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Der Brandkiller
Der Brandkiller
Der Brandkiller
Ebook482 pages6 hours

Der Brandkiller

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Die Morde an zwei Männern sorgen bei Unterleutnant Michael Bergfeld und seinen Genossen in Bernau für Stress. Dann kommt die Wende mit neuen Gesetzen und Uniformen, es folgen ein neuer Vorgesetzter aus Baden-Württemberg sowie eine Scheidung, ein kurzes Verhältnis und eine neue Liebe. Und der Mörder schlägt nach Jahren der Ruhe nach gleichem Muster plötzlich wieder zu. Für den neu gebackenen Kriminalkommissar Michael Bergfeld wird die Ermittlungsarbeit zu seiner bisher härtesten Bewährungsprobe. Er besteht sie zusammen mit einem Team unterschiedlicher Typen, zu dem auch Astrid Werner aus Tempelhof gestoßen ist, die sich am Rande Berlins bald sehr wohl fühlt. Doch als sie dann den Brandkiller gestellt haben, bleiben immer noch einige Fragen offen.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateNov 5, 2014
ISBN9783844293524
Der Brandkiller

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    Der Brandkiller - Jonas Brix

    DER BRANDKILLER

    Was ist ein Killer? Ein Massenmörder? Ein Serientäter? Jedenfalls jemand, der mehrere Männer oder Frauen umgebracht hat. In dieser Geschichte taucht solch ein Mensch in Brandenburg am Rande Berlins auf, auch wenn er ein Produkt der Fantasie ist. Das heißt, der Text steht wie in jedem Roman mit der Wahrheit auf dem Kriegsfuß. Trotzdem: alles hätte sich ähnlich zutragen können, wenn gewisse Dinge sich so und nicht anders entwickelt hätten. Wo die Wahrheit allerdings ihre Finger im Spiel hat, mag sich mancher Akteur sogar wiedererkennen, denn menschliche Verhaltensweisen ergeben sich nicht nur in Brandenburg zwingend aus bestimmten Situationen. Das ist in einem Roman eben nicht anders als im wirklichen Leben.

    Jonas Brix

    Der

    Brandkiller

    Kriminalroman

    JONAS BRIX ist Jahrgang 1953. Er war Baufacharbeiter, Spitzensportler, absolvierte ein Journalistik-Studium. Er arbeitete als Redakteur und später freischaffender Journalist bei mehreren Berliner Tageszeitungen und Illustrierten auf den Gebieten Sport, Lokal und Kultur/Feuilleton.

    JONAS BRIX veröffentlichte unter anderem Namen mehrere Bücher, Hefte (SF und Krimi) sowie Abenteuer-Erzählungen. Im Moment kommt auch der Roman „Vater aller Morde (Hardcover und e-book) heraus. In Vorbereitung ist der Roman „MEIN KAMPF um die drei großen M.

    Copyright: ©2014 Jonas Brix

    Verlag: epubli GmbH Berlin, www epubli.de

    ISBN: 978-3-8442-9352-4

    Teil 1

    Der erschossene Soldat

    I

    Wenn Kriminalkommissar Michael Bergfeld an sein erstes Leben als Unterleutnant der Kriminalpolizei zurückdachte, dann erinnerte er sich immer an einen bestimmten Tag. Innerhalb von zwölf Stunden erhielt er damals diesen anonymen Anruf einer Frau, die sieben Minuten vor neun Uhr mitteilte, wo der tote Mann lag. Und zum anderen war es der Brief vom Gericht.

    An jenem trüben Oktobertag hatte sich der Sommer noch nicht entschieden, ob er Widerstand gegen die nassen, grauen Luftmassen aus Island leisten oder die von Russland wehenden kalten Winde abblocken sollte. Heraus gekommen war ein Mischmasch aus kühler, durch die Kleidung dringende Feuchtigkeit mit Erkältungsgefahr. Auf jeden Fall hielt die Winterdunkelheit schon alles fest im Griff, als er morgens kurz vor sieben Uhr aus Klosterwalde abfuhr. Damit schien das Wetter der ungewissen politischen Situation zu ähneln, bei der Menschen jetzt im Herbst schon so taten, als sei der gesellschaftliche Frühling bereits angebrochen.

    So richtig hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, dass seine einundzwanzigjährige Tochter Sylvia zu ihrem Freund nach Berlin gezogen war, denn seitdem musste er sich allein um den neunjährigen und etwas träge gewordenen Rottweiler Bully kümmern. Das hieß, er nahm ihn oft zum Dienst mit, damit er nicht den ganzen Tag allein in der Wohnung hockte. Seine Frau dagegen hatte aus ihrer Erleichterung keinen Hehl gemacht; sie hatte sich oft mit Sylvia gestritten wegen ihres etwas lockeren Lebenswandels, der vor allem darin bestand, dass sie es in ihrem Zimmer und auch in der Küche mit der Ordnung nicht so genau nahm. Und viel mehr noch wegen ihrer gegensätzlichen politischen Ansichten.

    Aus diesen Gedanken wurde er an der Ausfahrt des Walddörfchen gerissen, als ihn einer der als Verkehrspolizisten verkleideten Staatssicherheitsleute stoppte. Zwei dunkle Volvos schossen aus dem schmalen Weg und entfernten sich in Richtung Berliner Autobahn. Bergfeld hätte gern gewusst, wer in ihnen saß, denn Honecker und seine treuesten Gefolgsleute um Joachim Herrmann und Mittag waren seit einigen Tagen entmachtet. Sollte der verbitterte Generalsekretär trotzdem noch ins Politbüro am Werderschen Markt fahren?

    Zwei Tage zuvor hatte Major Neuburger die Kriminalisten des Kreisamtes zusammen gerufen und plötzlich ganz moderat erklärt, selbstverständlich werde die Deutsche Volkspolizei weiter ihre Aufgaben zum Schutz des Lebens und Eigentums der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik mit ganzem Einsatz erfüllen und getreu der Verfassung der DDR ihre Pflicht tun. Dies treffe auch auf eventuelle kriminelle Machenschaften hoher Partei- und Staatsfunktionäre zu. In den Zeitungen waren Berichte über Korruption und Machtmissbrauch höchster SED-Kader aus dem Keller der ersten Seiten immer höher geklettert und dabei umfangreicher geworden. Die neue Führung unter Krenz hatte versprochen, für Offenheit und Aufdeckung aller Vergehen zu sorgen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Leutnant Wagner aus Rüdnitz hatte gefragt: „Und warum erst jetzt?"

    Major Wolfram Neuburger hatte die kleinen, grauen Augen in seinem hageren Gesicht wie immer zusammen zugekniffen, wenn jemand eine vom Klassenstandpunkt abweichende Bemerkung machte, verwunderlicher Weise aber nicht weiter darauf reagiert. Rund fünf Wochen zuvor, als Wagner in Vorbereitung der Sicherungsmaßnahmen zum 40. Republikgeburtstag ärgerlich gemurmelt hatte, er könne die Bürger verstehen, die Gorbi feiern wollten, war darauf noch eine lautstarke Zurechtweisung erfolgt. Offensichtlich vertraute Neuburger plötzlich nicht mehr den eigenen Kampfsignalen, die er ihnen jahrzehntelang mit oft sehr schrillen Trompetenstößen in die Ohren geblasen hatte. Er hatte wohl neue Töne gehört, die nun auch die vorderen Seiten der DDR-Zeitungen beherrschten.

    Heimlich bewunderte Bergfeld Leutnant Wagner für seine politische Offenheit, die manchmal fast an Tollkühnheit grenzte und im ganzen Polizei-Kreisamt bekannt war. Man hatte ihn mehrmals zusammengebrüllt, vor sieben Jahren sogar zum Unterleutnant degradiert und erst vor einem halben Jahr wieder zum Leutnant befördert. Natürlich gab es mehrere Kollegen, die ihm außerhalb der offiziellen Sitzungen und Besprechungen die Hand drückten oder die seiner Meinung nach Dienstschluss beim Bier zustimmten. Doch vor härteren Strafen hatten ihn zweifellos nur seine moralische Integrität und die Fachkompetenz als Kriminaltechniker gerettet.

    An diesem Tag nun war der anonyme Anruf gekommen: im Wald neben der Chaussee nach Wandlitz liege eine männliche Leiche. Hauptmann Koppelt hatte Nachtdienst gehabt und fuhr nach Hause, Hauptmann Braatz war zum Weiterbildungslehrgang auf der Kriminalschule Arnsdorf, so dass Bergfeld als Einsatzleiter mit Kriminalhauptmeister Windisch losgefahren war. Als sie den Mann endlich gefunden hatten, ahnte Bergfeld, warum die Anruferin ihren Namen verschwiegen hatte: Es war mit großer Wahrscheinlichkeit ein junger Soldat aus den großen russischen Kasernen, in denen ein Panzerregiment stationiert war. Nicht nur der deutlich zu spürende Machorkageruch und der kahl rasierte Kopf, auch die abgetragenen Stiefel und die erdbraune Soldatenhose deuteten darauf hin. Der Mann war nur mit einem Unterhemd bekleidet, trug weder eine Armbanduhr noch einen Ring, die Hosentaschen waren leer und in seinem Rücken steckten drei, in seinem Kopf eine Kugel.

    „Rufen wir gleich die Freunde?" fragte Bergfeld den Kriminaltechniker, als der eintraf.

    Wagner schüttelte entschlossen den Kopf. „Erst mal untersuche ich alles, dann können wir immer noch entscheiden."

    Er und der Arzt fanden heraus, dass Fundort und Tatort nicht übereinstimmten, der junge Mann etwa sechs bis acht Stunden zuvor erschossen worden, zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Jahre alt war und in der Innenseite seines rechten Hosenbeines einen mit Nadelstichen befestigten Autoschlüssel trug. „Wir lassen eine Autopsie machen", sagte Wagner. Er zog dem jungen Mann Hose und Stiefel aus und packte sie in einen sterilen Plastebeutel. Er hatte sie kaum im Wagen verstaut, als Major Neuburger erschien.

    „Schon etwas Relevantes gefunden?"

    Wagner zählte auf: „Keine Papiere, keine besonderen körperlichen Merkmale, einwandfreies Gebiss. Wir werden erst nach der Autopsie beginnen können, seine Identität zu ermitteln. Wenn nicht vorher eine Vermisstenmeldung eintrifft."

    Neuburger blickte sinnend in den Wald und dann Richtung russischer Kasernen, die etwa einen Kilometer entfernt lagen. Es war ihm anzusehen, was er dachte. Die Polizei hatte es in den knapp fünfzig Jahren sowjetischer Besatzung mit drei toten Rotarmisten zu tun gehabt; einem Offizier, der 1951 während einer Schlägerei mit seinen Kameraden in einem verrufenen Lokal verstorben und nach dem Verschwinden der anderen Offiziere vom Wirt in einer Nebenstraße abgelegt wurde. Als man ihn fand, wurde der Wirt in die Kaserne geholt, als Mörder beschuldigt und verschwand Richtung Sibirien. Ein Soldat war in einer Nacht des Jahres 1955 betrunken in ein Auto gelaufen und getötet worden, den flüchtigen Fahrer fand man nie. Und einen weiteren Soldaten hatte man 1962 in der Nähe des von Mauern umschlossenen Kasernengeländes erschossen aufgefunden. Dort hatte es nachts öfter geknallt, und die deutschen Bewohner hatten sich gehütet, nachzufragen. So hatte man den Mann erst gefunden, als der sowjetische Kommandeur die deutsche Polizei über einen vermissten Soldaten informierte. Der Soldat war von Tieren angefressen, denn er hatte mindestens ein Vierteljahr tot im Wald gelegen. Bestimmt war er vorher entdeckt worden, doch nach den Erfahrungen mit den bisherigen sowjetischen Aufklärungsmethoden hatte natürlich niemand den Fund gemeldet. „Hm, sagte Neuburger und nickte. „Nichts Verwertbares. Schusswaffengebrauch und junger Mann ... Wir könnten ja mal bei den Freunden nachfragen. Oder?

    Auch das kannte man von Neuburger nicht. Er hatte sich an Wagner gewandt und überließ ihm die Entscheidung. „Bei allem Glasnost -- die würde ich zu allerletzt informieren. Erst wenn wir sicher sind, dass der unglückliche Bursche kein Deutscher ist", sagte Wagner. Der Major schluckte, nickte dann wieder und fuhr davon. Bergfeld war zufrieden, dass ihm die Entscheidung praktisch abgenommen war.

    Als er abends nach Hause kam, war seine Frau noch nicht da. Er ging zum Postkasten, fand die Zeitung und zwei Briefe. Der große im DIN-A-5-Format sah amtlich aus. Er kam vom Gericht in Bernau, zwei Querstraßen von seiner Dienststelle entfernt. Es ging um die Eröffnung des Testaments. Man bestätigte, dass er Alleinerbe des Grundstücks und Hauses Kreuzbrucher Straße 24 sowie von vier Hektar Land und elf Hektar Wald -- es folgten die Flurbezeichnungen – in der Gemeinde Klosterwalde sei.

    Vor vier Monaten war seine Tante Edelgard verstorben und hatte ihm alles hinterlassen. Als einziger Verwandter hatte er sich um sie gekümmert, besonders aufopferungsvoll, so lange er noch Abschnittsbevollmächtigter in Klosterwalde war. Seine Frau wollte das Erbe nicht. Ihre Argumente hatten Bergfeld wütend gemacht: „Damit haben wir nur Ärger! Vermache es der LPG! Landeigentum ist sowieso kapitalistisch und überholt. Was sollte er zu solchem Schwachsinn sagen. Und als Rechtsanwalt Beuster ihn vor der Testamentseröffnung fragte, ob er das Erbe annehme, folgte unter dem Tisch ein heftiger Tritt auf seinen Fuß. Nach diesem letzten Versuch seiner Frau, ihn davon abzuhalten, hatte er umso nachdrücklicher „Ja gesagt.und mit einer noch nie gespürten Schadenfreude seiner Frau in das wütend verzogene Gesicht gestarrt.

    Ab diesem Tag war er also Hausbesitzer. Und fast gleichzeitig musste er nun ein Tötungsverbrechen an einem erschossenen, wahrscheinlich jungen russischen Soldaten aufklären.

    Nun wurde ihm klar, wie viel Arbeit im Dienst und gleichzeitig nicht weniger Mühen bei der Renovierung des ziemlich verwohnten Hauses auf ihn zukamen. Und da erschien ihm die Meinung seiner Frau plötzlich gar nicht mehr so falsch. Doch ehe sich da leise Zweifel in seine Überlegungen schlichen, griff er zur Hundeleine und folgte Bully, der schon erwartungsvoll vor der Flurtür saß.

    Zur gleichen Zeit brannte in einigen Bungalows am Rottschesee ebenfalls Licht. Die Wochenendsiedlungen um Klosterwalde hatten zu Bergfelds Bereich gehört, in dem er als Abschnittsbevollmächtigter oft auch Anzeigen von Einbrüchen in Bungalows aufgenommen hatte. Wenn er darüber nachdachte, waren diese sogenannten Datschen und die dortigen Einbrüche entscheidende Voraussetzungen für seine Versetzung zur Kriminalpolizei gewesen. Selbstverständlich hatte er sich besondere Mühe gegeben, hatte nächtelang auf der Lauer gelegen, kombiniert, Spuren verfolgt und zusammen mit seinem kräftigen Rottweiler sogar einige Täter auf frischer Tat geschnappt. Sein Abschnitt war kriminalstatistisch der sauberste im ganzen Bezirk Frankfurt/Oder. Und so hatte man schließlich einen schon halb invaliden, zweiundsechzigjährigen Oberleutnant auf seine Planstelle abschieben und dafür endlich den Versetzungsgesuchen Bergfelds zur Kriminalpolizei stattgeben können. Dass sein Eintritt in die Partei als Voraussetzung für den Offizierslehrgang und Beförderung zum Unterleutnant nun belohnt worden waren, gehörte dabei zum System.

    Als Bergfeld auf die Straße trat, kam auch aus einem der Wochenendhäuser ein Mann. Er überprüfte seine Taschenlampe, rief einen Boxerhund zurück, der bereits in den dunklen Garten gestürmt war und beruhigte seine Frau: „Das sind doch keine Verbrecher, und außerdem haben sie einen Brief an die Redaktion geschrieben. Es ist also ein offizielles Gespräch."

    „Die wollen sich vielleicht rächen – jetzt weiß doch keiner so genau, wie alles weiter geht, sagte seine Frau, die ihm auf die Terrasse folgte. „Ich komme in einer Stunde nach.

    „Quatsch. Wie sieht das aus."

    „Ist mir egal. Lass’ den Hund hier, den bringe ich dann mit."

    Auf dem Weg zu einem wenige hundert Meter entfernten Urlaubsbungalow des Meliorationsbetriebs erfasste den Mann eine eigenartige Stimmung. Zwischen großen Lücken in den hochfliegenden Wolkenfeldern glitzerten kalte Sterne. Vom Feld krochen bleiche Nebelschwaden heran. Er kannte jede Rille des Weges, der an dem kleinen, im Moor ausgebaggerten See vorbei zum fast zwei Kilometer entfernten Dorf führte. Doch jetzt in der Dunkelheit, links die unbeweglich stehenden Kiefern, rechts das wabernde Weiß und die Worte seiner Frau im Ohr, kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Es war eine Stimmung, die manche Filmregisseure durch Szenen erzeugten, in denen sie ihren Hauptdarsteller allein in regengepeitschter Dunkelheit zwischen einsamen, abrissreifen Fabrikgebäuden zum Treff mit Verbrechern gehen ließen. Warum muss der allein gehen, fragte sich dann der Zuschauer, sieht der Kerl nicht, dass er in eine Falle läuft?

    Dieser Kerl nun war vierundfünfzig, freischaffender Journalist bei einer großen Berliner Tageszeitung und kein Held, der Verbrechen aufdeckte. Oder doch? Er blieb stehen und überlegte, ob er vielleicht doch in eine Falle lief.

    Aus Polen und Ungarn wurden Unruhen gemeldet, in der CSSR tat sich ebenfalls einiges, in mehreren Großbetrieben der Republik hatte es tätliche Auseinandersetzungen und Angriffe auf Parteisekretäre und SED-Genossen gegeben. Er war ja kein Genosse, aber ob das die Bereichsleiter des Meliorationsbaus wussten? Vielleicht hatte seine Frau Recht mit ihren Vermutungen, die wollten ihn wegen des Artikels verprügeln, vielleicht sogar ins Wasser werfen.

    Er schüttelte den Kopf. Was hatte er denn aufgedeckt? Er hatte eine satirische Geschichte über einen namenlosen Meliorationsbetrieb geschrieben. Dessen mit ausgebaggertem Torf beladenen Lastwagen hatten aus einem drei Meter breiten Feldweg inzwischen eine fast fünf Meter breite Rollbahn auf Ackerland gemacht. Und dies, obwohl eine von der Zeitung „Junge Welt" mit klassenkämpferischem Eifer betriebene Kampagne alle Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften anprangerte, die nicht jeden Quadratmeter Feldrain für den Anbau von Getreide und Kartoffeln nutzten.

    Vor ihm schnaufte es in der Dunkelheit, Äste knackten. Er ließ den starken Strahl der Lampe aufblitzen und erfasste zwei graue, erstarrende Körper. Wildschweine. Sie richteten ihre Köpfe auf ihn, die Augen funkelten und dann jagten sie grunzend davon.

    Journalist Lothar Engwart holte tief Luft. Mindestens zwei, drei Jahre hatte er keine Wildschweine mehr gesehen, jetzt mussten sie ihn so erschrecken. Er ging weiter und blieb vor dem Betriebs-Bungalow dicht am Moorsee stehen. Das große Fenster leuchtete in die Dunkelheit und er sah zwei Männer am Tisch sitzen. Vor ihnen stand eine Flasche, die Gläser waren leer und sie sprachen miteinander. Obwohl Engwart sich dicht ans Haus schlich, vernahm er nur ein undeutliches Murmeln. Einer der Männer schaute auf die Uhr und sagte etwas, auch der andere sah auf sein Handgelenk und schüttelte den Kopf. Beide richteten den Blick wie auf Kommando zum Fenster. Engwart klopfte gegen die Scheibe und deutete zur Tür.

    Die beiden Männer waren Bereichsleiter Hanke aus Klosterwalde und der stellvertretende Vorsitzende der handwerklichen Kooperation, Müller. Vor dem umzäunten Grundstück stand ein Lada, was keinen vom Trinken abgehalten hatte; die Flasche Wodka war zu einem Drittel leer. Sie begrüßten ihn nicht unfreundlich, und während Müller einen Ordner aufklappte, deutete Hanke auf die Gläser. Engwart nickte, sie stießen an und tranken.

    „Also ich will die Sache hier nicht hochspielen, begann Müller, „denn mir persönlich geht sie ziemlich am Arsch vorbei. Jedenfalls denke ich mal, im Moment gibt es ganz andere Probleme. Er sah Engwart direkt an und grinste herausfordernd. Die Provokation war zu spüren und er überlegte, wie er reagieren sollte, falls Müller handgreiflich wurde. Der war etwa fünfzig, kleiner als er, doch stämmig und mit rundem Kopf, aus dem winzige Augenschlitze wässrig glitzerten. Hanke dagegen, um die sechzig, klein und hager, schwieg und goss wieder ein.

    „Ja, das stimmt. Das mit den Problemen." Engwart nickte.

    „Aber mir hat die Kreisleitung erst mal mächtigen Ärger gemacht, wir sollen für den Schaden aufkommen und so weiter..."

    „Welche Kreisleitung?" tat Engwart dumm.

    „Na, die Parteikreisleitung."

    „Ach so. Und was hat die damit zu tun? Ich bin nämlich nicht in der Partei und weiß das nicht so genau." Das wäre erst mal geklärt.

    „Nanu – ich dachte ihr Zeitungsscheis... Zeitungsschreiber seid alles Genossen. Müllers Augenschlitze öffneten sich. „Die Partei kümmert sich doch um alles. Jedenfalls hat sie die Elpege im Dorf angeschrieben und damit schlafende Hunde geweckt.

    Hanke nickte eifrig. „Mit denen komm ich schon klar. Prost." Er hob sein Glas, Müller und Engwart folgten seinem Beispiel.

    Nachdem Engwart zugesagt hatte, sich für einen korrigierenden Artikel in der Zeitung einzusetzen und über Ausgleichsmaßnahmen zu berichten, stießen sie wieder an. Die Ausgleichsmaßnahmen sollten darin bestehen, den ausgefahrenen Feldweg, der sich bei Regen in tiefe, morastige Pfützen verwandelte und deshalb die LKW gezwungen hatte, immer neue Spuren zu suchen, mit mehreren Ladungen Kohlenschlacke aufzufüllen. Sie stießen gerade wieder an, als es gegen die Scheibe klopfte.

    „Ach, unser Abevau, sagte Hanke und winkte. Engwart kannte ihn aufgrund der Einbrüche in seinen Bungalow. Sie begrüßten den Kriminalisten, der den Rottweiler draußen angebunden hatte und in die Runde nickte. „Ich hoffe doch, dass keiner von euch so angetrunken mit dem Wagen fährt.

    „Immer im Dienst, auch wenn er jetzt in Bernau bei den Kriminalen ist, meinte Hanke grinsend. „Aber keine Angst, ich komme mit dir zu Fuß zurück ins Dorf, und Kurt bleibt über Nacht hier.

    „Sie sind jetzt noch auf dem Grundstück?" wandte Bergfeld sich an den Journalisten.

    „Die Tage im Herbst sind so schön, das bunte Laub, die Ruhe ..."

    „Außerdem ist es der beste Schutz gegen Einbrüche, sagte Bergfeld, „Ihre Anwesenheit, meine ich. Bisher wurde noch nie eingebrochen, wenn Leute im Haus waren.

    „Naja, in den letzten vier Jahren sind wir zum Glück verschont geblieben – das hatten wir auch Ihnen zu verdanken. Ich hoffe, es hat sich bei den Ganoven noch nicht herumgesprochen, dass Sie sich inzwischen nach Bernau verzogen haben."

    „O, von da aus habe ich noch ganz andere Möglichkeiten, die Stehldiebe zu fassen", meinte Bergfeld.

    In ihr Lachen klang lautes Hundegebell. Bergfeld ging hinaus, seine Frau stand mit der Hündin am Zaun, und die bellte mit dem Rottweiler um die Wette. Es war ein ärgerliches Bellen, wahrscheinlich weil man sie nicht zueinander ließ -- und es klang auch sehr erfreut. „Da ist ja deine Freundin -- und du kannst nicht zu ihr", sagte Bergfeld begütigend. Sie ließen die Hunde frei und die beiden tobten in die Dunkelheit hinein. Bergfeld hatte damals bei seinen Streifengängen an Engwarts Grundstück immer eine längere Pause eingelegt, und dort hatte sich Bully, sein kräftiger Rüde, offensichtlich in die Boxerhündin verliebt. Oder wie man das bei Hunden nennen wollte. Da außerdem Christa Engwart mit ihren sechsundvierzig Jahren noch eine sehr attraktive Frau war, hatte er dort öfter als nötig vorbeigeschaut. Aus Sympathie, oder wie man es nennen wollte.

    Die Flasche war leer, das Problem besprochen und sogar Müller gab sich freundlich, als sie sich verabschiedeten. Das letzte Lebenszeichen, das seine Gäste von ihm sahen, war das Schließen der Tür.

    II

    Gegen Mittag des nächsten Tages kam Leutnant Wagner mit seinem Bericht. Inzwischen hatte Neuburger zweimal bei Bergfeld nachgefragt, doch der konnte ihm nichts Neues sagen; die Vermisstenmeldungen aus Berlin und den umliegenden Kreisen waren negativ. Ähnlich ergebnislos waren die Befragungen verlaufen, denn die nächsten Einfamilienhäuser standen mehr als dreihundert Meter entfernt. Daran schlossen sich die von russischen Offizieren und ihren Familien bewohnten Häuser, und diese wiederum waren ebenso wie die Kasernen von einer Mauer umgeben. Ihre einzige Hoffnung ruhte nun auf der nahen Waldgaststätte „Eichkater", allerdings kam der Pächter erst gegen Mittag. Kriminalhauptmeister Windisch war also noch einmal hingefahren.

    „Hast du Neuburger auch schon einen Bericht gebracht? fragte Bergfeld. „Der hat zweimal bei mir angerufen.

    Wagner grinste. „Sonst trampelt der mir immer direkt auf den Füßen rum, erwiderte er, „doch irgendwie scheint er sich nun plötzlich an die Regeln halten zu wollen: zuerst immer der Untersuchungsleiter. Er hielt die zweite Mappe hoch und betrachtete die Funkwagen auf dem Hinterhof. „Sind die Dinger endlich wieder in Ordnung?"

    „Weiß ich nicht." Bergfeld klappte die Akte auf und begann zu lesen. Wer von den Kriminalisten den Toten am Fundort gesehen hatte, für den deuteten Wagners indirekte Schlussfolgerungen auf einen sowjetischen Soldaten. Ansonsten hatte er weder Papiere, Körperanomalien, Herstellungshinweise oder Etiketten in der Kleidung noch besondere Merkmale gefunden bis auf einen großen, nicht allzu gründlich ausgewaschenen Ölfleck am linken und den eingenähten Schlüssel im rechten Hosenbein. Es waren Starter- und Kofferraumschlüssel für das russische Automodell Lada.

    „Sieht wirklich nach einem Soldaten aus, sagte Bergfeld. „Armer Teufel, was hat der bisher vom Leben gehabt.

    Wagner zuckte die Achseln. „Stimmt, das ist traurig. Aber ich möchte wetten, dass die Kugeln aus einer sowjetischen Makarow stammen und wir die Sache wahrscheinlich nie ganz aufklären."

    „Und warum knien wir uns dann überhaupt so rein?"

    Wagner beobachtete immer noch den Hof und murmelte leise, dass man nun einen Funkwagen anscheinend repariert habe. Dann drehte er sich Bergfeld zu. „Warum wir uns in den Fall reinknien? Schon aus Prinzip. Übrigens, kennst du den Witz von den großen DDR-Wäldern? Er fuhr fort, ohne Bergfelds Antwort abzuwarten. „Bush, Gorbatschow und Honecker treffen sich bei einer UN-Sitzung in New York, wo es um den Schutz der Wälder geht. Bush jammert: dafür haben wir kein Geld, wir haben so große Wälder, da braucht man fünf Tage, um sie mit einem schnellen Auto zu umrunden. Wagner blinzelte ihn an um zu prüfen, ob er zuhörte. „Darauf sagt Gorbatschow: bei uns sind die Wälder so groß, da braucht man drei Stunden, um sie von einem zum anderen Ende mit einem Flugzeug zu überfliegen. Meldet sich Honecker zu Wort: Und wir in der Deutschen Demokratischen Republik haben so gewaltige Wälder, da sind die Russen 1945 rein marschiert und haben nach fünfundvierzig Jahren immer noch nicht raus gefunden. Gegen seinen Willen musste Bergfeld lachen. „Ja, und deshalb geben wir den Fall erst mal nicht aus der Hand. Ein bisschen Souveränität außerhalb dieser Wälder sollten wir uns bewahren.

    Als Wagner gehen wollte, kam Hauptmeister Windisch, ein dunkelhaariger junger Mann, der trotz größter Mühe seinen sächsischen Dialekt nicht ganz unterdrücken konnte. Niemand wusste, warum er nach dreijähriger Dienstzeit beim Wachregiment des Staatssicherheits-Ministeriums Feliks Dzierszynski im Alter von dreiundzwanzig Jahren zur Polizei gekommen war; vielleicht war er auch abkommandiert worden. Jedenfalls folgte die ältere Gruppe der Kriminalisten Wagners Überlegungen, dass es bei Windisch kein politischer Fehltritt sein konnte. Wäre er sonst sofort Hauptmeister geworden und hätte man ihn gleichzeitig für die Offizierslaufbahn bei der Kriminalpolizei vorgesehen? Bergfeld hatte sich in den zwei Jahren seiner Kripozugehörigkeit meist aus solchen Gesprächen und den hin und wieder kritischen politischen Diskussionen heraus gehalten. Natürlich ärgerte er sich über das Verbot, in der Zeitung von Gewaltverbrechen zu berichten oder Fahndungsmeldungen zu veröffentlichen. So hatte ein Serientäter im Laufe von vier Wochen drei Pilzsucher ermorden können, weil die Menschen mit keinem Wort auf die Gefahr hingewiesen worden waren und dem Täter ahnungslos vertraut hatten. Oder er ärgerte sich zum Beispiel darüber, dass ein junger Mann aus Marienwerder nach achtzehn Einbrüchen in Wochenendgrundstücken schon nach einem Jahr wieder entlassen wurde und die nächste Serie von zwanzig Einbrüchen begehen konnte, während ein betrunkener Bernauer Jugendlicher, der im Vorjahr zum Republiksgeburtstag eine Fahne abgerissen hatte, zu drei Jahren Haft verurteilt worden war und immer noch einsaß. Überhaupt war Politik nicht seine Sache, und wäre seine Frau nicht Parteisekretärin im Möbelwerk und hätte ihn bei häuslichen Diskussionen nicht immer wieder auf sozialistischen Kurs gebracht, wäre er wahrscheinlich trotz seines Wunsches, zur Kripo zu wechseln, nicht einmal in die SED eingetreten. Ihre Tochter Sylvia war da ohne Ambitionen und hatte sich nichts vorschreiben lassen.

    Windisch grüßte fröhlich und warf sein Notizbuch auf den Schreibtisch. „Was erreicht?" fragte Bergfeld. Wagner blieb erwartungsvoll stehen.

    „Ja, ein bisschen vage zwar, doch etwas mehr, als heute Morgen. Bergfeld hatte enttäuscht festgestellt, dass es bisher nicht einen einzigen konkreten Hinweis auf die Tat gab. Was ihn besonders ärgerte, war wieder ihr demütigendes Abklappern der russischen Offiziershäuser. Entweder hatten die Frauen ihnen die Tür vor der Nase zu gemacht, hatten angeblich „nix deutsch verstanden und dann – schließlich hatte er vier Jahre Russisch in der Schule – auf seine russische Frage geantwortet: Holen Sie Genehmigung vom sowjetischen Kommandeur. Nur eine jüngere Frau meinte, in der Nacht in der Nähe einen Streit in russischer Sprache gehört zu haben.

    „Na, los, spann uns nicht auf die Folter", sagte Wagner.

    Windisch setzte sich, nahm sein Notizbuch und las die biographischen Angaben des Pächters vor, die eine Pächterin war. Sie wohnte in Basdorf, war achtundvierzig Jahre, vorher Kellnerin in Schönwalde gewesen und seit drei Jahren nun selbständige Gastwirtin. Die Gaststätte, einsam an der Chaussee nach Wandlitz gelegen, war jährlich nur vom 15. März bis 5. November geöffnet. Nach einem Urlaub kellnere sie wieder, bis sie am 5. März die Gaststätte für die nächste Saison öffne.

    „Ist ja ganz interessant, sagte Bergfeld ungeduldig, „aber was hast du konkret ermittelt?

    „Sie hatte vorgestern Abend zwölf Gäste ..."

    „Und davon kann sie leben?" wunderte sich Wagner.

    Windisch zuckte die Schultern. „Wenn die genug saufen. Jedenfalls kannte sie alle bis auf einen etwa fünfzigjährigen Mann und eine hübsche, junge Frau, so um die fünfundzwanzig. Sie fuhren ein Auto mit Berliner Kennzeichen, offenbar ein Pärchen, das fremd ging und das irgend wo in der Nähe eine Datsche hat."

    Wagner wollte wissen, wie er zu dieser Schlussfolgerung käme. „Die Wirtin, diese Frau Brigitte Diekmann, hat den Mann zwei-, dreimal im Sommer gesehen, allerdings mit einer anderen, älteren Frau."

    Wagner nickte. „Hört sich logisch an."

    „Die anderen zehn kannte sie namentlich, wenn meist auch nur die Vornamen." Windisch las sie vor.

    Als der Name Müller fiel, fragte Bergfeld: „Und sein Vorname ?"

    „Kurt. Also Kurt Müller."

    „Doch nicht der Dicke Kurt aus Wandlitz?" fragte Wagner. Der Lebensmittel- und Feinkosthändler aus Bonzendorf – so wurde Wandlitz in den umliegenden Orten oft abschätzig wegen der Siedlung mit den Politbüromitgliedern genannt -- war bis Berlin bekannt. Hier gab es immer Halbliterflaschen Pils aus mehreren bekannten Brauereien, hier gab es Brause und Selters sogar an den heißesten Sommertagen. Außerdem bot er auch Import-Süßigkeiten und Delikatessen an, wie sie sonst nur in den sogenannten Deli- oder Hortexläden der Großstädte verkauft werden durften. Das verdankte er nicht nur seiner händlerischen Umtriebigkeit. Man munkelte, er sollte auch deshalb bevorzugt beliefert werden, weil sich der sowjetische Botschafter Kotschemassow bei Honecker einmal heftig beschwert hatte, als dem dicken Kurt die Warenlieferungen gekürzt wurden. Kotschemassow wohnte in einer schönen Villa am Wandlitzer See und seine Frau kaufte oft beim dicken Kurt ein.

    „Nein, der andere, der Moor-Kutte aus Bernau, sagte Windisch. „Der stellvertretende Vorsitzende vom Meliorationsbetrieb.

    Bergfeld schüttelte staunend den Kopf. „Mit dem habe ich gestern Abend noch gesprochen. Wenn ich das gewusst hätte."

    „Sie konnten drei Männer dem Wachregiment im Walddorf zuordnen, dazu eine jüngere Frau. Die anderen kamen aus der Umgebung."

    „Gab es irgend welchen Ärger?" fragte Bergfeld.

    „Ich weiß nicht, drei Mann haben sich wohl gestritten, aber nur verbal, mit Worten. Es ging um Geld, irgend eine Abrechnung. Dann hat ein Jens Holbrecht sich eingemischt, hat wohl geschlichtet, also das Normale in einer Kneipe."

    „Holbrecht, sagte Wagner leise. „Das arme Schwein.

    Bergfeld nickte und Windisch sah sie fragend an. Er kam aus Diedersdorf in Sachsen und kannte im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen weder die Geschichte des Barnim noch die vielen Geschichten aus der Umgebung. „Jens Holbrecht ist so schwer verletzt worden, dass er nur knapp überlebte und eine Menge Narben zurückbehalten hat. Vor allem im Gesicht..."

    Wagner ergänzte: „Bis vor einem Jahr war er verheiratet, mit einer fetten, wirklich hässlichen Frau. Aber die hat ihn dann auch sitzen lassen. Seitdem säuft er -- immer still, unauffällig"

    Vom Hof drang das Aufjaulen eines Wartburgs hoch, die beiden Mechaniker bastelten immer noch am Funkwagen. „Wie ist es passiert, ein Brand im Haus?" fragte Windisch.

    Wagner schüttelte den Kopf. „Man fand ihn neben einem Feuer. Offensichtlich war er vorher an einen Baum gefesselt worden, wie beim Indianerspielen. Aber im Alter von siebzehn Jahren... Wagner schüttelte den Kopf. „Über dreißig Prozent der Haut verbrannt, angeblich hatte er die Täter nicht erkannt, sie waren vermummt.

    Die Tür öffnete sich und Major Neuburger kam herein. „Wie sieht’s aus? Ich warte auf Ihren Bericht." Er blickte Wagner an und seine Nervosität war unverkennbar.

    „Hier, Genosse Major, sagte Wagner betont dienstlich. Er reichte ihm die zweite Mappe und fuhr fort: „Wir haben mal zusammengetragen, was wir wissen. Viel ist es nicht.

    Neuburger öffnete den dünnen Ordner, schloss ihn aber sofort wieder und musterte Bergfeld. „Hinweise auf die Identität des Opfers?"

    „Nein. Auch unsere Befragung der Anwohner hat nichts ergeben, die sowjetischen Familien haben sich dabei sehr zurück gehalten. Er sah betont unschuldig auf seine Notizen. „Nur eine jüngere Frau, ihren Namen wollte sie -- wie üblich bei den Freunden -- nicht sagen, hat draußen gegen Mitternacht erregte Stimmen gehört. In russischer Sprache. Sie wohnt Haus achtzehn.

    Neuburger schluckte die Erklärung ohne Kommentar. Er gehörte zu den Offizieren im Kreisamt, die sofort jede Andeutung von Kritik an dienstlichen Anordnungen oder ironische Bemerkungen zum Verhalten der sowjetischen Militärs, die von ständiger Furcht vor Verrat oder imperialistischer Spionage geprägt waren, rigoros unterbanden. Die anderen beiden waren ein dicker Hauptmann, den man sowieso nicht ernst nahm, und ein verknöcherter alter Kommunist, der so dumm war, dass sogar sein Dienstgrad Unterleutnant nach dreißig Dienstjahren eine Überbewertung war. Dafür war er der gefährlichste, denn jeder wusste, dass er die kleinste kritische Äußerung als Diffamierung oder Hetze gegen die DDR der örtlichen Stasi-Dienststelle hintertrug. Er machte nicht einmal einen Hehl daraus, sondern brüstete sich, damit treu und ergeben seiner Partei zu dienen.

    „Unsere einzige Hoffnung sind die Gäste aus dem Eichkater, sagte Windisch. „Wir müssen alle befragen, die zwischen einundzwanzig Uhr und Schankschluss um dreiundzwanzig Uhr gegangen sind. Die Wirtin jedenfalls hat außerhalb ihrer Gaststätte weder Fremde bemerkt noch eine Auseinandersetzung oder Schüsse gehört.

    Neuburger nickte. „Ich sehe mir Ihren Bericht gleich an, Genosse Wagner. Der Obduktionsbericht ist noch nicht da?"

    „Nein, erwiderte Bergfeld. „Ich werde nachher mal anrufen.

    „Scheint ein komplizierter Fall zu werden, sagte Neuburger und es war nicht zu übersehen, dass ihn irgendetwas bedrückte. „Aber zur Not haben wir ja immer noch eine Variante offen, oder? Er warf Wagner einen undefinierbaren Blick zu.

    „Aber wirklich nur zur Not, erwiderte der. „Jetzt gehe ich erst mal essen, das wird heute noch ein langer Tag. Vorhin haben sie einen Einbruch in ein Wochenendhaus in Biesenthal gemeldet.

    Manche Wochenendhäuser waren auch im Winter gemütlich, sobald sie durchwärmt waren. Der Journalist Lothar Engwart wohnte in einer sogenannten Arbeiter- und Wohnungsbau-Genossenschafts-Wohnung, für die er Eigenleistungen erbracht und einen Bauzuschuss gezahlt hatte.

    Dieses Kapital wurde beim Umzug zwar zurück gezahlt, doch der Vorteil in der AWG war der Mietpreis; er betrug für zweiundsechzig Quadratmeter einundfünfzig Mark. Nach dem Auszug seines inzwischen 25jährigen Sohnes bewohnte er mit seiner Frau Christa allein die drei Zimmer – ein ungewohntes Privileg, denn es gab trotz strenger Wohnraumbewirtschaftung kaum gute Neubauwohnungen auf dem normalen Wohnungsmarkt. Der Nachteil seiner Anfang der sechziger Jahre fertiggestellten Wohnung war die Ofenheizung. Gasheizungen gab es nur gegen Devisen, also durch Geschenke irgend einer Tante oder eines Onkels aus dem Westen.

    Insofern bedeutete es für ihn kein Problem, auch hier im Wochenendhaus den Ofen zu heizen. Nachts schalteten sie einen alten S-Bahn-Heizkörper an, den sie im An- und Verkauf erworben hatten, neue Heizlüfter oder Radialheizungen gab es wegen der Energieprobleme kaum einmal zu kaufen. Darüber hinaus hatte er aus dem bis zum Moor reichenden Wald schon so viel Bruchholz heran geschleppt, dass es neben den billigen Braunkohlebriketts selbst bei strengem Winter für die nächsten zwei Jahre reichte.

    Sie hatten lange geschlafen, dann in dem gemütlich warmen Verandazimmer gefrühstückt und nun blickte Lothar Engwart in den Garten. Die Bäume hatten ihre letzten Blätter abgeschüttelt und am Himmel zogen dicke, dunkle Wolken dahin. „Das war’s dann wohl für dieses Jahr", sagte er.

    „Ich denke, das war’s noch lange nicht, meinte seine Frau. „Es wird noch ein stürmischer Herbst.

    „Du meinst am Sonnabend die große Demonstration – und was dann vielleicht noch folgt?"

    Er half ihr beim Abräumen und sie unterhielten sich darüber, was die Demonstration der Geistesschaffenden, der Schriftsteller und Journalisten auf dem Berliner Alexanderplatz wohl bringen würde. „Am liebsten wäre mir, du würdest zu Hause bleiben – in deinem Alter." Es klang ein wenig halbherzig. Obwohl sie sich ständig Sorge machte um ihren Mann, der als freischaffender Sportjournalist gegenüber einigen regimetreuen Redakteuren mit der Meinung nicht hinter dem Berg hielt, teilte sie seine kritische Haltung.

    „Was soll passieren, sogar die meisten der fest angestellten Kollegen sind Sonnabend dabei."

    „Und wenn die Polizei ..."

    „Christa, soll ich in diesen Zeiten zu Hause sitzen? Du willst doch auch, dass sich etwas ändert. Oder?"

    Als sie zaghaft nickte, lachte er. Ehe sie etwas erwidern konnte, ging er ins Schlafzimmer, zog sich einen tarnfarbenen Anorak über und setzte den Jagdhut auf. „Jetzt gehe ich erst mal auf die Pirsch." Er hatte früher mal Förster werden wollen und verwendete gern Begriffe aus der Jagd. Er nahm den gleichen Weg wie gestern Abend in der Dunkelheit. Rechts auf dem Feld befanden sich frische Wühlspuren der Wildschweine, die sein Hund eifrig beschnüffelte. Er lächelte, als er an die Gänsehaut dachte, die ihm in der Dunkelheit über den Rücken gekrochen war.

    Als er um die kleine Wegbiegung kam und zwischen den kahlen Holunderbüschen, Trauerweiden und Birken das Holzhaus sah, wunderte er sich und schaute auf die Uhr. Es war zehn Uhr zwanzig. Der rote Lada stand immer noch an der Einfahrt zum Grundstück, die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Einen Schornstein besaß das Haus nicht, wahrscheinlich heizte man elektrisch. Die Boxerhündin schnüffelte am Auto herum, lief dann ein Stück neben dem versumpften Bach entlang und kam wieder zurück. Engwart überlegte, ob er klopfen und fragen sollte, ob Müller verschlafen habe. Nach kurzem Überlegen ging er weiter.

    Auf dem Rückweg eine halbe Stunde später schien alles unverändert und er setzte seinen Weg fort. Kurz darauf wurde er unruhig und fragte sich, ob vielleicht etwas passiert sei. Dann müsste er sich später Vorwürfe machen, dass er nichts unternommen hatte. Engwart lief zurück. Boxerhündin Paula schnüffelte am Auto herum, zeigte aber keine Anzeichen von Unruhe. Er öffnete das Gartentor und wollte die Klinke anfassen. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Klinke nur vorsichtig mit einem Taschentuch berühren sollte, um keine Fingerspuren zu verwischen. Vielleicht hatten ihn Einbrecher überfallen. Genug Krimis hatte er ja gelesen und er wusste, wie wichtig manchmal solche Kleinigkeiten waren. Aber hier? Er holte trotzdem ein Taschentuch heraus. Auch wenn es vielleicht albern war, aber wer sah ihn denn dabei?

    Er befahl Paula, sich vor den Eingang zu setzen. Ihr Sohn Dennis hatte mit ihr die Schutzhundprüfung 1 abgelegt, danach war er ausgezogen und hatte ihnen die weitere Abrichtung überlassen. Paula gehorchte sofort und blickte ihn aufmerksam an, sicherlich fand sie alles sehr aufregend.

    Die Eingangstür war unverschlossen, im kleinen Vorraum stand

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