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Globale Körper
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Globale Körper

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Argumentativer Ausgangspunkt der Arbeit Globale Körper ist, dass Prinzipien, die mit Globalisierung in Verbindung gebracht werden können, maßgeblich das Tanzfeld in Deutschland strukturieren: Neben der stark internationalen Verfasstheit des Tanzfeldes gibt es auch eine Vielzahl an Projekten, die Themen und Personen kombinieren, die verschiedenen Teilen der Welt zugeordnet werden und diese Kombination explizit thematisieren. Solche Projekte werfen Fragen nach Kategorien wie Mobilität, Vernetzung, Kontakt, Vermischung oder Grenzüberschreitungen auf und bewegen sich damit im diskursiven Feld von Globalisierung. Innerhalb solcher Projekte (vier Tanzstücke namhafter ChoreographInnen und zwei renommierte Festivals) wurden ethnographische Forschungssequenzen durchgeführt. Das ethnographische Material wird entlang einer praxeologischen Methodologie diskutiert, die die Kategorien Körper und Bewegung als theoretische und methodische Ausgangspunkte setzt. Argument ist, dass über Praktiken im Tanzfeld Formen von Welt - die ob ihrer Verortung in Globalisierungsdiskursen als Globalitäten bezeichnet werden - hervorgebracht werden. Anhand der ethnographischen Beispiele werden politische Dimensionen solcher Globalitäten beleuchtet, indem herausgearbeitet wird, ob sie sich bekräftigend oder widerständig gegenüber Praktiken und Diskursen verhalten, die sich im Feld des Kolonialismus verorten lassen. Darüber hinaus wird ein kritischer Blick auf wissenschaftliche Diskurse zu Bewegung und Raum geworfen und Ontologien von Widerständigkeit werden kritisch reflektiert.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateMar 22, 2018
ISBN9783746710105
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    Globale Körper - Taiya Mikisch

    Texte: © Copyright by Taiya Mikisch

    Umschlaggestaltung: © Copyright by Taiya Mikisch

    Zugl.: Köln, Hochschule für Musik und Tanz, Diss., 2017

    Verlag:

    Taiya Mikisch

    Am Kuttenbusch 31

    50321 Brühl

    taiya.mikisch@gmail.com

    Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Danksagung

    Mein herzlicher Dank geht an meine Familie und Freunde, die mich bei allen Schritten dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben.

    Ein besonderer Dank an Yvonne Hardt, die den Arbeitsprozess stets konstruktiv mit vorangetrieben hat und mir fachlich ein großes Vorbild war.

    Danke auch an alle Personen, die mir bei den Projekten, über die ich in dieser Arbeit spreche, großzügig die Türen geöffnet haben und die Forschung ermöglicht haben!

    Danke an das Doktorandenkolloquium des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz für den kollegialen Austausch, sowie an Michael Rappe für die Begutachtung und Unterstützung.

    Nicht zuletzt ein großes Dankeschön an Katarina Kleinschmidt für den fachlichen und freundschaftlichen Austausch.

    1 Einleitung

    Globalisierung ist ein zentraler Topos unserer Zeit. „Zweifellos kann man dieser Tage keiner Rede eines Politikers zuhören, keine Zeitung öffnen img1.png ... img2.png ohne dass dort dieser Begriff fällt. Globalisierung scheint allgegenwärtig zu sein."{1} Der Begriff Globalisierung evoziert dabei viele verschiedene Assoziationen, oft geht es um Fragen nach Homogenisierung und Heterogenisierung,{2} immer spielen aber Ideen zu einer zunehmenden globalen Vernetztheit, zu Kontakt und zu verstärkten Bewegungen einflussreicher Faktoren und Zusammenhänge über Grenzen hinweg eine Rolle. {3}

    Tanz in Deutschland bewegt sich fast schon prototypisch in solchen globalen Zusammenhängen: „Tänzer leben beweglich. Das gehört zu ihrem Beruf. Und sie leben mobil. Wanderschaft ist wie bei kaum einer anderen Gruppe von Bühnenkünstlern Teil ihrer alltäglichen Seinsweise."{4} Der Tanzkritiker und -wissenschaftler Franz Anton Cramer verweist hier auf zentrale Begriffe, die oft im Zusammenhang mit dem Begriff der Globalisierung angeführt werden: Bewegung und Mobilität. In verschiedenen Kunstrichtungen und eben auch im Tanz bringt diese allgegenwärtige „globalisierte Alltagswelt ein verstärktes Aufgreifen von Figuren wie beispielsweise Kontakt, Austausch oder Adaption mit sich. Zahlreiche Tanzschaffende und Tanz-relevante Institutionen in Deutschland schreiben sich zum Beispiel auf die Fahnen, sich mit „translokalen{5}, „internationalen{6}, „aus aller Welt{7} kommenden, „transkulturellen{8} oder auch „migrationsthematischen{9} Themen, Settings und KünstlerInnen zu beschäftigen. Dieser Schwerpunkt erfährt bei vielen Fördereinrichtungen eine bevorzugte Gewichtung, wenn es um Projektfinanzierungen geht.{10}

    Argumentativer Ausgangspunkt meiner Arbeit ist, dass es durch die starke Mobilität von TänzerInnen und die thematische Schwerpunktsetzung wie beispielsweise Migration und Interkulturalität in den letzten Dekaden einerseits zu einer gesteigerten Sichtbarkeit von Personen, Phänomenen, Techniken und Ästhetiken, die sich außerhalb einer europäisch ausgerichteten Tanzszene verorten lassen können, kam. Andererseits sind solche Themenstellungen und Grenzüberschreitungen immer auch gekennzeichnet von Hierarchien und Stereotypen.

    In dieser Arbeit beschäftige ich mich aus postkolonialer Perspektive mit den Implikationen solcher Schwerpunkte in der aktuellen Tanzszene in Deutschland. Dafür habe ich ethnographische Forschungssequenzen in sechs Projekten in Deutschland durchgeführt. Praktiken, die ich im Kontext dieser Projekte bestimmen konnte, setze ich in Bezug zu gewachsenen, kolonial konnotierten Praktiken und Diskursen und untersuche sie auf Momente von Widerständigkeit hin.

    Ethnographische Forschungssequenzen

    Eine feuerrote Burka neben einer japanischen Teezeremonie. Zwei ivorische Performer, die zwei deutschen Schauspielern das Tanzen beibringen. Khon Tanz, Chipaos, museale Anordnungen von Barbiepuppen, Lampions aus China und echtem Menschenhaar. Junge ChinesInnen, die über China sprechen und Soli zeigen. Choreographische Verfahren, die komplexe Reflexionsebenen von Stereotypen und Eurozentrismen aufweisen, ein sehgeschultes Publikum, dass die Codes der Political Correctness beherrscht. Graphische Nebeneinanderstellungen verschiedener Metropolen auf Programmheften, multilokale Zuordnungen von Künstlerinnen und Künstlern. ZuschauerInnen, die Verbindungen zwischen „schwarzer Haut und „Ursprünglichkeit herstellen. Politische Strukturen und Stereotype, die nationale Grenzen, kulturelle Identitäten unüberbrückbar erscheinen lassen. Alles Momente aus Projekten, die sich mit Nationen, Kulturen, Identitäten beschäftigen, die „fremd" konnotiert sind.

    Ich habe in insgesamt sechs Projekten{11} ethnographische Forschungssequenzen durchgeführt.{12}

    (1.) Im Rahmen des Tanzstückes BurkaBondage von Helena Waldmann,{13} uraufgeführt im Haus der Berliner Festspiele 2009. Waldmann ist eine Berliner Theaterregisseurin und Choreographin. Seit einigen Jahren setzt sie sich in ihren Arbeiten mit Reiseerfahrungen auseinander. In Deutschland besonders bekannt ist ihr 2005 uraufgeführtes Stück Letters from Tentland, in dem sie den iranischen Tschador thematisiert und damit zu einer zentralen Figur für die Beschäftigung mit sogenannten interkulturellen Themen in Deutschland wurde. In BurkaBondage setzt Waldmann Erfahrungen, die sie in Afghanistan und Japan machte, zueinander in Bezug. Sie bezieht sich hier auf die kulturellen Institutionen Burka, die afghanische, vieldiskutierte Ganzkörperbedeckung, und Bondage, eine japanische Fesselpraxis. Als Coach lud sie zur Erarbeitung des Stückes Monireh Hashemi, eine afghanische Regisseurin und Schauspielerin ein. Die Proben fanden im Sommer 2009 über drei Monate hinweg in Berlin Kreuzberg statt. Ich war als Regieassistentin beteiligt und entsprechend täglich im Produktionsprozess anwesend.

    (2.) Im Rahmen des 2010 entstandenen Stückes Eleganz ist kein Verbrechen der Regisseurin Monika Gintersdorfer und des bildenden Künstlers Knut Klaßen, die zusammen das Kollektiv Gintersdorfer/Klaßen bilden. Beide bereisen seit vielen Jahren regelmäßig die Elfenbeinküste und arbeiten mit deutschen und ivorischen PerformerInnen zusammen. Eleganz ist kein Verbrechen wurde 2010 am Schauspiel Bochum uraufgeführt. In dieser Inszenierung befassen sich Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen mit den Mechanismen des Showbusiness in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Zwei deutsche und zwei ivorische Performer verhandeln auf der Bühne Kontaktmomente zwischen Deutschland und der Elfenbeinküste, indem sie ironisch mit Übersetzungsprozessen und Missverständnissen spielen. Hier war ich als Hospitantin anwesend und habe den größten Teil der Probenprozesse mitverfolgt.

    (3.) Im Rahmen der Wiederaufnahme des ursprünglich in Köln und Beijing durchgeführten Projektes ChinaHairConnection des Choreographie- und Performanceduos Angie Hiesl und Roland Kaiser 2010 in Darmstadt. Hiesl und Kaiser beschäftigen sich in dieser Arbeit mit Eindrücken, die sie bei ihren Aufenthalten in China sammelten – mit besonderem Fokus auf ihrer langjährigen, künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Haar. Die Wiederaufnahme von Teilen der Originalinszenierung fand unter dem Titel Parts of – ChinaHairConnection bei der Tagung Neue Musik in Bewegung: Musik und Tanztheater heute des Institut für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt statt. Hierfür arbeiteten Hiesl und Kaiser mit einem Musiker, der bereits beim Hauptprojekt beteiligt war und einer Tänzerin, die sie neu für die Wiederaufnahme casteten. Beim Casting und bei den Proben in Köln und in Darmstadt war ich als Assistentin anwesend.

    (4.) Im Rahmen der Endproben des Tanzstückes Look at me I’m Chinese von Jutta Hell und Dieter Baumann, die zusammen die Tanzcompagnie Rubato bilden. Look at me I’m Chinese wurde 2010 im Radialsystem in Berlin beim Festival Tanz im August uraufgeführt. Die ChoreographInnen Jutta Hell und Dieter Baumann setzen in diesem Stück ihre bereits seit 15 Jahren bestehende Arbeit in China fort. Sie beschäftigen sich mit der jungen Generation Chinas und erarbeiteten das Stück mit sechs TänzerInnen aus verschiedenen Regionen Chinas. Hier war ich bei den Endproben in Berlin für zwei Wochen vor der Premiere anwesend.

     (5.) Im Rahmen des Festivals Theater der Welt 2010 in Mülheim und Essen. Für dieses Festival lud die Kuratorin Frie Leysen ca. 30 Produktionen aus verschiedenen Nationen ein. Im Fokus der Recherche steht hier vor allem das Tanzstück Nijinsky Siam von Pichet Klunchun, einem thailändischen Tänzer, der sich in diesem Stück mit den Einflüssen einer thailändischen Tanzgruppe auf den Tänzer Vaslav Nijinsky im Jahr 1910 auseinandersetzt. Ich habe Pichet Klunchun und seine Kompanie während des Aufenthaltes in Mülheim an der Ruhr betreut und war bei den Endproben im Theater an der Ruhr anwesend.

    (6.) Im Rahmen des Festivals InTransit am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Das Festival in seiner 2011-Ausgabe beschäftigte sich mit dem Thema spectator, also mit dem Zuschauer. Hier habe ich meine Perspektive eher breit angelegt und das gesamte Festivalprogramm als Forschungsgrundlage angeschaut.

    Diese Projekte stellen somit die Grundlage dieser Arbeit dar und ich werde mich im gesamten Verlauf der Studie auf Situationen aus den Forschungssequenzen rückbeziehen.

    Themenstellungen wie „Migration oder „Interkulturalität operieren mit Konzepten zu verschiedenen Kulturen und haben als Grundlage, so mein Argument, immer Vorstellungen von Welt und ihrer Ordnung. Sie bewegen sich in Spannungsfeldern wie hier-dort, fremd-vertraut, Nähe-Distanz, Aneignung-Abgrenzung. Damit einher geht zudem immer ein In-Bezug Setzen einzelner Teile von Welt zueinander. Dieses In-Bezug-setzen verstehe ich als einen Herstellungsmechanismus, denn indem Teile von Welt identifiziert und aufeinander bezogen werden, ergeben sich Weltkonstitutionen, die (aus postkolonialer Perspektive) auf ganz verschiedene Arten und Weisen reflektiert werden können.

    In den ethnographischen Beispielen beschäftige ich mich damit, welche Teile von Welt identifiziert werden können und wie diese Teile zusammenhängen. Ausgangspunkt aller Projekte, die ich als Beispiele verwende, ist, dass Räume und Grenzen festgestellt werden können (beispielsweise national oder kulturell markiert) und Bewegungen über diese Grenzen hinweg geschehen (beispielsweise durch einen Auslandsaufenthalt der ProjektinitiatorInnen oder durch Gastspiele). Damit lassen sich die Beispiele mit Kategorien wie Austausch, Kontakt und Bewegung in Verbindung bringen. Deswegen verorte ich die in dieser Studie vorgestellten Projekte in Diskursen zu Globalisierung, sprich in Diskursen von Welt, die über Bewegung und Mobilität vernetzt und verbunden ist.

    Ich beziehe mich in dieser Arbeit auf das Konzept der Globalität (im Gegensatz zum oftmals im Sinne eines „Sachzwangs oder „Naturgesetzes verwendeten Konzept der Globalisierung). Hier unternehme ich keine Analyse, die von „objektiven oder „messbaren weltweiten Bewegungsströmen ausgeht, sondern eine Analyse, die untersucht, wie tanzschaffende Schlüsselpersonen und Institutionen in Deutschland Welt wahrnehmen, klassifizieren und durch Praktiken jeweils spezifische Weltkonstitutionen vollziehen. Globalität bestimme ich als eine imaginative Kategorie, die den Bezugsrahmen herstellt, der durch Diskurse zu Globalisierung geformt ist, auf den sich dann wiederum einzelne Akteure, Situationen, Phänomene über Praktiken beziehen und eine spezifische Form von Welt performativ herstellen.

    Meine theoretisch-methodologische Herangehensweise ist dabei praxeologisch und körperorientiert. Praxeologisch, weil ich den Blick auf Herstellungsprinzipien von Globalität über Praktiken richte, beispielsweise auf Körpertechniken, Probenstrukturierungen, institutionelle Vorgaben und den Entstehungsprozess der Stücke ins Zentrum meiner Analyse stelle. Körperorientiert, weil ich Globalität als (mit)konstituiert durch Kategorien wie beispielsweise Körperpraktiken, Körperdiskurse und Affekt denke.

    Um diese Herangehensweise theoretisch und methodologisch zu fundieren und zu entwickeln, habe ich das von dem cultural anthropologist Arjun Appadurai vorgelegte Globalisierungsmodell der scapes aufgegriffen, das Globalisierung als ein Gefüge verschiedener perspektivischer Landschaften denkt, die jeweils einen eigenen Schwerpunkt haben (beispielsweise mediascapes oder financescapes).{14} Dieses Modell habe ich um die Kategorie der bodyscapes erweitert, um Körper als Kategorie theoretisch zu verankern.{15}

    Appadurais scape Modell operiert mit Bewegung als theoretischer Grundkategorie. Hierin liegt auf theoretischer Ebene das Potential begründet, Statik und Fixiertheit aufzubrechen. Ich möchte mich in dieser Arbeit von einer theoretischen Ausrichtung abgrenzen, die ihren Ausgangspunkt bei einer Analyse von fixierbaren Räumen oder Entitäten nimmt und sie von ihrer „Beschaffenheit" her denkt. Vielmehr möchte ich den Blick auf Praktiken lenken, die Räume und Ordnungen hervorbringen.

    Indem ich Bewegung als zentrale analytische Kategorie einsetze, lenke ich den Blick auf die Herstellungspraktiken von Globalität.

    Alle „interkulturellen Konstellationen werfen immer erst einmal Dichotomien auf, gehen sie doch immer von Entitäten aus, die miteinander in Beziehung stehen. In meiner Forschung bin ich so beispielsweise auf viele Situationen gestoßen, die durch rigide Grenzziehungen zwischen solchen Räumen ausgezeichnet waren, beispielsweise durch die Postulierung von Nationen die miteinander in Bezug gesetzt wurden („Japan und „Afghanistan, „China und „Deutschland), durch Visumsverweigerungen, durch separierte und ethnisch markierte Räume im Bühnenbild oder durch die Herstellung der Kategorien „schwarzer und „weißer" Körper auf der Bühne in Form kontrastiver Gegenüberstellung.

    Hier, so möchte ich argumentieren, entstehen aus den Konstellationen disparater Räume jeweils spezifische Weltkonstitutionen. Ich lenke aber nicht den Blick auf eine Analyse der Räume, sondern stelle über die Verwendung von Bewegung als analytischer Kategorie die Herstellung dieser Räume in den Vordergrund. Bewegung verwende ich hier also im Sinne einer performativen Kategorie und gehe davon aus, dass spezifische Strukturiertheiten von Bewegung spezifische Räume herzustellen. Gleichzeitig reagiert Bewegung auf eine gewachsene Raumkonstellation. Bewegung denke ich so in einem Wechselverhältnis zwischen der Beantwortung von gewachsenen Räumen und Grenzen durch Bewegung einerseits und andererseits einem Verständnis davon, dass Bewegung spezifische Räume performativ hervorbringt.{16}

    Bewegung ist dabei keinesfalls nur auf tänzerische Bewegung bezogen, vielmehr verwende ich sie als analytische Kategorie, die sich auf die verschiedensten Praktiken anwenden lässt – beispielsweise Reisebewegung, Wahrnehmungsbewegungen oder Bewegungen im Bühnenraum.

    Bewegung als analytische Grundkategorie zu verwenden ist aber auch zwiespältig. Zum einen ermöglicht sie ein theoretisches Vorgehen, das nicht mit fixierten Kategorien operiert. Zum anderen muss aber auch der Begriff der Bewegung befragt werden in Hinblick auf eurozentrische oder neoliberale Verortungen. Ich lege in dieser Arbeit einerseits den Fokus auf Bewegung als Herstellungsmoment von Globalität und reflektiere andererseits die spezifische diskursive Verortung von Bewegung mit: Damit einher geht auch, dass ich keinen ontologischen Bewegungsbegriff verfolge, sondern vielmehr situationsspezifisch schaue, welche Form von Bewegung als analytische Kategorie bei den einzelnen Beispielen angewendet werden könnte. In dieser Arbeit verwende ich eine Bewegungstypologie, an der sich die Gliederung meiner Beispiele ausrichtet. Die Typologie umfasst die Kategorien „Lineare Bewegung, „Stillstand, Stillstellung und Leerstellen und „Emergente Bewegungen". Auch diese Kategorisierung reflektiere ich durch eine genaue Analyse der Beispiele aus meiner Forschung immer auch kritisch mit und lenke dadurch den Blick auf wissenschaftliche Diskurse zu Bewegung und deren mögliche eurozentrische, koloniale Verankerung.

    Ich nehme in dieser Arbeit also eine postkoloniale Perspektivierung vor, die sowohl Herstellungsmechanismen von Welt und ihre potentiellen hierarchischen, kolonial konnotierten Wirkungsweisen in den Blick nimmt, als auch wissenschaftliche Diskurse kritisch beleuchtet.

    Entlang der Bewegungstypologie beleuchte ich, welches Bewegungsprinzip sich in einzelnen Momenten meiner Forschung zu Grunde legen lässt und was das im jeweiligen Kontext bedeutet. Welche Räume ergeben sich durch die jeweilige Bewegungsstrukturierung? Auf welche vorgelagerten Räume wird mit welcher Bewegung geantwortet? Welche Grenzen werden gezogen? Wer zieht diese Grenzen? Wer überquert die Grenzen? In welche Richtung? Warum? Auf welche Art und Weise? Wer überquert sie nicht? Warum nicht?

    Über diese Fragen lassen sich die Projekte in Bezug setzen zu existierenden Diskurs- und Praxisfeldern. Ich kann situativ bestimmen, ob beispielsweise eine Art der Grenzüberquerung koloniale Konnotationen aufweist, ob historisch gewachsene Hierarchien eher perpetuiert oder aber befragt werden (oder beides). Ich kann entscheiden, ob das Ausbleiben einer Grenzüberquerung eine Leerstelle nach sich zieht, an denen Ungleichheit an Zugängen ablesbar wird, oder ob es sich um eine Leerstelle handelt, die reflektiert wird und dadurch ihren kolonialen Impetus verliert. Dabei ist zentral, dass es nicht um eine dichotome Festlegung geht und versucht wird, Situationen entlang der Kriterien „kolonial oder „widerständig einseitig zu klassifizieren und zu unterteilen. Vielmehr stellen sich einzelne Situationen sehr vielschichtig dar in Hinblick auf Widerständigkeit und Konformität. Die Projekte werden im Verlauf der Arbeit detailreich dargestellt und die relevanten Aspekte entlang meiner Argumentationslinien hervorgehoben. Oft wird die Komplexität einzelner Beispiele über den Verlauf mehrerer Kapitel gezeigt – ich fange also mit einem Aspekt der Argumentation an und entwickle und differenziere diese Argumentation im Verlauf der Arbeit immer weiter.

    Das Kapitel „Lineare Bewegungen" behandelt Momente, in denen ich eine Herstellung von dichotomen Räumen verorten möchte.{17} Lineare Strukturiertheit von Bewegung ist aus postkolonialer Perspektive insofern relevant, als daran die Herstellung dichotomer und kolonial hierarchischer Weltordnungen geknüpft werden kann.{18} Gleichzeitig gilt es vor einer postkolonialen Folie, eine Kritik an Linearität selbst kritisch zu lesen, und es wird beispielsweise zu sehen sein, dass in Situationen, die ich mit den Kategorien linearer Bewegungen und damit einhergehender dichotomer Räume bestimme, gerade auch Zugänge (beispielsweise in Form von Förderungen oder Reisen) und Sichtbarkeiten (beispielsweise von afghanischen oder ivorischen KünstlerInnen im internationalen Tanzfeld) geschaffen werden können.

    Im Forschungsprozess taten sich immer wieder auch Momente auf, in denen diese Verfasstheit nicht zu greifen schien, in denen ich vielmehr andere Analysekategorien benötigte, um die jeweiligen Weltkonstitutionen zu diskutieren. In einem weiteren Schritt habe ich deswegen folgende Fragen gestellt: Welche anderen Bewegungsstrukturierungen klassifiziere ich und welche Implikationen haben diese anderen Strukturierungen? Inwiefern haben solche alternativen Ordnungen ein kritisches Potential, weil sie den dominanten Modus linearer Bewegung und bestehende Ordnungen befragen?

    Hier geht es zum einen um eine Diskussion von ausbleibenden Bewegungen als Stillstände und Stillstellungen{19} und ihr mögliches kritisches Potential. Gleichzeitig muss auch hier mit einer postkolonialen Leseart dieses kritische Potential wiederum kritisch gelesen werden, kommt es beispielsweise zu Stillständen, Stillstellungen und resultierenden Leerstellen, die von politischen Restriktionen, Stereotypisierungen und anderen kolonialen Mechanismen erzählen.

    Zum anderen richte ich hier den Blick auf Bewegungen, bei denen eine lineare Strukturiertheit nicht greift, und Ordnungen disparater, fixierter Einheiten aufweichen oder gar nicht vorhanden sind. Hier verwende ich die Kategorie der emergenten Bewegungen,{20} die ich als relational unvorhersehbar deute, und die dazu beitragen, dezentrierte, nicht-dichotome Räume herzustellen. Auch hier geht es wiederum um eine kritische Revision der Kategorie selbst, um neoliberale und eurozentrisch-koloniale Konnotationen zu bestimmen.

    1.1 Forschungsstand und Verortung der Untersuchung

    Dass sich TänzerInnen und ChoreographInnen mit Themen, Techniken oder Regionen auseinandersetzen, die als „fremd" wahrgenommen werden, ist kein neues Phänomen. Zahlreiche Beispiele könnten genannt werden, die zeigen, dass Aneignungen und Inszenierungen von Fremdheit im Tanz eine lange Geschichte aufweisen.{21} In dieser Studie lege ich aber den Fokus nicht auf eine Historiographie des „Fremden im Tanz, sondern darauf, wie „Fremdes in aktuellen Praktiken der Tanzszene in Deutschland inszeniert wird. Der zeitliche und regionale Fokus dient dabei zur Eingrenzung des Forschungsfeldes und ermöglicht es, die ethnographischen Beobachtungen aus den einzelnen Projekten zueinander in Bezug zu setzen. Das Einbeziehen eines anderen nationalen Kontextes würde potentiell ganz andere Fragen aufwerfen – man denke beispielsweise an die Verschiedenheit der Kolonialgeschichte zwischen Frankreich und Deutschland. Gleichzeitig beleuchte ich die ethnographischen Beobachtungen situativ auf ihre jeweilige historische und regionale Verortung hin – beispielsweise, wenn bestimmte Inszenierungsstrategien an Weltausstellungen erinnern oder Mechanismen der Themengenerierung für ein Stück koloniale Explorationsstrategien aufrufen.

    Die Situiertheit aktueller Tanzpraktiken im Feld der Globalisierung und damit einhergehende Fremdheitsinszenierungen und Weltkonstitutionen werden im tanzwissenschaftlichen Diskurs bisher kaum thematisiert. Die vorliegende Studie knüpft so sowohl an ein theoretisches als auch ein methodisches Forschungsdesiderat innerhalb der deutschen Tanzwissenschaft an. Theoretisch, weil eine umfassende, kritische Untersuchung der politischen Implikationen der Inszenierung von Fremdheit im Tanz in Deutschland noch aussteht. Methodisch, da diese Themen mit einer ethnologischen Herangehensweise in Kombination mit tanzwissenschaftlichen Analyseformen bearbeitet werden. Diese Studie verfährt praxeologisch und stellt Fragen nach Globalität, indem sie Körper und Bewegung als zentrale Analysekategorien einsetzt. So werden ästhetische, körperphilosophische und bewegungsanalytische Reflexionen mit sozialwissenschaftlicher, empirischer Methodik gekoppelt und zu einem umfassenden Bild von Körper, Tanz und Globalisierungsdiskursen zusammengesetzt. Die Verwendung einer ethnologischen Perspektive und Methodik (Interviews, Teilnehmende Beobachtung) bietet eine Herangehensweise, die die untersuchten Stücke und – weiter gefasst – das untersuchte Feld von innen heraus, das heißt entlang der Perspektiven und Praktiken der beteiligten Personen, erschließt und darstellt.

    Ein ethnographisch-praxeologischer Zugang zu Produktionsprozessen bei aktuellen Tanzstücken durch den Einsatz qualitativer Forschungsmethoden wie Interviews und Teilnehmende Beobachtung ist in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft bei Pirkko Husemann zu finden. Ihre Studie Choreographie als kritische Praxis ist für die vorliegende Untersuchung insofern fruchtbar, als sie sich auf die Entstehungsprozesse von Inszenierungen bezieht, und darin das kritische Potential der untersuchten Fallbeispiele lokalisiert.{22} Diese Verortung des Kritischen im Entstehungsprozess lässt sich auch für die vorliegende Arbeit anwenden, geht es doch auch hier um das Verorten von Kritik gerade in den Praktiken im Tanzfeld und um eine situationsspezifische Analyse des Kritischen (im Gegensatz zu einem festgelegten, normativen Kritikbegriff).

    Zahlreiche Arbeiten der noch jungen Disziplin der Tanzwissenschaft im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich hingegen weiterhin mit Tanz meist durch tanz- und theaterimmanente Perspektiven und Methoden.{23} Hier spielen Prozesse und institutionelle Einbettungen nur eine periphere Rolle. Erst einige wenige Studien richten ihren Fokus dagegen auch auf ökonomische, soziale oder politische Rahmenbedingungen, beispielsweise aus einer historiographischen oder soziologischen Perspektive.{24} Mit dem Sammelband Choreographie und Institution haben die Tanzwissenschaftlerin und Choreographin Yvonne Hardt und der Sportwissenschaftler und –pädagoge Martin Stern erstmals dezidiert die institutionelle Verortung von Tanzpraktiken herausgestellt.{25} Solche Studien, die Tanz als politisch, sozial und institutionell fundiert denken, dienen als Ausgangspunkt dieser Arbeit, denke ich doch auch die Herstellungsprinzipien der untersuchten Projekte als institutionell geprägt und distanziere mich damit von einem ontologischen Tanzverständnis.{26}

    Fragen nach postkolonialen Dimensionen von Produktions-, Aufführungs- und Rezeptionsmechanismen im Tanz werden in der deutsch- und englischsprachigen Tanzwissenschaft eher sporadisch gestellt. Stellenweise werden in solchen Studien zwar globale oder postkoloniale Zusammenhänge beleuchtet, nicht aber die eigene Theoriebildung in Hinblick auf eine postkoloniale Haltung konsequent kritisch reflektiert. Hierzu zähle ich beispielsweise AutorInnen wie die amerikanische Tanzhistorikerin Janet O’Shea oder die in Deutschland und Großbritannien arbeitende Tanzwissenschaftlerin Sabine Sörgel. O’Shea untersucht in ihrer Monographie At home in the world: bharata natyam on the global stage Bharata Natyam auf seine globale Verortung hin und verfährt mit den theoretischen Kategorien des Transnationalismus und Lokalität.{27} Sörgel stellt in ihrer Studie Dancing Postcolonialism Fragen nach Identität und Hybridität in Bezug auf die National Dance Theatre Compagnie aus Jamaica.{28}

    Vielmehr orientiere ich mich in dieser Arbeit an Positionen, die eine reflexive und wissenschaftskritische Stoßrichtung haben. Hardt betont in ihrem Artikel Staging the Ethnographic, wie Zeitgenössische „westliche" Tanzpraxis nur selten mit postkolonial motivierten Fragen operiert.{29} Anhand von Stücken von Jérôme Bel und Eszter Salomon untersucht sie das jeweils spezifisch Ethnographische der Stücke und stellt Fragen danach, welche Implikationen deren Repräsentationsmodus hat. Dieser Artikel ist ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Inszenierung von Fremdheit im Zuge europäischer Zeitgenössischer Tanzproduktion und dient der vorliegenden Studie bezüglich der postkolonialen Verortung europäischer ChoreographInnen als Vorlage, gerade in Hinblick auf meinen Anspruch, keine Dichotomien zwischen „traditionell und „zeitgenössisch, oder „fremd und „westlich zu postulieren und fortzuschreiben. Auch die Anthropologin Marta Savigliano beschäftigt sich reflexiv und wissenschaftskritisch anhand von Tango Argentino mit postkolonialen Fragestellungen.{30} Die amerikanische Tanzwissenschaftlerin und Choreographin Susan Foster hat außerdem den Sammelband Worlding Dance herausgegeben und darin Beiträge versammelt, die sich ethnographisch mit Tanz beschäftigen und dieses Vorgehen auf koloniale Prinzipien hin theoretisch befragen.{31} Diesen Studien schließe ich mich insofern an, als ich eine postkolonial-kritische und selbstreflexive Haltung meiner eigenen Arbeit gegenüber einnehme sowie einen postkolonial-diskurskritischen Blick auf Zuordnungen und Festlegungen vollziehe, die in meinen Beispielen eine Rolle spielten.

    Auf der anderen Seite setzt sich die deutschsprachige und europaweite Ethnologie kaum mit dem Forschungsgegenstand Tanz auseinander. Einige wenige Untersuchungen beschäftigen sich mit Tanz bezüglich seiner rituellen, kontextuellen oder institutionellen Dimension, klassischerweise in von den ForscherInnen geographisch entfernten Regionen, bei Migrationsgemeinschaften oder in sogenannten „Volkstanz"-Kulturen im Residenzland der Ethnographin / des Ethnographen.{32} Dieser thematische Fokus befragt dabei selten koloniale Repräsentationsmechanismen von Fremdheit im Rahmen der Tanz- und der Wissenschaftspraxis. Vielmehr laufen solche Studien oftmals Gefahr, diese Mechanismen weiter zu konsolidieren.{33} Die Vorliegende Studie entzieht sich bewusst dieser Thematik und nimmt stattdessen das Konzept der Fremdheit selbst in den Blick, um es auf seine politischen Implikationen hin zu untersuchen.

    Eine Verschränkung von ethnographischen und tanzwissenschaftlichen Methoden und Perspektiven (ähnlich wie die bereits erwähnte deutschsprachige Studie von Pirkko Husemann) lässt sich vereinzelt in der anglophonen Tanzwissenschaft finden. Exemplarisch für eine solche Verbindung ist die Studie Sharing the dance der amerikanischen Kulturanthropologin Cynthia Novack, die soziale Konstellationen in der Szene der Kontaktimprovisation in den USA untersucht.{34} Die schwedische Sozialanthropologin Helena Wulff beschäftigt sich in ihrem Buch Ballet across borders mit Biographien professioneller BalletttänzerInnen in ihrem kulturellen, transnationalen

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