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Marie, Putin und das fünfte Gebot: über Liebe, Triebe und andere Banalitäten des Lebens
Marie, Putin und das fünfte Gebot: über Liebe, Triebe und andere Banalitäten des Lebens
Marie, Putin und das fünfte Gebot: über Liebe, Triebe und andere Banalitäten des Lebens
Ebook236 pages3 hours

Marie, Putin und das fünfte Gebot: über Liebe, Triebe und andere Banalitäten des Lebens

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About this ebook

Marie ist 28, ledig und sie lebt allein, sieht man von Putin ab, ihrem weißen Kaninchen, das sie ihrem Credo gemäß "Du sollst nicht töten" vor dem sicheren Tod bewahrt hat.
Wirklich glücklich ist sie nicht, aber ihr Leben als Vegetarierin - dennoch nicht ohne fleischliche Lust - ist in Ordnung, bis Jonas, ihr neuer Nachbar, mit seinem Dobermann Barack einzieht. Während die Tiere in friedlicher Koexistenz ihr Dasein Balkon an Balkon respektieren, setzt Marie Himmel und Hölle gegen Mann und "Bestie" in Bewegung. Erst eine attraktive Frau an Jonas? Seite weckt eine Art Sehnsucht in Marie, die sich aus Eifersucht und Einsamkeit speist. Trotz erstickender Zweifel beginnt sie Jonas zu begehren, obwohl sie "zusammenpassen wie Grützwurst und Kaviar". Doch ausgerechnet Jonas verstößt im hoffnungsvollen Moment gegen das fünfte Gebot …
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMar 22, 2015
ISBN9783738020113
Marie, Putin und das fünfte Gebot: über Liebe, Triebe und andere Banalitäten des Lebens

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    Marie, Putin und das fünfte Gebot - Maxi Hill

    Der Mann

    Das Bistro »Eule« ist nicht sein Lokal, etwas trieb ihn dahin. Er hat sich später gefragt, warum er dort war. Es war der Besuch von Petra. Sie kommt gewöhnlich, ohne ihn vorher anzurufen.

    Das Bistro war gut besucht: Männer mit sich und den Karten, Frauen außer sich und mit vielen Worten.

    Er kannte an jenem Abend nicht eine von den Frauen, die der Grund seiner späteren Besuche wurden. Da war die kleine blonde, zart und blass – zu klein für ihn und zu kindlich, obwohl sie nicht jünger schien als der aufgedonnerte Pudel mit dem bunten Haar und dem hochrot geschminkten Mund. Eine dritte trug einen Ehering, und sie war nur einmal dabei. Aber dazwischen wie immer: Marie …

    Marie. Ihren Namen kannte er freilich noch nicht. Nur die grünen Augen, das braune Haar und der traurige Mund schienen ihm seltsam vertraut.

    Vielleicht galt sie für den Rest der Männer als unscheinbar, aber von allen hatte er sie zuerst wahrgenommen, damals, als er aus Not hereingekommen war.

    Fängt sie vielleicht seinen Blick am besten ein? Strahlt sie das Licht der Bar in seine Richtung? Oder fluoresziert ihre Haut wie diese giftigen Leuchten, die keiner mehr mag, seit man sich gruselige Geschichten über die Krebs erzeugende Strahlung erzählt? (Diese Leuchten mag keiner, wer aber in ihrer Nähe ist, muss sie anschauen, muss die Magie einsaugen, die sie verströmen.)

    An der Bar sitzend, den Rücken zum Gastraum gewandt, beobachtete er im Spiegel der Vitrine die kleine Runde; offenbar Freundinnen. Marie hat seine Anwesenheit nie bemerkt. Nur einmal, als er nicht allein kam, änderte sich das. Einen so vernichtenden Blick vergisst man nicht so leicht. Zu ergründen war er nicht, so sehr er die Frau auch belauerte.

    Wenn die Zeit ihres Aufbruchs kam erhob sich Marie stets als letzte der Gruppe. Sie schaffte es dennoch, zusammen mit den anderen das Bistro zu verlassen. Solange sie noch sitzen blieb und die abgestandene Neige aus ihrem Glas hinunterstürtzte, erhielt sie die Aufmerksamkeit, die ihr sonst womöglich versagt blieb. Er hörte einmal, wie die Männer am Nebentisch wetteten, sie habe vielleicht eine feuchte Wohnung, sie habe vermutlich einen schlagenden Mann, oder sie fliehe vor einer garstigen Schwiegermutter.

    Das war alles nicht korrekt. Er hatte eine andere Erklärung. Marie verwandte nicht viel Zeit mit ihrer Garderobe und stand nicht so lange sinnlos vor dem Spiegel wie die anderen. Sie sah adrett aus. Zugegeben, sie war nicht die lauteste der Frauen. Sie war auch nicht die trinkfeste. Aber eines konnte sie: zuhören, wie der aufgebrezelte Pudel seine ordinären Stellungsberichte zelebrierte.

    Der Mann entdeckte in der Frau eine merkwürdige Nachdenklichkeit, sofern er sie einen Moment lang nicht mit hintergründigen Mannesaugen betrachtete. Er betrachtete sie in dem Moment durch die Augen eines gelangweilten Gastes, und er sah, dass sie nicht wirklich trank. Sie hob ihr Glas. Das schon. Aber es leerte sich kaum. Sie hob es wohl, um zu den anderen zu passen. Sie lächelte dabei verlegen und zupfte an ihrem dunklen Haar, wie es viele Frauen tun. Sie war angenehm groß (oder sollte er von jetzt an sagen: sie ist?), nicht so dürr wie die Blonde und nicht so aufreizend wie der gescheckte Pudel mit dem bombastischen Wonderbra unter tiefem Dekollete.

    Marie verbog sich nicht, wenn sie lachte. Sie saß sehr gerade und schlug auch kein Bein über das andere, wie die Dauerschwatzende in den hautengen Jeans und den hochhackigen Schuhen. Marie trug einen schlichten Rock, der ihre sehr langen, geraden Beine nicht verhüllte, und sie trug leichte Ballerinas. Einmal hat er sie essen sehen. Es ging bedächtig zu und es blieb viel auf dem Teller zurück, zu viel …

    Irgendwann standen zwei der Frauen auf und gingen hinaus (Frauen gehen immer zu zweit auf Toilette!). In nachtwandlerischem Gang rauschte Marie an ihm vorbei, ihre Blicke kreuzten sich zufällig, leider ohne Nachwirkung.

    Er konnte die Gedanken nicht lösen von diesem Gesicht mit den schläfrigen Augen und dem traurigen Mund. Noch rechtzeitig lief er ihr eines Nachts nach, musste ergründen, was die Männer der »Eule« zu unken wussten: ein schlagender Mann, eine schlechte Schwiegermutter? Er macht in solchen Momenten, wenn ihn der Wissensdurst packt, kein langes Federlesen.

    Die Luft vor der Tür roch nach Frühling und frischem Grün. Sie hob ihren Kopf und ließ ihn erhoben. Zögerlich, als wollte sie von irgendwem aufgehalten werden, ging sie nach Südwest. Sie lief den ganzen Weg allein, bog in jene Straße ein, an deren Ende sie wohnte, exakt dort, wo er bisweilen seinen Touareg wendet, wenn er Ben abholt. Mit einem Klick öffnete sie die Haustür und schlüpfte hindurch. Das Türschloss klickte zweimal, eine Tugend, die man selten findet.

    Sie wohnt in also in dieser ruhigen Straße, die ins Nichts führt. Sackgasse nennt man den Typ. Zu dieser Zeit waren die Fenster im Parterre und auch oben noch schwach erleuchtet. Nur in der Zwischenetage war alles dunkel. Er stand und wartete und wusste nicht worauf. Links ging das Licht hinter einem der Fenster an. Rechts blieb es duster. Er trat näher und schaute auf das Klingelschild, auf dessen Logik er vertrauen konnte. Die zweite Reihe von unten zeigte den Namen M. Neumeyer. Heute weiß er, das M steht für Marie. Daneben ein Klingelschild ohne Namen.

    Ist die Wohnung neben ihr unbewohnt? Schließt sie die Haustür ab, weil sie sich unsicher fühlt so allein auf der Etage? Dann sollte sie Nachbarschaft bekommen …

    Marie * Nachbarschaft

    Eigentlich müsste sie raus. Nicht nur raus, weg müsste sie. Am besten weit weg. Das kann sie nicht, wegen Putin. Sie hat ihm das Leben gerettet und jetzt soll sie ihn verlassen, einfach so, nur weil dieser Barack ständig Terror macht?

    Wahrscheinlich ist sie der einzige Mensch auf der Welt, der Putin liebt. Sie liebt ihn nur zwangsläufig, hat ihn ja gar nicht haben wollen. Und ein Mitspracherecht, ihn zu nehmen oder nicht, hatte sie nicht. Das hätte auch kein anderer Mensch bekommen. Keiner.

    Nein, sie hat Mitleid mit jedem Wesen, das fremdbestimmt ist und dem alle Welt ans Leben will. Sie will es nicht. Sie kann es nicht. Sie hat das Abschlachten miterlebt und mit eigenen Kinderaugen gesehen, wie die Opfer breitbeinig und kopfüber am eiligst zusammengezimmerten Galgen hingen, wie das Blut aus Mund und Augen troff, wie ihnen das Fell über die Ohren gezogen wurde. Und das ist nicht bildhaft gemeint. Es ist die wahre, niederträchtige, bestialische Realität, die noch heute den bitteren Würgereiz in ihrer Kehle erzeugt, wenn sie nur daran denkt. Jede Erinnerung an das Niederträchtigste überhaupt, was Marie Neumeyer in ihrem ganzen Leben auf dem Hof des Großvaters miterleben musste, kräuselt ihre Haut, stellt die Scheitelhaare senkrecht und drückt einen Felsblock in ihre Magengegend. Vor allem nachts, wenn es keine Bilder gibt, die sich zur Ablenkung eignen, wenn die Geräusche aus der Nachbarwohnung, wenn das Scharren und Knurren, das Trappeln und Raunen, ihre Ohnmacht ins Unermessliche verstärken. Dann kommen die Bilder der Kindheit zurück: Der Großvater schlurft mit dem blanken Messer in der Hand über den Hof und verrichtet schon bald sein blutiges Werk.

    Dabei war sie gerne bei ihrem Großvater, bis sie merkte, dass er ein Massenmörder war. Keine Spezies ließ er aus. Keine. Sogar jene, die er mit eigenen Händen gehegt und gepflegt hatte, die er mit Silberworten in der Goldkehle zu dem Einzigen gemacht hat, das sie später wurden … Kanonenfutter!

    Einer dieser alten Kanonenöfen stand in Großvaters Küche, schwarz, rund und gefährlich.

    Daran darf sie heute als vernunftbegabte Frau Ende zwanzig gar nicht denken. Vater sagt, in einer Familie hat man loyal zu sein. Jeder Mensch hat eine andere Haltung zur Schöpfung, egal welche Kreatur geschöpft wurde und egal woraus.

    Für Marie gilt seit dieser Erfahrung das fünfte Gebot und das hat Großvater gebrochen.

    Opa Hermann lebt schon lange nicht mehr, und sie hatte an seinem Grab bittere Tränen geweint. Zwar wusste sie nicht, ob die Tränen der großväterlichen Liebe galten, die sie immerhin bekommen hatte. Oder weil dieser Spruch, den ihm seine Weggefährten auf den Grabstein geschrieben hatten, zum Heulen war.

    Geachtet als Heger - Gestorben als Jäger

    Eingegangen in die ewigen Jagdgründe im Juno anno 1992

    Jedenfalls hatte etwas ihre traurigen Gedanken um den einst geliebten Menschen hinter jenen Bildern verwässerten, die für ein Mädchen ihres Alters unerträglich waren: Diese nackten, rosigen Körper. Diese leeren Augen. Die hervorstehenden Zähne! Das alles war zuviel für ein zartes Kind. Und dann kam Opa auch noch scherzend mit den abgetrennten Pfoten auf sie zu, an denen er das Fell belassen hatte.

    Nein. Sie brachte bei Tisch keinen Bissen herunter, auch wenn es schon Stunden zuvor lecker von der Kanone her roch. Vielleicht ging ihr das alles zu sehr ans Herz, weil sie jeden der Namen kannte, den Großvater seinen Karnickeln gegeben hatte. Mummel, Schnurz, Putz, Murks, Schrums.

    Am meisten liebte sie Purzel. Der hatte ebenso weißes, weiches Fell wie Putin, mit rosa Spitzen an den Ohren, mit kleinen rosa Flecken an den Backen, die unaufhörlich mummelten, als wären Kaninchen Wiederkäuer. Was mag aus Purzel und den anderen geworden sein?

    Genau daran musste sie denken, als sie bei der Tombola ihren Preis entgegenzunehmen aufgefordert worden war.

    »Ein weißer Rammler«, sagte der Mann, »jung und zart wie seine Gewinnerin!«

    Er zog das Tier aus einem hölzernen Käfig, an dem ein Schild mit dem Namenszug Putin klebte. Kraftvoll hob er das weiße Bündel an den Ohren in die Höhe, wartete bis der Beifall abebbte und schob es unvermittelt in ihre Arme, die sie eigentlich zur Abwehr vor dem Körper verschränkt hielt. Wie sie so dastand, irritiert von der Härte der Gedanken und geschmeichelt vom weichen Fell eines Wesens, das den Namen eines Möchtegern-Weltbeherrschers trug, ging das Gejohle der Kollegen beinahe im Wechselspiel ihrer Gefühle unter.

    »A’ Rammler, der hoad hinten mehr a Hirn ois wia im Kopf!«, grölte Ferdinand Vissler, der Bayernschönling, der schon mehrfach mit plumpen Versuchen bei ihr aufgeschlagen war, um sie zu einem One-Night-Stand zu überrumpeln: »Oiso Marie, pack ma′s, wiar beide?»

    Kein übles Bild von Mann, aber wenn sie seine Stimme hört, geht gar nichts mehr.

    Sie ist kein Mensch mit Vorurteilen. Beileibe nicht. Sie hasst Intoleranz wie der Teufel das Weihwasser. Aber diese selbstgerechten Bayern kann sie nicht ausstehen! Diese gamsbartbehüteten, krachledernen Seppelhosenmachos mit der Edelweißgemme am Hosenträgerschild, mit dem bairischen Slang und dem stapfenden Gang, mit der Maß aus dem Keller und der Weißwurscht im Teller, mit dem Häusl aus Holz und dem Arsch voller Stolz …

    Oh, wie kann sie hassen.

    Aber sie kann ebenso leidenschaftlich lieben. Sie ist bereit und sehr befähigt, sich einem Mann ganz hinzugeben. Bisher kamen leider entweder bornierte Machos oder langweilige Niestüten. Nein, da bleibt sie schon lieber solo, wozu hat man Freundinnen.

    Kira, Eva und Renate hatten mit Putin zwar auch nichts Freundliches im Sinn. Eva zitierte frohlockend Sokrates: »Ein gutes Essen bringt gute Leute zusammen.«

    Ein Festessen sollte es also werden. Zum Glück konnte Marie mit dem einzigen philosophischen Satz antworten, den sie je beherrschte: »Das Leben gibt und das Leben nimmt«. Und dabei blieb sie, auch wenn Kiras Schwärmerei noch so sehr die körperlichen Vorzüge des drallen Hasen pries, die ein opulentes Mahl ergäben. Und dann lachte sie laut und meinte: Es wäre nicht der einzige Putin, der am eigenen Leib erfahren müsste, wohin es führt, wenn man seine Sixpacks vor jedermann herausstellt (Kira ist immer und überall auf das Körperliche fixiert).

    Ob Muskelprotz oder Rammler, ob mit oder ohne Hirn, ob ganz oder in Teilen, ob von den Knochen befreit, gewickelt und gefüllt als Rollbraten – bei Marie setzte der Würgereiz just in dem Moment ein, als der Mann mit dem roten Wams auf dem dicken Wanst erklärte: »Das Fell nehm′ ich gerne zurück! Aber nur, wenn es unversehrt bleibt.« Sein Wurstfinger schwenkten drohend vor dem feisten Gesicht hin und her: »Zum Abledern ein besonders scharfes Messer nehmen!« Er lachte laut und furchtbar, wandte sich aber stracks dem zweiten Sieger unter den Gewinnern der Tombola zu. Ein Fahrrad, ohne Gangschaltung und ohne den so heiß begehrten Elektroschub, das er ebenso kraftvoll gen Himmel hob, wie zuvor Putin. In diesem Moment dachte sie: Warum hast du nicht das Fahrrad gewonnen? Ein Fahrrad hätte treue Dienste leisten können. Es war vielleicht gar nicht ganz neu, zumindest was den Produktionsausstoß betrifft. Der konnte glatt vor ihrer Geburt gelegen haben, denn auf dem Rahmen stand schräg und silbern und fett Mifa.

    Wie gut hätte ihr erst der Hauptgewinn getan: Eine Flugreise nach Ibiza …

    Heute denkt sie nicht mehr so. Heute ist sie glücklich, Putin zu haben, aber jetzt, hier im Bett bei den nächtlichen Geräuschen von nebenan gefällt ihr der Gedanke, in diesem Moment in einem Flieger zu sitzen, die Welt von oben zu betrachten, sich wie der Schöpfer zu fühlen und an nichts zu denken, was tagtäglich ihre belanglose Pflicht ist, im Dienst wie auch zu Hause, seit sie in dieser Wohnung wohnt und für sich und ihr Leben selbst zu sorgen hat. Ein paar Tage lang würde sie diesem nervigen Nachbarn entfliehen. Eigentlich meint sie nur Nachbars dauerkläffende Töle. Mindestens einmal pro Woche kläfft das Vieh. Da wäre eine Auszeit doch recht und billig. Aber nun? Nun schleuderte eine Tombola Putin in ihr Leben und gleich danach da draußen auf den Balkon in die kleine, aber immerhin doppelt so großen Bucht wie jene, die sie aus dem Schuppen ihres Großvaters kennt. Dort in dem kleinen Dorf, das die guten und die weniger guten Erinnerungen wahrscheinlich noch immer an manch einem Zaunpfahl, an Bäumen und Steinen, an Wänden und Türen, ja sogar in der würzigen Landluft aufbewahrt, ging es dem Altvordersten immer um die Familie, ums Sattsein, um Zufriedenheit, um Wärme im Fellmantel oder um Weichheit im Federbett. Die Kreatur, die diesen Vorteil für die Bestie Mensch mit ihrem Leben bezahlte, zählte nicht. Das hatte das Kind Marie lange nicht durchschaut, und es wäre so geblieben, hätte sie nicht eines Tages gesehen, wie Großvater das Messer wetzte, wie er ein schmales Holz mit einem Seil zu einem Dreieck verband und an der Schuppenwand aufknüpfte. Ihm zuzuschauen wenn er schnitzte - und das tat er gerne im Wald, um die Zeit zu verkürzen, bis er mit seinem Feldstecher das Wild aufspürte – das mochte sie nur allzu gerne. Dieses Schnippen der Späne, die sich rollten, als wären sie aus Seide. Dieses Krümmen und Schaben, dieses Aushöhlen und Tasten, bis das Wunder eines kleinen Schäfchens, einer Tanne oder einer buckelnden Katze vollbracht war. Sie besitzt die kleinen Figuren alle noch in irgendeiner Schachtel, die sie irgendwo an einer Stelle aufbewahrt, die sie vergessen hat, verdrängt, verleugnet, ver … ach, was soll das.

    Niemals hätte sie geglaubt, was die liebevollen Hände ihres Großvaters überdies zu tun imstande waren. Hände, die so oft über ihren Scheitel glitten, die ihr Kleidchen glatt strichen, wenn sie allzu wild miteinander herumgetollt waren. Raue Fäuste, die ihr die warmen Eier von Huhn Berta in die kleine, zarte Hand drückten – vorsichtig und mit einem Augenzwinkern, das die Köstlichkeit am Frühstückstisch vorausahnen ließ. Sogar den mahnenden Zeigefinger, wenn sie übermütig die Hühner jagte, konnte sie noch unter Güte einordnen. Aber das nicht …! Nicht das, was sie eines Tages sehen musste. Unfreiwillig und unvorbereitet. Ja sogar unkommentiert, trotz ihrer Tränen.

    Das Holz, das mit dem Seil verknüpft war, steckte zwischen den beiden Knochen der Hoppelbeine jenes Tieres, das sie in rücklings hängender Position gar nicht mehr als Tier erkannte. Dann schnitt das Messer in das Fell und trennte es oberhalb der Pfoten ab – was in der rücklings hängenden Position unterhalb der Pfoten war. Zentimeter für Zentimeter zogen die rauen Opa-Hände das Fell über das Fleisch, das rosig mit einer dünnen weißlichen Haut bedeckt mehr und mehr zum Vorschein kam. Es knirschte dabei wie Pergament, dass es ihrem Kinderherz nur so grauste. Etwas im Tier musste sich gegen die Brachialgewalt des Fellabziehens gewehrt haben. Das blanke Messer ratschte in kurzen Schnitten zwischen Fell und Fleisch und löste das eine vom anderen, bis hinunter zur Kaninchengurgel …

    Das war der Moment, an dem sich ihr angewiderter Mund wieder schloss und der Würgereiz ungestüm dagegen drückte. Keinen Moment wollte sie noch in Opas Nähe bleiben. Sie wollte nichts hören oder sehen, nur das links gedrehte Fell sah sie später noch auf einen Holzrahmen gespannt im Schuppen hängen. Das heißt, sie sah nichts als blutverschmierte Haut mit einem dicken Fellrand am breiten Ende des Dreiecks. Die Blutschlieren verloren sich bald und dann zog der Großvater das hölzerne Dreieck heraus, stülpte den kläglichen Rest des einst munteren Tieres um und schob das hölzerne Dreieck wieder in das Innere und das unversehrte Fell entfaltete sich wie einst bei …

    Erst jetzt erkannte Marie das Fell, das einst Schnurz bekleidete. Schnurz wohnte oben links in der Sechser-Bucht. Gerade ihm hatte sie auf Zehenspitzen unentwegt Löwenzahn durch das Gitter geschoben, damit er nicht länger der kleinste bliebe. War sie also schuld an seinem Schicksal?

    Der Schauer in ihrem Leib war stark mit den Eingeweiden verknüpft. Es war widerwärtig, wie die Hände des schlachtenden Großvaters das schöne Fell liebkosten, wie die faltigen Schweinchenaugen listig gierten. Es waren nicht mehr die warmen Blicke und längst nicht mehr die liebevollen Opa-Hände.

    Schnurz also war das Opfer. Ihr war die Angelegenheit nicht schnurz. Sie konnte nie wieder einen Bissen Fleisch herunterwürgen. So gerne sie der Liebling des Großvaters bleiben wollte, es gab seit diesem

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