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Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg
Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg
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Ebook612 pages7 hours

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg

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About this ebook

Der Autor, 1924 geboren, steht wie auf dem Alters-Gipfel seines langen Lebens. Er schaut zurück auf seine Irrtümer, und plötzlich erstrahlt ein Licht der Erkenntnis.
Neubert legt ein im klassischen Sinne geschriebenen Anti-Kriegsroman vor. Es war der Fluch der jungen Menschen, während der Hitler-Diktatur, politisch verführt und mani- puliert, in die schreckliche Hölle des Zweiten Weltkrieges zu torkeln.
Der sechzehn Jahre alte Karl Hellauer, mit romantisch-verklärten Ansichten über Krieg und Heldentum, meldete er sich 1941 freiwillig zur deutschen Wehrmacht. Am 3. Juni 1941 beginnt die Grundausbildung in einer Panzereinheit in Neuruppin. Das Ziel der Ausbildung: die Soldaten zu hirnlosen Kampfmaschinen zu drillen, die ohne nachzu- denken Befehle ausführen.
Hellauer wird Panzerfahrer. Ausgehend von seinen eigenen Erlebnissen, hat der Autor eine Auswahl von entscheidenden Ereignissen seines Soldaten-Lebens und der Kriegs- gefangenschaft zu Papier gebracht. Seine gestalterischen Fähigkeiten stellt er nicht nur in kriegerischen Gefechten unter Beweis, sondern auch in den Frauengestalten, Flora, Margot, Diana, Elisabeth. Diese Gestalten mit Mutter Hellauer, berühren besonders, weil Neubert damit eine Vorstellung vom Leben der Frauen und Mädchen im Hin- terland des Krieges gibt. Es gibt Briefe, Träume, Visionen.

"Schonungslos beschreibt Kurt F. Neubert seine Wandlung vom überzeugten Hitlerjungen zum Pazifisten am Ende des Krieges" ( Märkische Allgemeine" Dahme Kurier)
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateJan 6, 2014
ISBN9783844277463
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    Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg - Kurt F. Neubert

    1. Kapitel

    Ein sonniger Aprilsonntag

    1939. Nach einer Sternen klaren April-Nacht erhob sich hinter den Hügeln des Mansfelder Landes ein strahlender Frühlingsmorgen. Und die Sonne mit ihrem gleißenden Sonnenlicht überflutete das wiedergeborene Grün und die Blütenfülle in seiner Farbenpracht.

    Und im Talgrunde, dort, wo der Ort Volkstedt liegt, fiel beim Erwachen an jenem Sonntagmorgen Karl Hellauers Blick auf das Fenster. Er räkelte sich. Die Sonne hatte sich inzwischen leuchtend über die nahen Berge im Osten erhoben.

    Karl, fünfzehn Jahre alt, sprang schnell aus dem Bett, bemerkte, dass sein jüngerer Bruder noch schlief, lief barfuß zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite. Geblendet vom grellen Sonnenschein, beschattete er die Augen mit der rechten Hand. Er spürte tief im Herzen, dieser Sonntag war glückverheißend.

    Im Laubwerk der Kastanienbäume nahe des Hauses, wetteiferten gefiederte Sänger miteinander im fröhlichsten Singen und Gezwitscher. Und auf dem Domänenhof balgten sich Sperlinge laut schilpend um frische Pferdeäpfel.

    Und wie von Riesenhand geschaffen, erhob sich kurz hinter dem Dorf die gewaltige Abraumhalde des Wolfschachtes, einem Gewerk der Mansfelder Kupferschiefer Bergbauenden AG. Wie an allen Sonntagen ruhte die Arbeit. An den Werktagen liefen an dem hohen Förderturm ununterbrochen die Räder, förderten Bergleute in die Tiefe oder Erz zu Tage. Tief unten, in den dunklen Streben, wo das Kupferschiefererz abgebaut wird, herrscht schweißtreibende Hitze, bis zu dreißig Grad. So ist die Arbeit der Kumpel eine verdammt harte Schinderei, vor allem, weil die Strebhöhe nur circa neunzig Zentimeter beträgt und die Kumpels im Knien oder seitlich sitzend ihre Tätigkeit in einem schwachen Luftzug, Wetterführung genannt, verrichten müssen. Karls Vater liebte das Land und das Licht. Er arbeitete in der Landwirtschaft – auch wenn er dort geringeren Lohn erhalten hat.

    In aller Ruhe ging Karl den Tag an. Noch am Vormittag verließ er die elterliche Wohnung. Er hatte sich mit einem Arbeitskollegen in der Stadt verabredet.

    Der Himmel war von unendlichem Blau. Die Sonne immer höher steigend, überstrahlte das anmutige Tal.

    Als Karl den Trampelpfad durch den Hofgarten nutzte, um zur Schulstraße zu gelangen, atmete er den beseligenden Duft von Blumen und Gräsern, der mit einem erfrischenden Lufthauch vom Hofgarten ihm ins Antlitz wehte. In den Baumkronen des Haines gurrten Holztauben. Ein durchsichtiges Kleid aus einem zarten Seidengewebe hatte der Frühling zwischen die Häuser des Ortes gesponnen. Obstbäume, in Blüte stehend, dufteten aromatisch süß. Unter der Blütenpracht der Bäume legten die Gartenbesitzer frische Beete an und legten Sämereien in die frisch umgegrabene Erde. Zwei Amseln hüpften auf der Suche nach fetten Happen in der Nähe umher.

    Leichtfüßig durchschritt Karl die Straßen des Ortes und stand bald auf dem Mühlberg. Vor ihm – welch grandioses, malerisches Bild – unter dem tiefblauen Himmel, die in voller Blüte stehenden Kirschbäume. Ihre märchenhaft weiß schimmernden Blüten, die sich einer schäumenden Perlenkette gleich in aller Herrlichkeit über die endlos scheinende Straße spannte, entzückte Karls Auge und erregte seine Phantasie. Und Abertausende Bienen, wie magisch berauscht, flogen von Blüte zu Blüte und saugten in ergreifender Verzücktheit aus den kleinen Blütenkelchen den süßen, lebensspendenden Nektar. Ihr leises, unendliches Summen erfüllte den leuchtenden Äther.

    Im Duftkreis des Blütenmeeres ging Karl selig trunken der Stadt entgegen, blinzelte in die Sonne oder verharrte in der Ebene vor der Stadt, wo der Himmelsäther mit den sanften Hügeln verschmolz. Es schien so, als wölbe sich über den Kirchen und Gebäuden der Stadt die Kuppel eines orientalischen Domes.

    Karl schlenderte durch die Straßen und engen Gassen der altehrwürdigen Lutherstadt. Das pulsierende Leben der Wochentage war einer würdevollen Sonntagsruhe gewichen. Er begegnete nur wenigen Menschen. Aus den Küchenfenstern des Goldenen Hirsches duftete es nach Braten, Gewürzen und Kräutern. Am Siebenhitzeberg, den Karl ohne Hast empor stieg, begeisterte ihn der zarte Gesang eines Kindes, der von einer Geige begleitet wurde.

    Wenige Augenblicke später betrat er bereits den Stadtpark. Das gefilterte Sonnenlicht verlieh dem Park mit seinem saftigen Grün einen geheimnisvollen Zauber. Das leise Wispern des Windes in den Baumblättern wurde plötzlich vom harten Klopfen eines Spechtes unterbrochen

    Der böse Traum

    Inmitten des schönen Parks zog herber Modergeruch, der aus dem dichten Unterholz kam, Karl in die Nase. Er schnupperte. Dieser Geruch erinnerte ihn jäh an einen Traum, der vergangenen Nacht.

    Sage keiner, so etwas gäbe es nicht – aber wie auf Kommando, als sei ein Kinovorhang weggezogen worden, spulte sich der Traum vor seinem inneren Auge ab, genau wie in einem Film. Dieser rätselhafte Vorgang war so ungeheuerlich, dass er es selbst nicht glauben konnte, was er in der Nacht geträumt hatte.

    Im Traum war Karl mit seinen besten Freunden auf Wandertour in den Bergen. Am hellen Tage erstiegen sie einen steilen Hang mit einem zerklüfteten Profil, wo nur noch Dornengestrüpp und Krüppelkiefern standen. Über den Bergen Sturmwolken. Durch eine Schlucht wälzte sich ein schäumender Fluss. Ein Kristall, zwischen Moosen leuchtend, erregte Karls Interesse. Neugierig kniete er nieder, grub das schöne Stück aus, hockte sich auf eine Felsnase und betrachtete voller Bewunderung die Symmetrie und das Kristallgitter.

    Diese Minuten des Zurückbleibens waren sein Glück und seine Rettung, denn plötzlich durchdrang Geschrei seiner Gefährten die Morgenstille. Vögel flogen erschreckt und kreischend davon. Die Sonne versteckte sich jäh hinter dem Wolkenzug.

    Karl sah um sich. Das kalte Entsetzen erstickte jede Regung in seiner Brust. Was er gesehen hatte, war so ungeheuerlich, dass es ihm die Sprache verschlug: Seine Kameraden standen mit einem vielarmigen Ungeheuer in einem Kampf auf Leben und Tod! Wuchtige Fangarme eines Oktopus hatten sich um die Beine seiner Gefährten geschlungen. Beherzt versuchten sie das Untier abzuschütteln, zu zertreten. Doch das grauenhafte Scheusal hatte sich an den Beinen festgesaugt. Nun krallte es sich hochwindend auch am Leib und an der Brust fest …

    Karl sah Todesangst in den Gesichtern der Freunde, hörte ihr Krächzen, ihren röchelnden Atem. Trotzig und in Todesangst hieben die Unglücklichen mit erzener Faust auf die Arme mit den Saugnäpfen. Auch mit Fahrtenmessern stießen sie zu. Blut, scheußlich wie Galle, spritzte aus den tiefen Wunden des furchterregenden Monstrums. Jäh vollzog sich ein Hexenzauber. Urplötzlich krochen aus den Wundschlitzen des Untiers Wolfstatzen, die sich am Körper der Kameraden festkrallten.

    Angesichts des geisterhaften Geschehens, entfloh ihren Mündern nur noch dumpfes Gebrüll, das an den Bergen widerhallte. Vor Schmerz krümmten sie sich, torkelten wie Betrunkene. Tod wund, war ein fliehen unmöglich geworden.

    Karls Blut stockte. Seine Gedanken rasten. Was tun? Wie den Unglücklichen beistehen? Wie sie vor dem Tode bewahren? Einen Augenblick war er unschlüssig. In seinen Schläfen hämmerte der Herzschlag. Mit dem Mut der Verzweiflung beugte er sich vor. Entflammt vom Drang das mörderische Untier zu vernichten, spannte er kraftvoll seine Muskeln. Und da geschah ein Wunder. Wie ein Pfeil von einem Bogen abgeschossen, schnellte er blitzartig himmelwärts. Wie ein Vogel stieg er in die Lüfte. Ein unsichtbarer Luftstrom schien ihn höher und höher zu tragen. Langsam glitt er über das Bergmassiv. Unter ihm die sich wehrenden Freunde, von den Fangarmen der Hydra umschlungen.

    Unverzüglich suchte Karl den verderblichen Rumpf des Achtfüßlers. Da riss die Wolkendecke auf. Im Licht der Sonnenstrahlen erkannte er zwischen den Krüppelkiefern und Dornengestrüpp das grässliche Ungetüm. Pfeilschnell zischte er zur Erde zurück, packte mit beiden Händen einen gewaltigen Felsblock, stieg einer Rakete gleich erneut in die Höhe. Ohne zaudern schleuderte er das Gestein auf das Ungeheuer. Angsterfüllte Augenblicke! – Hatte er getroffen?

    Krachend und dröhnend, rollte dumpfes Grollen zu Tal. Und aus der Tiefe des Kraters stieg brodelnd schwefelgelber Rauch.

    Kaum hatte sich der Rauchvorhang verzogen, sah Karl den verderblichen Oktopus tief unten in einem klaffenden Schlund verenden …

    Eine zauberhafte Begegnung

    In diesem Augenblick schoss pfeilschnell ein Schatten auf ihn zu. Erschreckt zuckte er zusammen. Mit einem schnellen Ausweichschritt wollte er einen Zusammenstoß mit dem jungen Geschöpf vermeiden. Doch das Wesen, das nach einer Wegebiegung plötzlich aufgetaucht war, wich ein wenig zur Seite, aber in dieselbe Richtung wie Karl. Beide blieben wie festgenagelt stehen. Karls scheuer Blick blieb entzückt an dem hübschen Kind, das plötzlich vor ihm stand, hängen. Sie war vielleicht fünfzehn Jahre alt. Ihre überaus reizvolle Anmut ließ sein Herz plötzlich schneller schlagen. Nie zuvor hatte er ein schöneres Mädchen gesehen. Eine warme Zärtlichkeit erfüllte seine Brust. Doch bevor er etwas sagen konnte, schossen Blitze aus des Mädchens Augen, und ihrem Munde entstieg der Ausruf: „Können Sie nicht aufpassen, Sie unreifer Jüngling!"

    Wie aus tiefem Schlaf erweckt, verharrte Karl verlegen und unschlüssig mitten auf dem Weg. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Zunge klebte, einem trockenem Blatt gleich, am Gaumen. Er sah in seiner halben Ohnmacht wie hypnotisiert auf die blühende Erscheinung, die im weißen Kleid im Licht des Tages stand. Einen Wimpernschlag lang versank um Karl die große weite Welt. Ihr schönes Antlitz, mit dem Reiz kindlicher Unschuld, war voller Zauber. Dazu wundervolle grüne Augen, herrlich blitzende Zähne zwischen den halb geöffneten, feuchten Lippen. Und am Halse des schönen Kindes hing ein goldenes Kettchen mit einem Anhänger, auf dem ein vierblättriges Kleeblatt glänzte. Auch genoss er den Anblick der zarten Wölbungen des Kleides, zierliche Brüste darunter ahnend. Am liebsten hätte er das Haupt dieser unschuldigen Blume mit Kirschblüten umkränzt.

    Welt unerfahren, war er noch immer in großer Not, denn er vermochte weder eine Entschuldigung, noch ein liebes Wort hervorzustoßen. Ihre Wohlgestalt, ihr wunderschönes Antlitz und das Haar, das sich goldblond über die Schultern ergoss, hatte in ihm ein Wirbel von Wonne erzeugt, so dass er knabenhaft erbebte. Jugendliche Scheu hinderte ihn, das holde Wesen anzusprechen.

    Gleichsam einem unsichtbaren Hauch, rieselte eine erregende Seligkeit durch sein Herz. Er dachte: ist das Liebe auf den ersten Blick? …

    In jenem Augenblick erhob das zauberhafte Wesen ihr Antlitz Karl entgegen. Und mit einem eigenwilligen Zug um den Mund sagte sie mit einer liebkosenden Stimme: „Träumen Sie weiter, junger Mann, und lassen Sie sich beim Träumen nicht aufhalten!"

    Und schon schritt sie erhobenen Hauptes davon. Karl blickte ihr wie ein ertappter Dieb nach. Ihr Schritt war leicht und voller Grazie. Der Klang ihrer hellen Stimme hatte ihn in einen erhebenden Zustand versetzt. Am liebsten hätte er sich niedergekniet und gebetet.

    In der folgenden Nacht träumte Karl von ihr. Das Sonnenlicht fiel mit mildem Scheine auf das liebreizende Antlitz. Das kindliche Mienenspiel ihrer Gesichtszüge war verschwunden. Sie war weiblicher, reifer, schöner geworden, wie nach dem Aufbrechen einer Knospe zur Blüte hin. Sie raffte die Flut ihrer Haare, beugte sich ihm entgegen, und ihrer beider Lippen hatten sich im Kuss vereinigt. Karl fühlte eine unauslöschliche Glut in seinen Adern lodern.

    War das ein gutes Omen?

    Wann wird er sie Wiedersehen, die schöne Unbekannte, die Traumprinzessin? Wird er am Ende enttäuscht sein?

    In den Tagen danach strich er suchend durch die Straßen und Gassen der Stadt. Auch im Park suchte er sie vergebens. Sein Herz war voller Traurigkeit. Alles was ihm blieb, war ein Hauch von Seligkeit und eine große Sehnsucht nach ihr. Karl trug eine neue Welt in sich.

    2. Kapitel

    Freiwillig zur Wehrmacht

    Als im Jahre 1940 der Herbstwind über das Land und durch die Bäume fuhr, buntes Laub von den Ästen riss und es raschelnd durch die Straßen fegte, ging Karl, nun sechzehn Jahre alt, mit flammender Begeisterung für Hitler zum Wehrkreiskommando. Zwei Freunde gingen mit ihm. Sie meldeten sich freiwillig zur Wehrmacht. Sie glaubten in ihrer kindlichen Naivität der Krieg sei ein berauschendes Abenteuer, in das sie sich stürzen müssten. Ein Knabentraum, der in ihnen glühte, sollte endlich in Erfüllung gehen. Die kleinlichen Sorgen des Alltags waren nach ihrer Ansicht nicht mehr gefragt. Der Krieg, der seid einem Jahr in Europa tobte und von den Trommlern des Reiches gerühmt wurde, hatte in ihnen große Gefühle, wie Vaterlandsliebe, Wagemut, Kampf und Opferbereitschaft geweckt. Mit Inbrunst und hingebungsvoller Treue dachten sie an den Führer, der die Flamme der Begeisterung in ihren Herzen entfacht hatte. Für sie war Adolf Hitler der große Staatenlenker, der grandiose Schmied, der die Zukunft Deutschlands neu gestaltete und die Welt in Besitz nehmen wollte.

    Jetzt, wo es um Deutschlands Wehrhaftigkeit ging, so meinten die Jünglinge, dürfte man keinesfalls abseits stehen. Mit der Waffe in der Hand wollten sie einen grandiosen Beitrag zum Endsieg leisten. Die Feinde mussten unbarmherzig geschlagen werden. Man durfte ihnen keine Atempause gönnen. Es galt ununterbrochen auf sie ein zu prügeln, bis keiner mehr von ihnen sein Haupt erheben konnte.

    Hatte der Führer nicht schon im Januar 1939 verkündet, dass die westlichen Plutokraten und das Weltjudentum Deutschland in einen Krieg ziehen wollen? Der Führer hatte diesen Anschlag auf Deutschlands Friedenswillen mit einem klugen Plan vereitelt, so stand es in den Zeitungen. Sie verkündeten, dass er als erstes das dreckige Polen züchtigte, das in einer perfiden Aktion, wie berichtet, den Sender Gleiwitz¹ in Oberschlesien überfallen hatte. In Polen wurden die Volksdeutschen, genau wie im Sudetenland diskriminiert, sie waren Terrorakten ausgesetzt; ihre Vertreibung wurde organisiert.

    Kein Zweifel – Karl, ein treuer Hitlerjunge, war voll und ganz patriotisch eingestellt. „Hasserfüllt sehen andere Völker und ihre klein geistigen Politiker auf Deutschland herab, weil sie uns um unseren genialen Führer beneiden", sagte er auf Weg zum Wehrkreiskommando zu seinen Freunden. Es war wie ein Gelöbnis in dieser schicksalhaften Zeit an den Führer.

    Mit seinen Freunden hatte er begeistert den Beginn und den Verlauf des Krieges verfolgt, und ihnen war die Brust geschwollen, als Deutschlands Soldaten innerhalb von drei Wochen die polnischen Truppen hinweggefegt hatten.

    Danach, im April 1940, wurden Dänemark und Norwegen durch Heer und Marine in einem Blitzunternehmen besetzt. Es hatte kaum Verluste gegeben. Welch geniale Strategie des Führerhauptquartiers, den Engländern, die die Länder besetzen wollten, zuvorzukommen.

    Kaum war die Freude über diesen kühnen Handstreich verebbt, stießen die

    deutschen Heeresverbände am 10. Mai 1940, unterstützt von den Luftstreitkräften über Holland, Belgien und Luxemburg, in die französischen Gebiete hinein. In nur sechs schicksalsträchtigen Wochen, lag die französische Armee geschlagen am Boden und wurde zur Kapitulation gezwungen. Welch grandioser Sieg!

    Diese Erfolge der Wehrmacht auf den Schlachtfeldern Europas, erschienen den jungen Burschen wie ein Fingerzeig Gottes auf die Größe des Führers und dessen strategische Fähigkeiten.

    Karl glaubte sogar, die Schlachten Alexander des Großen, der Griechen, die von Cäsar und Hannibal, Arminius, Alarichs und Tschingis Khans, die der Türken, der Angelsachsen, des Mohammed, Friedrich des Großen und Napoleons seien ein NICHTS gegen die Blitzkriege des Dritten Reiches unter Adolf Hitler! Daher klangen die Worte seines Hitlerjugend-Führers in ihm weiter fort, als der nach dem Sieg über Frankreich erklärt hatte: „Der Ruhm der deutschen Wehrmacht wird die Jahrtausende überdauern."

    Der Gestellungsbefehl

    Nach Monaten vergeblichen Wartens und der Musterung wenige Wochen nach der freiwilligen Meldung, erhielt Karl am 23. Mai 1941 den Gestellungsbefehl.

    Am Abend, von der Arbeit nach Hause kommend, überreichte ihm die Stiefmutter unter Tränen das Schriftstück.

    Herrgott, war er aufgeregt! – Sollte er jubeln? Ihm wurde ganz heiß. Er setzte sich still auf die Bank am Hauseingang und blickte versonnen auf das Dokument. Seine Glieder waren plötzlich wie gelähmt. Mit trockener Kehle las er Wort für Wort der Einberufung. Er begriff: Er hatte sich am 3. Juni 1941 in Neuruppin bei der Panzer-Ersatzabteilung 5 zu melden.

    Die Abendsonnenstrahlen fielen auf sein heißes Gesicht. Langsam ließ er das Papier sinken. Nun war die Zukunft klar. Mutter setzte sich stumm neben ihn. Tränentau glitzerte in Ihren Wimpern.

    Seine leibliche Mutter war 1927, kurz nach seinem dritten Lebensjahr, gestorben. Ein Jahr später hatte Karls Vater eine Frau neu gewählt und ins Haus genommen. Seit jener Zeit war Karls Schicksal mit dem der Stiefmutter fest verbunden. Sie war ihm wie seiner vier Jahre älteren Schwester und den drei nach ihm geborenen Kindern eine vorbildlich sorgende und zärtlich liebende Mutter, an Fleiß, Umsicht und Willenskraft nicht zu übertreffen. Sie hatte starke Arme, ein gutes Herz und einen respekteinflößenden Charakter. Und neben der Kindererziehung und der Arbeit im Haushalt, dem Strümpfe stopfen, dem Nähen und dem Bügeln, rackerte sie sich vom frühen Morgen bis Mitternacht ab. Dazu musste sie auch noch auf dem Rittergut arbeiten. Mutterliebe – plötzlich wusste Karl, das ist ein göttliches Geschenk, wie ein blinkender Lichtstrahl in dunkler Nacht, der das Herz eines dankbaren Kindes höher schlagen lässt. Und er war ihr unendlich dankbar für ihre Liebe, die sie ihm zeitlebens geschenkt hatte.

    In jenem Augenblick; da Karl in den Abendhimmel wie gedankenversunken blickte, begriff er plötzlich Mutters große Unruhe, ihre quälende Angst. Sie glaubte, ihn in diesem Krieg zu verlieren. Siebzehn Jahre hatte er in der Geborgenheit der Familie gelebt, davon umgab ihn die Stiefmutter zwölf Jahre mit ihrer sorgenden Hand. Sie hatte ihm Nestwärme und vieles mehr geschenkt. Nun wollte er, kaum flügge geworden, in die Welt hinaus fliegen, ohne zu bedenken, dass dort der unselige Krieg tobte und dort täglich abertausend Menschen gnadenlos gemordet wurden.

    Vier Tage später – Karl war sehr spät nach Hause gekommen, die Geschwister lagen schon im Bett – saß seine Mutter mit verweintem Gesicht in der Wohnküche am Tisch. Bei seinem Eintreten schnäuzte sie sich und hob ihre Augen wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Sie litt unter der schrecklichen Angst, ihren Mann, der seit dem 28 August 1939 Soldat war, und auch Karl zu verlieren.

    Er fragte: „Warum machst du dir das Leben so schwer? Liebevoll strich ihr übers Haar. „Mich, Mutter, wird der Krieg nicht verschlingen. Ich komme zurück! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

    Mit seiner Beteuerung wiederzukommen, versuchte er ein paar helle Strahlen auch in den letzten Winkel ihres Herzens zu tragen. Doch die Mutter hatte anderes im Sinn. Sie sprach mit leidenschaftlicher Stimme: „Weißt du, Karl, dass uns Hitler die besten Lebensjahre stiehlt, dass er alle Hoffnungen und Träume der Menschen in diesem blutigen Krieg ertränkt!"

    „Mutter! Karl war entsetzt, „was dichtest du dem Führer an? Er will doch nur das Beste für unser Volk. Er hat den Krieg doch nicht angefangen. Die ausländischen Feinde haben uns den Krieg aufgezwungen … Um meines Vaters Willen, versündige dich nicht!

    Doch in ihrer Empörung entstanden plötzlich Sätze, die groben Stichen im Brokat glichen. „Dein Vater, mein Sohn, wurde am 28. August 1938 in der Nacht eingezogen. Aber an jenem Tag war in Polen noch kein Schuss gefallen. Das heißt, Hitler hatte alles militärisch vorbereitet, um am 1. September 1939 in Polen einzufallen. Er hat den Krieg bewusst begonnen, auch wenn er sagte: ,Ab fünf Uhr fünfzehn wird zurück geschossen!’ Das war eine Lüge! Gott sei Dank, Vater lebt! Aber seit zwei Jahren gewährte ihm die Wehrmacht keinen Urlaub, obwohl sein Regiment in Frankreich liegt."

    Karl stimmte ihr zu. Dem Vater Fronturlaub zu verwehren, war eine Schikane der Offiziere, aber keineswegs Schuld des Führers.

    Einmal in Fahrt geraten, äußerte seine Mutter Gedanken, die Karl nie zuvor von ihr vernommen hatte. Selbstbewusst erklärte sie: „Seit zwei Jahren lastet nun schon die gesamte Arbeit im Haushalt, im Garten, im Stall und in der Erziehung der drei Gören auf meinen Schultern. Hinzu kommt die Schinderei auf der Domäne zur Versorgung der Kriegsgefangenen. Ohne Krieg und mit eurem Vater wäre alles entschieden leichter – und schöner. Und ich frage dich, Karl, wen kümmern die Sorgen und Nöte einer Frau und Mutter – etwa den Führer? – Nein, Karl, den interessieren nur Schlachten zu seinem Ruhm. Er braucht Siege über andere Völker, weil er sich im Erfolg sonnen möchte. Die Frau wird in diesem Staat nur als Arbeitstier und Gebärmaschine benötigt."

    Karl hatte mit Verwunderung den Worten der Mutter gelauscht. Er war wie betäubt und fragte sich, woher kamen diese Ansichten so plötzlich? Wenn sie sich in ihrer Erbitterung in der Öffentlichkeit so äußerte! – Nicht auszudenken! Das wäre nicht nur ihr Verderben, sondern auch das der Familie. Denn überall lagen Leute auf der Lauer, die nicht genehme Ansichten der NSDAP zutrugen.

    Sonderbar! Hatte ihr Bruder, Hermann, der vor wenigen Tagen zu Besuch gewesen war, ihr diesen Unsinn vermittelt. Warum nicht. Der Onkel hatte Hitler und das Dritte Reich bei jedem Besuch verurteilt. Hatte er nicht vor Jahren zum Vater gesagt, Hitler sei das größte Unglück für den kleinen Mann, da er ihm Lügen wohl dosiert ins Hirn träufelt.

    „Hat dir dein Bruder vor ein paar Tagen diesen Hohn auf den Führer eingeblasen?"

    Jäh funkelten die Augen der Mutter vor Zorn. „Erlaube, wie sprichst du von Hermann! Niemand außer mir weiß, dass er in allen Fragen der Politik recht hatte. Er hat vorausgesagt, Hitler wird den Krieg auslösen. Aber niemand wollte ihm glauben. Bisher, Karl, habe ich es vorgezogen zu schweigen, das war falsch. Stumm und mit zusammengebissenen Zähnen anderen zuzuhören ist so, als wäre man ein Krüppel. Für mein Schweigen musste ich, um des lieben Friedenswillen, mit bitteren Tränen zahlen. Die Zeit des Mundhaltens ist vorbei. Ab sofort werde ich meine Stimme gegen das Sklavenleben der Frauen erheben."

    „Mutter! Karl wurde richtig böse, „lass bitte die Kirche im Dorf. Ich verstehe deine Klage über bestimmte Dinge, die nicht in Ordnung sind, aber du hast keinen Grund, den Führer zu verunglimpfen.

    Karls Mutter seufzte, faltete die Hände und betete flüsternd, hob ihre Augen und sagte mit Tränen in den Augen: „Karl, einmal läuft einem das Herz und der Mund über. Nie hatte ich Gefallen an einer Lüge oder an Unaufrichtigkeit. Auch heute nicht. Versteh, es gibt für mich nichts Schlimmeres als den Krieg, der mir den Mann und euch den Vater raubt. Und jetzt gehst auch du in eine ungewisse und gefahrvolle Zukunft … Auch wenn ich nicht deine leibliche Mutter bin, bist du für mich wie ein echter Sohn. Die Trennung zerreißt mir fast das Herz."

    ,Gewiss’, dachte Karl, ,tut es gut die Liebe der Mutter, ihre Sorge und ihre Herzenswärme zu spüren’. Auch hätte er ihr gern eine Nettigkeit gesagt, doch als kerngesunder Hitlerjunge, bestand seine Pflicht darin, dem Vaterland treu zu dienen und nicht mit gebundenen Händen zuzusehen, wie an der Front verantwortungsbewusste Soldaten für ein neues Deutschland und für eine neue Weltordnung kämpften. Der Militärdienst ist und bleibt eine heilige Sache.

    „Und noch eins, sagte Karls Mutter in seine Gedanken hinein: „In ein paar Tagen wirst du die Uniform tragen, das ist nun unabänderlich, zugleich aber unheilvoll. Deine Entscheidung für den freiwilligen Kriegsdienst hat dein Vater befürwortet – leider! Heute weiß ich, es war falsch, dazu zu schweigen. Immer habe ich mich untergeordnet, getan, was der Vater wollte. Was er sagte, war Gesetz.

    In ihren Augen blitzte jäh ein Feuer auf, das lange in ihrer Seele, tief verborgen, geglimmt haben musste. Die Frau, die sich untergeordnet hatte und ohne aufzumucken von früh bis spät die Familie umsorgte, alle Schmerzen und Leiden erduldet hatte, warf ihre Duldsamkeit jäh ab. Selbstbewusst fuhr sie fort: „Die Bibel, Karl, schreibt vor, dass die Frau dem Mann untertan sei. Dasselbe fordert auch die Männergesellschaft, in der wir leben. Und wenn es nach den Herren von der Wirtschaft und der Politik geht, dann soll es bis in alle Ewigkeit so bleiben. Es steht mir nicht zu, dir oder Vater die Leviten zu lesen, doch in Zukunft werde ich mit meiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg halten."

    Lange saßen beide noch beisammen, doch als ein kühler Luftzug durchs offene Fenster drang, wünschten sie sich Gute Nacht. An diesem Abend konnte Karl lange nicht einschlafen. Wie benommen ging er zum Fenster, blickte zur Sichel des Mondes. Ein undefinierbares Gefühl stieg in ihm auf, das bohrte und biss. ,Wo ist nur der Ursprung für die Gefühle und Gedanken, welch geheimnisvolles Gesetz der Verquickung zwischen Schein und Wirklichkeit gibt es. Wo ist der Keim des neuen Willens der Mutter’, fragte er sich. Was wusste er schon mit seinem siebzehn Lenzen. Obwohl er noch lange grübelte – Erkenntnisse oder eine Offenbarung erlangte er an diesem Abend nicht. Sein Schlaf wurde von Alpträumen zerrissen.

    Es heißt Abschied nehmen

    Der letzte Tag seines zivilen Lebens – es war ein Sonntag – entstieg einer milden Frühlingsnacht. Der Himmel, wolkenlos, verkündete einen heißen Tag. Hoch im Äther jubilierten Lerchen. Im Gebüsch vor Karls Fenster tschilpten aufgeregt muntere Spatzen. Schwalben schossen Futter suchend durch den weiten Domänenhof.

    Nach einem gemütlichen Frühstück mit der Mutter und den Geschwistern zog es Karl zu den Großeltern väterlicherseits. Die Eltern der Mütter waren verstorben. Langsam ging Karl durch die Straßen. Die Vormittagssonne schwebte schon dem Zenit entgegen. Heiß brannten ihre Strahlen aufs Land. Vor der Kirche, zur Kirchgasse hin, zog der Duft von Linden, der sich mit den scharfen Gerüchen des Schafstalls vermengte, in Karls Nase. Zwei Amseln, auf einem Grasstück hüpfend, flatterten angesichts Karls Näherkommen davon.

    Karls Blick ging in die Ferne, wo hinter dem Ort das Goldgrün der Hügel und Berge leuchtete. Die Sehnsucht, dort hinauf zu wandern musste er sich heute versagen. In die Kirchgasse einbiegend, stand er wenige Augenblicke danach vor dem Haus, in dem die Großeltern wohnten. Mit gemischten Gefühlen betrat er den Hof. Der Großvater, ein großer, stattlicher Mann, der einst Hünenkräfte besessen, stand vorm Kaninchenstall und fütterte. Die Großmutter, rundlich, mit offenem gütigem Antlitz, das stets warm leuchtete, saß im Schatten des Hauses und strickte. Bei Karls Erscheinen zog ein helles Aufleuchten in ihre dunklen Augen. Sie legte das Strickzeug zur Seite und rief: „Opa, Karli ist gekommen!"

    Sie stand auf, umarmte Karl und drückte ihn fest an ihre Brust.

    Leise sagte sie zu ihm: „Es ist schön, mein Junge, dass du uns noch einmal besuchen kommst! In ihren Augen schimmerten Tränen. Der Großvater verriegelte den Kaninchenstall und trat zu den beiden. Strahlend sagte er zur Großmutter: „Nun lass den Karli mal wieder los. Du erdrückst den Jungen noch, bevor er Soldat wird. Auch er schloss seinen Enkel herzlich in die Arme. In seinem schmalen Gesicht traten die Wangenknochen seit einiger Zeit immer stärker hervor. Sein Kaiser-Wilhelm-Bart war aber wie eh und je gezwirbelt. Die Männer setzten sich zur Großmutter auf die Bank. „Schön, mein Junge, meinte der Großvater, „dich noch einmal zu sehen, denn man weiß ja nie, was im Krieg alles passieren tut.

    „Male den Teufel nicht an die Wand! sagte die Großmutter zornig. Ihre Stimme zitterte, als sie erregt fortfuhr: „Denk doch nur an unseren Paul, der in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr von blutiger Hand in Polen gemordet wurde. Und für wen?

    Betretenes Schweigen folgte. Auch wenn die Großmutter elf Kindern das Leben geschenkt hatte, war ihr doch jedes Kind ans Herz gewachsen. Unfassbar war daher der Tod des zweitjüngsten Sohnes.

    Karl konnte die Verbitterung der Großmutter verstehen. Auch wenn die Familie groß war, so waren sie immer ein Herz und eine Seele gewesen. Es gehörte bis zu Kriegsbeginn zur Selbstverständlichkeit, dass die Kinder und Enkel sich an den Sonntagnachmittagen bei den Großeltern einfanden, um Kaffee zu trinken, zu plaudern, Skat zu spielen oder einfach nur dabei zu sein. Die Enkel spielten oder tollten herum, hörten Grammophon oder lauschten den Witzen, die Onkel Gustav lachend erzählte.

    Nach einem kurzen Schweigen erzählten die Großeltern von ihrem harten und entbehrungsreichen Dasein. ,Nun müssten sie mit Bitternis erleben’, äußerte sich Großmutter, ,dass nicht die Alten sterben, sondern die Blüte der Jugend auf den Schlachtfeldern sinnlos verreckt.’

    „Und warum das alles? fragte die Großmutter mit hochrotem Kopf. Ihre Antwort hatte sie auch sofort parat: „Weil die Politiker der Welt unvernünftig sind und sich nicht einigen können.

    Großvater kniff die Augenlider Spalt breit zusammen. Er stieß Karl an. „Das ist Großmutters letzte Weisheit, meinte er gelassen. „Von großer Politik versteht sie nichts, wie fast alle Frauen. Aber sie sind gern feurige Scharfrichter. Wir, mein Junge, sind die Söhne des Vaterlandes. Unsere Aufgabe ist es, mit Leib und Seele die Heimat zu verteidigen und gehorsam unsere Pflicht zu erfüllen. So war es schon beim Kaiser, als ich treu gedient habe. Ich war ohne Furcht. Sei auch du ein tapferer Junge. Zufrieden strich er seinen Kaiser-Wilhelm-Bart.

    Großmutter warf den Kopf zurück. Ihre Augen funkelten zornig.

    „Und das ist deines Großvaters Weisheit: Untertan zu sein und zu gehorchen! Es zerreißt mir fast das Herz, unsere Kinder für einen sinnlosen Krieg opfern zu müssen. Dazu haben wir Frauen die Kinder doch nicht zur Welt gebracht."

    Karl zog sie an seine Brust und küsste ihre Stirn. „In kurzer Zeit, Oma, tröstete er sie, „kehre ich mit den Siegern nach Hause zurück. Aber erst einmal verlasse ich Volkstedt, um als Patriot und Panzersoldat mitzuhelfen, den Krieg zu gewinnen.

    „Junge, es ist doch entsetzlich, wenn einem Kugeln um den Kopf sausen und von allen Ecken starrt dich der Tod an … Der Krieg ist ein Riesenunglück, weil er nur Elend und Jammer bringt."

    „Oma, wir deutschen Patrioten dürfen keinesfalls knieweich werden. Der Geist, der unser Volk für einen siegreichen Feldzug begeistert, fordert auch meinen selbstlosen Beitrag. Angesichts der feindlichen Bedrohung sind unsere jugendlichen Seelen in heiliger Pflicht entbrannt, um das Vaterland allseitig zu schützen."

    In diesem Augenblick läuteten die Glocken der Kirche zum Gottesdienst. Weithin hallten sie anschwellend und kraftvoll tönend durchs weite Tal. Da Karl die Absicht hatte, noch einmal den Gottesdienst zu besuchen, verabschiedete er sich in aller Herzlichkeit von den Großeltern.

    Ein kühler, erquickender Luftzug schlug Karl in der Kirche entgegen. Seine Schritte verhallten in der Stille des Kirchenschiffes. Er zwängte sich in eine leere Bank. Wie an allen Sonntagen waren fast nur Frauen und Kinder zum Gottesdienst erschienen. Ihr Gebet galt den fernen Vätern, Söhnen und Brüdern.

    In die Stille nach dem letzten Glockenschlag, ertönten die gewaltig brausenden Klänge der Orgel. Wie vom klaren Himmel kommend, rauschten die empor schwellenden Melodien in die Herzen der Besucher. Tief bewegt lauschte Karl den seligen Tönen, die, das Göttliche verkündend, quellend in seine Seele drangen. Karl schien in der Flut der jubelnden, unvergänglichen Orgelklänge zu versinken.

    Für einen Augenblick verstummte die Orgel. Sekunden banges Schweigen. Aber schon erhob das Kircheninstrument erneut die Stimme, leis und zart, einem göttlicher Hauch gleich, schwebte der Klang wie silberhelles Licht durch die Weite des Kirchenraumes, brach sich schwingend am hohen Gewölbe und stieg farb-und nuancenreich, gleich einem zartem Engelschor, schlicht und anrührend herab. Welch ein Genuss! Welche Erhabenheit! Karl stockte der Atem.

    Seine Blicke gingen zum Superintendenten, der die Kanzel bestiegen und mit einer Predigt begonnen hatte. Mit seiner sonoren Stimme zitierte er aus dem Evangelium des Matthäus: „Und Jesus Christus der Herr sagte: ,Ihr sollt nicht wähnen, dass ich kommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert’. (Kapitel 10, Vers 34)."

    Die strengen Augen des Superintendenten suchten die Blicke seiner Schäfchen, bevor er weitersprach. „Und nach diesem Evangelium handelt unser alles geliebter Führer Adolf Hitler. Das Wort des Herrn ist auch seines. Er hob das Schwert des Herrn auf, mit dem Ziel, das Böse dieser Erde zu züchtigen und auszumerzen. Wie aber wollen wir der Feinde giftige Zähne ausbrechen, wie ihre Tyrannei tilgen, wenn nicht durch das Schwert!"

    Karls Gedanken schweiften ab. Seine Augen folgten dem Sonnenlicht, das schräg durch die Kirchenfenster fiel und goldfarben auf die Bänke und den Fußboden floss. Unter dem Lichteinfall erstrahlte plötzlich das Bild des Gekreuzigten in den schönsten Farben. Voller Bewunderung verweilten seine Augen auf dem Gemälde.

    Der Gottesdienst ging allmählich zu Ende. Noch einmal erklang wohltönend die Orgel. Unfassbar, welche Kraft und welch göttliches Feuer dem wundervollen Instrument zu entlocken war!

    Karl strebte dem Ausgang zu. Seine Seele hatte Kraft getrunken. Zufrieden schlenderte er nach Hause.

    Den Nachmittag verbrachte er mit seinen besten Freunden, dem Fritz, dem Paul und dem Heinz in der Schenke „Zum Frankenkrug". Nachdenklich, Karls Abschied vor Augen, kramten sie ihre Kinder und Jugenderlebnisse hervor. Schmunzelnd erzählt und phantasievoll ausgeschmückt, wurde so manch harmlose Kinderei plötzlich zu einer Räuberpistole. Jeder wollte in der Abschiedsstunde eben noch einmal seine Fabulierungskünste darstellen.

    Kurz bevor Karl die Schenke verlassen wollte, betrat ein SS-Mann das Lokal. Er richtete sich zu voller Größe auf, schlug die Absätze zusammen, riss den rechten Arm empor und rief laut: „Heil Hitler!"

    Alle Gäste wandten sich ruckartig nach ihm um.

    „Ich werd verrückt, rief Paul, „das ist doch Baldi, der Cherusker!

    Er sprang auf, begrüßte den Neuankömmling mit herzlichen Worten; schüttelte ihm kräftig die Hände.

    Aller Augen hingen an dem Schwarzuniformierten. Baldi, der nach dem Abitur zur SS gegangen und einundzwanzig Jahre alt war, wirkte hochgewachsen und gertenschlank in der eng anliegenden Uniform, schlanker noch, als er schon war. Er hatte einen schmalen Schädel, blondes Haar, blaue Augen und ein kühn wirkendes Gesicht. Er verkörperte in natura die germanische Rasse – wie sie stets in Bildern und Dokumenten vorgeführt wurde.

    Baldi ging freundlich grüßend durch den Schankraum. Auf jeden Tisch klopfte er zum Gruß mit dem Fingerknöchel hart auf die Tischplatten.

    Mit Bekannten wechselte er ein paar freundliche Worte oder rief ihnen nichtssagenden Floskeln zu.

    Zielstrebig trat er an den Tisch von Karl und seinen Freunden.

    „Darf ich mich zu euch setzten? Sie nickten. Karl zog von nebenan einen freien Stuhl zum Tisch. Baldi setzte sich. Schon zog er ein Zigarettenetui aus einer Uniformtasche und reichte es herum. „Bedient euch! Karl lehnte ab. Ein Streichholz flammte auf. Den Rauch genießend einsaugend, meinte Heinz: „Gute Sorte". Danach blies er den Rauch mit spitzem Mund aufwärts .

    „Stammt aus Frankreich, erklärte Baldi prahlend, „dort gibt es neben guten Zigaretten auch anderes fürs Gemüt: Cognak, herrlich duftendes Parfüm, elegante Kleider, Schmuck. Alles, was den Landser so interessiert, und was in der Heimat begehrenswert ist. Er lehnte sich zurück, um den Rauch seiner Zigarette mit einem zum O geformten Mund in Kringeln zur Decke zu blasen. Sich vorbeugend flüsterte er mit lächelnden Lippen: „Wie ich hörte, feiert ihr den Abschied von Karl. Stimmt, nicht wahr?"

    „Stimmt, erwiderte Karl und fragte zurück. „Und wer hat dich so gut informiert?

    Baldi zwinkerte mit dem linken Augenlid. „Na, wer wohl? – Richtig, meine Schwester, die Inge. Schon gestern Abend, kaum war ich angekommen, unterrichtete sie mich über das Neueste aus dem Dorf. Und als sie von dir sprach, Karl, bekam sie regelrecht heiße Ohren. Ich glaube, sie ist wie ein Hündchen in dich verschossen."

    Karl errötete bis unter die Haarwurzeln. Seine Freunde wieherten schadenfroh. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass Karl die Inge mit dem pausbäckigen Gesicht, der Stupsnase, dem strohblonden Haar, nicht ausstehen konnte. Glücklicherweise war der Wirt an den Tisch getreten. Er räumte die leeren Biergläser ab. Die Jungs mochten ihn. Er war gutmütig, verstand Spaß, und man rühmte seinen Verstand und seine Umgänglichkeit, mit jedem Gast auszukommen.

    Vertraulich fragte er Baldi: „Was darf ich servieren?"

    Baldi zupfte ihn am Ärmel, damit er sich zu ihm herab beuge. „Eine von meinen Flaschen", flüsterte Baldi.

    Grinsend schlurfte der Wirt davon. Gleich darauf kehrte er mit einer Flasche Cognak und fünf Gläsern zurück.

    Baldi tippte Karl auf die Schulter und bemerkte: „Mein lieber Karl, das ist ein edler Tropfen aus einer französischen Brennerei. Bald wirst auch du solchen oder ähnlichen Cognak zu schätzen wissen, vor allem, wenn du nach Frankreich versetzt wirst. Dort kannst du dich frei bedienen."

    Baldis Augen wanderten dabei zum Nachbartisch, wo zwei junge Frauen saßen. Die eine mochte vierundzwanzig und die andere sechsundzwanzig Jahre alt sein. Es waren Fremde. Er winkte sie heran. Ihre Augen strahlten. „Et jibbt eben noch Kavaliere, erklärte die Ältere, als sie an den Tisch rückte. Baldi rief: „Noch zwei Gläser, Herr Fink. Schnell standen zwei weitere Gläser auf dem Tisch. Baldi schenkte ein. Er erhob sein Glas und prostete: „Meine Damen, Jungs, auf die Frauen und das Kriegsglück!"

    Karl schüttelte sich beim ersten Schluck. Wie die Freunde, kippten sich auch die Frauen den Cognak mit einem Hieb hinter die Binde.

    „Sie sind eben nichts Gutes gewöhnt, junger Mann", sagte die ältere der Frauen zu Karl, der ein zweites Glas abgelehnt hatte. In der nächsten Stunde erfuhren die Burschen, dass beide Schwestern aus Berlin waren. Ihr Haus in Berlin wurde für neue Bauten in der Reichshauptstadt eingeebnet. Seit zwei Tagen wohnten sie bei Verwandten im Ort.

    Die Gläser wurden erneut gefüllt und auf das Wohl der leidgeprüften Frauen und Kinder geleert.

    Karl hielt sich beim Trinken raus. Schon stand die zweite Flasche auf dem Tisch. Baldi, vom Alkohol in Fahrt geraten, begann von seinen tollen Erlebnissen in Frankreich zu berichten. Dabei blieben seine Augen an der älteren der beiden Frauen hängen. Sie war die hübschere. Nach Baldis Darstellung lagen die Französinnen den Deutschen zu Füßen. Seine Augen sprühten förmlich, als er von nächtlichen Gelagen bei Champagner, erstklassigen Weinen und den Gaumen reizendem Cognak berichtete, wie auch von Bordellbesuchen.

    Hingerissen hingen die jungen Frauen an seinen Lippen, als er schilderte, welch wohlriechende Düfte den französischen Parfüms eigen sei und welch herrliche Garderobe in feinen Geschäften liege.

    Genießerisch sprach er auch vom Traum seines Lebens: in Paris zu wohnen. Es sei ein einziger Frühling für jeden jungen Deutschen, dort die Freiheit im Krieg zu erleben. Und noch nie hätte das deutsche Volk vor solchem Reichtum und Wohlstand gestanden, wie gerade jetzt.

    „Nur noch ein einziger Sieg muss an Deutschlands Fahnen geheftet werden: der Sieg über das perfide England. Dann ist der ,Griff zur Weltmacht’, wie Göring 1940 meinte, in unserer Hand."

    Trunken vom Alkohol und Baldis Schwadronieren über die Zukunft glühten die Wangen der Frauen und die der Freunde. Fast nüchtern verließ Karl die Runde. Alle wünschten ihm Glück und eine gute Wiederkehr. Während Karl den Freunden zum Abschied die Hände schüttelte, erzählte Baldi erregt den Frauen eine Zote, worüber sie ausgelassen lachten. Beim Verlassen der Gaststube hatte sich Karl noch einmal umgedreht. Er sah, wie die ältere der Schwestern auf seinen Stuhl gerutscht war. Sie strich Baldi schmeichlerisch über die Schläfe.

    Die Schwarze Rose

    Den Abend hatte sich Karl für einen Kinobesuch freigehalten. Der Flammenglast des Tages war hinter den Bergen verglüht. In der einsetzenden Abenddämmerung ging er gelassen zum Kino des Dorfes. Unter den Bäumen lagen die ersten blaugrünen Schatten der heraufziehenden Nacht.

    Karls Augen genossen noch einmal das heitere und verschwiegene Grün zwischen den Häusern und an den Hängen der Berge. Diese Schönheit der Landschaft erzeugte in ihm eine Andacht,

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