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Die Abenteuer der Linny Witt: Das Aurum potabile
Die Abenteuer der Linny Witt: Das Aurum potabile
Die Abenteuer der Linny Witt: Das Aurum potabile
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Die Abenteuer der Linny Witt: Das Aurum potabile

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About this ebook

In einer stürmischen Oktobernacht genau dreizehn Tage vor Lalindas Geburtstag bekommt sie Besuch von einem unheimlichen Fremden, der behauptet, sie sei berufen, das "magische" Erbe ihrer Familie anzutreten. Das Mädchen, das nicht an Zauberei glaubt, hält die Erscheinung des Fremden zunächst für einen Traum. Doch als Lalinda, genannt "Linny", am anderen Morgen erwacht, geschehen seltsame Dinge, die sie zwingen, ihrem Schicksal ins Auge zu blicken:
Gemäß einer schicksalhaften Prophezeiung erhellen Polarlichter den wolkenschweren Himmel, die Welt wird von Magnetstürmen heimgesucht, die von mysteriösen Sturmgöttinnen über das Land gebracht wurden. Während die Menschen in einem tiefen Betäubungsschlaf liegen, herrscht Aufruhr in der magischen Welt. Es bleiben Linny nur dreizehn Tage, um die Zauberkunst zu erlernen und sich auf ihre große Prüfung vorzubereiten, falls sie am Tage der Auferstehung des Bösen gegen die dunklen Kräfte gewappnet sein will.
Das Mädchen begibt sich auf die Suche nach dem Aurum potabile, dem geheimnisvollen Trinkgold, das die Kraft besitzen soll, toten Seelen neues Leben einzuhauchen.
Indes hat der Countdown zu Linnys magischer Taufe, die an All Hallows Eve stattfinden soll, bereits gewonnen. Doch auch die dunklen Mächte wissen um die Bedeutung der Halloween-Nacht: Als der gefürchtete Schwarzmagier Samuel Slaughtermain seine Hand nach dem Aurum potabile ausstreckt, beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod…
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMay 10, 2013
ISBN9783847622734
Die Abenteuer der Linny Witt: Das Aurum potabile

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    Die Abenteuer der Linny Witt - Carola Hipper

    Die Abenteuer der Linny Witt Das Aurum potabile

    Dieses Buch handelt von den Abenteuern der zwölfjährigen Linny, die plötzlich erfährt, daß ihr in der Halloweennacht eine große Prüfung bevorsteht: ihre Hexentaufe! Halloween ist nicht nur das Fest des Totengottes Samhain, sondern auch der Vorabend ihres dreizehnten Geburtstages. In dieser Nacht erwachen alle guten und bösen Geister zu neuem Leben.

    Es bleiben Linny nur dreizehn Tage, um sich auf ihre große Prüfung vorzubereiten und die Zauberkunst zu erlernen, falls sie für die Auferstehung des Bösen gewappnet sein will. Indes wird die Welt von Sonnenstürmen heimgesucht, und während die Menschen in einem tiefen Schlaf liegen, begibt sich Linny auf die Suche nach dem Aurum potabile, dem geheimnisvollen Trinkgold, das angeblich die Kraft besitzen soll, den Toten neues Leben einzuhauchen.

    ………………………………………………..............................................

    Originalcopyright © 2005-2012 by Carola Hipper

    Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Coverillustration und -gestaltung: Carola Hipper

    unter Verwendung des Gemäldes

    Ein Kopf, aus Tieren zusammengesetzt von Giuseppe Arcimboldo

    www.magnetica-shop.jimdo.com

    …………………………………………...........................................................

    Die Charaktere

    Aghadir, Wanderfakir

    Annabella von Wittenberg, Linnys Mutter

    Chrysaora, Kräuterhexe vom Dienst

    Contardo A. Nonymos, Linnys engster Freund und Vertrauter

    Gajamater, Hüterin des Schicksals

    Hunibald Georgius Roderich Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal, Regenbogenpapagei und Linnys Taufpate

    Linny Witt, alias Lalinda von Wittenberg, angehende Hexe

    Samuel Slaughtermain, Fürst der Finsternis und Jünger des keltischen Totengottes Samhain

    Shahazarr, geflügeltes Pferd, Enkel des mythologischen Pegasus

    Shanice de la Varochelle, blaublütige Wegie und verwunschene Wasserfee

    Verula von Wittenberg, Linnys Tante

    Zenobius von Berryllium, Zauberer

    und

    Der Weiße Jäger

    1. Kapitel Der schwebende Schatten

    Ein mächtiges Gewitter trieb seine schwarzen Wolken über das Land. Der Wind fegte den Regen wütend und unerbittlich durch die Straßen. Einer der Fensterläden hatte sich aus seiner Halterung gelöst und schepperte gegen die Hauswand. Der Strom war ausgefallen, und so Linny hatte zum Abendessen ein paar Teelichte auf dem Eßtisch arrangiert. Die kleinen Flammen flackerten bei jedem Luftzug aufgeregt, als versuchten sie, das Mädchen vor einem heraufziehenden Unheil zu warnen. Während sie ihre Mahlzeit einnahm, las Linny in einem alten tibetischen Märchenbuch. Vor ihr auf dem Tisch stand ein liebevoll gerahmtes Foto ihrer Mutter, die glücklich in die Kamera lächelte. Linny liebte dieses Foto. Wann immer sie es ansah, hatte sie beinahe das Gefühl, ihre Mama säße leibhaftig vor ihr, und gemeinsam erzählten sie einander die Erlebnisse vom Tage, wie sie es früher oft getan hatten.

    Es gab Momente, da machte die Erinnerung an vergangenes Familienglück Linny ein wenig traurig. Doch zumeist schöpfte sie Kraft aus dem Lächeln ihrer geliebten Mama, die ihr aus dem Bilderrahmen aufmunternd zuzuzwinkern schien. Wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten hatte Linny allein zu Abend gegessen. Ihre Tante Verula, mit der sie seit drei Jahren das kleine verwinkelte Häuschen in der Pantheoneumallee bewohnte, war, wie so oft, zeitig in ihrem Zimmer verschwunden, um ihren Rausch auszuschlafen.

    Wie stets, so hatte Tante Verula auch an diesem Tag bereits nachmittags begonnen, sich mit hochprozentigem und, wie Linny fand, übelriechendem Alkohol über den Verlust ihres Verlobten Peter, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hinwegzutrösten. Tante Verula war oft verkatert, fast jeden Tag hatte sie Kopfschmerzen und war unpäßlich. Trotz alledem bemühte sie sich sehr, für Linny zu sorgen.

    Linnys Tante war Alkoholikerin. Wenn sie trank wurde sie fast immer sehr traurig und müde, niemals aber war sie aggressiv oder gar ungerecht gegen Linny. Tante Verula hatte das völlig verstörte Mädchen in ihre Obhut genommen, nachdem Linnys Mutter bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Tragische Unfälle, so schien es, waren keine Seltenheit in Linnys Familie. Trotz oder gerade wegen ihrer Alkoholkrankheit bemühte sich Tante Verula um so mehr, Linny die Mutter zu ersetzen. Dennoch hatte das Mädchen sehr früh die Verantwortung für das gemeinsame Leben mit ihrer Tante übernehmen müssen. Jeden Morgen brachte Linny Tante Verula das Frühstück mitsamt einer Kopfschmerztablette ans Bett. Und wann immer ihre Tante verkatert war, half Linny ihr bei der Morgentoilette und beim Ankleiden. Auch des Abends hatte sie ein Auge auf ihre Tante, denn sie schlief oft mit einer Flasche Wodka in der Hand ein. Und wenn dies geschah, räumte Linny die leeren Flaschen und Gläser beiseite und brachte ihre Tante hilflose Tante zu Bett.

    An diesem Abend hatte sich Tante Verula ohne Abendessen in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Und so kam es, daß das Mädchen wieder einmal allein seine Mahlzeit hatte einnehmen müssen. Nach dem Essen las Linny noch eine Weile in ihrem Buch. Als sie schläfrig wurde, löschte sie die Lichter und ging auf ihr Zimmer. Dort entzündete sie, wie jeden Abend seit dem frühen Tod ihrer Mama, eine weiße Kerze und stellte sie auf das Fensterbrett. Ihre Mutter hatte dasselbe für Linnys Großmutter getan, nachdem sie gestorben war, und das Mädchen hatte diese kleine Familientradition übernommen.

    »Damit sie weiß, daß wir immer an sie denken«, hatte Linnys Mutter ihr erklärt, als sie fragte, wozu die kleine Kerze gut sei. »Das Licht der Kerze wird Großmutter in dunklen Stunden den Weg nach Hause weisen.«

    Und nun war es Linny, die diese Tradition fortsetzte. Sie wünschte sich, daß auch ihre Mama den Weg nach Hause finden möge, nach Hause zu ihrer Tochter, die das Andenken der Mutter schmerzlich in ihrem Herzen bewahrte.

    Draußen über den Dächern der Stadt tobte der Sturm. Linny zuckte bei jedem Donnerschlag zusammen und zog die Decke über den Kopf. Von Blitz und Donner getrieben, hatten sich pechschwarze Wolken über der Stadt versammelt. Soeben fuhr der Wind mit aller Macht durch den schmalen Spalt unter Linnys Tür, als sei er ein verwunschener Geist, der sich nach jahrhundertelanger Qual den Weg aus seinem Gefängnis bahnte. Als scharfer Luftzug zwängte sich der Wind durch das enge Schlüsselloch. Dabei entstand ein hoher, melodischer Pfeifton. Auf das Pfeifen folgte ein drohendes Knarren der alten Holztür, und gleich darauf ein dumpfes Ächzen der Fensterläden, die sich mit Kräften dagegen wehrten, vom Sturm aus den Angeln gehoben zu werden.

    Linny versuchte, sich abzulenken und an etwas Schönes zu denken. Wann immer sie ganz allein in ihrem Zimmer war und fühlte, daß die Furcht unter ihre Decke kroch und mit eiskalter Hand die Finger nach ihr ausstreckte, dachte sie an den Urlaub in Indien. Eigentlich war es für ihre Mutter gar kein richtiger Urlaub gewesen, denn sie war als Dolmetscherin nach Asien geschickt worden, um auf einem internationalen Kongreß als Simultanübersetzerin zu arbeiten. Ihre Mama war mehrsprachig aufgewachsen. Das Talent für das Erlernen fremder Sprachen und Dialekte hatte sie von ihrem Vater geerbt, der die ganze Welt bereist hatte. Linnys Mutter sprach acht Sprachen fließend, und als Linny noch sehr klein war, hatte sie wie selbstverständlich mit ihrer Tochter französisch, englisch, holländisch, chinesisch, japanisch, arabisch und sogar russisch gesprochen. Heute erinnerte sich Linny an das frühe Sprachtraining nicht mehr besonders gut. Aber ihre Mutter hatte stets mit einem milden Lächeln gesagt:

    »Wer weiß, wozu es gut ist, wenn du ein paar Vokabeln lernst!«

    Ihre Mama hatte auch gemeint, daß man gar nicht früh genug anfangen könne, so viel wie möglich zu lernen und dabei die Geheimnisse der Welt zu ergründen.

    Gerade wurde Linny jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn eine harte Bö schleuderte den Fensterladen gegen das verwitterte Holzfenster, das mit heftigem Rattern und Scheppern aus seiner Halterung sprang und dem Sturm den Weg in das kleine Zimmer freigab. All ihre Gürtel, die Linny fein säuberlich mit den Schnallen nach oben an einer besonderen Vorrichtung ihrer Zimmertür aufgehängt hatte, tanzten und klimperten zu der düsteren Melodie des Windes. Das Mädchen zitterte unter der Bettdecke, die es noch immer über den Kopf gezogen hatte. Linny hatte fürchterliche Angst vor Gewitter, und hier, in dem kleinen Haus am Rande des düsteren Waldes, erschienen ihr die entfesselten Elemente noch bedrohlicher zu sein.

    Dem gebieterischen Zucken des Blitzes folgte in kurzem Abstand ein unbarmherziges Donnern, das wie ein Gewehrschuß das kleine Häuschen erschütterte. Es war ein Unwetter, als hätten die Pforten der Hölle sich aufgetan.

    »Mir wird nichts geschehen«, sprach Linny sich selbst Mut zu. Auch das hatte sie von ihrer Mutter gelernt. »Es ist nur ein Gewitter. Es kann mir nichts anhaben. Mir wird ganz sicher nichts geschehen.« Das Mädchen versuchte angestrengt, sich an unbeschwerte Zeiten zu erinnern. Doch in diesem Augenblick fühlte Linny sich entsetzlich klein und einsam. Eine Sekunde lang dachte sie daran, Tante Verula aufzuwecken. Doch im selben Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Wenn ihre Tante Alkohol getrunken hatte, schlief sie wie eine Tote. Jeder Versuch, sie aus ihrer Besinnungslosigkeit aufzuwecken, wäre sinnlos. Also versuchte Linny, die Angst zu verscheuchen. Sie konzentrierte sich. In Windeseile schickte sie ihre Gedanken zurück nach Indien, wo sie sich so unglaublich behaglich und geborgen gefühlt hatte, als sie mit ihrer Mama auf einem wunderschön geschmückten Elefanten reiten durfte. Dieser Tag war wahrhaftig der schönste Tag ihres Lebens gewesen! An jenem Tag hatten sie gelacht und gescherzt, und ihre Mama hatte sie »meine kleine Elefantenprinzessin« genannt.

    Wieder prallte der Fensterladen mit lautem Scheppern gegen das zerbrochene Fenster. Der Regen prasselte in wütenden Salven ins Zimmer. Mit sich brachte er einen eisigen Hauch, der bald wie ein dunkel aufziehendes Unbehagen den Raum vereinnahmte.

    Linny erschauerte. Sie wußte, sie würde sich überwinden und aufstehen müssen, um die Fensterläden zu schließen. Sonst würde der hereinströmende Regen die alten Holzdielen unter Wasser setzen. Wieder ein kurzes Zucken des Blitzes, wieder ein lauter Knall, der Linny den Atem stocken ließ.

    »Jetzt«, dachte sie, »ich muß sofort aufstehen, sonst traue ich mich niemals mehr unter dieser Decke hervor!«

    Mit einem Ruck warf sie die Bettdecke beiseite und sprang auf die Beine. Es war stockdunkel im Zimmer, doch Linnys Augen hatten sich bald an die Finsternis gewöhnt. Unter dem Fenster lag die Kerze, die sie für ihre Mutter angezündet hatte. Eine Windbö hatte sie zu Boden geworfen und ihr Licht verlöschen lassen. Das Gesicht zum Fenster gewandt, fuhr Linny der nächste Schreck in die Knochen. Über dem Fensterbrett erblickte das Mädchen die Silhouette eines schwebenden Schattens. Es war, als bewege er sich mit großen Schwingen auf und nieder. Linny konnte nicht glauben, was sie vor sich sah. Sie schloß die Augen und betete, daß ihre Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte. Gleich darauf blinzelte sie ängstlich. Gleichzeitig hoffte sie, daß der Schatten verschwinden möge. Er konnte nicht real sein, nicht bedrohlich, nein, ganz sicher war er nichts als ein Hirngespinst.

    Als sie ihre Augen vorsichtig öffnete, erstarrte sie. Da! Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte die nächste Himmelsentladung den winzigen Raum. Geblendet vom Blitz und vor Schreck erstarrt fiel Linny rücklings aufs Bett. Da saß sie nun und rieb sich die Augen, als könne sie das Gesehene mit einer bloßen Handbewegung wegwischen. In diesem Augenblick begann die Erscheinung, die sich auf dem Fensterbrett niedergelassen hatte, zu sprechen:

    »Hier wohnst du also, hm?« krächzte der Schatten. »Nicht gerade ein Luxushotel, was?!« Ein heiseres Lachen vermischte sich mit dem Wüten des Windes. »Hey, was ist nun? Begrüßt du so deine Gäste? Willst du nicht das Fenster schließen, damit wir uns gepflegt unterhalten können?«

    Als der nächste Blitz den Raum durchzuckte wie ein von Strom gereizter Muskel, riß Linny die Augen weit auf. Träumte sie? Nein, das konnte nicht wahr sein! So ein Unsinn! Sie bildete sich das alles nur ein. Es war ihre Furcht, die dieses Trugbild hervorgebracht hatte. Ja, die Angst konnte Dinge erscheinen lassen, die gar nicht vorhanden waren! Vollkommen reglos blieb Linny auf ihrem Bett sitzen und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Dunkel.

    »Was denn, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?« krächzte die Stimme.

    Nein, nein und nochmals nein! Dieser sprechende Schatten war nichts als Einbildung! Sie würde ihn ganz einfach ignorieren, dann würde er ganz sicher von selbst wieder verschwinden! Die Angst vor dem Gewitter hatte ihren Verstand vernebelt! Der Schatten war ein Trug, ein Traum, eine Sinnestäuschung! Aber gab es denn Trugbilder, die sprechen konnten? Ein wenig seltsam war das schon.

    »Heda, hallo! Ich rede mit dir, kleine Dame! Wo sind deine Manieren geblieben? Hast du sie unterm Bett versteckt?«

    Wieder erfüllte ein heiseres, krächzendes Gelächter den Raum. Linny war sich vollkommen sicher, daß ihre Phantasie mit ihr durchging, daran bestand kein Zweifel! Sie würde jetzt aufstehen, zum Fenster hinübergehen und diesen krächzenden Schatten verscheuchen! Und mit ihm würde sie all ihre Ängste und die traurigen Gedanken gleich mit zum Fenster hinausjagen. Anschließend würde sie sich in ihr Bett legen, von fernen Stränden und großen Abenteuern träumen und bald eingeschlafen sein. Und morgen früh wäre das Gewitter mit all seinen dunklen Schatten vergessen.

    »Heda! Wie lange soll ich noch auf deinem Fensterbrett herumlungern, Linny Witt!?«

    Verflixt! Woher kannte diese freche Schattengestalt ihren Spitznamen? Linny hieß mit vollem Namen Lalinda von Wittenberg, doch als sie ein kleines Mädchen war, fanden ihre Freunde und Schulkameraden, daß ihr Name viel zu lang und zu kompliziert sei. Daher nannten sie sie schlicht: »Linny Witt«.

    »Nun, kleine Lady, ich bin schon ein wenig enttäuscht von dir, das kann ich nicht verhehlen! Aber ich werde versuchen, dir dein unhöfliches Schweigen nicht zu verübeln und mich dir vorstellen: Gestatten, mein Name ist Hunibald Georgius Roderich Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal!«

    Eben zerriß der Donner die vor Spannung knisternde Finsternis, als wolle er den Worten des Fremdlings Gewicht verleihen.

    »Besser ein krächzender Schatten als gar keine Gesellschaft«, dachte sie bei sich. Endlich fand sie ihre Sprache wieder und sagte:

    »Und was verschafft mir die Ehre deines späten Besuches, werter Hunibald Georgius Roderich ähm-« Linny stockte, denn leider hatte sie sich nicht den vollen Namen ihres ungebetenen Besuchers merken können.

    »…Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal!« vervollständigte der späte Gast. »Freut mich zu hören, daß du des Sprechens mächtig bist«, fügte er hinzu. »Nun also gut, Hunibald mit dem komplizierten Namen, was machst du zu so später Stunde hier auf meinem Fensterbrett? Kannst du nicht zur Eingangstür hereinkommen wie jeder normale, ähm-« Linny zögerte, weil sie nicht recht wußte, wen oder was sie eigentlich vor sich hatte. Nach kurzem Innehalten fügte sie ihren Worten »-Geselle?« hinzu.

    Der seltsame Eindringling räusperte sich verächtlich. Da schleuderte der Sturm den lockeren Fensterladen ein weiteres Mal gegen den Fensterrahmen und schubste Hunibald, den Dreiunddreißigsten, mitten ins Zimmer hinein. Dabei ließ der schattenhafte Geselle ein glitzerndes Ding aus seinen Klauen gleiten, das, begleitet vom nächsten Aufblitzen des Sturmes, pfeilschnell durch die Luft sauste und mit einem magischen Lodern in Linnys Zimmertür steckenblieb, wo im selben Augenblick ein goldener Funkenregen zu Boden rieselte.

    »Was war denn das?« rief Linny aus und sprang vom Bett.

    Sie lief hinüber zur Tür, wo ihre Lieblingsgürtel sorgsam aufgereiht an den dafür vorgesehenen Haken hingen. Doch im Halbdunkel war nicht genau zu erkennen, was da in ihrer Tür steckte. Sie nahm die kleine Streichholzschachtel von der Kommode und öffnete die oberste Schublade, wo sie Kerzen und Teelichte aufbewahrte. Sie nahm ein kleines Sturmlicht heraus und versuchte, es zu entzünden.

    Der Wind fegte in kurzem Abstand Regensalven durch das sperrangelweit geöffnete Fenster. Linny verbrauchte sechs Streichhölzer, bis es ihr endlich gelang, die kleine Kerze zu entfachen. Sie hielt das Licht hoch und suchte nach der Stelle, wo sie das glitzernde Geschoß hatte einschlagen sehen.

    Da war es: Es war ein goldener Dolch, der sich ausgerechnet in die Öffnung der Schnalle ihres Lieblingsgürtels gebohrt hatte!

    »Oh, nein!« rief Linny aus. »Den Gürtel hat Mama mir zu meinem achten Geburtstag geschenkt!«

    »Da siehst du, wie klug der Dolch ist! Er wurde nicht nur aus einer geheimen Stahllegierung geschmiedet und mit reinem Gold veredelt, nein, noch dazu ist er sehr intelligent und findet immer den Weg zu seinem Ursprung!«

    »Was soll das heißen: den Weg zu seinem Ursprung?« sagte Linny bissig. »Herrje! Wehe, wenn dieses dumme Ding meinen Lieblingsgürtel beschädigt hat! Wenn du schon in fremde Häuser eindringst, ohne dich anzumelden, kannst du wenigstens deinen Kram bei dir behalten!« Linny war wütend. Und das war gut so. Während sie im Eifer ihres Zorns den Dolch aus der Tür zog und ihren Gürtel befreite, vergaß sie ihre Angst vor dem Unwetter.

    »Aber, aber, junge Dame! Etwas mehr Contenance, wenn ich bitten darf!« erwiderte der Schatten.

    »Von wegen, Contenance! Sag mir auf der Stelle, was du von mir willst, du komischer Vogel!« sagte Linny aufgebracht.

    »Nun werde mal nicht frech! Ich bin nicht bei Wind und Wetter den weiten Weg zu dir geflogen, um mich von dir anzicken zu lassen, du kleine Hexe!«

    »Nun, warum bist du dann hergekommen, wenn nicht deshalb?« fauchte Linny.

    »Wenn du dich tunlichst beruhigen würdest, mein Kind, könnte ich dir den Grund meines Kommens erklären! Aber nun sei bitte so freundlich und schließe endlich das Fenster, damit wir nicht unentwegt gegen den Wind anschreien müssen«, entgegnete Hunibald.

    Linny funkelte den schattenhaften Eindringling wortlos an, fügte sich aber. Sie versuchte, den gelockerten Fensterflügel in sein Scharnier zurückzuschieben, was ihr nicht recht gelingen wollte. Also schloß sie das Fenster so gut es ihr möglich war, bevor sie sich wieder ihrem ungebetenen Gast zuwandte.

    »So ist es besser!« kommentierte Hunibald. »Und nun sei so gut und entzünde noch ein paar von den kleinen Lichtern.«

    Mit mürrischem Blick ging Linny, die noch immer ihren Lieblingsgürtel in der Hand hielt, zurück zur Kommode, holte ein paar Teelichte hervor und entzündete sie. Nach und nach wurde es heller und behaglicher in dem kleinen Zimmer. Es war noch immer recht düster im Raum, aber der Schein der kleinen Flammen tauchte die Konturen des Raumes schon bald in ein sanftes, goldgelbes Licht. Auch der schattenhafte Hunibald war nun für Linnys Augen deutlicher sichtbar. Als er sich auf dem Kissen des kleinen Schaukelstuhles gleich neben ihrem Bett niederließ, begriff Linny, daß sie sich geirrt hatte. Es war ganz und gar nicht ihre lebhafte Phantasie, von der sie glaubte, sie habe sie um ihren Verstand gebracht! Was sich da auf ihrem Schaukelstuhl niedergelassen hatte, war kein Phantom! Tatsächlich und ohne jeden Zweifel saß dort ein leibhaftiger, sprechender, mit einem schneeweißen und viel zu großen, völlig durchnäßten Herrenhemd verhüllter Papagei!

    Als das regennasse Hemd zu Boden glitt, schüttelte der Papagei sein prächtiges Gefieder.

    »Ein kleiner Nachttrunk wäre mir jetzt äußerst genehm«, sagte Hunibald, der Dreiunddreißigste. »Einen Wodka hätte ich gern, mit heißer Milch, wenn ich bitten darf. Der wird mir wohl die Zunge lösen, hahaha!« krächzte und gluckste er amüsiert.

    »Bist du etwa betrunken?« fragte Linny mit strengem Blick. Seit sie bei ihrer Tante wohnte, wußte sie nur allzu gut, was Alkohol aus einem Menschen oder einem »Wesen« machen konnte.

    »Aber nicht doch, mein Liebchen, nicht doch!« gab Hunibald zurück. »Ich bin Seefahrer, ich vertrage Hochprozentiges! Jawohl, das will ich meinen!«

    »Seefahrer? So, so! Unter Münchhausens Flagge, nehme ich an! Also, na meinetwegen!« murmelte Linny und runzelte die Stirn. Waren Seeleute nicht etwa bekannt für ihre Saufgelage? Doch nein, sie würde Hunibald nicht nach seinen Trinkgewohnheiten fragen. Sie mußte herausfinden, was der Papagei von ihr wollte. In diesem Augenblick hatte sie nur einen einzigen Gedanken: Linny mußte in Erfahrung bringen, was ihn hierhergeführt hatte und wieso er ihren Namen wußte. Was wollte dieser komische Vogel ausgerechnet von ihr?

    »Warte einen Moment, ich gehe in die Küche und hole dir deinen Nachttrunk«, sagte sie. Im selben Augenblick machte sie auf dem Absatz kehrt, um gleich darauf mit einem schelmischen Grübchen über der Nasenwurzel das Zimmer zu verlassen.

    »Gib nicht zu viel Milch hinein«, rief Hunibald ihr nach. »Ich bin schließlich kein Säuglingsara!« Sein krächzendes Gelächter erfüllte den kleinen Raum und schallte bis ins Treppenhaus hinein; Linny aber dachte sich: »Na, warte! Dir werde ich einen feinen Nachttrunk mixen!«

    Auf Zehenspitzen schlich das Mädchen die Treppe hinab. Linny kannte jede einzelne der morschen Treppenstufen ganz genau, und sie wußte noch besser, welche der Stufen am lautesten knarrte, wenn man darauf trat. Sie achtete darauf, keinen unnötigen Lärm zu machen. Auf keinen Fall wollte sie Tante Verula aufwecken. Es war zwar nicht sonderlich wahrscheinlich, daß die Tante aus ihrem Rausch erwachte, aber hin und wieder geschah es, daß sie während der Nacht zu sich

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