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Einmal im Jahr die Sintflut ebook: Roman
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Einmal im Jahr die Sintflut ebook: Roman

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About this ebook

Das Leben in einem Dorf im Nordosten Ungarns in den Jahren 1956–1965. Den Krieg kennt meine Generation nur noch vom Hörensagen, die Hungerjahre unmit­tel­bar danach hat sie nicht erlebt; auf dem Land gab es immer reichlich zu essen.

Das tägliche Leben wird von den Jahreszeiten und der Arbeit auf den Fel­dern, im Garten, im Haus und Hof bestimmt. Die Strukturen der Großfamilie sind noch lebendig, mit all ihren Vor- und Nach­teilen.

Die Auswirkungen des Aufstandes 1956 (in der offiziellen Sprache "Konterrevolution" genannt) bekommt fast jede Familie zu spüren, auch in der Provinz. Im Geschichts­unterricht wird das Thema erst Mitte/Ende der 1960-er Jahre vorsichtig behan­delt.

Sonst funktioniert die politische Schizophrenie im Alltag tadel­los: Die Parteifunk­tionäre lassen ihre Kinder zwei-drei Dörfer entfernt in der Kirche taufen und wenn diese das heiratsfähige Alter er­reichen, erhalten sie eben noch ein Dorf weiter den priesterlichen Segen zur Eheschlie­ßung.

In der Familie Márton herrscht größte Einigkeit der Ansichten und Werte: Der Vater ist nach eigenem Bekennen Atheist (und stolzer Besitzer des Parteibüch­leins samt Abzeichen, das er stets am Revers seiner Jacke zur Schau trägt), die Groß­mutter praktizierende Katholikin (und erbitterte Gegnerin von allem "Rotgefärbten") und die Mutter steht mit allem Mystischen auf Du und Du (sie stammt aus Sieben­bürgen und ist trotz ihrer "Spinnerei" die bodenständig­ste von Allen).
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateOct 27, 2012
ISBN9783844236743
Einmal im Jahr die Sintflut ebook: Roman

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    Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár

    Alana Maria Molnár

    EINMAL IM JAHR

    DIE SINTFLUT

    Roman

    Imprint

    Einmal im Jahr die Sintflut - Roman

    Alana Maria Molnár

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Alana Maria Molnár

    ISBN 978-3-8442-3674-3

    Das Leben in einem Dorf im Nordosten Ungarns in den Jahren 1956–1965. Den Krieg kennt meine Generation nur noch vom Hörensagen, die Hungerjahre unmittelbar danach hat sie nicht erlebt; auf dem Land gab es immer reichlich zu essen.

    Das tägliche Leben wird von den Jahreszeiten und der Arbeit auf den Feldern, im Garten, im Haus und Hof bestimmt. Die Strukturen der Großfamilie sind noch lebendig, mit all ihren Vor- und Nachteilen.

    Die Auswirkungen des Aufstandes 1956 (in der offiziellen Sprache Konterrevolution genannt) bekommt fast jede Familie zu spüren, auch in der Provinz. Im Geschichtsunterricht wird das Thema erst Mitte/Ende der 1960-er Jahre vorsichtig behandelt.

    Sonst funktioniert die politische Schizophrenie im Alltag tadellos: Die Parteifunktionäre lassen ihre Kinder zwei-drei Dörfer entfernt in der Kirche taufen und wenn diese das heiratsfähige Alter erreichen, erhalten sie eben noch ein Dorf weiter den priesterlichen Segen zur Eheschließung.

    In der Familie Márton herrscht größte Einigkeit der Ansichten und Werte: Der Vater ist nach eigenem Bekennen Atheist (und stolzer Besitzer des Parteibüchleins samt Abzeichen, das er stets am Revers seiner Jacke zur Schau trägt), die Großmutter praktizierende Katholikin (und erbitterte Gegnerin von allem Rotgefärbten) und die Mutter steht mit allem Mystischen auf Du und Du (sie stammt aus Siebenbürgen und ist trotz ihrer Spinnerei die bodenständigste von allen).

    Die Autorin: Übersetzerin für die ungarische Sprache und bildende Künstlerin, lebt seit 1972 in Berlin.

    „Jedermann erfindet sich früher oder später

    eine Geschichte, die er für sein Leben hält."

    Max Frisch

    Für meine Eltern

    Letzter Arztbesuch

    Beim Einsetzen meiner ersten eigenen Erinnerungen bin ich knapp fünf Jahre alt. Mein Großvater ist neunundfünfzig und krank. Er ist so krank, daß er im Bett liegen bleiben muß, er ist halbseitig gelähmt. Weder die rechte Hand noch den rechten Fuß kann er bewegen, er spüre darin nichts, sagt er, nur eine große Kälte. Doktor Horváth kommt zweimal die Woche zum Großvater, um ihn zu behandeln. Feri, der Barbier auch, nur an anderen Tagen als der Arzt. Feri hat ein Friseurgeschäft in der Hauptstraße, eine kleine dunkle Kammer mit immer schmutzigen Fensterscheiben. Während er Hausbesuche macht, bedient seine betagte Mutter die Kundschaft; rasieren und Haare waschen kann sie schließlich auch. Feris gewellte blonde Haare duften nach Pomade, sein rosiges Gesicht ziert eine noch rosigere Nase und er bringt immer gute Laune mit. Mit ihm weht ein frischer Wind ins Krankenzimmer, das eigentlich die Wohnküche meiner Großeltern ist.

    Wie ein Zauberer im Varieté holt Feri ein großes Tuch aus seiner Tasche, die ein bißchen wie die Arzttasche von Doktor Horváth aussieht, nur daß sich ab und an eine sorgfältig verkorkte Flasche zwischen die Utensilien seiner Zunft verirrt. Die Flasche sieht genauso aus wie die, die Großmutter für zahlende Kundschaft im Weinkeller abfüllt.

    Feri wedelt ein paarmal mit dem blütenweißen Tuch, bevor er es Großvater umbindet. Großvater sitzt jetzt aufrecht im Bett, im Rücken von mehreren Kissen gestützt. Inzwischen hat Großmutter schon warmes Wasser in die Schale gegossen, die Feri aus den Untiefen seiner Tasche hervorgezaubert hat. Dann kommt der große Auftritt des Figaro: Mit lockeren Bewegungen aus dem Handgelenk rührt er Seifenschaum in der Schale an, vorher hat er das ausklappbare Rasiermesser an einem Lederriemen geschärft. Ich halte jedesmal vor Spannung die Luft an, wenn Feris Messer an Großvaters faltigem Hals und an dem hervorstehenden Adamsapfel hinauf- und hinuntergleitet.

    Am Nachmittag kommt wieder Doktor Horváth zum Großvater. Großmutter schickt mich wie immer hinaus.

    »Du kannst bald wieder hereinkommen«, sagt sie, »wenn der Herr Doktor fertig ist.«

    Vor der Tür lausche ich auf jedes Geräusch. Ich höre Großvater stöhnen. Als der Arzt weg ist, tröste ich ihn damit, daß ich ihn garantiert heilen werde, weil der Doktor das offensichtlich nicht kann.

    Früher als sonst schläft Großvater an diesem Abend ein.

    »Sei leise, wenn du hinausgehst«, ermahnt mich Großmutter, »ich bin froh, daß er jetzt schläft und keine Schmerzen spürt.«

    Großvater ist gegangen

    Großvater liegt auf dem kalten Fußboden der guten Stube. Sein Kinn ist mit einem Tuch hochgebunden. Wie bei dem Hasen mit Zahnweh in meinem neuen Bilderbuch. Aus dem Bett kann er nicht gefallen sein.

    Das schwarzgestrichene Eisenbett, in dem er die letzten anderthalb Jahre gelegen hat, steht in der Wohnküche, Fuß an Kopf zum Zwillingsbett der Großmutter, gleich neben dem alten, emaillierten Herd. Der Herd hat auf der Oberseite drei Platten in unterschiedlicher Größe und jede Platte hat eine kleine Mulde, in die man mit dem Schürhaken hineinlangen kann, um die Platte abzuheben. Das hat Großvater immer beim Feueranmachen getan. »Damit das Feuer Luft bekommt«, erklärte er mir.

    Jetzt aber sagt er gar nichts, obwohl ich ihn schüttele und rüttele, er soll vom kalten Fußboden endlich aufstehen. Er holt sich noch den Tod. Das sagt Großmutter immer, wenn meinem kleinen Bruder irgendwas nicht paßt, sich auf den Boden schmeißt und brüllt.

    Nur Großvater sagt nichts.

    »Wer hat Júlia in die Stube gelassen?«

    Die Tonlage der Mutter ist so hoch, daß es in den Ohren schmerzt. So hört sich ihre Stimme an, wenn sie wütend ist, in der Küche steht und nach etwas Ausschau hält, was sie auf den Fußboden werfen könnte. Manchmal findet sie auch was, dessen Zertrümmerung ihr nicht leid tut. Meistens aber schleicht sie nach dem Anfall geknickt im Hof herum und trauert um das gute Stück Geschirr oder den verbeulten Kochtopf.

    Jetzt scheint die Ursache der bedrohlichen Stimmlage der qualmende Herd zu sein, denn sie hat mich aus der guten Stube der Großeltern in die Küche gezerrt. Mutter stochert im Herd und im Nu ist die Küche voller Rauch. Der kriecht mir in die Nase und von dort in die Kehle, daß ich husten muß.

    »Ihr könnt alle nicht heizen«, hustet auch Vater, der gerade hereinkommt. Er sieht wieder mal nach dem Rechten. Er öffnet ein wenig die Tür vom Herd, schiebt den Regler von links nach rechts und zurück, mit dem Ergebnis, daß noch mehr Rauch aus dem Inneren des Herdes herausquillt. Der Qualm kriecht durch alle Ritzen.

    »Der Schornstein ist verstopft und der Herd müßte neu ausschamottiert werden«, bemerkt Mutter, »das bete ich seit Jahren schon vor«.

    »Was versteht ihr davon«, blafft Vater sie an.

    Wer sonst noch außer Mutter gemeint ist, kann man bei Vater nie genau wissen, er tadelt immer im Plural.

    »Was macht Großvater auf dem Fußboden?« frage ich dazwischen, bevor die Eltern erneut zum Streit ansetzen, der manchmal Marathonlänge erreichen kann.

    »Nichts«, antwortet Vater und dreht sich weg.

    »Wieso erklärst du es deiner Tochter nicht?« hakt Mutter nach und das ist das Stichwort für Vater. Wie im Theater: die Akteure brauchen eine Merkstelle, an der sie wissen, daß jetzt ihr Einsatz kommt. Damit das Stück weitergehen kann. Meine Eltern haben viele Stücke für das Familientheater, in dem jeder eine feste Rolle mit festen Stichwörtern hat. Mein Bruder und ich sind Statisten, Zuhörer und Zuschauer in einem und je älter wir werden, bedenken uns die Eltern zunehmend mit kleineren Nebenrollen.

    »Sag du es ihr, wenn du es besser weißt«, nimmt Vater sein Stichwort auf und beeilt sich, aus der Küche zu kommen. Anstatt die Tür offen zu lassen, damit der Rauch abziehen kann, knallt er sie zu, daß die Scheiben scheppern. Und damit es keinem einfällt, ihn mit weiteren lästigen Fragen zu löchern, schlägt er auch noch die dicke fensterlose Außentür aus Holz zu.

    »Wir müssen Großvater wecken, sonst holt er sich noch den Tod«, sage ich.

    »Den hat er schon«, antwortet Mutter und erschrickt.

    Draußen schimpft Großtante Klára, dem Anlaß entsprechend halblaut, mit Vater.

    »Nicht mal jetzt, wo doch dein Vater tot ist, könnt ihr euch anständig benehmen!«

    Ihr Spitzmausgesicht ist noch spitzer und der Mund noch schmaler als sonst, die Augen noch mehr gerötet. Sie quetscht sich ein paar Tränen aus den Wimpern. Sie beweint ihren Schwager, weil es sich so gehört. Den jüngeren Bruder ihres Mannes konnte sie nie richtig leiden, obwohl die beiden wie Zwillingsbrüder aussehen: groß, hager, weißhäutig, schwarzhaarig und blauäugig, beide tragen kleine Bärtchen unter der Nase, wie die kleinsten Bürsten in unserer Putzkiste, mit der man die Wichse auf die Schuhe schmiert.

    Meine kleine und runde Großmutter kann ihren Schwager auch nicht leiden, aber sie kann den Grund, im Gegensatz zu Großtante Klára, angeben: Großonkel János hat nämlich ein kaltes Herz. Das hat Großmutter mit ihrer analytischen Spürnase herausgefunden.

    »Wie der Mann im Märchen, du weißt«, sagte sie zu mir. Das Märchen hat sie mir nicht nur einmal vorgelesen, als ich noch nichts davon begreifen konnte.

    Also geht es in der Großfamilie stets gerecht zu und jedes einzelne Mitglied hat eine mehr oder weniger unerschütterliche Position inne. Mittels kleinerer und größerer Teufeliaden kann ein jeder auf der traditionellen Leiter eine Stufe höherklettern, dafür steigt ein anderer eben eine Stufe tiefer. Die Justitia der Großfamilien ist nicht blind wie die Göttin der Gerechtigkeit: sie guckt bei den ewigwährenden Zänkereien einfach weg. Aber sie weiß, was vor sich geht und sorgt dafür, daß jeder seine Strafe kriegt. Früher oder später.

    Großonkel János kriegte seine Strafe ziemlich spät dafür, daß er meinen Großeltern, meinen Eltern und damit auch uns, die Hälfte des Grundstücks, auf dem das Haus der Urgroßeltern heute noch steht, unter unserm Hintern weg verkauft hat. Er leidet an der Vergeßlichkeitskrankheit, heute sagt man Alzheimer dazu. Zum Schluß, denn er wird über neunzig, weiß er nicht einmal mehr, wer er ist. Das aber ist kein Trost für die Großmutter und die Eltern, sie grämen sich jeden Tag wegen der neuen Nachbarn, die nicht zur Großfamilie gehören und ihr Haus unverschämterweise genau vor unsere Nase gebaut haben, nur mit zwei Winzlingfenstern zu uns hin, obwohl zur anderen Seite jede Menge Platz ist. Großmutter wird es später tröstlich finden, daß Großvater das neue Nachbarhaus nicht mehr habe sehen müssen.

    Er liegt immer noch auf dem kalten Fußboden und keiner kümmert sich um ihn. Auch um mich nicht, so kann ich mich auf die Suche nach Großmutter machen. Wenn Mutter und Vater als Fragequellen versiegen, bekomme ich von der Großmutter wenigstens eine Antwort. Ich finde sie im Stall.

    Der einzige Ort, an dem sie Ruhe finde, sagt sie. Sie brauche Ruhe zum Weinen. Ihre Augen sind anders rot als bei Großtante Klára, das Weiße ihrer Augen ist rot, sogar das helle Wasserblau ist mit roten Äderchen durchzogen.

    »Mein Einziger, mein Liebster«, schluchzt sie, »warum hast du mich verlassen?«

    »Großvater liegt in der guten Stube und wird sich erkälten«, sage ich. Großmutters Weinen geht in ein langgezogenes Jammern über. Den Ton kenne ich.

    Großmutter nimmt mich nämlich heimlich, Mutter und Vater dürfen es nicht wissen, als Verstärkung zu Sterbebegleitungen mit. Verschrumpelte Mütterchen in schwarzen Kleidern und mit schwarzen Kopftüchern hocken auf Stühlen, die um das Bett herum aufgestellt sind. Dunkle, leise murmelnde Raben mit raschelndem Rosenkranz in den Händen. Perle um Perle rieselt durch die knotigen alten Finger, die Lippen formen kaum hörbare Gebete. Dazwischen das vorsichtige Kommen und Gehen von Angehörigen. Fast alle beugen sich zum Bett hinunter, flüstern etwas und gehen dann auf Zehenspitzen hinaus.

    Dann kommt ein Seufzen vom Bett herüber. Die Raben hören auf zu rascheln und zu lispeln. Derjenige, der am Kopfende des Bettes sitzt, schließt die Augen des Toten. Eine Stille im Raum, die man kaum beschreiben kann. Es ist wie das leise Schlagen von Vogelflügeln, aber aus der Ferne. Große weiße Vögel stelle ich mir dabei vor, die die Seele wegtragen. Das habe ich auf einer Abbildung in Büchern gesehen. Ich spüre die Anwesenheit von etwas, was ich nicht benennen kann, was mir aber keine Angst macht und nach einer Weile wird es kalt im Zimmer.

    Die verhalten betenden Raben erheben ihre Stimmen, sie fangen an zu jammern und zu wehklagen. Es ist kein richtiges Weinen und immer wieder gleich. Sie beklagen den Weggang des soeben Dahingeschiedenen und vermeiden das Wort Tod. Von Jenseits und Himmel ist die Rede und immer wieder von Gott, bei dem der Entschlafene gut aufgehoben sei, hoch oben, im Himmel.

    »Und was ist mit dem Fegefeuer?« frage ich Großmutter.

    Sie erzählte mir doch, daß Gestorbene zuerst dorthin kämen und daß es sich dort entscheidet, ob man im Himmel bei den Engeln Harfe spielen darf oder unten in der Hölle schmoren muß.

    »Nicht jetzt«, wimmelt mich Großmutter ab, »das erzähle ich dir später«.

    Dann wird der Dahingeschiedene gewaschen und für den letzten Gang angekleidet. Das Waschen und Ankleiden darf ich nicht mehr sehen, Großmutter sagt, das sei nichts für mich. Die Alten, die dem Jenseits schon näher seien als dem Diesseits, könnten das ruhig machen, denen mache das nichts aus und die meisten der Totenwäscherinnen hätten ihre Sterbehemden längst schon in der Kleidertruhe. Großmutter geht vor der Waschung jedesmal mit mir weg. Sie ist nicht so alt, daß sie für diese Dienste in Frage käme.

    »In der Nacht«, sagt jetzt Großmutter, »ist er dahingegangen.«

    »Warum hast du mich nicht geweckt?« frage ich.

    »Das ist nichts für Kinder.«

    Ich werde ihr nie verzeihen, daß ich Großvater nicht sehen durfte, bevor er starb. Das aber beschließe ich erst später, jetzt glaube ich noch, daß er wieder aufsteht, sich die lächerliche Hasenzahnwehbinde vom Kopf reißt, mich auf die Schultern hebt, um mit mir auf dem langen Flur entlangzugaloppieren. Ich glaube noch nicht, daß ich nicht mehr meine behandschuhten Hände über der Herdplatte ganz heiß werden lassen kann, um seine kalte und gelähmte rechte Seite zu wärmen. Ich glaube noch, am nächsten Abend sein Gesicht durch die hochliegende Fensterscheibe der Tür wieder zu sehen, die die Wohnküche meiner Eltern von der guten Stube der Großeltern trennt; nur um noch einmal nach mir zu sehen. Damit ich gut schlafe, denn mein Kinderbett steht vor dieser Tür.

    Mein Großvater wird aufgebahrt. Er liegt auf zwei zusammengestellten Tischen, so hoch, daß ich ihn nur sehen kann, wenn ich auf einen Hocker steige. Die schwarzen Raben sind jetzt überall im Haus, sie haben den dreiteiligen Spiegel mit einem Tuch verhängt. Damit Großvater keinen Schrecken bekomme, wenn er in den Spiegel schaut, sagen sie. Dann kann er also doch aufstehen, denke ich mit heimlichem Triumph, er tut nur so, als wäre er tot.

    Am selben Nachmittag bringen vier Männer eine große Holzkiste mit Goldverzierung und legen Großvater hinein und er läßt das alles mit sich geschehen. Über Nacht liegt er darin. Am nächsten Tag kommen viele Menschen und der Priester und tragen Großvaters Sarg auf den Friedhof. In ein tiefes Loch wird die Kiste hinuntergelassen und die ausgehobene Erde darübergeschaufelt. An einem Ende des Hügels, aus der Erde entstanden, die nicht mehr in das Loch hineinpaßt, stecken sie ein Holzkreuz mit goldenen Buchstaben.

    Vater sagt, daß der Name von Großvater darauf steht und die zwei Zahlen bedeuten das Jahr, in dem er geboren wurde und das, in dem er gestorben ist.

    Mein Großvater, József Márton, der Vater meines Vaters, ist mit 59 Jahren gestorben. Er hat von 1897-1956 gelebt.

    Großmutter geht jetzt jeden Tag auf den Friedhof und ich gehe mit, helfe ihr Blumen auf Großvater zu pflanzen und beim Gießen bin ich besonders eifrig. Es könnte ja sein, daß er aus den Blumen herauswächst. Obwohl ... ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wieviel Erde sie über ihn geschaufelt haben.

    Vater und Mutter kriegen heraus, daß Großmutter mich im zarten Alter von vier-fünf Jahren zu den Totenwachen mitnimmt.

    »Und jetzt schleppt sie das Kind auch noch jeden Tag auf den Friedhof«, murrt Vater.

    »Sie geht freiwillig mit«, versucht Mutter zu schlichten, Vater aber läßt sich nicht mehr bremsen. Er flucht, daß das zarte Grün der Bäume im Garten errötet.

    »Sie machen das Kind noch völlig fertig, mit Ihrer Gottanbeterei und mit dem ganzen Kirchenhokuspokus«, beschimpft er die Großmutter.

    Die Höflichkeit seiner Generation, und das nicht nur in einem kleinen Dorf wie unseres, schreibt das Siezen der Eltern vor. Diese Ehrerbietung ist für Vater aber kein Hinderungsgrund, um mit seiner Mutter abzurechnen. Von der Kirche hält er nichts, von den verlogenen Pfaffen noch weniger und das Gotteshaus habe er seit seiner Eheschließung nicht mehr betreten. Worauf er stolz sei.

    Die Hochzeit meiner Eltern fand im Kriegsjahr 1944 statt, in einer idyllischen kleinen Kapelle in Buda, von der Vater später mit mehr Wohlwollen spricht als jetzt von der Kirche im allgemeinen. Er ist ein überzeugter Atheist, betont er bei jeder Gelegenheit.

    »Ein Ungläubiger«, sagt Großmutter verächtlich.

    »Was ist ein Ungläubiger, Großmutter?«

    »Das ist einer, der nicht an Gott glaubt und nicht betet und nicht in die Kirche geht. Dafür wird Gott ihn strafen.«

    Großmutter sät manch unguten Samen in meinen aufnahmebereiten Kindesacker. Es kostet mich in Erwachsenenjahren viel Mühe, die vielen Kukuckspflanzen von den eigenen zu unterscheiden. Aber Großmutter sät auch eine Menge Praktisches. Das Nützliche allerdings ist nicht geistiger Natur. Großmutter ist die Hüterin von Traditionellem und Wichtigem, sie kann fast alles, was man mit zwei Händen bewerkstelligen kann und schenkt großzügig ihr Wissen der Enkelin.

    Die Mutter meiner Mutter starb, als Mutter sechs Jahre alt war und die Stiefgroßmutter, die nur ein kurzes Gastspiel bei uns gab, war eine alte Hexe und geisterte eine ganze Weile nur als böses Gespenst in den Erzählungen meiner Mutter. Leibhaftig erscheint sie erst später auf der familiären Bildfläche.

    Dörfliche Idylle

    Der Ort, wo sich das Bisherige und fast alles Spätere abspielt, ist ein Dorf im Nordosten Ungarns. Unser Dorf ist viel größer als andere in der Gegend. Die anderen bestehen nur aus einer langen Hautpstraße: Man fährt an dem einen Ende hinein, dann immer geradeaus und wenn das zweite Ortsschild im Blickfeld auftaucht, ist man auch schon wieder draußen.

    Unser Dorf hingegen hat ein ganzes Gespinst aus Straßen und Gassen, die allesamt nach Dichtern und Freiheitskämpfern der zahlreichen Unabhängigkeitsbewegungen Ungarns benannt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg auch nach den Helden des Arbeitskampfes und politischen Größen der jüngsten Geschichte. Die  Hauptstraße, die genauso heißt wie alle Hauptstraßen der umliegenden Dörfer, ist die einzige asphaltierte, die anderen sind nur notdürftig befestigt. Kopfsteinpflaster gibt es bei uns nicht, größere und kleinere Kieselsteine ragen aus dem sandigen Boden hervor und rütteln die Pferdewagen ordentlich durch. Mit denen befördern die Bauern Heu, Mist, Saatgut, Korn, Mais, Kartoffeln und außerordentlich selten Ausflügler ins Grüne.

    Glücklich ist, wer auf einem mit Heu und Stroh beladenen Wagen mitfahren darf. Der kommt sich vor wie ein König auf dem Thron, der obendrein noch auf vier Rädern von meistens zwei Pferden gezogen wird. Nur hin und wieder steigt der Dampf von frischen Pferdeäpfeln nach oben, aber das kann die Nase der Wagenmajestäten nicht beleidigen, denn gegen soviel duftendes Heu behauptet sich der Roßapfeldunst nicht lange; er ist

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