, seit Generationen eine der bevorzugten Wohnstraßen – erst von Czernowitz und später von Černivci. Hier haben die diversen Machthaber der Bukowina ihre Spuren hinterlassen.
Die Rumänen, die 1918 die Bukowina besetzt hatten und als Gewinnler des 1. Weltkriegs im Friedensvertrag von Saint-Germain auch zugesprochen bekommen hatten, haben hier einige prächtige Wohnhäuser errichtet. Das grüne Haus in der Nr. 54 gibt ein eindrucksvolles Beispiel für den rumänischen Stil. Seinen Mittelteil mit von Balustraden geschmückten Balkons flankieren zwei Erkertürme mit spitz zulaufenden, rot gedeckten Haubendächern. Kein Wunder, dass hier nach der Besetzung durch sowjetische Truppen Offiziere der Roten Armee residierten. Andere Villenfassaden (zum Beispiel in der Nummer 24) zieren sogar Reliefs von Wappen. „Sind das die Zeichen österreichischer oder ungarischer Adelsfamilien? fragt Karl. Oleg ist überfragt. „Gut möglich.
Schöne Fassaden aus der kaiserlichen und königlichen oder auch k.u. k. Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zieren auch die zur Stadtmitte hin ansteigende „Straße der Roten Armee (Červonoarmiijs’ka), auf die die beiden Stadtwanderer von der Fedkovyča wechseln. Die Apteka, also Apotheke in der Nr. 28 ist ein prächtiges Beispiel dafür. Die Rotarmee-Straße überquert den größten Platz der Stadt, den Soborna-Plošča. Früher hieß er einmal Austria-Platz. Im angrenzenden Park stand zu jener Zeit eine Büste von Kaiserin Elisabeth. Statt „Sissi
beherrscht immer noch ein Sowjetsoldat die Szenerie. Die Skulptur steht mit wehendem Mantel, ein Gewehr in der Rechten, mit der Linken die aufgepflanzte Standartenfahne haltend, vor einem polierten braunen, hohen Obelisken und feiert den Sieg im 2. Weltkrieg. Indes, die Spuren der Roten Armee beginnen zu verwischen. Nach den dramatischen Ereignissen vom Februar 2014 in der Hauptstadt Kiew wird die Červonoarmiijs’ka in „Straße der Helden des Majdan" umbenannt.
Blick vom Zentralplatz in Herrengasse
Doch davon wissen Oleg und Karl noch nichts. Sie kommen endlich am Zentralplatz mit dem Rathaus an. Der blaue Anstrich des 1843 errichteten Gebäudes kommt an diesem regennassen Tag vor dem Grau des Himmels nur schwach zur Geltung. Doch mit seinem dreistufigen Turm mitten über dem Portal beherrscht das Haus der Stadtregierung von der Stirnseite den langgestreckten Platz. In seiner Südostecke zweigt eine Fußgängerzone ab, auf die Oleg voller Stolz hinweist. „Das ist die Herrengasse. Sie war schon zur Zeit von Kaiser Franz-Joseph der Ort, wo man einkaufen und spazieren ging. Spazieren, sagt man das? fragt er. „Durchaus
, meint Karl. „In einem solch prächtigen städtischen Ambiente könnte man das sogar flanieren nennen." Das große hochherrschaftliche Haus mit Turm an der Ecke zum Ringplatz, wie der zentrale Platz unter österreichischer Herrschaft hieß, ziert heute noch eine elegante Fassade. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass im dortigen Café vor dem Ersten Weltkrieg das deutsch-jüdische Bürgertum und die vielen Literaten der mehrsprachigen Bukowina-Metropole ein- und ausgingen.
Heute ist dort eine Bank untergebracht, ebenso wie gegenüber im eleganten Gebäude des Hotel-Restaurants „Belle Vue mit seinem charakteristischen, langgestreckten Balkon über die gesamte erste Etage. Darunter im Erdgeschoss residiert nun die russische Sberbank. Trotz aller kyrillischen Schriftzeichen rundum fühlt Karl sich in eine vergangene „österreichische
Zeit versetzt. Die Architektur spiegelt immer noch die Aura des Fin de Siècle.
Die Herrengasse trägt längst nicht mehr ihren deutschen Namen. Nach der ukrainischen Nationaldichterin Olga Kobyljanska ist sie heute benannt, genauso wie das Stadttheater, das 1905 als Schiller-Theater eingeweiht worden war. Nach fünf Minuten Fußweg sind Oleg und Karl dort angelangt. Den Theatervorplatz schmückt eine Parkanlage mit Bänken und Blumenrabatten. Unmittelbar vor dem Portal sitzt sie auf einem Sockel, die Verfechterin des ukrainischen Nationalgedankens. Bei der Einweihung des Kunsttempels saß dort ein Bruder im Geiste, der freiheitsliebende Friedrich Schiller. „Hey Oleg, das muss ich fotografieren", ruft Karl. Und so posiert der