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Fastenzeit: Eine Geschichte über das Wichtigsein
Fastenzeit: Eine Geschichte über das Wichtigsein
Fastenzeit: Eine Geschichte über das Wichtigsein
Ebook195 pages2 hours

Fastenzeit: Eine Geschichte über das Wichtigsein

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Als Kind war Jorge der Star seiner eigenen Fantasie-Fernseh-Show, die er hingebungsvoll für ein imaginäres Publikum zusammenschnitt und mit seiner Lieblingsmusik untermalte. So konnte er am besten vergessen, dass seine liebestolle Mutter, ihn regelmäßig ins Treppenhaus verbannte und dass Kai-Uwe auf dem Schulhof seine Schikanen an ihm vollzog. Heute ist Jorge auch ein Star. In der Entwicklungsbranche fliegt er um die Welt und umgibt sich mit Hotelluxus und egozentrischem, zynischem Glamour - bis er die geheimnisvolle Katarina trifft und eine Wette mit ihr abschließt. Er wird sie nur wiedersehen, wenn er es schafft, sechs Wochen auf etwas zu verzichten, dass ihm sehr wichtig ist... Fastenzeit ist ein Bildungsroman, der zwischen Brüssel, London, Zagreb und Seoul spielt und vom magischen Realismus beeinflusst ist. Jorge ist ein moderner Bösewicht oder Antiheld. Seine "Fastenzeit" entpuppt sich als Reise zu sich selbst.
LanguageDeutsch
Release dateMay 21, 2015
ISBN9783738024531
Fastenzeit: Eine Geschichte über das Wichtigsein

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    Fastenzeit - Miguel Peromingo

    Fastenzeit

    Miguel Peromingo

    Para Mama y Papa

    Two of a kind and no one home,

    I’m in a crowd and I’m still alone

    (One of a kind, Placebo)

    Children begin by loving their parents; after a time they judge them; rarely, if ever, do they forgive them.

    (Oscar Wilde)

    In einem 5-Sterne-Hotel nördlich des Han-Flusses in Seoul tritt ein junger Mann in die hell erleuchtete Lobby. Auf dem schimmernden Marmorboden in der Mitte des Raums steht ein Springbrunnen, dessen Wasserstrahlen leise in verschiedenen Farben plätschern. Das Stimmengewirr an der Rezeption hebt und senkt sich wie das Summen eines Bienenschwarms.

    Auf dem Weg zum Fahrstuhl wird er von einem Mädchen angesprochen. Sie trägt eine Mütze und scheint sich ihre Wangenknochen plastisch behandelt haben zu lassen. Ihre Augen wirken eurasisch. Ihr Mund ist rot geschminkt und spitzt sich beim Reden. Sie wirkt unbeschwert, fragt den Mann, ob er Gesellschaft suche. Er schüttelt den Kopf, drückt auf den Knopf für die Fahrt nach oben. Ihre Stiefel sind bordeauxfarben und schlecht geputzt. Sie bleibt die ganze Nacht, wenn er das wünscht, fügt sie hinzu, Europäer nähme sie besonders gern, sagt sie, bevor sich die Fahrstuhltür vor ihr schließt. Der Mann schaut auf die Uhr. Der Lift wird während der Fahrt nach oben immer schneller. Das Signal, das die Ankunft anzeigt, ist laut und klar.

    Unter der Dusche stellt er aus einer Auswahl verschiedener Hintergrundprogramme das Vogelzwitschern ein. Das Licht ist, dazu passend, hell wie Sonnenstrahlen. Ganze Schwärme gut gelaunter Vögel begleiten seine akkurate Wäsche. Er benutzt den Duschkopf in seiner Massagefunktion und lässt ihn langsam und gleichmäßig über seinen Körper gleiten. Insbesondere seine Haare, seine Achselhöhlen, die Genitalien und seine Füße braust er sorgfältig ab. Mit einem Ladyshaver entfernt er ein paar wenige Schamhaarspitzen. Dann steckt er den Duschkopf auf die dafür vorgesehene Stange und wäscht sich das Shampoo ab. Vorher stellt er die Massagefunktion aus, damit sein Haar durch den hohen Wasserdruck nicht unnötig in Mitleidenschaft gezogen wird. Mit beiden Fingern massiert er seine Kopfhaut, um die Durchblutung anzuregen.

    Er steht nun vor dem viertürigen Kleiderschrank seines Zimmers im 35. Stock, Executive Floor. Sein Bademantel ist flauschig und liegt eng an. Man kann seine schlanke Figur erahnen. Sein Haar ist dunkel, fast schwarz. Die Augen ebenfalls. Sein Gesicht zeigt keinerlei Lächeln. Er gleitet mit seinen frisch eingecremten Fingern durch die Sammlung seiner zweifarbigen Designerhemden mit Manschetten. Die Creme, die er für seine Handpflege benutzt, ist schnell einziehend und deswegen kein Problem für die hochpreisige Textur seiner Hemden.

    Im Fernsehen laufen Nachrichten. Kim Jon Un schüttelt die Hände chinesischer Diplomaten, untermalt vom Stampfen einer Militärkapelle.

    Der junge Mann greift ein Paar blau gestreifter Boxershorts aus dem Schrank, dazu schwarze Socken und ein Hemd mit doppeltem Kragen in kräftigem Rot. Die schwere Schranktür gleitet langsam zu und gibt einen gedämpften Laut von sich, als sie sich ganz schließt.

    Er legt die Kleidung vorsichtig auf das Bett. Ein Dutzend samtene Kissen liegen auf dem frisch gestärkten Laken verteilt. Er wirft mehrere davon auf den Boden, schaut auf die Uhr.

    Er tritt ans Fenster und blickt herab auf ein Meer von metallenem Blau, auf Glas und grelle Leuchtreklamen in rechteckigen Lettern. Die Klimaanlage im Zimmer summt und macht ein Öffnen der Fenster überflüssig.

    Als der junge Mann nach einem Glas Wasser greift, das neben seinem Laptop auf dem dunkelbraunen Schreibtisch steht, lässt ein weißer Blitz ihn vor Schreck rückwärts auf das Bett fallen. Bevor das Wasserglas sich, ohne zu zerspringen, über den dicken Teppich ergießt, hört er den Knall. So laut, dass ihm fast die Sinne schwinden.

    Als Kind stellte ich mir regelmäßig vor, der Hauptdarsteller in einer Fernsehshow zu sein, die auf einem, eigens dafür eingerichteten Sender mein Leben in Echtzeit zeigte. Anders als bei diesem Penner Jim Carrey, war ich mir dieses Sendeformats aber voll bewusst, und was dort gezeigt wurde folgte einem genauen Plan in meinem Kopf, nicht dem eines verrückten Regisseurs. Der Großteil des Sendematerials entsprach der Realität entweder gar nicht oder wandelte sie zumindest in eine für mich günstige Version um. In allen Szenen stand ich im Rampenlicht. Schwierige Situationen meisterte ich in einer Form, die mich immer als Gewinner oder als moralisch Überlegenen aus ihnen herausgehen ließ. Das war auch nötig, denn mein wirkliches Leben enthielt sehr wenig Glamouröses oder Erhabenes.

    Da mir eine ganztägige Ausstrahlung zu anstrengend und unpraktisch erschien, entschied ich, welche Teile meines Tages über den Äther gehen sollten. Immer dann, wenn ich mich in Position brachte, um „on air zu gehen, zählte ich in Gedanken „3, 2, 1 an und ergänzte nach einer kurzen dramatischen Pause „klick. Dieses „klick öffnete mein Leben einer ungezählten Gruppe interessierter Zuschauer und blendete dabei den reizlosen Teil meines Alltags als Heranwachsender aus.

    Warum es in meinem Leben am nötigen Glanz und Glamour mangelte, hatte verschiedene Gründe.

    Einer war zum Beispiel, dass ich ein gigantischer Angsthase war. Ich habe heute keinerlei Bedenken, das ganz offen auszusprechen. So ziemlich meine erste Erinnerung ist die, als ein Bekannter meiner Mutter mich mit einer afrikanischen Maske dermaßen erschrak, dass ich mich bis in mein Erwachsenenalter nicht mit maskierten Gesichtern habe anfreunden können. Ich war damals fünf Jahre und die garstigen Augenschlitze der vermaledeiten Holzlarve verfolgten mich über viele und lange Jahre. In der Schule konnte ich dadurch an keinem Kostümfest teilnehmen. Karneval war eine indiskutable Veranstaltung für mich und Halloween fühlte sich an wie ein Alptraum, in dem ich die Minuten zählte, bis die schadenfrohen Skelette und hinterlistigen Kürbisköpfe zu Ende getanzt hatten.

    Damals waren meine Mutter und ich zu Besuch bei Katja und Kurt, einem freundlichen älteren Paar, das uns ab und zu ihre heiligen Samstagnachmittage widmete. Sie verband sie sogar zu einem Wort, Katjaundkurt; sie tat das mit einer gewissen Ehrfurcht, so als wäre ihr diese Verbundenheit selbst zwar fremd, aber dennoch als eine bemerkenswerte partnerschaftliche Errungenschaft zu goutieren. Sie hatte Katja in der Waschküche kennen gelernt. Da sich meine Mutter vermutlich, wie sie das all die Jahre tat, sehr ungeschickt angestellt hatte, half ihr Katja beim Zusammenlegen der Wäsche.

    Wie ich in einer der Geschichten erfuhr, die sich bei meiner Mutter ihr ganzes Leben lang in Erzählrotation befanden, wechselten Katjaundkurt mehrmals in der Woche ihre Bettwäsche und Handtücher, sodass sie trotz ihrer soliden, und aus Sicht meiner Mutter völlig überteuerten Miele-Waschmaschine, auf einen externen Trockner angewiesen waren und aus diesem Grund regelmäßig neben Studierenden und verkrachten Existenzen in der Waschküche auftauchten. Wir wechselten die Bettwäsche nicht besonders regelmäßig. Bereits einige Male habe ich mir überlegt, dass es bei der Menge an Körperflüssigkeiten, die regelmäßig ihren Weg auf Laken und Bezüge fanden, aber durchaus angebracht gewesen wäre. Das ist aber jetzt gar nicht das Thema.

    Bei Katja und Kurt gab es immer Kaffee und Kuchen. Auch diese zwei Begriffe hätte man miteinander verbinden können, denn in ihrer unglaublich sauberen Wohnung wurde über Jahre hinweg aus einem geblümten Kaffeeservice, dessen Porzellan angenehm klirrte, ein dünner, wohlriechender Kaffee sowie, auf den dazugehörigen Tellern, selbst gemachter Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte serviert. Da ich schon in meiner frühen Kindheit Kaffee trinken durfte, wird meine Erinnerung an Kaffeeundkuchen nicht durch bröseligen Rührkakao oder lauwarme Milch getrübt.

    Die Maske trat damals ungebeten zum Kaffeekränzchen hinzu, weil Reinhard, der alkoholkranke Volltrottel von Schwiegersohn im Katjaundkurt-Ensemble, bereits einige Biere getrunken hatte und es lustig fand, mich, das verschüchterte Kind, das auf keine seiner Witze reagiert hatte, aus der Reserve zu locken. Ich fiel damals in Ohnmacht, als sich die afrikanische Fratze plötzlich vor mir aufbaute. Ich will nicht lügen, aber ich glaube ich machte mir auch in die Hose. Ein plötzlicher, beißender Geruch mischt sich da in meine Erinnerung. Thematisiert wurde das später nie wieder. Reinhard hatte sich aber mit jener Aktion einen festen Platz als „Bad Guy" in meiner späteren Fernsehshow gesichert.

    ***

    Ein weiterer Dauerkandidat für diese Rolle war Kai-Uwe, ein Mitschüler aus meiner Grundschulzeit. Als ich ihn neulich abends gegoogelt habe, erfuhr ich, dass er bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist.

    Bereits damals, in den ersten Jahren seiner misslungenen Schulkarriere, sah er wie ein Motorradfahrer aus. Er trug eine viel zu große Lederjacke, die irgendwie nach Hundekot roch, und ging grundsätzlich breitbeinig. Bevor sich Kai-Uwe Jahre später den Hals abfuhr, schikanierte er, zumindest in den vier Jahren, die ich ihn kannte, ordentlich seine Umwelt – und insbesondere mich. Was er in seinem jämmerlichen Leben danach tat, weiß ich nicht und es ist mir auch gänzlich egal. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er nach der verkorksten Schulzeit, in der er bestimmt sein Taschengeld erst durch Mobbing aufbesserte und dann durch den Verkauf verschnittener Drogen, sein Leben damit verbrachte, illegale Motorradrennen in Tiefgaragen oder auf gesperrten Baugeländen zu organisieren. Bei einem solchen Rennen war er nämlich draufgegangen. Viel mehr, so bin ich mir sicher, ist bei ihm nicht passiert. Mit Frauen zum Beispiel kann Kai-Uwe nicht viel zu tun gehabt haben. Neben seiner stinkenden Lederjacke sorgte auch sein brutales und hässliches Gesicht dafür, dass sich ihm kein Mädchen näherte. Die Mädchen in der Grundschule jedenfalls hassten ihn und ermutigten mich dazu, dass ich mir nicht gefallen lassen sollte, was er mit mir machte.

    Was das genau war, tut jetzt nichts zur Sache. Um ganz ehrlich zu sein, habe ich das meiste auch vergessen. Eine Szene ist mir in Erinnerung geblieben, weil sie seine späteren Auftritte in meinem 3,2,1-Klick-Setting begleitete. Ich komme noch darauf zurück.

    Diese Szene illustriert nämlich noch einen weiteren Grund für die Abwesenheit von Glamour in meinem früheren Leben, nämlich meine bedingungslose Passivität, selbst im Angesicht der Gefahr.

    Jahre später sieht mein Leben übrigens schon viel besser aus. Ich arbeite heute in Brüssel als erfolgreicher Entwicklungshelfer. Die Entwicklungshilfe mit der ich zu tun habe, ist aber nur eine Lightversion davon. Ich bin Projektleiter im Capacity Development, reise also nicht in Länder, die voller Malaria und stinkender Straßen sind, sondern in solche, die schon ein paar Dollar Bruttoinlandprodukt auf der hohen Kante haben und nur noch einige freundschaftliche Schubser von den modernen Kolonialstaaten brauchen, um auf der globalen Bühne mitmischen zu können. Das ist hochsensibel und gut bezahlt.

    An Geld mangelt es mir nicht und das ist gut so, denn ich sehe nicht ein, warum ich ein bescheideneres Leben führen sollte. Ich habe Brüssel gewählt, weil es nicht so teuer ist wie London oder New York und eine höhere Anzahl an gut aussehenden Frauen bietet. Die Belgierinnen selbst sehen mit ihren ungeschminkten, sauberen Gesichtern und großen Brüsten schon lecker aus, werden allerdings mit der Zeit immer fetter und grimmiger. Der besondere Reiz jedoch entsteht durch die Mischung der ausländischen Frauen aus Europa und dem Rest der Welt. Da die meisten bei irgendwelchen unbedeutenden internationalen Organisationen für eine überschaubare Zeit arbeiten, verhalten sie sich alle, als seien sie mit einem ERASMUS-Stipendium im Auslandssemester. Für mich ist das die optimale Manövriermasse.

    Ich bin nicht überarbeitet, weil mein Büro den Kleinkram übernimmt. Ich muss abends nicht zu Frau und Kind, sodass ich mich voll auf meine wesentlichen Interessen konzentrieren kann: Geselligkeit und Frauen.

    ***

    Jetzt gehe ich zu Charlotte, oder eigentlich kann sie auch Catherine oder Carine heißen. Interessanterweise haben die flämischen Angehörigen der belgischen Kleinstaaterei ja trotzdem französisch klingende Namen, obwohl sie ihre wallonischen Ko-Patrioten ja am liebsten in der Hölle würden schmoren sehen – und umgekehrt. Jemand, der mit Nachnamen Verbruggen heißt, kann also durchaus aus Namur kommen, Rotwein trinken und, so erzählen es sich die Flamen, den ganzen Tag auf den Eingang seines Arbeitslosengeldes warten, während jemand der Lepont im Pass stehen hat, aus Gent stammen kann und sich pflichtbewusst den Allerwertesten abarbeitet, um das Land nach vorne zu bringen. Charlotte ist Flämin und wird dafür sogar bezahlt. Sie wohnt in St. Catherine, oder Sint-Katelijne, in der Brüsseler Innenstadt und erhält von der flämischen Gemeindeverwaltung, die diesen Stadtteil gern in den Händen des alten bildungsbürgerlichen und fleißigen Flamen wähnen würde, einen Zuschuss zu ihrer Miete. Ein Wallone oder, Gott bewahre, ein Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit in Belgien, würde auf die Zuschussanfrage lediglich einen Tritt in die Eier bekommen.

    ***

    Ich gehe über den ehemaligen Fischmarkt, der heute von Restaurants bevölkert wird, die ihre überteuerten Moules Frites anbieten. Die Häuser, in denen sie untergebracht sind, biegen sich in alle möglichen Richtungen. Die abgeblätterte Farbe der Fassaden leuchtet – Gelb und Blau und ab und zu ein wenig Rot. Die Farben des guten Wetters, das man hier fast nie zu Gesicht bekommt. Ist für mich kein Problem, diese Restaurantpreise zu bezahlen. Für den subventionierten Flamen, der hier, auch bei kaltem Wetter, gern unter dem Heizpilz sitzt, ebenfalls nicht. An einer Ecke werden frische Krabben und kalter Weißwein serviert. Die zwergwüchsige und rotgesichtige Nachbarschaft steht Schlange.

    Meine heutige Sexpartnerin wohnt hinter der Kirche. Sie will, der Gegend angemessen, einen Sushi-Abend mit mir veranstalten. Auf die Implikationen, die das mit sich bringt, freue ich

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