Versunken und Vergessen
By Paula Hering
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Versunken und Vergessen - Paula Hering
VERSUNKEN UND VERGESSEN
Paula Hering
Das Ende der Kindheit markieren erste Zweifel an eine
ausgleichende Gerechtigkeit.
An einem heißen Sommertag fuhr ich zum ersten Mal mit meinem neuen Fahrrad zur Schule. Es war ein weißes Hollandrad und ich war sehr stolz darauf. Mein Heimweg führte mich durch die Bahnhofsstraße, vorbei an Geschäften und Restaurants. Vor einem türkischen Gemüseladen goss eine alte Frau umständlich Wasser auf den Gehweg und als ich daran vorbeifuhr, stieg die Feuchtigkeit auf und hüllte mich für einen kostbaren Moment in Erdbeerduft.
Unter dem Kirschlorbeer neben der Haustür lag meine Katze Marta. Normalerweise kam sie mir schon entgegengelaufen, wenn ich von der Schule nach Hause kam, aber an diesem Tag war sie zu schläfrig, um ihren Schattenplatz aufzugeben. Ich hätte mich hingehockt, um sie anzulocken, aber als ich vom Fahrrad abstieg, stürzte die Hitze auf mich herab, als hätte sie während der Fahrt wie ein Falke über mir gestanden.
Im Haus war es angenehm kühl. Ich streckte mich auf meinem Bett aus und fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem ich gelegentlich auftauchte, Umgebungsgeräusche wahrnahm, um dann nur noch tiefer zu versinken. Als ich aufwachte, hatte ich fast drei Stunden geschlafen und fühlte mich wie gerädert. Im Zimmer war es heiß und stickig und meine Kleidung klebte an mir. Um mich abzukühlen, fuhr ich zum Kummersee. Draußen war es noch immer sehr heiß. Die Luft flimmerte über dem Asphalt und an manchen Stellen schmolz der Teer und zerfiel in klebrige Brocken. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Am Waldrand musste ich absteigen, um mein Rad an einem Schlagbaum vorbeizuschieben, da verschlug mir die Hitze beinahe den Atem.
Doch dann nahm der Wald mich auf und ich betrat, wie durch einen unsichtbaren Schleier, eine gedämpfte Welt. Das dichte Blattwerk verwehrte der Sonne den Zutritt, kein Laut drang von außen hinein. Felder und Wiesen waren ausgetrocknet. Es verging kein Tag, an dem nicht ein Landwirt im Fernsehen seine Verluste beklagte. Der See aber bot ein anderes Bild. Seine Ufer waren schattig und alles hier war von sattem Moos überzogen. Die Stimmung war andächtig, als käme man in eine Kapelle, um von einem geliebten Toten Abschied zu nehmen.
Wie ein schwarzes Tuch breitete sich die glänzende Wasserfläche aus, Wasserläufer zuckten darüber. Als meine Augen sich gewöhnt hatten und durch die Reflexionen auf der Oberfläche hindurch sahen, konnte ich bis auf den sandigen Grund sehen. Ich wusste genau, wie er sich anfühlte. Ich warf einen Kieselstein ins Wasser und folgte dem Verlauf seiner Ringe, soweit sie liefen. Der ganze See geriet in Bewegung. In der Seemitte traf die Sonne ungebremst auf die glatte Oberfläche, dort stieg Wasserdampf auf und die Elemente verbanden sich.
Von einem verwitterten Steg aus ließ ich mich ins Wasser gleiten. Es war nur wenig kälter als die Luft und bot mir kaum Widerstand, als schwebte ich im Nichts. Meine Schwimmbewegungen waren leicht und weich und ich glitt lautlos dahin und kam doch schnell voran. Nach wenigen Augenblicken hatte ich die Seemitte erreicht. Ich schwamm um den aufsteigenden Nebel herum und blieb, nur leicht mit Armen und Beinen paddelnd, im Wasser stehen. Weiter unten war das Wasser unerwartet kalt.
Ich vergaß die Schule und das peinliche Erlebnis in der Deutschstunde, als es meiner Lehrerin binnen weniger Minuten gelungen war, mich vor allen anderen lächerlich zu machen. Ich bin nicht gut in Aufsätzen, war es nie, aber ich schrieb sie, wenn es verlangt wurde. Nicht mehr als eine Seite, hatte sie gesagt. Das sei zu schaffen. Also musste ich mir etwas überlegen. Ich konnte nicht ahnen, dass meine Geschichte ihr so gut gefallen würde. Nachdem sie die Hefte zurückgegeben hatte, bat sie mich vorzulesen.
Meine Geschichte spielt in einem Krankenhaus. Zwei ältere Männer teilen sich ein Zimmer. Der eine hat das Bett am Fenster, während der andere an die Zimmerdecke starrt. Und weil der Mann am Fenster merkt, dass er bei seinem Zimmernachbarn nicht landen kann, fängt er an, ihm zu erzählen, was er draußen alles sieht. Sobald der andere sich am Morgen in seinem Bett regt, beginnt er ihm vorzuschwärmen, von Bäumen und Blumen, dem Himmel und natürlich dem Sonnenaufgang, als könnte er von seinem Bett aus die ganze Welt sehen. Eines Tages bekommt der Mann am Fenster einen Anfall. Mitten in einem seiner endlosen Sätze, fängt er an zu keuchen und fasst sich an die Brust. Die Worte bleiben ihm im Halse stecken. Mit letzter Kraft greift er nach der Klingel, um eine Schwester zu rufen, aber die Klingel fällt ihm herunter. Sie rutscht unters Bett und er kann sie nicht mehr erreichen. Der andere sieht nicht einmal hin. Er hat die ganze Zeit nicht geredet und tut es auch jetzt nicht. Er macht einfach gar nichts. Erst als es still wird in dem Bett am Fenster, sieht er hinüber und stellt fest, dass sein Zimmernachbar gestorben ist. Sie schieben ihn aus dem Zimmer und der Platz am Fenster ist frei. Als die Schritte im Flur verhallt sind, steht er auf und schiebt sein Bett ans Fenster. Dann legt er sich hin, um den Ausblick zu genießen, aber alles was er sieht, ist eine verwitterte Mauer.
Als ich fertig war, traute ich mich kaum aufzusehen. Einige Mitschüler lachten, manche klatschten sogar.
Seit Jahren war ich „die Neue". Meine Eltern zogen gerne um. Das erste Mal zogen wir um, als ich gerade ein Jahr alt war, beim nächsten Mal war ich vier. Neue Stadt, neuer Kindergarten, neue Menschen. Ich wurde eingeschult und nach der zweiten Klasse zogen wir um. Neue Schule, neue Stadt, neues Haus. Das war schon meine vierte Schule. Schwer zu sagen, ob die Umstände mich dazu gemacht hatten, aber ich zog auch gerne um, ließ gerne Altes zurück, fing gerne neu an. Der erste Gang durch eine neue Straße oder einen