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Glutwächter
Glutwächter
Glutwächter
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Glutwächter

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About this ebook

Ein Dorf in Mecklenburg.
Ein Moor.
Ein Haus.
Der Zweite Weltkrieg.
Die Wiedervereinigung.
Nationalsozialismus.
Fremdenhass.
Neonazis.
Eigentlich wollten Stefan und Tanja nur ein Haus kaufen.
Im mecklenburgischen Krähenstein, einem verschlafenen Dreihundert-Seelendorf. Was daraus werden würde, und welche Fäden dort zusammenlaufen, war nicht absehbar.
Eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt.
Dunkel, grausam, berührend.
Eines haben alle Geschichten gemein.
Das Moor vergisst keine von ihnen.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateFeb 26, 2017
ISBN9783742795762
Glutwächter

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    Book preview

    Glutwächter - Burkhard Friese

    Prolog

    Glutwächter

    Roman

    Mein Dank gehört Jana, für die unermüdliche Kritik, für die Hilfe bei den Korrekturen und für die Unterstützung bei den nicht immer einfachen Überarbeitungen.

    Er gilt auch den Lesern meiner Geschichten und deren Neugier, sowie der Ermunterung zum Beenden dieses Romanes. Alle Zeiten, Figuren, Orte und Handlungen sind frei erfunden.

    Ich war lange hier! Noch bevor es die Menschen gab. Lange bevor sie versuchten, mich zu kultivieren und zu erobern. Ich wurde verehrt, geheiligt und entweiht. Ich kann Leben schenken und auch Leben nehmen. Ich wurde angebetet und zum Teufel gejagt. Opfer wurden mir dargebracht und Geheimnisse in mir versteckt. Ich war ein Ort des Anfangs und ein Ort des Endes. Was nie wieder auftauchen sollte, wurde mir anvertraut. Mit Gewalt wurden mir Geheimnisse entrissen; die Meisten aber konnte ich bewahren.

    Ich bin die Welt in der Welt und bewahre für die Menschen Neugier und die Fähigkeit sich zu wundern. Doch der hat sich im Laufe der Jahrhunderte an mich gewöhnt. Sie haben den Respekt vor mir verloren, und doch bin ich der Ort von Furcht und ängstlichen Träumen. Die Menschen ahnen es, doch ich weiß es. Immer näher rücken die Menschen mir. Doch wirklich erfassen können sie mich nie. Ich bin der Bewahrer von Mythen, Geheimnissen und Schätzen. Ich erzähle die wahren Geschichten.

    Es ist an der Zeit die Ohren zu spitzen und sich umzusehen. Zeit für neue Geschichten.

    Kapitel 1

    Nur der Vollmond konnte als verschwommene Scheibe den feuchten Nebel durchdringen.

    Hinter dem Nebel war alles, im Nebel war nichts, unter dem Nebel war ich. Jedes Geräusch wurde rasch verschluckt.

    Ein Schwarm Enten schreckte lautstark hoch und schlug wild mit den Flügeln auf meine ölige Oberfläche. Jede Farbe verblasste. Die Glocke vom entfernten Gutshof schlug dreimal auf alter Bronze. Büsche quälten sich aus meinem Leib und zeigten sich schamhaft.

    Stefan schalt sich einen Narren. Hinter ihm war nichts. Der feuchtkühle Nebel drang in seine Lungen und lockte Husten aus seinem Hals. Eine Ahnung von alten Pappeln hing im Dunst. Stefan widerstand dem Bedürfnis, seinen Kopf zu wenden.

    Der Boden schmatze gierig bei jedem seiner Schritte. Tief in ihm steckten seine Stiefel.

    Hinter dem Nebel war alles, im Nebel war nichts, unter dem Nebel war ich.

    Es knackte im Unterholz. Stefan zuckte. Wind schlich aus Osten heran. Vielleicht der Vorbote eines Sturmes, der den Nebel und alles, was in ihm war, mit sich reißen würde. Schon verfing er sich im Knick. Stefan musste sich beeilen.

    Noch klebte der Nebel auf der fauligen, halbgefrorenen Oberfläche. Gefangen war er im Tal. Verfangen zwischen den Ästen im lichtschluckenden Wald.

    Stefans Lungen stemmten sich gegen das nasse Tuch. Das dämmrige Licht des Mondes ließ den Nebel von innen herausleuchten. Eine Katze schrie. Dann wieder dichter werdende Stille. Stefan konnte nur schwerlich dem Impuls widerstehen, sich in den Umbau hinter der Fahrerkabine zu legen, die Standheizung anzumachen, etwas Musik zu hören und sich zur Seite zu drehen.

    Er war müde und angespannt. Selbst das Rascheln seiner Jacke war ihm zu laut. Er zog sie aus und ließ sie auf die morastige Haut zu seinen Füßen sinken. Seine Finger tasteten sich am Aufbau des Transporters zum Anhänger nach hinten. Die farblosen Umrisse des Minibaggers ahnten seinen Blick. Stefan kniff die Augen zusammen. „Merde!", fluchte er, als er sich die Hand an einer scharfkantigen Ecke der Ladeklappe riss. Er fluchte immer auf Französisch. Es drückte alles aus, aber klang nicht so hart wie das deutsche Pendant. Stefan schaute sich um. Seine Jacke verschmolz mit der matschigen Fläche.

    Er löste die linke Verriegelung der Ladeklappe, langsam, viel zu laut. Dann löste er die rechte. Metall schlug gegen Metall. „Zut alors! Stefan zuckte zusammen und riss den Kopf herum. Wieder die schreiende Katze. Kein Licht, kein weiteres Geräusch. Stefan zog die beiden Auffahrrampen aus Aluminium von der Ladefläche und drückte sie in die Verankerungen über der Klappe. Dabei schaute er sich ständig um und versuchte die Wand aus Nebel und greifenden Ästen zu durchdringen. Die nasse Luft lockte erneut den Husten. Stefan ging zurück zur Fahrerkabine. Wieder trat er auf seine Jacke und drückte sie tiefer in den morastigen Untergrund. „Oh flûte! Stefan lachte. Es brach aus ihm heraus, unbändig laut. „Nun mal leise", kicherte er und zog sich in die Fahrerkabine seines VW LT. Seine Finger zitterten am Knopf der Standheizung. Er stierte durch die Windschutzscheibe in den Nebel. Zweimal wischte er das Kondenswasser von der Scheibe, bis das Gebläse endlich das Fenster frei und die Kabine warmhielt. Stefan griff nach rechts auf den Beifahrersitz zum Thermobecher. Er wusste, dass er leer war. Dennoch setzte er den Becher fordernd an seine Lippen. Jeder Tropfen Espresso half ihm, sich zu konzentrieren. Die letzten Tropfen folgten nur widerwillig seinem Schlürfen.

    „Ich könnte mir einen in der Kabine machen", dachte er. Ein tiefhängender kahler Weidenast klopfte an das Kabinendach. Stefan wusste, dass es Zeit wurde, und nahm das Klopfen als Startsignal. Er setzte sich seine blaue Wollmütze auf und zog sie über die Ohren tief ins Gesicht und weit in den Nacken. Dann schlüpfte er in die verdreckte Arbeitsjacke und stellte den Kragen auf. Diesmal schlug er die Tür ins Schloss. Der Nebel schluckte jedes Geräusch und gab es nur zögerlich wieder frei. Es gab keinen Grund still zu sein. Stefan drückte seinen Kopf zwischen die Schultern und rollte ihn von links nach rechts. Sein Nacken schmerzte. Er roch den fauligen Matsch an seiner Jacke. Die wenigen Schritte am VW LT vorbei rutschte Stefan nach hinten. Dabei wühlte er in seinen Taschen nach dem Schlüssel für den Kubota Minibagger.

    Mit einem Ruck öffnete Stefan dessen Kabinentür. In seinem Kopf kreisten die Anweisungen des Vermieters. Er hoffte, den Bagger ohne abzurutschen von der Rampe zu bekommen. Dabei lachte er kurz auf, welch tolles Bild: Ein Minibagger auf der Seite und er darin eingeklemmt.

    Stefan dachte an seine Mutter, die wenige hundert Meter weiter im Haus saß. „Ich muss mich konzentrieren", flüsterte er in die Kabine.

    Sein Blick schweifte über Hebel und Anzeigen. Bei kalter Witterung den Motor vorglühen und zehn Minuten warmlaufen lassen, fiel ihm ein. Stefans Hand zitterte, als er den Schlüssel in das Zündschloss steckte. Die Vorglühanzeige leuchtete kurz und erlosch wieder. Stefan drehte den Schlüssel ganz herum. Der Motor stotterte erst und lief dann unruhig an. „Ich verzichte auf das Warmlaufen", murmelte er, legte die Hände um die Lenkhebel, öffnete sie wieder und ballte sie um die Hebelköpfe herum zu Fäusten. Stefan zog beide Lenkhebel nach hinten. Der Anhänger wackelte. Die Raupen quietschten. Der Bagger rumpelte rückwärts.

    „Merde, Merde! fluchte Stefan die Lenkhebel an, als der Bagger auf die Rampen schwankte. Kurz ließ er den rechten Hebel los. Die linke Kette drehte weiter. Stefan zog den rechten Hebel wieder nach hinten und merkte, wie der Bagger schräg wegrutschte. „Nicht loslassen! befahl er seinen Händen. Langsam richtete sich der Bagger aus, rollte von der Rampe und blieb stehen. Die Kabine war beschlagen. Stefans Stirn war nass. Er holte zweimal tief Luft und drehte den Bagger auf der Stelle, indem er den linken Lenkhebel nach hinten und den rechten nach vorne schob. Die Raupen fraßen sich schmatzend durch den matschigen Untergrund. Dann rollte er vorwärts.

    Ich empfinde keine Schmerzen; ich habe keine Gefühle.

    Stefan hatte die Kabinentür geöffnet. Es roch faulig. Blätter und Gräser westen. Es stank nach sterbender Erde, es stank nach Leben.

    Nach einigen Metern blieb Stefan stehen. Der Nebel verweigerte dem Scheinwerferlicht die Sicht.

    Der Nebel ist mein Freund. Genau wie die Nacht die Verbündete der Liebenden und der Bösen ist; und das seit Jahrtausenden.

    Stefan schüttelte seinen Kopf. Erst jetzt erkannte er die Unsinnigkeit seiner Suche. Er wagte sich kaum tiefer ins Moor und wusste nicht, wo er anfangen sollte.

    Ich könnte es ihm sagen, ihm den Weg weisen. Ich habe mich nie eingemischt.

    Der Wind blies stärker und lockte den Nebel ihm zu folgen. Stefan rollte zu der Stelle, an der er Tage zuvor die Lichter gesehen hatte. Von dort ließ sich der Hügel erahnen, auf dem er gelegen hatte.

    Er seufzte schwer, griff beide Steuerhebel und begann zu graben. Überall hieb er die Schaufel in den sumpfigen Leib und riss große Fetzen aus ihm heraus. Wasser, Pflanzen und Erde spritzen auf und ergossen sich von der Schaufel zurück in die frisch gerissenen Wunden. Bereitwillig nahm der Sumpf sie wieder auf und bildete eine Einheit, die gefällig war. Allmählich gab sich der Boden der gefräßigen Schaufel hin. Bei jeder Bewegung des Auslegers stöhnte Stefan, als müsste er selbst einen Spaten in die Erde treiben. Er rollte mit dem Bagger vor und zurück, drehte sich, fuhr tiefer ins Moor. Die Narben im Untergrund blieben zurück. Wasser füllte sie, wie Blut den Riss in Stefans linker Hand.

    Noch dauerte es, bis der Morgen die Nacht von ihrer Wacht ablösen konnte. Aber er würde kommen und die Nacht erlösen, wie der Wind den Nebel aus seiner Starre befreite. Stefan hieb die Schaufel erneut in die Erde und traf auf etwas Hartes. „Eine Wurzel?!" Ein weiterer Hieb, dann setzte er den Bagger ein Stück vor und schwenkte den Ausleger weiter aus. Vorsichtig zog er ihn zurück. Die Schaufelzinken kratzen über etwas, es quietschte metallend. Stefan stellte sich in die Hocke auf den Sitz und verharrte in der Kabine. Er starrte durch die beschlagene Scheibe. Dann rutschte er in den Sitz zurück. Minuten verstrichen, bis sich sein Atem und seine Seele beruhigten. Dann stieg er aus und ging zur Schaufel. Verwundete Erde, schwarz, nass. Es stank nach Kloake. Stefan hielt sich die Hand vor die Nase. Bei jedem Schritt sank er tief in den moorigen Grund. Seine Zehen spielten in den Stiefeln und er hielt sie beim Gehen am oberen Rand fest, um nicht stecken zu bleiben. Stefan versuchte das Dunkel zu durchdringen; erkennen konnte er nichts.

    Er fuhr einen weiteren Meter nach vorne und stieß die Schaufel, so tief er konnte, in den Boden. Dann zog er sie an. Sie hing, nur ein leichter Widerstand, aber sie hing. Stefan ließ die Steuerhebel los.

    Der derbe Ostwind schaute sich merklich um. Einzelne Birken waren zu erahnen. Hinten wuchs Tanjas Haus aus dem Dunst. Die bronzene Glocke klagte über dem langsam schwindenden Nebel. Stefan stellte den Motor ab. Eine beengende Stille nahm Besitz von der Luft um ihn herum. Sein Gesicht streckte sich dem Wind entgegen und jede Brise streichelte mit Eishänden den Schweißfilm von seiner glühenden Haut. Stefan seufzte tief in seinem Sitz.

    Viel war passiert! Viel zu viel, seit er und Tanja das Haus mit dem riesigen Grundstück in Krähenstein gekauft hatten. „Es soll wohl ein Schatz im Thorsberg liegen, sagte der Warder damals beim Verkauf und zeigte über das Moor, das zum Haus gehörte. „Aber es gibt ja immer Geschichten um Moore.

    Stefan haderte mit einer Böe. Sie trieb seine Gedanken über den Bodennebel hinweg durch das Tal, über die kahlen Baumwipfel und ließ die Bilder der letzten Wochen zurück.

    Das Haus erinnerte Stefan sehr an das Haus seiner Oma.

    Von der Straßenseite führten einige Stufen nach oben zur Haustür. Die linke Seite der unteren Stufen war von einer Mauer begrenzt. Bei schönem Wetter konnte man darauf sitzen und in der Morgensonne seinen Kaffee trinken. Auf der Rückseite kam man über eine Feldsteinterrasse zur Klöntür. Davor lümmelten ebenfalls drei Stufen. Von dort sah man über eine Wiese, in deren Mitte drei große Kirschbäume lebten. Eine Reihe Apfelbäume, am linken Rand der Wiese, grenzte das danebenliegende Stück Bauland ab. Hinter Wiese und Bauland lag das Moor.

    Stefan stand während der Besichtigung vor dem Haus und erinnerte sich an seine Oma, wie sie auf ähnlichen Stufen mit Tante Traudl und seiner Mutter saß. So sitzend hatten sie Erbsen gepuhlt, Bohnen geschnippelt, Johannesbeeren gestrippelt oder Erdbeeren von ihren Blättern befreit.

    Tanja lief aufgeregt um das Haus und sprühte vor Ideen. Spooki, ihr kleiner Havaneser, der stark an einen Gremlin erinnerte, stand auf dem Fahrersitz, machte sich lang und versuchte durch den geöffneten Spalt im Fenster möglichst viele Gerüche aufzunehmen.

    Wenn man durch die Klöntür ins Haus trat, war linker Hand eine Wohnküche. Rechts die Werkstatt und dahinter die Waschküche. In der Waschküche standen ein alter verruster Badeofen und eine Zinkwanne. Den Badeofen musste man mit Holz anheizen, wenn man im warmen Wasser liegen wollte. Ging man durch die Wohnküche, kam man gerade durch in eine Stube und von dort nach rechts in ein Schlafzimmer. Zur rechten Hand der Wohnküche lag ein weiteres Zimmer. Hinten links, vor der eigentlichen Haustür, führte eine Treppe nach oben. In der Diele, direkt rechts neben der Klöntür, lag unter einer Bodenklappe eine hohl ausgetretene Holztreppe, die in den halben Kriechkeller führte. Auf der einen Seite lagen Eierkohlen, Holz und Kohlebriketts und auf der anderen lagerten Kartoffeln, Eingemachtes und Äpfel auf einem Holzrost. Es roch feucht nach Kohle, Kartoffeln und überreifen Äpfeln. Im Keller gab es nur eine Leuchte. Die musste man in Höhe der obersten Stufe mit einem Drehschalter einschalten. Das diffuse Licht verbreitete mehr Schatten und Unbehagen, als es die Kirche tat, in der sie als Kinder Messdienst leisteten. Ihre Oma war immer stolz und saß in der ersten Reihe.

    Ging man die steile Treppe in der Diele nach oben, kam man rechts in ein großes und links ein kleines Schlafzimmer, dahinter war unausgebauter Bodenraum. Von dort ging es durch eine Luke auf einen staubigtrockenen Spitzboden.

    Stefan erinnerte sich an seine Oma und wie sie bei jedem Gewitter und jeder Sirene auf der Kellertreppe kauerte. Oma saß in ihrer Kittelschürze da, auf dem Schoß hielt sie eine grüne verbeulte Metallkiste, in der sie die wichtigsten Papiere und Schmuck aufbewahrte. Stefans Mutter saß daneben, er auf ihrem Schoß. In der Zeit, in der Stefan aufwuchs, gab es regelmäßig Probealarme von den Dächern der Häuser in der Nachbarschaft. Die Rhythmen der Sirenen waren unterschiedlich. Die Auswirkungen immer gleich: Oma auf der Kellertreppe.

    Oma weinte jedes Mal, wie auch seine Mutter. Und jedes Mal, wenn es gewitterte, erinnerte Stefan sich daran. Er ahnte den Grund hinter den Tränen, aber verstanden hatte er es nie.

    Der Warder stand mit breit aufgestellten Beinen vor Stefan. Seine Arme hielt er hinter dem Rücken verschränkt, während Tanja ihn mit technischen Fragen bombardierte. Stefan hatte keine Lust mehr, sich weiter umzusehen. Er fühlte sich unwohl und heimisch zugleich. Tanja wollte unbedingt ein Angebot abgeben. Stefan hatte nur die Bilder aus dem Internet auf sich wirken lassen und versuchte den jetzt aufkeimenden Smaltalk zu ignorieren.

    „Sie kommen also aus Kiel; haben Sie gut hergefunden? Krähenstein ist ja nicht einfach zu finden."

    „Doch, das ging ganz gut", sagte Tanja.

    „Zum Haus gehört auch der Thorsberg, das Moor dort unten, erklärte der Warder weiter. „Die Gegend ist wirklich sehr schön. Haben Sie schon vom Moor gehört? wollte er wissen und drehte sich auf der Kellertreppe um.

    „Nein, wir sind fremd hier." Tanja lächelte.

    „Ich könnte Ihnen noch so viel erzählen, auch von den Vorbesitzern, Hans und seinem Sohn! Ich bin hier quasi groß geworden. Aber das können wir ja mal nachholen, wenn Sie an dem Haus wirklich interessiert sind. sagte der Warder weiter. Stefan sah die Enttäuschung in Tanjas Gesicht. „Ja gern, ich will alles wissen. Tanja hoffte noch mehr zu erfahren, doch der Warder drehte sich weg.

    „Warum wollen Sie es wieder verkaufen? Sie haben noch nicht einmal die Renovierung beendet." wollte Tanja wissen.

    „Ich habe meine Gründe! Sind Sie schon im Moor gewesen? Und schauen Sie mal, der Ofen hier, der ist fast neu! Sommer und Winter sind immer die besten Zeiten, um Moore zu begehen", lenkte Warder ab.

    „Das habe ich mir gedacht", log Tanja.

    „Kennen Sie die Geschichte?"

    „Was für eine Geschichte?"

    „Während des Dritten Reiches sollen die Einwohner von Krähenstein und aus dem Umland ihr Hab und Gut vor den Nazis im Thorsberg versenkt haben. Ein richtiger Schatz soll da liegen! Von irgendwelchen Kisten ist die Rede."

    „Oh, das klingt spannend. Hat schon jemand danach gegraben?"

    „Soviel ich weiß schon. Wenn Sie selbst dort graben wollen, ich kenne den Besitzer vom Kieswerk. Der hilft bestimmt mit einem Bagger aus. Warder blinzelte: „Und ich helfe natürlich auch gern!

    „Naja, erstmal kaufen, dann renovieren und einziehen. Vielleicht irgendwann mal."

    „Es ist nur eine Geschichte, die man sich über das Moor erzählt. Während der Besatzung hat die Stasi im Moor gegraben, erzählt man sich. Die haben tagelang gesucht aber nichts gefunden. Sie wissen ja, wie das mit Geschichten und Gerüchten ist. Die gibt es überall."

    „Ja, da haben Sie recht. Kommen sie aus Krähenstein?"

    „Nein, aber mein Opa. Hatte ich das nicht erwähnt?"

    „Nein, hatten Sie nicht. Tanja holte tief Luft und stellte eine drückende Frage: „Wie sieht es mit dem Preis aus?

    „Da gibt es nichts zu verhandeln. Das ist ein Festpreis. Ich will schnell verkaufen, deshalb ist es schon so günstig. Und die wichtigsten Arbeiten sind auch erledigt. Entweder wollen Sie es, oder sie lassen es!" Die Stimme vom Warder wurde bestimmter.

    Stefan war in Gedanken im Thorsberg.

    Bei mir, um mir meine Geheimnisse zu entreißen.

    „Gut, dann habe wir alles gesehen, Stefan drehte sich um, „danke für Ihre Zeit. Falls wir noch Fragen haben, werden wir uns melden.

    „Ja gern, aber machen Sie schnell. Es gibt noch mehr Interessenten."

    Natürlich gab es keine Fragen, dachte sich Stefan. Tanja hatte sich längst entschieden. Und nun stand er mit einem Bagger im Moor.

    Ich wartete, war gespannt und spürte die Unsicherheit von Stefan. Er war nahe, vielleicht zu nahe. Er war der Erste seit Jahren, der kam, um mir etwas zu entlocken.

    Stefan holte noch einmal Luft. Die Ketten fraßen sich tiefer ins Moor. Er hielt inne und nahm die Hände von den Lenkhebeln. Seine Gedanken glitten mit dem Wind durch den Nebel, zu dem Haus, zu Hans.

    Hans

    Hans klagte nie.

    Das Kindbettfieber raubte ihm die Frau. Sein Junge blieb. Haus und Grundstück nährten ihn und seinen Sohn Jürgen. Hans hatte nichts gelernt, doch er konnte alles etwas. So schaffte er es immer wieder, ein wenig Geld für das Nötigste zu raffen. Sie kamen über die Runden. Mehr erwartete Hans nicht vom Leben. Essen, Trinken, Wärme. Und wenn Gott es zuließ, vielleicht noch Schnaps und Tabak. Von Zeit zu Zeit ging er in den Thorsberg, stach Torf und sammelte Holz für den Winter, ging auf die Jagd oder pflückte Beeren. Der Thorsberg war gut zu ihm und mehr brauchte er nicht.

    Zu seinen Nachbarn hatte Hans kaum Kontakt. Das lag nicht daran, dass er nicht beliebt war, sondern daran, dass Hans nach dem Tod seiner Frau die Ruhe seiner Räume suchte. Anfangs ging er in den Dorfkrug und trank mit den Bauern aus der Umgebung. Dort bediente auch die etwas jüngere Elisabeth, die in die Bäckerei eingeheiratet hatte. Hans und Elisabeth kannten sich von Kindesbeinen an. Sie spielten und wuchsen gemeinsam auf. Noch bevor Achselhaare das andere Geschlecht locken konnte, schliefen sie zusammen im Stroh oder saßen im Sommer gemeinsam in einem Holzbottich voll mit kaltem Regenwasser.

    Hans lächelte still.

    „Wenn du dein Hemd ausziehst, ziehe ich meins auch aus", hatte er Elisabeth am Rande eines Roggenfeldes einmal vorgeschlagen. Sie waren unzertrennlich, so auch auf dieser Schnitzeljagd. Sie versteckten sich in einer Schneise, die der Wind ins Korn geschlagen hatte.

    „Aber ich will mein Hemd nicht ausziehen, sagte Elisabeth bestimmt. „Schade! Hans drehte sich beleidigt zur Seite.

    „Hans, Hans, ist alles gut?" fragte Elisabeth.

    „Jaja, ich dachte nur, wir wären Freunde", sagte er leise.

    „Das sind wir doch auch."

    „Na, also. Wenn du dein Hemd ausziehst, mache ich es auch." Hans glühte. Elisabeths Wangen wurden rot. Sie musste die Träger ihrer Schürze herunterklappen und hatte ihr Leibchen schnell über den Kopf gezogen.

    „Jetzt du!" Verlegen schaute sie auf ihre Füße.

    Hans war schneller aus seinem Hemd als französische Seemänner in Singapur.

    Minutenlang wagten sie nicht sich anzusehen.

    „Nun wird mir aber kalt", klagte Elisabeth leise.

    Hans hörte die Enttäuschung in ihrer Stimme, und noch bevor sie ihr Leibchen wieder überstreifen konnte, linste er wie zufällig zur Seite. Er lugte auf die festen apfelförmigen Brüstchen, die stramm aufblühten. Er sah roten Flaum in den Achseln, die kecken Brustwarzen und den langen roten Zopf, der davor baumelte. Er schämte sich ob seines Blickes und seiner eigenen Brust. Er hatte mehr, und die hingen auch noch. Hans zog sein gräuliches Hemd über.

    „Komm, lass uns gehen, die finden uns nicht", sagte Elisabeth. Sie sprachen nie wieder darüber. Sie haben sich nie wieder so gesehen.

    Hans war eingedöst und schreckte aus einem Traum hoch. Er stöhnte sich von der Bettkante und hielt sich an Wand und Türrahmen fest. Hans spürte klebrigen Schweiß auf seiner Stirn. Nicht von der Anstrengung. Nicht vom Schreck. Erinnerungen machen Schweiß klebrig. Er glaubte, etwas aus Richtung des Schuppens gehört zu haben. Es klang wie ein Husten. Hans ächzte sich einen Raum weiter, stöhnte auf und sackte in seinen Ohrensessel vor dem Ofen in der guten Stube. Er setzte die Flasche mit Selbstgebrannten an seine Lippen und der Inhalt brannte im Rachen. Drei Mal fand die betäubende Flüssigkeit ihren Weg. Die klebrigen Bilder der Erinnerung aber blieben. Hans seufzte und drückte seinen Kopf in den speckigen Nacken. Er döste wieder weg und sein Körper wurde von der Macht des Schlafes im Sessel gehalten. Er zuckte und schnell sickerten Erinnerungen wie ölige Tropfen in seinen Traum.

    Hans wurde nach oben gerissen. Er spürte den Alkohol in seinem eigenen Atem und roch seinen alten Schweiß. Säuerlich, herb. Frischer floss dazu. Sein Kopf ruckte herum.

    „Sind Sie Herr Haack? Hans Haack? fragte SS-Hauptmann von Harenburg. „Sie haben Ihren Sohn im Haus versteckt!?

    „Er ist mein einziger Junge!" Hans war mit einem Schlag hellwach.

    „Sie können damit unseren geliebten Führer ehren. Da Sie selbst so maßlos fett sind und keinen Dienst für ihr Heimatland leisten können, geben Sie uns Ihren Sohn."

    „Herr Hauptmann, bitte! Ich brauche ihn für die Feldarbeit und im Haus."

    „Wenn Sie in der Jugend mehr Sport getrieben hätten, könnten Sie ihrem Vaterland selbst dienen. So, wie der Führer es erwartet!"

    „Erwartet der Führer, dass wir für ihn sterben?"

    „Für Führer und Vaterland zu sterben, ist der ehrenvollste Tod, den wir erringen können."

    „Wieso den Tod erringen? Der ereilt uns sowieso. Dafür brauche ich nicht zu kämpfen."

    „Der Deutsche kennt nur Führer und Vaterland!"

    „Das Vaterland soll uns erst leben lassen, bevor wir dafür sterben."

    „Das ist ..." Hauptmann Harenburg lief rot an und griff nach seiner Walther.

    „Den Tod erringen? spottete Hans. „Ist das ein Wettkampf? Den kann jeder gewinnen! Und als er in die Mündung der Pistole schaute, fragte er lachend: „Wie es aussieht, bin ich jetzt Sieger?!"

    Gleichzeitig bäumte sich die Walther auf. Beißender Pulverdampf umschmeichlte das finstere Gesicht von Hauptmann Harenburg. Hans stolperte und verlor den Halt, als die Kugel in sein Muskelfleisch eindrang und im Oberschenkelknochen steckenblieb. Er brach unter der Last seines Körpers zusammen und stürzte zu Boden. Befreit von jeglichen Barrieren sprudelte das Blut lebenslustig auf die Feldsteine. Es dampfte leicht. Hans sah ungläubig lächelnd auf die zarten Wölkchen, dann kam der Schmerz. Er schrie und umfasste sein Bein; schwer und kalt.

    „Sei froh, dass ich dich am Leben lasse, du fette Sau!"

    Jürgen hatte den Schuss gehört und stolperte die Veranda nach oben. Atemreich und wortlos stürzte er sich auf seinen Vater, dann, in wilder Wut, auf Hauptmann Harenburg. Dreimal schlug Jürgen dem Hauptmann auf die Brust; die Orden klirrten. Es dauerte nur fünf Sekunden. Eine Ewigkeit für den Tod, zu kurz für das Leben, dann lag Jürgen im Blut seines Vaters. Der Sohn zuckte, strampelte, das halbe Gesicht war nicht mehr, sein letzter Atemzug bestand nur aus schaumigen Blutblasen. Hans zog sich durch beider

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