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Die Nobelpreisträger
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Die Nobelpreisträger

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About this ebook

"Sie werden glauben, du hieltest dich für etwas Besseres", sagte Peer.
"Aber ich bin etwas Besseres", antwortete Lein.
Lein Olerson war überzeugt, eine der größten Fragen der Menschheit geklärt zu haben, auch wenn die Fachwelt das nicht anerkennen wollte. Die täglichen Gespräche mit seinem Zwillingsbruder Peer, mit dem er mehr oder weniger unfreiwillig zusammenlebte, brachten ihn schließlich auf den zündenden Gedanken. Aber würde Peer seinen Bruder auch bei illegalen Machenschaften unterstützen, oder würde Lein am Ende sogar sein gleichgültiger Umgang mit Frauen zum Verhängnis werden?
"Du hast versprochen, gleich wieder zu gehen,"
"Diesmal habe ich gelogen."
Henri Duritels hatte immer gewusst, dass er nicht hätte Arzt werden sollen. Aber als er 2028 dank seiner einflussreichen zum Forschungsleiter für neue Antibiotika aufgestiegen war, konnte er seine Tätigkeit als Oberarzt endlich an den Nagel hängen. Und obwohl er auch mit der neuen Aufgabe überfordert war, stellten sich dank seiner Mitarbeiter bald wesentliche Erfolge ein. Aber würde er sich mit diesen Abhängigkeiten abfinden, oder konnten in dem schüchternen, depressiven Mann plötzlich ungeahnte Kräfte erwachen?
Fünf Jahre Zusammenarbeit waren mit einem Tastendruck ausgelöscht.
Der junge Inder Tarun Gupta hatte seine Hackerkarriere eigentlich schon aufgeben wollen, als er Ende 2033 verhaftet wurde und nun entscheiden mußte, ob er lieber ins Gefängnis gehen sollte, oder stattdessen für die Polizei den weltweit meistgesuchten Hacker cr2 zur Strecken bringen.
Wer aber war cr2, und was trieb ihn an, weltweit in sensible Systeme einzudringen? Und würde Tarun ihn enttarnen, oder war das gar nicht möglich, weil ...
"Bist du Gott?"
"Wenn du es sagst!"
... sich im Dezember 2035 alle Handlungsstränge in einem einzigen explosiven Moment vereinigten?
Würden die Überwachungskameras sein Gesicht als das eines Nobelpreisträgers erkennen, fragte sich Lein.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateFeb 10, 2020
ISBN9783750224353
Die Nobelpreisträger

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    Die Nobelpreisträger - Michael Rot

    Der Autor

    MICHAEL ROT ist Professor für Musikalische Interpretation der Oper an der Wiener Musikuniversität.

    Er begann seine künstlerische Karriere in den 70er-Jahren in seiner Heimatstadt Wien als Komponist, Dirigent und Arrangeur. Interpreten wie Anna Netrebko, Placido Domingo, José Carreras, Jonas Kaufmann oder die Wiener Philharmoniker haben seine Bearbeitungen weltweit bekannt gemacht.

    Ab Mitte der 90er-Jahre wandte sich Michael Rot verstärkt der Forschung zu und hat bereits mehr als 500 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.

    »Japan ist eine Insel« war das erste belletristische Werk von Michael Rot, der als Autor bisher vor allem mit Libretti zu Opern und musikalischen Komödien in Erscheinung trat.

    Die Hauptpersonen

    Altersangaben beziehen sich für Deutschland, China, Brasilien und Frankreich auf das Jahr 2028, für Indien auf das Jahr 2033.

    Tübingen, Deutschland:

    Prof. Dr. Lein Olerson, 46, US-amerikanischer Physiker und Mathematiker; Leiter der Forschungsgruppe Parasol in Tübingen.

    Dr. Peer Olerson, 46, Leins Zwillingsbruder; Wissenschaftsphilosoph.

    Dr. Lal Chand, 46, indischer Politikwissenschaftler, Leins Studienkollege am M.I.T. in Boston, Massachusetts.

    In Leins Stammkneipe:

    Lenka, 27, Tschechin; Bedienung.

    Üsgül, 35, Türkin; Bedienung.

    Sebastian, 24, Deutscher; Student der Archäologie; Bedienung.

    Sajjad, 50, Pakistani; Koch.

    Leins Kollegen und Mitarbeiter:

    Prof. Dr. Walter Grabenmeyer, 54, Dekan der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Tübingen.

    Prof. Dr. Lothar Schörner, 42, Leiter des deutschen Parasol-Teams in der Zentrale Göttingen.

    Dr. Irene Kastawski, 45, polnische Physikerin in Leins Team.

    Doz. Dr. Goran Sabakian, 62, armenischer Physiker in Leins Team.

    Ing. Wilhelm Lehman, 58, Koordinator in Tübingen.

    Wuhan, China:

    Dr.Dr. Pei Feng-Li, 40, Physiker und Mathematiker; Leiter der Parasol-Forschungsgruppe in Wuhan, China.

    Dr. Hou Yue, 42, Mathematikerin in Peis Team.

    Lee Mei-Lin, 21, Doktorandin der Physik; Mitarbeiterin in Peis Team.

    São Paolo, Brasilien:

    Dr. Maria Sofia Lunares, 50, Anthropologin; Leiterin des brasilianischen Parasol-Teams in São Paolo, Brasilien.

    Dr. Mario Brunaville, 63, Mathematiker und Meteorologe; Mitarbeiter in Marias Team.

    Paris, Frankreich:

    Dr. Henri Duritels, 57, Arzt und Mikrobiologe; Leiter einer Forschungsgruppe am Institut Pasteur in Paris.

    Louise, 52, Hochzeitsplanerin; Henris zweite Frau.

    Lucille, 24, Kindergartenpädagogin; deren ältere Tochter.

    Latif al-Hadad, 20, Sohn libyscher Flüchtlinge; Lucilles Ehemann.

    Pierre-Khaled, 2 Jahre, deren Sohn, Henris Enkel.

    Cloë, 22, Anwältin; Louises und Henris jüngere Tochter.

    Dr. Charles Partonier, 77, Henris Schwiegervater; ehem. Präsident des Appelationsgerichtshofes.

    Dr. Odette Brian, 56, Ärztin; Henris erste Frau.

    Lynette Perrin, 52, Louises Studienkollegin und enge Freundin.

    Félix Schreiber, 55, IT-Unternehmer; ihr Ehemann.

    Henris Mitarbeiter:

    Dr. Jacqueline Morin, 48, Bakteriologin.

    Dr. Raoul Watanabe, 40, japanischer Biologe.

    Théo Bisotte, 22, Henris Assistent.

    Emma Fiotta, 24, italienische Praktikantin in den Jahren 2028-29.

    Charlotte Dobo, 22, Praktikantin ab dem Jahr 2030.

    Bengaluru, Indien:

    Mahavir Prasad, 60, Director General des CBI (Central Bureau of Investigation) in Bengaluru, Indien.

    Dr. Falguni Prasad, 52, Mathematikerin; seine Frau.

    Kiran Singh, 48, Senior-Superintendent des CBI, Leiter der Einsatzgruppe gegen Internetkriminalität.

    Ajit Muller, 52, Deputy-Superintendent des CBI, Singhs Stellvertreter und Leiter der Personalabteilung.

    Tarun Gupta, 22, ehemals Hacker; Assistant Sub Inspector beim CBI, Einsatzgruppe Internetkriminalität.

    Die Kapitel

    Erstes Buch: Oktober bis Dezember 2028

    Kapitel 1:       18.-19. Oktober

    Kapitel 2

    Kapitel 3:       20.-23. Oktober

    Kapitel 4:       24.-26. Oktober

    Kapitel 5:       13.-16. Dezember

    Kapitel 6:       22.-23. Dezember

    Kapitel 7

    Kapitel 8:       24. Dezember

    Zweites Buch: Oktober bis Dezember 2033

    Kapitel 9:       5.-9. Oktober

    Kapitel 10:       10.-13. Oktober

    Kapitel 11:       20.-26. Oktober

    Kapitel 12

    Kapitel 13:       19.-21. Dezember

    Drittes Buch: Oktober bis Dezember 2035

    Kapitel 14:       8. Oktober

    Kapitel 15:       9. Oktober

    Kapitel 16:       10. Oktober

    Kapitel 17:       3.-7. Dezember

    Kapitel 18

    »Sie werden glauben, du hieltest dich für etwas Besseres.«

    »Aber ich bin etwas Besseres!«, sagte Lein.

    Erstes Buch

    Oktober bis Dezember 2028

    »Bist du Gott?«

    »Wenn du es sagst!«

    Kapitel 1

    Lein Olerson war vom Bahnhof auf dem schnellsten Weg zur Übergabe der neuen Wohnung gefahren, die das Maklerbüro für ihn ausgewählt hatte. Ortswechsel waren für ihn immer noch eine psychische Belastung, obwohl er durch den endgültigen Verzicht auf Flugreisen seine größte Sorge losgeworden war. Dieselben Sicherheitsbedenken, die ihn vom Besteigen eines Flugzeugs abhielten, hatten auch eine Fahrt durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal nicht zugelassen. Und die Bahnfahrten mit der dazwischenliegenden Schiffspassage waren anstrengender gewesen als erwartet. Auch die Vorbereitungen für den Umzug hatten viel Zeit und Mühe gekostet. Es war zwar nicht seine erste Übersiedlung und auch nicht die weiteste, aber die Bücher und Kleidungsstücke füllten inzwischen dutzende Transportkartons, obwohl Lein keinen Hausrat im eigentlichen Sinn besaß. Die einzigen Utensilien, mit deren Hilfe man Nahrung zubereiten oder zu sich nehmen konnte, waren zwei Kaffeetassen und eine Kaffeemaschine, ein imposantes Exemplar, das den in den USA beliebten Filterkaffee vollautomatisch zubereitete. Große Mengen Kaffee zu trinken, war vermutlich sein einziges Laster, obwohl er es nicht als solches empfand.

    Lein hatte es nicht für notwendig erachtet, Tübingen vor Beginn seiner Tätigkeit zu besuchen, aber die Vorgaben an den Wohnungsmakler waren ausführlich und präzise gewesen. Im Cloudnet hatte er eine seriös wirkende Firma gefunden, die er mit der Suche nach einer möblierten Drei- bis Vierzimmerwohnung beauftragte. Sie sollte in einer Gegend mit großer Auswahl an Lokalen liegen und vom Universitätscampus zu Fuß erreichbar sein, vor allem aber – und das hatte er dem Makler eindringlich ans Herz gelegt – sollten in dem Viertel keine Studenten wohnen. Er hatte keine Lust, auf Schritt und Tritt bekannten Gesichtern zu begegnen und vielleicht sogar in Gespräche verwickelt zu werden.

    Der Stadtteil Schönblick gehörte zu den besten Wohnlagen der Stadt, geprägt von Villen mit kleinen Gärten und mit geringem Verkehrsaufkommen. Leins Wohnung lag in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser mit insgesamt vier Wohneinheiten. Die Wohnung gefiel ihm, und dass sie eher dunkel war, würde ihn nicht stören. Von den drei Zimmern wollte er das größte als kombinierten Wohn- und Arbeitsraum nützen, wo er seinen Schreibtisch dominierend vor die Fensterwand platzieren konnte. Dieses wuchtige alte Möbelstück und ein nach seinen Wünschen als Sonderanfertigung hergestelltes Bett waren die einzigen Einrichtungsgegenstände, die er aus England mitbrachte. Ein großer Bücherschrank und eine bequem aussehende Sitzbank gehörten zum Inventar der Wohnung. Das Zimmer nebenan war als Schlafzimmer vorgesehen, da man von dort in einen kleinen, aber gut ausgestatteten Schrankraum gelangte. Das zum Schlafzimmer gehörende Bett hatte der Makler auf Leins Anweisung bereits in ein Lager bringen lassen. Der dritte, nur rund zwölf Quadratmeter große Raum mit Tisch, Schrank und Lehnstuhl würde vorläufig als Abstellraum dienen.

    Das Badezimmer war modern eingerichtet, mit Wanne und getrennter Duschkabine, wie Lein es verlangt hatte. Auf die Besichtigung der Küche hätte er gerne verzichten können, er würde hier sicher keine Speisen zubereiten. Nur während seines Aufenthalts am Südpol war er gezwungen gewesen zu kochen und hatte es darin sogar zu einiger Fertigkeit gebracht. Die Kollegen waren gar nicht unglücklich gewesen, wenn die Reihe wieder an ihn gekommen war. Aber hier in Tübingen, im Zentrum einer Stadt, würde er die Küche nicht in Anspruch nehmen. Auch die hübsche Sitzecke konnte ihn nicht verführen, hier mehr Zeit zu verbringen, als zum Kaffeekochen notwendig war.

    Der Makler war jedoch nicht davon abzuhalten, ihm alles ausführlich zu erklären. Die Bedienung des Induktionsherdes hätte Lein nötigenfalls auch ohne Einführungsgespräch herausgefunden, eine Geschirrspülmaschine sah er nicht zum ersten Mal und die Inneneinrichtung des Kühlschranks konnte ihn keinesfalls interessieren. Dieses Gerät würde er ganz sicher nicht anfassen. Auch als er noch kochen musste, hatte er immer Kollegen überreden können, ihm alles Nötige bereit zu legen. Lein war charmant und beliebt, und so hatten sie seinen Spleen lächelnd akzeptiert.

    Der Makler war schon im Treppenhaus, als Lein einfiel, dass er vergessen hatte, sich um eine Haushaltshilfe zu kümmern. Der freundliche Herr versprach, ihm jemand zu schicken. »Zwei oder drei Mal pro Woche«, rief ihm Lein noch nach, dann war er allein in der Wohnung.

    Er stand regungslos im Flur und blickte durch die geöffnete Tür ins Arbeitszimmer. Die Wohnung war in Ordnung, hier würde er für die nächste Zeit gut zurechtkommen. Vielleicht würde er sogar wieder Kraft finden zu schreiben, wenn erst einmal der Schreibtisch seinen Platz gefunden hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihm bewusst, dass er für diesen Abend ohne Bett auskommen musste, da die Lieferung seiner Möbel erst für den nächsten Tag vereinbart war. So konnte er unmöglich die Nacht in der Wohnung verbringen, schließlich war er kein Student mehr, der nötigenfalls auf dem Wohnzimmerboden schlief. Er aktivierte das Navigationssystem auf seinem Y-Com, was ihn daran erinnerte, dass er einen Vertrag bei einem deutschen Anbieter abschließen musste.

    Auf dem Weg ins Zentrum wurde Lein nach wenigen Minuten klar, dass sich entgegen seiner Anweisung in der Umgebung der Wohnung keine Lokale befanden. Allerdings erreichte er nach nur fünfzehn Minuten die Stadtmitte, wo er rasch ein kleines Hotel ausfindig machte, das für diese Nacht genügen würde. Ein Restaurant, wo er abends essen könnte, hatte er auch schon entdeckt, denn die Mensa der Universität oder andere bei den Studenten beliebte Lokale würde er sicher nicht aufsuchen. Da es erst fünf Uhr nachmittags war, wollte er aber vorerst nur ein Bier trinken.

    In einer schmalen Gasse unweit des alten botanischen Gartens war ihm eine Kneipe aufgefallen, in der man auch am Tresen sitzen konnte. Das Lokal war dunkel und halb leer, aber gerade das gefiel ihm. Hier würde er nicht Gefahr laufen, in eine Konversation verwickelt zu werden.

    »Ja, bitte?«, fragte die junge Dame.

    »Ein Bier, bitte«, antwortete Lein instinktiv auf Deutsch.

    »Pils?«

    »Ja, ist okay.« Soweit reichte sein Deutsch gerade noch. Ein wenig schämte er sich, dass er diese Sprache nicht richtig beherrschte, schließlich war sein Großvater Deutscher gewesen. Und die wenigen Brocken hatte er nicht einmal von ihm gelernt, sondern von einem deutschen Teamkollegen in der Antarktis. Jetzt war es zu spät, daran etwas zu ändern. Lein hatte nicht die Absicht, dieser Sprache in seinem Alter noch näher zu treten. »Unterrichts- und Teamsprache Englisch« war in der Ausschreibung der Universität gestanden. Wenn er im beruflichen Umfeld keine Fremdsprache benötigte, umso weniger im Privatleben. In Deutschland verstanden alle Englisch; das wusste Lein, zumindest nahm er das als sicher an.

    »Bitte sehr!« Die hübsche junge Dame stellte das Bier vor ihn hin. Ja, sie war wirklich hübsch. Vor allem hatte sie bemerkenswerte Augen, aber Leins Interesse an Frauen war gerade an einem Tiefpunkt angelangt. Seine letzte Beziehung war nach zwei schönen Jahren eben erst in die Brüche gegangen – mit einer der Gründe, warum er das Angebot aus Tübingen angenommen hatte. Er hätte sie sogar heiraten wollen, als sie plötzlich mit einem Anderen auf und davon ging. So blieb es bei der einen Ehe davor, in seiner Anfangszeit in Durham.

    Es war sein erstes deutsches Bier, ein wenig kräftiger als die in England, aber daran konnte er sich gewöhnen. Die Kneipe schien ihm wirklich passend zu sein, Hauptsache, keine Studenten und vor allem kein Single-Treff. Die Musik hatte auch eine angenehme Lautstärke; so konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen.

    »Möchten Sie etwas essen?«, unterbrach die Kellnerin seine Überlegungen.

    »Kann man hier auch zu essen bekommen?«, fragte er erstaunt, und wechselte dabei automatisch ins Englische.

    »Hier ist die Speisekarte«, erklärte sie, nun auch auf Englisch.

    Lein sah die Angebote aufmerksam durch. Burger, Toast und Wiener Würstchen kannte er natürlich, anderes kam ihm entfernt bekannt vor. Unter Saures Nierle und Saure Kutteln konnte er sich nichts vorstellen. Da er wie immer längeren Konversationen ausweichen wollte, bestellte er einfach Geschmälzte Maultaschen, das klang irgendwie einschmeichelnd.

    Ihm fiel auf, dass niemand rauchte. Jemand hatte ihn gewarnt, in Deutschland würde in den Kneipen wesentlich mehr geraucht als in England oder den USA, aber Lein konnte keine Aschenbecher entdecken. Vielleicht hatte er Glück, und das hier war ein rauchfreies Lokal. Dann kam sein Essen; es sah lecker aus. Lein mochte alle Arten von Teigwaren. Diese waren gerollt oder gefüllt, oder beides, er konnte es nicht genau identifizieren. Alles zusammen, mit der Füllung und der geschmolzenen Butter, traf genau seinen Geschmack. Er war am Tresen sitzen geblieben, niemand hatte ihn aufgefordert, an einem der Tische Platz zu nehmen. In den Pubs in Oxfordshire, wo er zuletzt gearbeitet hatte, war das nicht gestattet gewesen. Er bestellte noch ein Glas Bier, und auch das schmeckte ihm hervorragend. Alles wirkte bereits seltsam vertraut. Lein fand den Abend wunderbar und genoss die Maultaschen.

    Erst nach dem Essen merkte er, wie müde er war. Er bedankte sich bei der hübschen Kellnerin und beglich die Rechnung. Auch das verlief bequemer als in seinem Pub in England, wo er jede Bestellung einzeln im Voraus bezahlen musste. Als er auf die Straße trat, fand er die Luft erstaunlich warm für die Jahreszeit. In Oxfordshire hatte es sicher zehn Grad weniger als hier. Er unternahm noch einen kleinen Spaziergang durchs Zentrum und ließ die Gebäude auf sich wirken. Als ihn erneut die Müdigkeit überkam, machte er sich auf den Weg zum Hotel. Das Zimmer war komfortabel eingerichtet. Bis zum Alter von 29 hatte er sich nichts aus Komfort und Bequemlichkeit gemacht, aber nach drei Jahren in der Antarktis war seine Einstellung dazu eine andere geworden. Auch wenn er an diesem Abend nur Dusche und Bett benützen würde, hob das Flair dieses Zimmers seine ohnehin gute Stimmung nochmals. Er schaltete den Fernsehapparat ein, konnte aber keinen englischsprachigen Sender finden. So blieb er an einer Dokumentation über wandernde Gnus hängen, die ihn auf seltsame Weise faszinierte, obwohl er kein Wort verstand. Nie hätte er gedacht, dass jemand auf die Idee kommen könnte, National Geographic in einer anderen Sprache als Englisch auszustrahlen.

    Als eine Werbeeinschaltung seine Aufmerksamkeit unterbrach, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er keinerlei Utensilien für die Übernachtung bei sich trug. Seinen kleinen Reisekoffer hatte er in der Wohnung zurückgelassen, außer Geldbörse und Y-Com trug er nichts bei sich. Einige Toilettenartikel wie Seife, Zahnbürste und Zahncreme lagen im Badezimmer bereit, und das musste für diesen Abend genügen. Seine Haut würde für eine Nacht auf Pflege verzichten können. Als er nackt ins Bett stieg, erinnerte ihn das an seine Jugend; in den letzten Jahren hatte er das nie gemacht.

    Am nächsten Morgen wäre Lein beinahe zu spät aufgewacht. Den auf dem Y-Com eingestellten Alarm hatte er überhört, so gut hatte er geschlafen. Der Fernsehapparat lief immer noch, die Nachrichten berichteten scheinbar über ein seltenes Wetterphänomen, einen extremen Sturm vielleicht. Sie zeigten endlose Autokolonnen und interviewten offensichtlich geschockte Bürger. In der Eile konnte Lein weder feststellen, wo diese Szenen stattfanden, noch worum genau es sich handelte. Auch auf ein Frühstück musste er verzichten, um die Umzugsfirma zeitgerecht bei seiner Wohnung empfangen zu können. Er wollte nicht riskieren, dass sie wieder abfuhren, wenn er nicht pünktlich vor Ort war.

    Der Transport traf zum vereinbarten Termin ein und das Entladen von Leins Habseligkeiten ging rasch und problemlos vonstatten. Schreibtisch und Bett hatten bald ihren Platz gefunden, Kleidung und Bücher würde er nach und nach unterbringen. So war noch Zeit genug, seine Kaffeemaschine anzuschließen und in Gang zu setzen – das dachte er zumindest, aber das in England erworbene Gerät konnte nicht ohne weiteres mit dem deutschen Stromnetz verbunden werden. Ob die Spannung übereinstimmte, war so schnell nicht zu eruieren, der Stecker passte jedenfalls nicht. Verärgert notierte Lein die notwendige Reparatur auf einen Zettel, den er in seiner Geldbörse verstaute. Dann zog er so rasch wie möglich neue Kleidung an und verließ die Wohnung. In 35 Minuten wurde er in der Verwaltung der Universität erwartet. Zu Fuß würde er etwa zwanzig Minuten benötigen, also könnte sich auf dem Weg vielleicht eine schnelle Tasse Kaffee ausgehen. Vergeblich hielt er unterwegs Ausschau nach einem Kaffeehaus, er musste sich wohl oder übel mit einem Lokal in der Nähe der Universität zufriedengeben. Es war der 19. Oktober, und Lein hatte sich auf große Betriebsamkeit eingestellt, aber so richtig begonnen hatte das Semester offenbar noch nicht. Die Cafeteria-Mensa in der Wilhelmstraße war beinahe menschenleer, und so konnte er sich mit seinem Kaffee für die nächsten zehn Minuten ungestört in eine Ecke zurückziehen.

    Der heutige Gesprächstermin war von der Universität festgelegt worden, für den Unterricht hätte er vermutlich auch zwei Wochen später anreisen können. Deswegen war er aber ohnehin nicht nach Tübingen gekommen. Vielmehr hoffte er, sich mit drei, vier Stunden pro Woche aus der Affäre ziehen zu können. Schließlich wollte er seine Zeit in die Forschung investieren, und nicht in irgendwelche unbegabte Nachwuchswissenschaftler. Und natürlich wollte er auch seine ganz private Forschung weiter betreiben, die er in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt hatte.

    So unbedeutend und nebensächlich erschien ihm seine Lehrtätigkeit, dass er sogar den Titel seiner eigenen Vorlesung vergessen hatte. Der Studiengang hieß Astro and Particle Physics, das wusste er, weil der Zettel, auf dem er das aufgeschrieben hatte, immer wieder aus seiner Geldbörse fiel. Seine Lehrveranstaltung hatte er nicht notiert, aber der Dekan würde ihm schon sagen, was sie von ihm erwarteten. Außerdem konnte Lein stundenlang improvisieren, wenn es sein musste, solange es um Physik, Mathematik oder verwandte Themen ging. Außerhalb seines Fachbereichs war Kommunikation nicht seine Stärke. Besonders Gespräche wie jenes, das ihn in der Verwaltung erwartete, bereiteten Lein großes Unbehagen. Gern hätte er zur Beruhigung eine zweite Tasse Kaffee genommen, aber dafür reichte die Zeit nicht mehr.

    »Daten sind enorm wichtig, sie sind die Grundlage jeder funktionierenden Organisation«, erklärte der Referatsleiter nach einer kurzen Begrüßung. »Falsche oder unvollständige Daten können ganze Systeme ins Wanken bringen.«

    Lein hatte nicht vor, irgendjemandes System aus der Bahn zu werfen, auch wenn ihm alles im Zusammenhang mit Daten suspekt war. Widerspruchslos unterzog er sich der geforderten Zeremonie.

    »Name: Olerson, Lein, geboren am 23. Oktober 1982«, las sein Gegenüber von dem vor ihm liegenden Blatt ab. Dann sah er Lein fragend an.

    »Ja«, antwortete der, etwas genervt.

    »Geboren in Eugene, Oregon, USA. Alter ...«

    »Sechsundvierzig.«

    »Ja, natürlich. Studien: Theoretische Physik und Mathematik. Richtig?«

    »Korrekt«, erwiderte Lein, und verkniff sich die Bemerkung, dass er selbst jenes Blatt ausgefüllt und eingesandt hatte.

    »Name des Vaters?«

    Das war neu, davon war in dem Fragebogen nicht die Rede gewesen.

    »Marc Olerson«, antwortete er und merkte zum wiederholten Mal, wie schwer ihm dieser Name über die Lippen kam.

    »Name der Mutter?«

    »Linda, geborene Armstrong.« Ja, das war ein anständiger Name. Lein würde es seinem Großvater nie verzeihen, dass er einen schwedischen Namen angenommen hatte, nur, um nicht für einen Juden gehalten zu werden. Gehrmacher! Was war so schlimm an dem Namen Gehrmacher? Sie waren keine Juden, keiner in der ganzen Familie. Bloß weil Großvater aus Deutschland vor den Nationalsozialisten geflohen war, musste er nicht Jude sein. Aber er hatte unbedingt jede Faser seiner Vergangenheit abschütteln wollen und nahm bei der Hochzeit den Namen seiner schwedischen Frau an – oder nur fast, denn Leins Großmutter hieß Ølaffson. Weil das in den USA aber niemand aussprechen konnte, machten sie kurzerhand Olerson daraus.

    Lein hatte sich immer einen ordentlichen Namen gewünscht, so wie Miller oder Baker, Johnson, etwas, dem man nicht sofort seine europäische Abstammung anmerkte. Auch Armstrong wäre in Ordnung gewesen, alles besser als Olerson.

    »Ihre Adresse in Tübingen?« Die nächste Frage des Beamten riss ihn aus seinen Gedanken.

    »Schönblick.«

    »Schönes Stadtviertel. Straße und Hausnummer?«

    »Habe ich jetzt leider nicht im Kopf. Da muss ich sie auf morgen vertrösten.«

    »Na gut, aber bitte nicht vergessen. Ihre letzte Anstellung war an der Diamond Light Source in Oxfordshire?«

    »Genau, oder eigentlich – angestellt war ich in Durham, an der Universität von Durham. Vor dort wurde ich entsandt zur Diamond Light Source, oder ausgeliehen, wie sie wollen.«

    »Aha! Dann wollen wir das auch korrekt so eintragen.«

    »Ist das alles?«, fragte Lein, der langsam ungeduldig wurde.

    »Ja, ich denke schon. Wenn Sie mir morgen noch die genaue Adresse zukommen lassen, dann haben wir alles erledigt. Alles Weitere erfahren Sie direkt an der Fakultät. Finden Sie sich schon zurecht auf unserem Campus?«

    »Es geht so. Das Institut für theoretische Physik habe ich schon entdeckt.«

    »Ihre Lehrveranstaltung ist direkt der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät unterstellt, unabhängig vom Institut. Der Herr Dekan wird ihnen alles zeigen, denke ich. Was ihre Forschungstätigkeit betrifft, werden sie vorrangig mit Herrn Ingenieur Lehmann zu tun haben. Er ist der Koordinator für das deutsche Team und auch der Verbindungsmann zu den Kollegen in China und Brasilien.«

    »Mit dem Herrn Dekan habe ich bereits ein Treffen vereinbart.«

    »Sehr gut. Dann bleibt mir nichts mehr, als Ihnen eine gute Zeit an unserer Universität zu wünschen, und viel Erfolg bei dem neuen Projekt.«

    Eben – das Projekt. Der einzige Grund, warum er nach Deutschland gekommen war. Er würde hier ein anständig ausgestattetes Labor haben, und als Leiter der Forschungsgruppe Tübingen konnte er sich bestimmt ein paar Freiheiten erlauben. Er musste endlich eine Möglichkeit finden, seine Theorie in der Praxis zu beweisen. Seine sensationellen Arbeiten waren zwar publiziert worden, aber die Fachwelt hatte sie nicht anerkannt. Er hatte eine der bedeutendsten Fragen der Menschheit gelöst, und die Kollegenschaft überhäufte ihn mit Kritik und zerriss seine Thesen in der Luft. Eine praktische Vorführung würden sie aber nicht widerlegen können.

    Natürlich hatten sie hier in Tübingen nicht die nötigen Apparaturen, um etwas Derartiges in Gang zu setzen. Aber die Größenordnung des Projektes, die Zusammenarbeit mit Spitzenleuten aus Brasilien und China würden ihm vielleicht einen Zugang eröffnen.

    Tübingen war für ihn nur zweite Wahl gewesen. Viel lieber hätte er am Aleido-Projekt mitgearbeitet. Dort hätte er sich weit größere Chancen ausgerechnet, jemand von seiner Theorie zu überzeugen und so vielleicht sein Experiment durchführen zu können. Der längste Teilchenbeschleuniger der Welt zwischen den Aleuten und Hokkaido war seit zwei Jahren in Betrieb, aber Lein hatte sich bereits zu Beginn der Planung im Jahr 2019 beworben. Ihm war nicht klar, ob sie seine Arbeiten nicht gelesen hatten oder ihn vielleicht gerade deshalb ablehnten, weil sie sie gelesen hatten. Dabei war er diesem Projekt schon so nahe gewesen. Als sein Vater gerade die Universität beendete, etablierte sich das amerikanische Team in Portland, keine zwei Autostunden nördlich von Eugene, wo Lein und sein Zwillingsbruder geboren waren; erst 1996 waren sie wegen Vaters Arbeit nach Maryland umgezogen.

    Und jetzt saß er in Tübingen. Obwohl er zugeben musste, dass seine Aufgabe hier auch spannend werden könnte, und wichtig allemal. Sollte sein Team die gestellte Aufgabe lösen können, würde es bestimmt die ganze Welt erfahren. Den Ansatz, den man ihnen vorgegeben hatte, hielt er jedoch für grundfalsch. Er nahm sich vor, dem Projekt eine neue Richtung zu geben.

    »Herr Olerson? Alles in Ordnung?«

    Die Stimme des Referatsleiters brachte ihn zurück in die Gegenwart.

    »Ja, danke. Und auf Wiedersehen«, gab er zurück. Er hatte keine Ahnung, wie lang er seinen Gedanken nachgehangen war. Hoffentlich waren es nur ein paar Sekunden gewesen, aber er zweifelte daran. Blackouts dieser Art waren ihm in letzter Zeit öfter passiert. Zumindest einmal hatte es eine halbe Stunde gedauert, er hatte deshalb einen Termin versäumt. Irgendwann musste er herausfinden, was mit ihm los war. Aber nicht jetzt, er hatte mit der Bürokratie schon viel zu viel Zeit verloren. Eilig machte er sich auf den Weg zurück in seine Wohnung.

    Bei seinem Spaziergang am Abend zuvor hatte er einen kleinen Elektroladen entdeckt. Dorthin wollte er seine Kaffeemaschine bringen, um sie auf deutsche Verhältnisse umbauen zu lassen. Er konnte einen der kleineren Bücherkartons für den Transport benützen, aber erst als er die Wohnung verlassen wollte, fiel ihm auf, dass er nicht wusste, wie man hier ein Taxi finden konnte. Bei seiner Ankunft am Vortag hatte er vor dem Bahnhof kein Problem gehabt, aber in der Umgebung seines Hauses war ihm noch keines begegnet. Er stellte den Karton mit der Kaffeemaschine wieder ab und zog sein Y-Com zu Rate. »Tübingen Taxi« sagte er in die Suchmaschine, in der Hoffnung, das Wort Taxi sei international. Was er bekam, waren tatsächlich verschiedene Anzeigen von Taxiunternehmen, schlau wurde er daraus jedoch nicht. Er fand ein Bestellformular, das er nur zum Teil verstand, Angebote für den Flughafentransfer und die Begriffe Großraumtaxi und Krankenfahrten. Endlich fand er auch eine Telefonnummer, mit der er sein Glück versuchen konnte. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich: »Taxifunkdienst, was können wir für Sie tun?«

    »Ich brauche bitte ein Taxi, um in die Stadt zu fahren«, antwortete Lein.

    »Wo sollen wir Sie abholen?« Zu seiner Erleichterung verstand die junge Dame sein Englisch.

    »Einen Moment, bitte!« Seine Erleichterung war bereits wieder verflogen, da er die Adresse noch immer nicht auswendig kannte. Den entsprechenden Notizzettel hatte er tags zuvor dem Taxifahrer am Bahnhof übergeben. Zum Glück lag der eben erst unterzeichnete Mietvertrag mitten auf dem Schreibtisch, sodass er die Adresse ablesen konnte.

    »Der Wagen wird in sieben Minuten bei Ihnen sein.«

    »Vielen Dank für die Geduld«, entschuldigte sich Lein.

    Das Taxi kam sogar schneller als angekündigt. Lein verstaute die Kaffeemaschine im Kofferraum und setzte sich dann auf die Rückbank.

    »Ins Zentrum, bitte«, versuchte er sicherheitshalber auf Deutsch.

    »Wohin genau?«

    »Ich weiß nicht. Bitte nur ins Zentrum.« Natürlich kannte er die Adresse des Elektroladens noch weniger als seine eigene. Überhaupt war er plötzlich nicht mehr sicher ihn wiederzufinden. Aber da er schon einmal unterwegs war, musste er es wenigstens versuchen. Als sie am botanischen Garten vorbei kamen, ersuchte er den Fahrer, in die kleine Gasse einzubiegen, wo er die Kneipe vermutete. Von dort würde er zu Fuß weiter finden. Links abzweigen war an dieser Stelle aber nicht möglich, also hielt der Fahrer an der nächsten Kreuzung. Lein wollte schon wie gewohnt mittels Fingerabdruck bezahlen, aber das hatte schon tags zuvor nicht funktioniert, weil man die Fingerabdrücke immer noch national registrieren lassen musste – ein weiterer Punkt für seinen Notizzettel. Er zahlte also ganz konservativ mit Karte und stieg aus. Tatsächlich fand er die Kneipe vom letzten Abend sofort wieder, und auch den Weg zum Elektroladen. Beruhigt stellte er fest, dass er am Vortag nicht betrunken gewesen war.

    Die Adaption der Kaffeemaschine sollte sich als unproblematisch erweisen. Es musste lediglich der Stecker getauscht werden, und der ältere Herr hinter dem Tresen versprach, das Gerät würde in längstens zwei Stunden fertig sein. Das waren gute Nachrichten. Als Lein den Laden verließ, überkam ihn der Hunger. Richtig, er hatte noch nicht einmal gefrühstückt, und es war bereits zwei Uhr Nachmittag. Er erinnerte sich an den Tipp eines englischen Kollegen, der einige Zeit in Deutschland gearbeitet hatte: Er solle unbedingt eine Currywurst probieren, wie sie an zahlreichen Imbissbuden angeboten würde. Curry mit Wurst, das klang verlockend, also machte er sich auf die Suche nach einem Imbiss mit Straßenverkauf. Vermutlich gab es zahlreiche solcher Buden, denn Lein brauchte sich nur wenige Minuten umzusehen. Er war nicht sicher, was genau er erwartet hatte, aber was er bekam, sah aus wie Wurst mit Ketchup. Zu seiner Überraschung schmeckte die Sache hervorragend, und langsam aber sicher kam er zur Überzeugung, dass er in kulinarischer Hinsicht in Deutschland überleben konnte.

    Lein entschied, nochmals den Elektroladen aufzusuchen um zu fragen, wie lange sie geöffnet hatten. Er hatte für 16 Uhr ein Treffen mit dem Dekan vereinbart und wollte die Maschine erst danach abholen. Der Inhaber versicherte ihm, dass er bis 20 Uhr jederzeit kommen könne, auch wenn das Geschäft offiziell ab 18 Uhr geschlossen war. Er sollte nur einfach an die Fensterscheibe klopfen.

    Bis zu seiner Verabredung mit dem Dekan war noch mehr als eine Stunde Zeit, und die wollte er nützen, um in aller Ruhe einen Kaffee zu trinken. In der Nachmittagssonne war es warm genug, auf der Terrasse eines kleinen italienischen Lokals zu sitzen und ein wenig nachzudenken. Bis jetzt hatte soweit alles ganz gut funktioniert, Tübingen schien ihn mit offenen Armen aufzunehmen. Das Gespräch mit dem Dekan bereitete ihm jedoch Kopfzerbrechen. Freiheit von Lehre und Forschung war an deutschen Universitäten eine Selbstverständlichkeit, entsprechend vage war sein Vertrag formuliert. Über das Ausmaß seiner Lehrtätigkeit gab der Vertrag keine Auskunft, und Lein hatte das Thema bewusst nicht angesprochen. Es war eine seiner Schwächen, Probleme gelegentlich vor sich her zu schieben, anstatt deren Lösung voranzutreiben. Andererseits sagte ihm sein Instinkt, er könnte seine Argumente am besten in einem persönlichen Gespräch darlegen; und jetzt war der richtige Moment, diese Argumente durchzudenken.

    Viel hatte er nicht vorzuweisen. Auf seine private Forschung und seine Publikationspläne konnte er sich nicht beziehen, die musste er soweit wie möglich im Geheimen bewerkstelligen. Er konnte nur auf die Wichtigkeit des internationalen Forschungsprojektes verweisen, von der er selbst allerdings nicht so ganz überzeugt war. Die grundsätzliche Bedeutung war ihm wohl bewusst, aber der Auftrag war zu präzise formuliert. Das Magnetfeld der Erde ist instabil und verändert kontinuierlich seine Lage, das wusste niemand besser als er. Aber allein daraus zu schließen, man könne seine Stärke und Wirkung beeinflussen, war eine zu einfache Schlussfolgerung. Es musste eine bessere Lösung geben; sie zu finden, konnte aber deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als seine Auftraggeber erwarteten.

    Auch an diesem Nachmittag war die Aula der Universität menschenleer, bis auf einen freundlichen Herrn in den Fünfzigern, erheblich übergewichtig, wie Lein insgeheim feststellte. Dekan Grabenmeyer begrüßte seinen neuen Kollegen überschwänglich.

    »Seien Sie herzlichst willkommen an unserer schönen Universität.« Er hatte Leins rechte Hand mit beiden Händen fest umschlossen und schüttelte sie etwas zu heftig. »Wollen wir gleich einen Rundgang machen?«

    »Sehr gern«, erwiderte Lein.

    »Bitte folgen Sie mir!« Der Dekan wendete sich zum Ausgang, Lein folgte ihm verwirrt.

    »Wir nehmen den Bus. Wir haben ein eigenes Shuttle Service zwischen den Universitätsbereichen. Das Institut für Physik liegt am weitesten außerhalb, dort haben Sie aber nichts zu tun. Ihr Labor und Arbeitszimmer haben wir im Zentrum Morgenstelle eingerichtet, wo auch Mathematik, Astrophysik und Angewandte Physik untergebracht sind. Mein Büro, also die Verwaltung der Fakultät ist auch dort. Ich hoffe, das ist nicht zu umständlich für sie. Mit unserem Shuttle sind es nicht einmal fünf Minuten. Außerdem ist es eine schöne Gegend, viel Grün, etwas ruhiger als hier im Zentrum, man kann in Ruhe arbeiten. Wo sind Sie untergekommen, haben Sie schon eine Wohnung?«

    »Im Schönblick.« Lein interessierte sich weder für Grün noch für die Nähe anderer Institute. Er fragte sich nur, wie er seinen Arbeitsplatz in Zukunft erreichen sollte. Er hatte wenig Lust, in einem überfüllten Kleinbus mit Kollegen und Studenten auf Tuchfühlung zu kommen.

    »Da können Sie ja glatt zu Fuß gehen«, lachte Prof. Grabenmeyer, »sicher ein schöner Spaziergang. Oder haben Sie einen Wagen?«

    »Hier in Deutschland nicht.« Schon seit dreizehn Jahren nicht mehr, hätte er ergänzen können. In Durham war er noch stolzer Besitzer eines alten Ford gewesen. Bald nach der Scheidung hatte er ihn verkauft; der Besitz und Betrieb eines Kraftfahrzeuges war ihm plötzlich sinnlos und überflüssig erschienen. Wenn er jetzt zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass er den Wagen auch in den Jahren davor kaum benützt hatte. Das Zurücklegen größerer Entfernungen hatte Lein Zeit seines Lebens so weit wie möglich vermieden. Urlaubsreisen waren ihm ebenso fremd wie Spazierfahrten oder Besichtigungstouren. Andere als berufliche Gründe zum Ortswechsel kannte er nicht. Kleinere, vor allem alltägliche Entfernungen legte er gern zu Fuß zurück, notfalls mit U-Bahn und S-Bahn. Auch längere Zugfahrten waren ihm jedenfalls lieber, als selbst einen Wagen steuern zu müssen. Besonders zuwider war ihm die Benützung von Flugzeugen. Flugangst im üblichen Sinn kannte Lein nicht, er hatte auch keine übersteigerte Sorge vor Unfällen oder terroristischen Attacken. Der Mathematiker in ihm wusste um die verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit solcher Gefahren. Was ihn beunruhigte, war die Vorstellung, Hacker könnten auf die Steuerung von Flugzeugen zugreifen und sie nach Belieben kontrollieren. Das war eine auch mathematisch relevante Bedrohung. Ein Hacker, der sich Zugang über ein Flugkontrollzentrum verschaffte, konnte hunderte Flugzeuge gleichzeitig in seine Gewalt bringen.

    »... gesehen. Ich kann das gut verstehen.« Prof. Grabenmeyer hatte unentwegt weitergesprochen, während Lein wieder einmal so in seine Gedanken versunken gewesen war, dass er kein Wort mitbekommen hatte. Diesmal war es nicht von Bedeutung, aber er wusste, dass er aufpassen musste.

    »Wie gesagt, der Shuttlebus steht Ihnen zur Verfügung. Er fährt alle zwanzig Minuten direkt vor der Neuen Aula ab«, setzte der Dekan seinen Vortrag fort. »So, da sind wir. Zu Ihrem Wirkungsbereich sind es nur noch ein paar Schritte. Das Labor hat jetzt in der Anfangsphase nur eine Standardeinrichtung. Spezielle Geräte oder was immer Sie benötigen, fordern Sie bitte direkt in meinem Büro an. Das zeige ich Ihnen hernach auch noch.« Er bat Lein in eines der größeren Gebäude und führte ihn einen schmalen, dunklen Korridor entlang.

    »Früher waren hier nur unsere Hörsäle. Vor drei Jahren hat man uns endlich einen Zubau genehmigt, in dem wir mehrere Labors unterbringen konnten.« Durch eine automatisch öffnende Tür betraten sie das Laborzentrum. Der Geruch frischer Farbe und neuer, unverbrauchter Materialien lag noch in der Luft. Der Raum, in dem Lein und sein Team eines der vordringlichsten Probleme der Menschheit lösen sollten, erinnerte ein wenig an ein Gewächshaus. Das Giebeldach bestand fast zur Gänze aus beschichteten Acrylglaselementen, die das Tageslicht streuten und gleichmäßig bis in den letzten Winkel des Raumes verteilten. Unter der gesamten Länge des Giebels, sowie rundum am Übergang zu den Wänden, waren Leuchtpaneele angebracht. Mit geschätzten zweihundert Quadratmetern war der Raum mehr als großzügig bemessen; an der gegenüberliegenden Stirnseite waren vier mit halbhohen Wänden abgetrennte Kojen zu erkennen, die vermutlich als Büro genutzt werden konnten.

    »Ich freue mich so, Sie endlich in unserem Team begrüßen zu dürfen.« Mit ausgetreckten Armen kam aus der Tiefe des Raumes ein kleiner weißhaariger Mann auf Lein zu. Fast schien es, er wollte ihn umarmen und hielt sich nur mit Mühe davon ab. »Mein Name ist Lehmann. Ingenieur Lehmann, bis zum Doktor hab ich’s nicht gebracht, wissen Sie. Aber ich bin zufrieden. Es kann nicht jeder ein Genie sein wie Sie. Lehmann, Wilhelm. Ich sage das nur so vorweg. Man kann ja nie wissen, vielleicht werden wir eines Tages noch per Du. Hehehe. Per Du auf Englisch, verstehen Sie?«

    Während er sprach, ohne auch nur ein einziges Mal zu atmen, hielt er Lein fest an beiden Oberarmen, als wollte er ihn jeden Moment an die Brust drücken. Da Lein mit 1,86 Metern ziemlich groß war, musste Herr Lehmann, Wilhelm, richtiggehend aufwärts schauen, um sein Gegenüber aus der kurzen Entfernung direkt ansprechen zu können.

    »Wir werden sicher gut zusammenarbeiten. Sie werden mich fast gar nicht bemerken. Ich bin beauftragt, die gesamte Kommunikation mit der Zentrale in Göttingen und mit den Teams in Wuhan und São Paolo zu übernehmen. So haben Sie den Rücken frei und können in Ruhe arbeiten. Ich hoffe, das Labor entspricht Ihren Vorstellungen. Wir können natürlich alles adaptieren, wie Sie es brauchen. Morgen ist schon Freitag, ich würde also vorschlagen, dass wir uns Montag um neun Uhr wieder hier treffen, dann stelle ich Ihnen das ganze Team vor. Sie haben zwei wissenschaftliche Mitarbeiter mit hervorragender Qualifikation, dann zwei Assistenten und eine Sekretärin. Dazu kommt noch mein Büro mit zwei Mitarbeiterinnen, falls Sie noch zusätzliche Hilfe benötigen. Gut, dann zeige ich Ihnen jetzt noch Ihr persönliches Büro. Es ist hier gleich nebenan.«

    Der Raum, in den er Lein führte, war modern eingerichtet mit großem Schreibtisch, einer Regalwand und einer kleinen, aber gemütlich wirkenden Sitzgruppe. Hier konnte man ungestört Gedanken wälzen.

    »Aber ich rede und rede und vergesse dabei das Wichtigste. Sie haben doch sicher schon gehört, was in Kasachstan gerade los ist?«

    »In Kasachstan?« Lein hatte keine Ahnung, was Herr Lehmann meinte.

    »Der Sonnensturm, der Neutronensturm, der seit heute Nacht unserer Zeit halb Kasachstan und einen Teil von Afghanistan lahmlegt. Ausfall aller Navigationssysteme, keine Verbindung zu den Satelliten, Stromausfälle, Brände und Explosionen durch Überspannung. Ein Flugzeug wurde schwer beschädigt und ist beim Landeversuch abgestürzt. Sie sehen, Herr Olerson, wie dringend unsere Arbeit – Ihre Arbeit ist. Wir haben wirklich keinen Tag zu verlieren.«

    »Erlauben Sie, dass ich mich verabschiede«, meldete sich der Dekan wieder zu Wort. »Ich glaube, von meiner Seite ist soweit alles klar. Sie können dann in Ruhe noch weiter fachsimpeln. Mein Büro finden Sie übrigens ganz leicht, wenn Sie zurück ins alte Gebäude gehen und sich sofort rechts halten. Ach ja«, hielt er inne, als er sich bereits zum Gehen gewendet hatte, »eines hätte ich beinahe vergessen. Es gibt doch ein Problem, das wir kurz besprechen müssen. Es geht um Ihren Unterricht.«

    Lein hatte selbst auch schon ganz darauf vergessen, so begeistert war er von dem Labor. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit.

    »Also«, fuhr Prof. Grabenmeyer fort, »Sie sehen selbst, wie vordringlich Ihre Forschung ist, die ganze Menschheit wartet auf Ergebnisse. Deshalb möchte ich Sie ersuchen, den Unterricht auf wenige Wochenstunden zu beschränken. Wir können aus rechtlicher Sicht nicht ganz darauf verzichten, ganz abgesehen davon, dass die Studenten schon darauf brennen, Ihren Ausführungen zu lauschen. Ich würde vorschlagen, Sie machen eine zwei- bis dreistündige Vorlesung pro Woche. Damit haben wir den Vorschriften Genüge getan und Sie können sich der Zukunft der Menschheit widmen. Wäre das so in Ordnung für Sie?«

    Lein war so überrascht von dieser Ankündigung, dass er beinahe vergaß zu antworten. »Ja, selbstverständlich, das können wir so machen. Ich sehe das genauso wie Sie, Herr Dekan. Und vielen Dank noch für die Führung.«

    Prof. Grabenmeyer verabschiedete sich erleichtert, und Lein fiel gerade ein Stein vom Herzen. Aber da war ja noch Wilhelm.

    »Schauen Sie die Nachrichten heute Abend, dann werden Sie schon einen Eindruck von der Situation in Kasachstan bekommen. Ich lasse am Montag gleich alle Daten zusammenstellen, ich meine die ganz offiziellen Informationen, nicht, was über die Medien läuft.«

    »Ich bin neugierig, was Sie in Erfahrung bringen«, heuchelte Lein Interesse. Er kannte die Auswirkungen von Sonnenstürmen in- und auswendig, schließlich war es immer dasselbe. Je nach Stärke und Ausdehnung waren unterschiedlich große Gebiete betroffen, und die Zerstörung von technologischer Infrastruktur zeigte quantitative Abweichungen. Abgesehen davon konnte man aber ziemlich präzise vorhersagen, was alles passieren würde. Was man hingegen nicht vorhersagen konnte, war das nächste Auftreten dieses zerstörerischen Phänomens, auch nicht seine Intensität oder die voraussichtlich betroffene Gegend. Vor allem aber war die Erde einem Neutronenbeschuss fast schutzlos ausgeliefert.

    »Sie können sich auf mich verlassen«, fuhr Lehmann fort. »Wie gesagt, Montag dann. Danke, dass Sie gekommen sind, und schönes Wochenende noch. Genießen Sie ihre letzten freien Tage, hehehe.«

    Lein verabschiedete sich mit einem guten Gefühl. Abgesehen von Lehmanns übersteigerter Kommunikationsfreudigkeit sprachen die Umstände für einen angenehmen Aufenthalt und ein eher entspanntes Arbeitsklima. Vorausgesetzt, seine Mitarbeiter waren teamfähig, kalkulierte er bereits die Möglichkeit ein, seinen Umzug nach Deutschland nicht bereuen zu müssen.

    Es war erst 17.20 Uhr, also konnte er die Kaffeemaschine noch zur regulären Öffnungszeit abholen, nur ungern hätte er den netten Herrn später gestört. Er verließ das Universitätsgelände zu Fuß. Auf die Benützung des Busses legte er keinen Wert, auch wenn der an diesem Oktober Nachmittag noch nicht überfüllt gewesen wäre. Auf der Hauptstraße angekommen, wendete er sich links. Sein ausgeprägter Orientierungssinn riet ihm, dieser Straße nach Südosten zu folgen, das würde ihn zurück ins Zentrum bringen. Die rund 2,5 Kilometer legte er in weniger als einer halben Stunde zurück und erreichte den Elektroladen rechtzeitig vor 18 Uhr. Lein konnte es kaum fassen, dass der Inhaber nur neun Euro für den Umbau verrechnen wollte. Allein der neue Stecker musste zumindest halb so viel kosten. Er bedankte sich herzlich und nahm begeistert die Maschine in Empfang.

    Die Zeit bis zum Abendessen hätte ausgereicht, das Gerät in die Wohnung zu bringen und zurück ins Zentrum zu kommen. Aber egal ob zu Fuß oder mit dem Taxi, es erschien Lein jedenfalls zu mühsam. Also machte er sich auf den Weg zu der gemütlichen Kneipe, die er am Vorabend entdeckt hatte. Mit ein, zwei Glas Bier würde er die Zeit überbrücken, und wenn er recht überlegte, hatte er ohnehin bereits Hunger.

    Er hatte noch nicht einmal die Tür hinter sich geschlossen, als ihm der junge Mann hinter dem Tresen entgegen rief: »Willkommen, guten Abend, nehmen Sie Platz, mein Name ist Sebastian.« Lein war überrascht, dass die hübsche junge Dame vom Tag zuvor offenbar nicht im Dienst war. Aber was hatte er erwartet? Wie einfältig von ihm anzunehmen, er würde jeden Abend dieselbe Bedienung vorfinden. Der junge Mann machte einen netten Eindruck, also wollte sich Lein die Laune nicht verderben lassen.

    »Hello, Sebastian. Ich hätte gern ein Pils und die Maultaschen.« Lein setzte sich wie tags zuvor an die Theke. Die Schachtel mit der Kaffeemaschine stellte er auf den Boden. Er beschloss, hernach mit dem Taxi heimzufahren. Inzwischen hatte er sich die Adresse gemerkt.

    »Mit Ei oder geschmälzt?«

    »Geschmälzt, bitte.«

    »Möchten Sie nicht vorher vielleicht Dal probieren, mit ganz frischem Naan? Wir haben das selten auf der Karte.«

    »Was ist das?«

    »Naan ist Fladenbrot, und Dal ist die pakistanische Linsensuppe. Unser Koch ist Pakistani.«

    »Indische Küche – sorry, pakistanisch. Klingt großartig. Okay, ich versuche es.«

    Sebastian stellte das Bier auf die Theke und ging in die Küche, um die Bestellung aufzugeben.

    »Ich arbeite hier nur als Aushilfe«, erklärte er, als er zurückkam, »eigentlich studiere ich.«

    Bitte nicht Mathematik oder Physik, hoffte Lein, dann konnte er nicht so einfach in ein Fachgespräch verwickelt werden. »Was studierst du?«

    »Archäologie und Frühgeschichte.«

    »Wow, das klingt ja spannend. In welchem Semester?«

    »Ich schreibe gerade meine Masterarbeit.«

    »Archäologie hat mich immer fasziniert. Worüber schreibst du?« Leins Interesse war keineswegs geheuchelt.

    »Archäologische Fälschungen und Irrtümer, und ihre Wirkungen auf die moderne Wissenschaft.«

    »Sehr mutig, ein umfangreiches Thema.«

    »Ich habe mir natürlich ein paar interessante Vorfälle herausgesucht, die möchte ich aber bis ins Detail analysieren.«

    »Fälschungen haben in der Geschichte viel angerichtet, selten Positives. Mir war nicht bewusst, dass die Archäologie auch damit zu kämpfen hat.«

    »Und nicht zu knapp. Du bist auch Wissenschaftler, nicht?«

    »Wie kommst du darauf?«

    »Ich habe dich hier noch nie gesehen, und du sprichst amerikanisches Englisch. Falls sich ein amerikanischer Tourist nach Tübingen verirren sollte, würde er nicht in dieser Kneipe landen, schon gar nicht mit einer Kaffeemaschine unter dem Arm. Es ist Mitte Oktober, das neue Semester beginnt, neue Professoren kommen an die Uni. Was unterrichtest du?«

    »Ich denke, du wirst ein guter Archäologe, die kriminalistische Ader hast du schon. Und du hast recht, ich bin neu an der Universität, gestern angekommen.«

    »Und?«

    »Ach so, was ich unterrichte? Du wirst mir nicht glauben, wenn ich sage, dass ich es vergessen habe.«

    »Nicht wirklich.«

    »Ist aber so. Aber es ist nicht ganz so schlimm. Ich bin Physiker und Mathematiker, und meine Hauptaufgabe wird die Forschung sein, Unterricht ist dann nur eine Nebensache. Ich werde nur eine Vorlesung pro Woche halten – wie gesagt, ich weiß noch nicht genau, worüber.«

    »Und die Forschung?«

    »Ich bin nicht sicher, ob ich das sagen darf. Irgendwie habe ich das Gefühl, das Projekt sei geheim, dann auch wieder nicht. Besser ich sage heute nichts und checke das am Montag.«

    »Heißt das, du kommst wieder?«

    »Klar, ist gemütlich hier.«

    Es läutete von der Küche. Sebastian brachte Suppe und Fladenbrot. Lein hatte vor allem in England häufig indische Küche probiert, es hatte ihm immer geschmeckt. Aber diese Suppe war anders, einzigartig, einschmeichelnd und fordernd zugleich. Zusammen mit dem weichen Fladen war das ein echter Genuss.

    »Euer pakistanischer Koch macht auch die Maultaschen?«

    »Klar. Hast du Angst, dass sie nicht schmecken?«

    »Nein, nein. Ich war gestern schon hier, da waren sie wunderbar.«

    »Apropos, sie sind gerade fertig.«

    »Sind hier immer so wenige Gäste, oder ist das nur Zufall?« Lein machte sich an das Hauptgericht, das Sebastian inzwischen gebracht hatte.

    »Richtig voll wird es erst nach 22 Uhr. Da reichen dann die Sitzplätze nicht mehr aus.«

    »Dann komme ich in Zukunft auch lieber früher.«

    Neue Gäste betraten das Lokal und Sebastian musste sich um sie kümmern. Lein beendete seine Mahlzeit schweigend und bestellte hernach noch ein Pils, dann musterte er die übrigen Gäste. Er beobachtete gerne, wie Menschen sich in alltäglichen Situationen verhielten. Wenn sie entspannt waren, war ihr Verhalten vorhersehbar, genau wie das von Himmelskörpern oder Elementarteilchen. Unter Stress gerieten Verhaltensweisen außer Kontrolle, hier wie dort. Das Universum war ein Ganzes, das hatte Lein längst akzeptiert. Nicht nur Soziologen konnten von den Menschen lernen.

    An diesem Abend war er lange sitzen geblieben, mit zwei weiteren Glas Bier und einer Extraportion Fladenbrot. Das Lokal hatte sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt, ein paar Leute mussten bereits stehen, höchste Zeit für ihn zu gehen. Die Kaffeemaschine vor sich her tragend machte er sich auf den Heimweg. In seiner Wohnung angekommen, ließ er sich erschöpft auf die Bank fallen. Er hätte mit dem Taxi fahren sollen.

    Lein hatte keine Lust, die Kaffeemaschine noch auszuprobieren, dafür war am nächsten Morgen genügend Zeit. Er stellte sie mitsamt dem Karton einfach auf den Küchentisch. Eher wollte er seine Garderobe in Ordnung bringen. Für einen alleinstehenden Mann mittleren Alters besaß er ungewöhnlich viel Kleidung, und es schmerzte ihn, dass alles seit Tagen in Umzugskartons zusammengepfercht war. Er begann also auszupacken, zu ordnen und seine Habseligkeiten in dem großen Schrank im Schlafzimmer unterzubringen. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis endlich eine für ihn akzeptable Ordnung hergestellt war. Nur so konnte er sicher sein, alles immer griffbereit zu haben. An diesem Morgen hatte er sich viel zu eilig und nachlässig angezogen; das sollte nicht wieder vorkommen.

    Nach beendeter Körperpflege und bereits im Schlafanzug wollte er den Fernsehapparat einschalten, nicht zuletzt auch um zu sehen, was aus den Problemen in Kasachstan geworden war. Aber zu seinem großen Erstaunen gab es in der ganzen Wohnung kein Fernsehgerät. Er hatte sich den Transport aus England erspart, da er ein Fernsehgerät als notwendigen Teil der Grundausstattung einer möblierten Wohnung angenommen hatte. Er hätte auf den Kühlschrank problemlos verzichten können, notfalls sogar auf die Kaffeemaschine, aber nicht auf einen Fernsehapparat.

    Zumindest zwei Geräte hatte Lein immer besessen, obwohl er nicht allzu viel Zeit damit zubrachte. Tagsüber benützte er sie kaum, er schaute abends, eher gezielt und punktuell, nur manchmal ließ er sich bei der Arbeit von zufällig ausgewählten Programmen begleiten. In dem Fall widmete er den Sendungen kaum Aufmerksamkeit, aber er hatte das Gefühl, die Abschottung gegen diesen kontraproduktiven äußeren Einfluss stärke sein Konzentrationsvermögen und erhöhe seine geistige Leistungsfähigkeit. Darüber hinaus liebte Lein die ständige Verfügbarkeit von Annehmlichkeiten besonders dann, wenn er nicht die Absicht hatte, sie zu benützen. In Durham, in der Zeit seiner Ehe, hatten sie Fernsehgeräte unterschiedlicher Größe im Wohnzimmer, in der Küche, über der Badewanne und im Schlafzimmer gehabt.

    Es war nicht so, dass Lein unbedingt einen Fernsehapparat zum Einschlafen benötigte, schon gar nicht täglich. Aber in gewissen Situationen liebte er diese Art von Ablenkung, und heute wäre eine solche Situation gewesen.

    Kapitel 2

    Ein überdimensionaler Wohnsalon, fünf, vielleicht sechs Meter hoch, eine breite Fensterfront bis auf Höhe des Bodens, nur einen Meter über dem Niveau des davor liegenden Gartens. Eigentlich nur ein Rasen, ein sehr großer Rasen, vielleicht auch ein Feld oder eine vegetationslose Ebene. Draußen dunkel, alles nicht so genau zu erkennen. Von dem Platz an der Türschwelle der Blick durch den Raum hindurch auf die Silhouette einer entfernten Stadt am Ende der Ebene, ein Panorama ohne Erinnerungen, ohne klare Bezüge.

    Und kein Bezug zu Zeit und Raum an dieser Stelle, Gedanken, die rastlos umherschweiften. In der Gegenrichtung der Blick in den Eingangsbereich des Hauses, mit Mühe nur, und immer noch an der Türschwelle; ein warmer und sicherer Ort.

    Der Flur eine Art Aula, fensterlos, in Form eines Kuchenstücks, im Zentrum die Eingangstür des Hauses. Von dort aus terrassenförmig ansteigende Stufen, wie der Ausschnitt eines Amphitheaters. Von der Straße her wie eine immer breiter werdende Treppe ins Nichts. Links der Wohnsalon, rechts alle übrigen Räume, aber geradeaus, am Ende der Treppe, nur eine Wand. Stufen über die gesamte Breite des Raumes, etwa zehn Zentimeter hoch, aber an die zwei Meter tief. Auf der dritten Stufe ein Klavier, ein altes Modell, mehr als drei Meter lang, sonst ein leerer Raum. Auch der Salon beinahe leer, nur eine Sitzbank mit zwei Sesseln, in dem überdimensionalen Raum trotz ihrer Größe fast puppenhaft.

    Gegenüber dem Wohnsalon ein schmaler Gang, an dessen rechter Seite vier kleine Zimmer. An der linken Seite einige Fenster, unmittelbar dahinter eine Felswand. Die Zimmer auf der rechten Seite fensterlos, nur drei der vier Türen geöffnet.

    Das erste Zimmer mit etwa vier mal zwei Metern, früher die Küche. Gegenüber der Tür eine enge, aber für den Raum zu große Sitzecke. Ein hoher Kühlschrank direkt hinter der Tür, keine weiteren Einrichtungsgegenstände.

    Die nächsten beiden Zimmer waren kleiner und scheinbar leer bis auf jeweils einen Kühlschrank, gleich jenem in der Küche, und der Gang endete an einer mit Milchglas gefüllten Tür. Die Tür des letzten Zimmers war geschlossen. Von der Eckbank in der Küche war an der linken Wand der Kühlschrank zu sehen, hinter der geöffneten Küchentür durch das gegenüberliegende Fenster im Gang die dahinter liegende Bergwand.

    Warum hier – und wo ist hier? Und warum dieses Haus? Ohne Strom, alles dunkel, nur ein schwaches grünes Licht, irgendwie warm und vertraut. Und dann kamen die Zahlen, Ziffern und Zahlen, sie verwirrten, sie machten Angst, aber es schmerzte nicht. Der Versuch, sich auf die Zahlen zu konzentrieren, misslang. Vielleicht konnten sie ihm helfen, aber sie entschwanden so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.

    Immer noch der Blick, vorbei am Kühlschrank durch das Gangfenster. Unmöglich, sich zu bewegen, unmöglich, klar zu denken – und wie diese Nacht überstehen? Was würde dann kommen, eine weitere Nacht, ein Tag, wieder eine Nacht? Würde es je enden?

    Wieder kamen die Zahlen, und wieder verwirrten sie ihn, aber sie waren weniger erschreckend. Er versuchte sie festzuhalten, wenigstens eine sich zu merken – vergeblich, zu schnell wechselten sie. Und dann kam der Schmerz, es wurde taghell.

    Und wieder der Blick, vorbei am Kühlschrank durch das Gangfenster. Kein Schmerz. Kein Licht, oder doch, der warme grüne Schimmer immer noch.

    Der Weg zum Wohnsalon mühsam, wie steil bergauf, die Aula fast unüberwindlich. Zuletzt der Platz an der Türschwelle, wieder warm und sicher. Die Aussicht aus dem Fenster, die Stadt in der Entfernung, waren sie Illusion? Er konnte den Blick nicht festhalten.

    Er verspürte Hunger. Auch die Küche war ein sicherer Ort, die Küchenbank hart, aber vertrauenswürdig. Wie stillt man Hunger? Er hatte es vergessen. 61,5 – da war wieder eine Zahl. Mitten im Raum schwebte sie, ein wenig zitternd, diesmal aber deutlich erkennbar, nicht groß, von der Größe seiner Handfläche vielleicht. Neben dem Kühlschrank pendelte sie, etwa zwei Meter vor ihm auf Augenhöhe. Dann noch eine Zahl, sie schimmerte auf der Fensterscheibe. Das Gangfenster war weit entfernt, die Zahl undeutlich, aber er glaubte sie zu erkennen: 18,2, vermutlich. Während er überlegte, was die Zahlen bedeuten konnten, waren sie auch schon wieder verschwunden, genauso plötzlich, wie sie zuvor erschienen waren.

    Jetzt war es wieder dunkel, bis auf den grünen Schimmer, der vom Ende des Ganges zu kommen schien. Er hätte aufstehen und dem Lichtschein nachgehen können. Er hätte die anderen Zimmer erkunden oder wieder den sicheren Platz an der Schwelle zum Wohnsalon aufsuchen können. Zu all dem fehlte aber die Kraft, die wenige Energie reichte gerade aus, um bewegungslos zu sitzen und Richtung Tür zu schauen. Irgendwann würde diese Nacht zu Ende sein, er musste nur lange genug sitzen bleiben und ausharren.

    Es war kalt, der Hunger meldete sich wieder, aber der würde vorübergehen, so wie die Nacht. Wie war er hierhergekommen, und woher? Wo würde er sein, wenn die Nacht endete? Jetzt wieder an der Schwelle, den Blick aus dem Fenster, die Stadt immer noch in der Ferne. Welche Stadt? Verschwommene Erinnerungen ohne Bezug zu Raum und Zeit. Welches Fenster? Jetzt kein Haus mehr, nur noch ein Kühlschrank, verschlossen, drohend. Eine Zahl: 35 – dann nichts mehr.

    Kapitel 3

    Um 8.30 Uhr läutete jemand unten an der Haustür. Lein lag noch im Bett, er hatte keine Verabredung vereinbart, nicht für die nächsten drei Tage. Er drückte auf den Sensor der Gegensprechanlage neben dem Bett.

    »Hello?« Auf dem kleinen Bildschirm war eine Frau in mittleren Jahren zu sehen.

    »My name is Nehlinger. Im Büro haben sie mir gesagt, dass sie eine Haushaltshilfe brauchen.«

    »Ah, ja, natürlich. Bitte kommen sie hoch.«

    »Nehlinger, Hermine Nehlinger«, stellte sie sich nochmals vor, als sie die Wohnung betrat.

    »Freut mich, Mrs. Nellinger, mein Name ist Olerson.«

    »Nehlinger«, bestand sie, indem sie die Länge der ersten Silbe betonte.

    »Sorry, natürlich, Neeelinger.« Lein hatte nur seinen dünnen Morgenmantel über den Schlafanzug gezogen, ein schönes Stück aus roher Seide, mit farbenfrohen chinesischen Motiven. Karen, mit der er zuletzt in England liiert gewesen war, hatte ihm das Teil zum Geburtstag geschenkt. Es war das einzige Erinnerungsstück, das er aus dieser Beziehung behalten hatte.

    Lein fühlte sich immer unwohl, wenn Fremde seine Wohnung betraten, umso mehr, wenn er nicht gesellschaftsfähig gekleidet war. Dass Frau Nehlinger ihm von Anfang an sympathisch war, änderte daran auch nichts.

    »Bitte, kommen Sie weiter, ich zeige Ihnen die Wohnung. Hier gleich links sind die Küche und dann das Badezimmer, rechts gegenüber die Toilette. Weiter vorne am Ende des Flurs sehen Sie links mein Schlafzimmer, rechts liegt das Wohnzimmer, das ich auch zum Arbeiten benütze. Der letzte Raum rechter Hand, zwischen Toilette und Wohnzimmer, ist das Zimmer meines Bruders. Er schläft allerdings noch.«

    »Ich wusste nicht, dass sie zu zweit sind.«

    »Es war nicht klar, dass er kommen würde.«

    »Kein Problem. Welche Arbeiten erwarten Sie von mir? Soll ich einkaufen gehen, oder auch kochen? Ich kann aber nicht jeden Tag kommen.«

    »Einkaufen und kochen brauchen Sie keinesfalls, ich bin gewohnt, auswärts zu essen. Ich brauche jemand, der die Wohnung und meine Kleidung sauber hält.«

    »Also putzen, waschen und bügeln.«

    »Genau.«

    »Gibt es Putzmittel und Reinigungsgeräte, Bügeleisen und so weiter?«

    »Ich habe keine Ahnung, ich bin eben erst eingezogen. Möchten Sie sich ein wenig umsehen, vielleicht finden Sie etwas. Ich versuche inzwischen, einen Kaffee zu machen.«

    »Gut, dann schaue ich mal.«

    Lein ging in die Küche, um endlich die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Das Leuchten der roten Betriebslampe erzeugte ein wohliges Gefühl in seiner Magengegend. Er war stolz nicht vergessen zu haben, die letzten Kaffeebohnen in seinem Handgepäck mitzunehmen. Als Frau Nehlinger die Küche betrat, begann sich gerade der Kaffeegeruch zu verbreiten.

    »Möchten Sie auch einen?«

    »Nein, danke, ich trinke gewöhnlich keinen Kaffee. Aber ich habe alles gefunden, was ich zum Arbeiten brauche, in dem kleinen Abstellraum neben der Toilette.«

    »Wunderbar. Wenn etwas fehlt, bitte kaufen Sie es einfach und setzen es auf die Rechnung.«

    »Gerne. Die Rechnung bekommen Sie monatlich von der Agentur. Aber wann soll ich eigentlich kommen? Am besten hätte ich Montag-, Donnerstag- oder Freitagvormittag Zeit.«

    »Zweimal pro Woche ist ausreichend. Ich schlage vor, Montag und Donnerstag, vielleicht so um neun Uhr?«

    »Gut, dann komme ich Montag wieder.«

    »Ich gebe Ihnen gleich einen Schlüssel mit, da ich gewöhnlich um diese Zeit nicht da sein werde. Ich arbeite tagsüber in der Universität, nur abends oder nachts zu Hause. Mit meinem Bruder ist es vielleicht ein bisschen schwieriger, er lebt sehr zurückgezogen. Wenn er so wie jetzt die Tür geschlossen hat, möchte er nicht gestört werden.«

    »Soll ich dann sein Zimmer nicht sauber machen?«

    »In dem Fall nicht, nur wenn die Tür offen ist, bitte.«

    »Ist in Ordnung. Bis Montag dann also. Schönes Wochenende noch.«

    »Ebenfalls, und danke.«

    Lein war verwirrt. Es war richtig beängstigend, wie gut bisher alles geklappt hatte. Jetzt wollte er seinen ersten Kaffee in der neuen Wohnung genießen. Er machte einen kurzen Blick in die Küchenschränke, aber wie er vermutet hatte, waren sie leer. Also musste er erst seine Tassen finden, die in einem der Bücherkartons untergekommen waren. Ihm fiel ein, dass er ihn gekennzeichnet hatte. Eine von Karens Leidenschaften war das Kleben von Smileys gewesen; auf jedem Notizzettel, auf jeder Nachricht brachte sie einen dieser runden gelben Kleber an, die längst aus der Mode gekommen waren. Nur sie hatte offenbar einen unerschöpflichen Vorrat davon und verzierte damit ihre Bücher, Schreibgeräte und andere bewegliche Gegenstände. Lein waren diese grinsenden Gesichter zuwider, vor allem zu kindisch, aber er konnte nichts dagegen ausrichten.

    Als er die Umzugskartons befüllt hatte, war ihm ein ganzer Stapel dieses Teenagerspielzeugs in die Hände gefallen. Zwei davon hatte er benützt, um den Verbleib seiner Kaffeetassen zu markieren. Der entsprechende Karton war schnell gefunden, die Tassen heil. Vor mehr als vierzig Stunden hatte er zum ersten Mal diese Wohnung betreten, und erst jetzt trank er seinen ersten Kaffee hier. Das war absoluter Negativrekord.

    Er musste unbedingt herausfinden, ob man hier in Deutschland das Wort Croissant verstand. Das Cloudnet gab keine befriedigende Auskunft, denn das Wort Hörnchen, das ihm quasi als Übersetzung vorgeschlagen wurde, verband sich mit Bildern, die ganz und gar nicht seiner Vorstellung von einem Croissant entsprachen. Auf dem Stadtplan fand er eine Bäckerei, direkt auf dem Weg von seiner Wohnung zum Labor, dort musste er heute oder morgen Erkundigungen einziehen. Ein bis zwei Croissants zum Kaffee waren sein übliches Frühstück. Wenn er sie abends auf dem Heimweg kaufen könnte, wäre er sehr zufrieden. Für jetzt musste er sich mit dem Kaffee begnügen, er konnte ja unterwegs noch etwas zu sich nehmen. Wenn es an diesem Tag auch keine Verabredungen gab, so hatte er sich doch viel vorgenommen, was erledigt werden musste.

    Eine halbe Stunde später stand er bereits geduscht und rasiert vor dem Spiegel in seinem Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Ihm war bewusst, dass sein rechter Hüftknochen um zumindest einen Zentimeter höher saß als der linke. Ob das auf unterschiedliche Längen der Beinknochen zurückzuführen war oder nur auf schlechte Körperhaltung, hatte er noch nicht herausgefunden. Sehr wohl herausgefunden hatte er jedoch, dass dieser optische Mangel korrigiert werden konnte, indem er die Unterhose an einer Seite um eben diesen Zentimeter hinaufzog. Aus irgendeinem Grund wollte das heute nicht so recht gelingen, also kümmerte er sich zuerst um seine Socken. Damit hatte er mehr Glück, schon nach wenigen Minuten saßen sie absolut gleich hoch. Schließlich gelang auch der Sitz der Unterhose.

    Erst jetzt erinnerte er sich, dass er den Wetterbericht noch nicht gelesen hatte. Lein war gewohnt, von seinem Y-Com automatisch jeden Morgen darüber informiert zu werden, und tatsächlich waren auf dem Bildschirm alle Daten ersichtlich, er musste die Nachricht überhört haben. Leider würde es nicht so warm wie am Vortag, weshalb er sich entschied, entgegen seiner anfänglichen Planung auch ein Unterhemd anzuziehen. Damit war die ganze Mühe mit der Unterhose hinfällig geworden. Immer wieder hatte er Schulkameraden oder Studienkollegen beim Umkleiden dabei beobachtet, wie sie ihr Unterhemd achtlos über die Unterhose anzogen, und er hatte nie nachvollziehen können, wie man sich so in die Öffentlichkeit begeben konnte. Nur wenn das Unterhemd straff gezogen in der Unterhose saß, würde es nicht bei jeder Bewegung nach oben rutschen und dabei das Oberhemd mit aus der Hose ziehen.

    Zehn Minuten später hatte Lein seine Unterkleidung in Ordnung gebracht. Sein Zeitplan war damit zwar endgültig durcheinander gekommen, aber an einem Tag ohne fixe Termine war das zu verschmerzen. Ohne Hektik kleidete er sich fertig an und ging in den Flur zum Schuhregal. Niemand, der ihm auf der Straße in seiner lässig wirkenden Kleidung begegnete, würde annehmen, dass er geraume Zeit vor dem Spiegel zugebracht hatte. Leins Vorstellung von Ästhetik bezog sich nicht vorrangig auf äußerliche, für andere sichtbare Details; ihm ging vor allem es um die Perfektion im Hintergrund. Einzige Ausnahme waren die Schuhe, nur sie durften sein inneres Streben nach Perfektion nach außen hin repräsentieren. An diesem Tag entschied er sich für hellbraune Schnürschuhe, die er am Abend zuvor noch geputzt hatte. Nachdem auch der letzte Rest Staub abgewischt war, wollte er alles nochmals im Spiegel kontrollieren, aber im Flur war keiner vorhanden. Lein griff nach seiner Geldbörse, zog einen der vielen Notizzettel heraus und fügte das Wort SPIEGEL hinzu. Dann verließ er die Wohnung.

    Sein erster Weg führte ihn ins Büro der Stadtverwaltung, er wollte so rasch wie möglich seine Fingerabdrücke in Deutschland registrieren lassen. Lein war an die damit verbundenen Vorzüge längst so gewohnt, dass er keinesfalls darauf verzichten wollte.

    Die Prozedur ging erstaunlich unbürokratisch vor sich. Wie in England auch konnte Lein selbst entscheiden, welchen Finger er für die Identifizierung verwenden wollte, also blieb er seiner Gewohnheit treu und nahm den linken Mittelfinger. Er legte die Fingerkuppe auf den Scanner und wartete auf die Bestätigung des Beamten. Erst als der sagte »danke, ist okay, Sie sind fertig«, bemerkte Lein, dass er seinen Finger ein wenig nach rechts gedreht aufgelegt hatte, sodass höchstens zwei Drittel seines Abdruckes fotografiert werden konnten. Erstaunlicherweise hatte der Apparat das akzeptiert, und Lein dachte nicht, dass daraus Probleme entstehen könnten.

    Zufrieden verließ er das Gebäude und setzte sich ins nächstgelegene Kaffeehaus. Da in der Vitrine nichts zu entdecken war, was einem Croissant auch nur im Entferntesten ähnelte, bestellte Lein einen Schinken-Käse-Toast zu seinem Kaffee, immerhin war es fast Mittag geworden. Er holte sein Y-Com heraus, denn mit Hilfe seines nunmehr gültigen Fingerabdrucks konnte er weitere Erledigungen online vornehmen. Die Website für die Ummeldung der SIM-Card war schnell gefunden, aber Lein erhielt laufend Fehlermeldungen. Er wollte schon aufgeben und nochmals die Stadtverwaltung aufsuchen, entschloss sich aber zu einem letzten Versuch, bei welchem er seinen Finger genauso verdreht auflegte wie er es dort gemacht hatte – und es funktionierte. Er war verwundert über die Software, die unvollständige Fingerabdrücke akzeptierte, und verwundert über sich selbst, warum er gerade diesen Finger ausgewählt hatte. Lein war Rechtshänder und

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