Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Lockenkopf 2: Das Lächeln einer Fledermaus
Lockenkopf 2: Das Lächeln einer Fledermaus
Lockenkopf 2: Das Lächeln einer Fledermaus
Ebook280 pages3 hours

Lockenkopf 2: Das Lächeln einer Fledermaus

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Lockenkopf 2
Das Lächeln einer Fledermaus

Dies ist der Folgeband von "Lockenkopf 1, Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Locker, leichte, aber auch nachdenklich stimmende Lesekost. Geschichten aus dem Alltagsleben eines heranwachsenden Kindes (10 - 14 Jahre alt), die man mit einem lachenden und weinenden Auge liest. Jetzt haben wir die Nachkriegsjahre verlassen und steuern langsam dem "Deutschen Wirtschaftswunder" zu.

In Kattenbach werden die Feste gefeiert, wie sie fallen. Auf dem Waldfest versackt der neue, junge Lehrer knapp nach seiner Hochzeitsnacht, und ansonsten passiert auch eine ganze Menge. Ein Zirkus überwintert im Ort, Ausgrabungen bei der Klosterruine bringen einen spektakulären Fund ans Tageslicht, Kinder wurden nach der Geburt vertauscht. Ja, der Ort vibriert nur so vor Lebendigkeit. Dazu tragen selbstverständlich die örtlichen Honoratioren und ebenso die örtlichen Klatschbasen in einer gerüttelten Maß bei. Nicht zu vergessen die immer noch gegenwärtigen Amerikaner, die ja auch Geschichten machen.

Ulrike mischt bei den Naturfreunden mit und es geht auf Fahrt. Hier ist Mutterwitz und Einfallsreichtum sehr gefragt. Denn, was macht man beispielsweise, wenn man zwar genügend Zelte für die Gruppe, aber keinen einzigen Dosenöffner für die mitgebrachten Suppendosen dabei hat?

Die Schule spielt auch weiterhin eine tragende Rolle. Das heißt, es wird auch Theater gespielt. Die Schüler heimsen Erfolge ein, ungeachtet der Pannen, die ebenfalls am laufenden Band produziert werden.

Doch die Gemüter erhitzen sich, als ein Mädchen überfallen und schwer verletzt wird. Allgemein glaubt man, dass es sich um amerikanische Soldaten handelt, welche die Tat begangen haben. Doch die Täter werden nicht gefasst.

Ein weiteres tragisches Geschehnis ist der Selbstmord eines Direktors der Kunstlederfabrik. Es spukt in Kattenbach!
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateAug 23, 2012
ISBN9783847620228
Lockenkopf 2: Das Lächeln einer Fledermaus

Related to Lockenkopf 2

Titles in the series (2)

View More

Related ebooks

Children's Biography & Autobiography For You

View More

Related articles

Reviews for Lockenkopf 2

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Lockenkopf 2 - Ursula Essling

    Zum Buch

    Dies ist die Fortsetzung von „Lockenkopf 1, Warum weint man, wenn einem etwas gefällt. Jetzt haben wir die Nachkriegsjahre verlassen und steuern langsam dem „Deutschen Wirtschaftswunder zu (1953 – 1957).

    Locker, leichte, aber auch nachdenklich stimmende Lesekost. Geschichten aus dem Alltagsleben eines heranwachsenden Kindes (10 – 14 Jahre alt), die man mit einem lachenden und einem weinenden Auge liest.

    Die geänderten Namen von Personen, Firmen und Orten wurden aus „Lockenkopf 1" beibehalten.

    Figuren / Protagonisten

    Wichtigste handlungstragende Personen

    Ulrike Scholl: 10 – 14 Jahre alt, schreibt alles auf.

    Inge Scholl: 7 Jahre älter, ihre Schwester.

    Grete u. Walter Scholl: Die geplagten Eltern.

    Ulrich Peters: Ein erhoffter Schwiegersohn.

    Paul Wolf u. Edgar Mohr: Ulrikes Freunde.

    Gisela Bollmann u. Rita Müller: Ulrikes beste Freundinnen.

    Beate König: Eine Freundin auf Zeit.

    Gisi Simoneit: Ulrikes Feindin.

    Tante Lotte: Papas Stiefmutter mit dem Blick in die Zukunft.

    Renate: Ihre Tochter.

    Hans Albers: Filmstar.

    Jakob Altmaier: Bundestagsabgeordneter.

    Ein Filmregisseur

    Ethelka Ungeheuer: Ein Zirkuskind.

    Ursel Bender: Die eigentlich Livia heißt.

    Herr Bollmann: Bürgermeister von Kattenbach.

    Frau Bollmann u.

    Frau Mühlbauer: Klatschbasen von Kattenbach.

    Harald Grunz: Ein problematischer Naturfreund.

    Herr Lorbach: Erfahrener Lehrer, ehemaliger Hauptmann

    mit Silberplatte.

    Frau Lorbach: Seine Frau und Hauswirtschaftslehrerin.

    Ute und Klara: Zwei heimgesuchte Mädchen.

    Ein Gespenst

    Blasen u. Nieten: Uninteressierte und gelangweilte Mitschüler.

    Mitschüler, Naturfreunde, Nachbarn und sonstige Kattenbacher.

    Treffpunkt Fröhlichkeit (1953)

    Meine Schwester und ich wären beinahe im Bett unserer Eltern verschmort. Gottseidank hat Mama im Wohnzimmer, in welchem sie mit der Verwandtschaft zum Abschied noch einen Kaffee trank, etwas gerochen. Sie kam zu uns, riss die Bettdecke hoch und entfachte eine Stichflamme. Diese schoss aus dem Heizkissen und versengte Inges Bein. Dann schnurrte die Flamme wieder in sich selbst zusammen, denn unsere Mutter zog geistesgegenwärtig den Stecker raus.

    Meine Mutter regte sich furchtbar auf. Nicht, weil sie uns mit dieser Maßnahme weckte, sondern weil Gott weiß was hätte passieren können. Dabei meinte sie es so gut. Inge hatte nämlich so ein Reißen im Bein. Tante Ria tippte auf jugendlichen Wachstumsrheumatismus und meinte, ein Heizkissen könnte nicht schaden. Nun hat es doch geschadet, das Heizkissen, aber in erster Linie sich selbst, denn es ist kaputt.

    Schuld an allem ist natürlich das Wetter. Bei frühsommerlicher Wärme, wie das Mitte Juni normal sein sollte, hätte Inge kein Reißen gehabt und kein Heizkissen gebraucht. So war es zu kühl für die Jahreszeit und außerdem regnerisch. Wie immer, wenn wir den ganzen Tag im Wald verbringen müssen, um unsere Befreiung zu feiern.

    Diese Befreiung liegt zwar schon über dreihundert Jahre zurück, weil sie im Dreißigjährigen Krieg stattfand, aber wir feiern sie trotzdem immer noch. Damals wurde Hanau von den Kaiserlichen belagert. Die Schweden, die die Stadt ein paar Jahre zuvor einer anderen kaiserlichen Besatzungsmacht entrissen hatten, verteidigten sie jetzt. Die normalen Hanauer halfen ihren Besetzern natürlich dabei. Die Schweden waren genau so evangelisch wie die meisten Hanauer, deshalb benahmen sie sich ganz ordentlich. Sie teilten mit den Bürgern ihr Brot, aber auch die Pest, welche die Soldaten des Kaisers als Gastgeschenk mitgebracht hatten. Der Chef von Hanau war damals der schwedische General von Ramsay, der sehr tapfer gewesen sein soll. Deshalb gibt es heute noch eine Ramsaystraße. Der Landgraf, welcher eigentlich die Stadt schützen sollte, weil sie ihm gehörte, war schon vor längerer Zeit abgehauen. Nach neun Monaten Belagerung war die Stadt reif zur Übergabe auf Gnade oder Ungnade. Der Hunger wurde all zu schlimm.

    Da kam im letzten Moment die Rettung durch einen Kanonenschuss aus der Wetterau. Er wurde bei einem bestimmten Baum abgeschossen, der seither Wartbaum heißt und heute noch lebt (der Baum, nicht der Schuss). Er teilte, besser gesagt, er dröhnte den verzweifelten Bürgern mit: „Der Landgraf von Kassel ist im Anmarsch, um Euch zu befreien!"

    Das steht alles auf einem Schild, welches an diesem Baum fest genagelt wurde. Wir mussten nämlich da mal einen Ausflug hinmachen. Zu Fuß! Wahrscheinlich sollten wir nachempfinden können, wie tapfer die Soldaten damals den langen Weg marschiert sind. Das waren die pädagogischen Gründe unseres Lehrers. Die wahren Gründe dürften aber das fehlende Busgeld gewesen sein.

    Der Wartbaum sieht auch nicht anders aus als seine Baumkameraden, aber er ist berühmt. Der Kanonenschuss muss so laut gewesen sein, dass er die Einheimischen und ihre Schweden erreichte, aber auch die Belagerer. Die Einen freuten sich riesig, die Anderen rüsteten zum Kampf und nahmen anschließend Reißaus.

    Es hieß, ihr General hätte vor Wut einen knallroten Kopf bekommen, sich auf das nächstbeste rumstehende Pulverfass gesetzt und es angezündet. Aber das glaube ich nicht so ganz, weil ich irgendwo mal gehört habe, dass dieser Mann noch in anderen Schlachten auftauchte. Außerdem bekam er trotz seiner Schlappe bei uns später einen Grafentitel. Sicher ist es wahr, dass er „Merde" gesagt hat, was immer das auch heißen mag und ebenfalls abgehauen ist.

    Bei uns in Kattenbach haben die Kaiserlichen auch extra Schanzen gebaut, nicht um zu schießen, sondern um ihren Proviant in Sicherheit zu bringen. Heute bilden diese Schanzen ein Wäldchen mit künstlichen Hügeln, die gleich neben unserem Haus anfangen und bei der Schanzenstraße aufhören. Ich liebe dieses Wäldchen, obwohl ich jeden Tag da durch zur Schule gehe. Im Sommer feiern die Kattenbacher hier ihr Waldfest, wohl auch wegen der Befreiung. Aber die Kattenbacher konnten damals überhaupt nicht befreit werden, weil es außer der Klosterruine noch gar kein Kattenbach gab.

    Im Winter rasen unsere Schlitten von den einstigen Schanzen ins Tal. Diese Täler werden aber heutzutage von Häusern begrenzt. Denn jetzt gibt es ein Kattenbach. So passiert es leider immer wieder, dass ein Kind, (meistens ich) gegen eine der massiven steinernen Hauswände saust. Wie schön, dass es die Schanzen gibt!

    Jedenfalls wird diese Befreiung, zu der die Leute Lampenwald sagen, von allen Bürgern und Exbürgern der Stadt mit schöner Regelmäßigkeit gefeiert. Seit über dreihundert Jahren gehen die Leute alljährlich mit Kind und Kegel in den Wald, um die Niederlage des Generals Lamboy zu feiern. Nur wenn der große Sieg durch einen neuen Krieg unterbrochen wird, gibt es kein Fest Überall sind lange Holztische mit passenden Bänken aufgestellt. Man trifft sich mit der Verwandtschaft, auch mit denen, die man nicht kennt. Alle verantwortungsbewussten Hausfrauen packen sofort bei ihrer Ankunft Kaffee, Kuchen und alles Mögliche zum Essen aus. Denn der Tag ist lang.

    Alle Leute haben im Lampenwald ihren seit über hundert Jahren angestammten Platz. Unsere Familie trifft sich immer bei der „Fröhlichkeit". Das ist ein Männergesangverein, bei dem es sehr ernst und würdevoll zugeht. Jedenfalls in den ersten Stunden. Im Festzelt stehen die Männer im Halbkreis und singen dreistimmige Lieder. Das sind sehr männliche Gesänge von harten Männern und Jägern, lieblichen Mädchen, Blut und Ehre. Auch die Heimat, egal wo sie ist, wird so besungen, dass man fast heulen muss.

    Noch interessanter ist es, wenn man den Sängern zuschaut. Jeder Einzelne ist so von seiner Wichtigkeit durchdrungen, dass man ihn unwillkürlich anstarren muss. Ich finde das ganz spannend und warte regelrecht darauf, dass die Hemdkragen der Männer alle auf einmal platzen. Das wäre doch mal ein völlig neuer Ton.

    Mein Vater spielt die Geige. Immer, wenn er sie aufschreien lässt, wirkt sein Gesicht furchtbar gequält. Bei meinem Onkel Jean ist das ganz anders. Er hat ein riesiges Akkordeon, das noch lange nicht abbezahlt ist. Das drückt und presst er zwischen seinen Armen derart stark, dass dem Instrument die Luft ausgeht. Dadurch entstehen die Töne. Diese werden aber erst zu einer Melodie veredelt, weil er zusätzlich in die Tasten greift und samt Akkordeon hin und her schwankt. Dabei bringt er es doch tatsächlich fertig, zwei steile Falten Nasen aufwärts zu produzieren und gleichzeitig breit zu grinsen.

    Auch Papas Onkel ist bei der Fröhlichkeit. Er singt solo. Man merkt, dass das sehr, sehr anstrengend sein muss. Denn man kann nicht immer nach Luft schnappen, wenn einem danach zumute ist. Onkel Karl wohnt in der Stadt, weil er schon immer da wohnte und nicht ausgebombt wurde. Man kennt ihn, er ist nämlich Hofmarschall. Nicht von Beruf, sondern ehrenamtlich im Fasching. Dieses Amt hat Papas Onkel schon lange. Nur während des Krieges pausierte er. Da musste auch der Herr Hofmarschall die feldgraue Uniform des einfachen Soldaten tragen.

    Wenn die Fröhlichkeit Feierabend hat, kommt der gemütliche Teil. Da gibt es richtige Musik. Ich meine Schlager, die man mitsingen kann. Die Erwachsenen tanzen dazu. Jetzt sind die Männer nicht mehr so steif, ja nicht einmal mehr so standfest.

    Alle an unserem Tisch sind weggegangen. Inge ist mit ein paar Freundinnen Karussell fahren, die anderen Kinder treiben sich bei den Buden rum. Nur ich und meine Mutter sitzen da. Mama fühlt sich auch so, nämlich sitzen gelassen. Und ich habe kein Geld mehr für was Besseres. Das bedeutet, dass ich erst mal einen neuen Gönner finden muss. Aber die Leute, die was rausrücken könnten, sind entweder auf dem Tanzboden oder trinken ein Likörchen. Meine Mutter starrt in ihren Kaffee und rührt grimmig darin rum, obwohl er schon eiskalt ist. Ich glaube, sie rührt schon eine halbe Stunde.

    „Hamse nich, hamse nich eine Frau für mich?"

    Der frische moderne Schlager zerreißt mit einem Schlag unsere Langeweile. Ein mittelalter Mann steht plötzlich vor uns und schmettert das Lied. Dabei tänzelt er um uns rum und schwingt eine Bierflasche im Takt dazu. Der Mann gefällt mir, weil er so lustig ist. Da stören auch nicht die Bartstoppeln und die Knollennase. Deshalb mache ich mit, klatsche in die Hände und singe:

    „Ja, ja, ja, wir haben viele da!"

    Wir haben ja auch viele, die sind nur momentan in anderen Händen.

    „Sie muss schick sein, ruft er singend oder singt er rufend. Dann nimmt er einen großen Schluck Bier, rülpst und torkelt davon, während ich ihm noch nachrufe: „Darf nicht zu dick sein!

    „Kleines Fräulein ich komme wieder, versprochen ist versprochen!"

    „Was fällt Dir ein, Ulrike, fährt mich meine Mutter an und vergisst dabei ganz, in ihrem kalten Kaffee zu rühren. „Bist Du verrückt geworden? So einen hergelaufenen Kerl an unseren Tisch einzuladen!

    Na jetzt soll das einer mal kapieren, ich sorge für ein bisschen Unterhaltung und dann werde ich so angezischt. Und das von meiner eigenen Mutter. Ich bin beleidigt.

    „Der Mann war doch nett und wir haben doch genug Frauen an unserem Tisch. Außerdem ist er allein."

    Ich hätte mir meine Verteidigungsrede sparen können, denn meine Mutter zeigt keinerlei Verständnis. Sie schweigt nur grimmig, zumal sie meinen Vater gerade mit drei Würstchen kommen sieht.

    „Ich habe Euch was zu essen gebracht, sagt er und stellt die dicken roten Würste auf den Tisch. „Rindswurst, die mögt Ihr doch so gern.

    Mama schnuppert misstrauisch an den Würstchen.

    „Die hast Du wohl beim Leininger gekauft, was? Die kannst Du selber essen, ich esse keine Pferdefleisch."

    „Probier doch mal, die schmecken wirklich gut!"

    Aber Mama zeigt meinem Vater nur noch die kalte Schulter, indem sie sich umdreht, in die entgegengesetzte Richtung schaut und eisig schweigt. Das scheint Papa aber nicht weiter zu stören. Gemächlich futtert er seine Wurst. Als die alle ist, verzehrt er auch noch die, die für meine Mutter gedacht war, und spült sie mit kleinen Schlucken Bier hinunter.

    Währenddessen kämpfe ich mit mir. Einerseits duftet die Wurst verlockend, andererseits war sie vom Pferd und so was wurde bei uns „Trapptrapp" genannt. Ein Pferd hatte also sterben müssen. Ein Pferd ist ein edles Tier. Ich habe zwar im Allgemeinen Angst vor großen Pferden, aber es gibt so viele rührende Geschichten über diesen treuen Freund des Menschen. Es ist also fast so, als ob man ein Stück von einem Hund isst.

    Bei all der Grübelei ist die Wurst in den Dreck gefallen. Da es mittlerweile dämmrig ist, bemerkt niemand, dass ich sie unterm Tisch heimlich mit den Zehen packe und langsam zu mir hochziehe. Beim Abwischen fällt mir auch noch ein, dass die Leute sagen, beim Pferd ginge der Urin durch den Körper. Also ist das Fleisch wohl mit Pferdepipi durchtränkt. Igitt! Meinen Vater stört das nicht, der ist jetzt wohlig satt, aber ich habe Hunger.

    Die Musik ist verstummt. Alles strömt wieder zum Tisch. Erhitzte Gespräche stören meine Überlegungen. Plötzlich taucht der Mann mit den Bartstoppeln wieder auf. Die Bartstoppeln kann ich zwar im Zwielicht nicht mehr erkennen, aber hören kann ich ihn. Und nicht nur ich. Jetzt klingt sein Verlangen nach einer Frau aber gar nicht mehr lustig, sondern eher wie Gegröle.

    „Das kleine Fräulein hat mir eine Frau versprochen, gurgelt er. „Se ham ja wirklich viele!

    Da stehen mein Vater, Onkel Jean und Herr Becker wie ein Mann auf und gebieten dem armen einsamen Knollengesicht, er solle sich wegscheren. Der hält sich an der Bierflasche fest und scheint ein bisschen zu schrumpfen. „Na, dann nicht, ist sowieso nichts Frisches dabei", näselt er und verschwindet hinter den Bäumen.

    Jetzt habe ich aus lauter Verlegenheit doch in die Wurst gebissen. Der Saft läuft mir übers Kinn, ich lecke ihn mit der Zunge ab. Es sieht ja niemand. Da merke ich, dass die Wurst wirklich gut schmeckt. Ich habe sie gegessen. Das Pferd musste sterben, das stimmt. Es ist aber nicht deshalb geschlachtet worden, weil ich eine Wurst von ihm gegessen habe.

    Es wurde doch noch ein schöner Abend. Mama wurde wieder lieb, denn jetzt wurde sie auch dauernd zum Tanzen aufgefordert. Besonders von Herrn Becker und Herrn Zwilling, der auch extra aus Kattenbach kam, um sich „den Rummel" einmal anzusehen. Das hatte natürlich auch sein Gutes für mich. Damit ich aus dem Weg war, griff Herr Zwilling tief in die Tasche und spendierte mir genügend Kleingeld zum Karussellfahren und Zuckerstangen kaufen.

    Naja, als wir im Gefolge von Tante Ria, Onkel Jean und Herrn Zwilling dann mühsam auf die Fahrräder kletterten, waren wir alle guter Dinge.

    Wie üblich gab´s noch Kaffee bei uns und ausnahmsweise das Elternbett und das Heizkissen für Inge und mich. Während wir uns zurechtkuschelten in nicht wissender Erwartung der Stichflamme, hörten wir, wie im Wohnzimmer noch mal der Tag durchgesprochen wurde. Über jeden, der abwesend war, haben die Anwesenden gelästert. Das ist aber auch ganz natürlich. Wann trifft sich die ganze Verwandtschaft denn sonst schon mal? Auch die, die man nicht leiden kann?

    Nur am Befreiungstag!

    Ich bin ein Ärgernis

    Hinter Flörsbach gibt es zwei richtige Seen, einer ist links von der Straße, der andere rechts. Wenn wir im Sommer Zeit haben, gehen wir da gerne baden. Der linke See hat mehr Sand, der rechte ist dafür romantischer. Er liegt mitten im Wald und hat auch bewaldete Inselchen. Logischerweise ist es da schöner, wenn es richtig heiß ist. Wenn es aber wolkig ist und die Sonne nicht so richtig raus kann, ist es am Sandstrand besser. Jedenfalls sind diese Seen tief, aber nicht so wie unser Exer, der ja nur Panzertiefe hat, da die Amis ihn so hergestellt haben. Mit Panzern, meine ich.

    Aber auch die Flörsbacher Seen sind nicht durch die Natur entstanden, obwohl sie so aussehen. Beide waren mal Bergwerke, die regelrecht ertrunken sind. Die Bergleute konnten sich damals alle retten, die Loren aber nicht. Sie liegen auf dem Grund und rosten.

    Zuerst waren die Leute nicht so froh, als das Wasser ihre Arbeitsplätze verschlang. Jetzt sehen sie das aber bestimmt anders, weil die Arbeiter von damals entweder tot sind oder in Rente. Schließlich sind die Seen schon über vierzig Jahre alt.

    Sonntags geht mein Vater oft mit uns zum Schwimmen. Die struwwelige Angelika Wolf und Inge gehen aber noch öfter allein. Manchmal müssen die beiden mich mitnehmen. Das machen sie aber nicht gern, weil sie dann auch auf mich aufpassen müssen. Sie schwimmen lieber über den See und zurück, als mich zu beaufsichtigen. Der Gerechtigkeit halber muss ich allerdings sagen, dass ich mich ungefähr so wie ein nasser Sack im Wasser bewege. Dabei gebe ich mir so viel Mühe!

    Papa hat mir schon tausendmal gezeigt, wie man Arme und Beine bewegt. Ich übe auch sehr oft im Flachen. Entweder machen die Beine Froschbewegungen oder die Arme. Beides gleichzeitig klappt einfach nicht. Mein Vater hält mich in dem tieferen Wasser immer unterm Bauch fest, bis er die Geduld verliert. Er meint nämlich, dass man einem Hund am besten das Schwimmen beibringt, wenn man ihn ins Wasser wirft. Er könnte es ja mit mir auch eines Tages so machen, ich traue ihm da nicht so recht.

    Meistens fahren wir mit den Rädern zum Baden. Ich sitze auf dem Gepäckträger und halte mich und unsere Sachen am Sattel fest. Da gibt es überhaupt keine Probleme. Die gab es neulich nur mal mit der Polizei. Da hielt uns doch tatsächlich ein Polizist an, weil er wissen wollte, wie alt ich bin. Ich habe die Wahrheit gesagt. Da bekam Inge einen Strafzettel und wir mussten den Rest des Weges auch noch laufen. Und der Rest war das größere Stück. Schade, dass der Polizist ein Fremder war. Wenn es unser Herr Malek gewesen wäre, hätte man ihm einfach sagen können: „Ihre Kinder fahren immer so Rad!" Sie besitzen nämlich nur ein Fahrrad zusammen. Der Polizist hat uns die ganze Zeit nachgeguckt, dass wir auch ja laufen. Angelika, die natürlich dabei war, ist aus Freundschaft sogar abgestiegen und seufzend mitgetrottet.

    „Warum hast Du gesagt, dass Du schon neun bist? zeterte meine Schwester. „Kein Mensch glaubt doch, dass Du auch nur einen Tag älter als sieben bist. Drei Mark hat mich das gekostet. Und jetzt dürfen wir Deinetwegen das Rad auch noch schieben. Bei der Hitze!

    Ich war tief in meiner Würde gekränkt. Mich für eine Siebenjährige zu halten!

    „Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Man soll doch nicht lügen!"

    Sie raunzte noch eine ganze Weile vor sich hin. Schließlich erreichten wir doch noch den See im Wald. Die Abkühlung nach der unfreiwilligen Wanderung tat uns allen gut.

    Das Eklige nach so einem Tag ist das Umziehen. Wir hüllen uns dann immer in die Decke, auf der wir zuvor gelegen haben, und ziehen da drunter den nassen Badeanzug aus. Das ist gar nicht so einfach. Man muss nämlich dabei immer darauf achten, dass man die Decke gut festhält. Die ist auch noch voll Sand und der kratzt. Aber gleichzeitig festhalten, jucken und umziehen geht nicht. Sonst steht man im Freien. Wenn man den Badeanzug dann endlich runtergezogen hat, ist man aber immer noch nass. Dann will sich die Unterhose nicht richtig anziehen lassen. Ich bin immer schon froh, wenn ich mir mein Kleid über den Kopf gezerrt habe.

    Als ich zum Strand gelaufen bin, um die Füße und den Badeanzug zu waschen, bin ich fast mit Annette Römer zusammengestoßen. Die ist ungefähr so alt wie Inge, aber trotzdem sehr nett. Sie hat einen großen Busen und ganz rote, herzförmige Lippen, die immer irgendwie feucht sind. Ihre schwarzen Haare sind schulterlang und so lockig wie meine, aber unecht, da der Friseur sie gemacht hat. Dafür sind die Locken aber auch so ordentlich wie bei Rita Hayworth und nicht so kreuz und quer wie bei Ulrike Scholl. Außerdem hat Annette einen Bruder, der ganz alleine nach Australien ausgewandert ist. Von dem, beziehungsweise von seinen Briefen gibt sie meinem Freund Paul immer die Briefmarken. Der sammelt nämlich welche. Das ist nett von Annette, besonders weil die Briefmarken von so weit herkommen.

    „Hallo Ulli, bist Du aber braun! Sie lächelt mich wie immer freundlich an. Dabei sitzt sie halb im Wasser und dreht das Gesicht zur Sonne. „Sag mal, ich habe vorhin Angelika und Deine Schwester gesehen. Ich finde, Inges Badeanzug ist ihr eine Nummer zu groß. Jedenfalls oben rum. Mir würde er genau passen.

    „Ja, das finde ich auch. Sie hat ihn aber unbedingt haben wollen, weil er aus diesem tollen neuen Stoff ist. Da steht der Busen von selbst. Sie meint natürlich, dass das keiner sieht!"

    Annette rekelt sich so, dass ihr ganzer Körper in Bewegung gerät. „Meinst Du nicht, Du könntest Inge dazu überreden, ihn mir zu verkaufen? Ich würde ihr fünfzehn Mark dafür geben, obwohl er ja nicht mehr neu ist."

    Ich blicke ein bisschen sinnend auf Annette herunter. Schließlich sitzt sie ja im Wasser

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1