FLORIAN GROBIAN: Eine Sommergeschichte
()
About this ebook
Read more from Erhard Schümmelfeder
BRAIN: Zwei außergewöhnliche Geschichten Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDas Ende der Unendlichkeit: oder Die Lügengeschichten des Friedolin Riemenspanner Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsAUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND: 24 wirrtuose Geschichten über ALLES und MEHR oder WENIGER Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsMann und Frau das Fernsehprogramm ansehend: Eine Daumenkino-Geschichte aus der Fernsehhöhle Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDIE ERMORDUNG MEINER FRAU: Zehn rabenschwarze Kerbholz-Geschichten Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsKrieg im Frieden: Eine Realsatire zum besseren Fairständnis der Welt Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsKUNGELBOY: Roman Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDie Gesellschaft der Bäume: Ein Bilderbuch für WALDWEGetarier Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDIE IDEEN DES HERRN PUMKIN: Roman Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDER MANN OHNE GEIGENKAFTEN: Eine Groteske Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsBegegnungen mit Baumgeistern: Ein Gedicht, drei Satiren und fünfundfünfzig prominente Baumgesichter Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDER SATZBAU VON BABYLON: Wirrtuose Flunkergeschichten, bei denen sich die Balken biegen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsSIEBEN JAHRE STUBENARREST: Die Kopfabenteuer des Felix Bernstein Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsSeltener Besuch: oder Der Junge der keine Probleme hatte Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDie Verwandlungen der Vier: Eine Ideen-Sammlung für die ganze Familie Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsPICKNICK IN PLUNDERLAND: Ein Roman für Leser ab 108 Jahren Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsFIGUREN EINES SPIELS: und andere Satiren #13 Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsHARRY CHRISTMAS: oder Der Bettler mit der Sense - Eine weihnachtliche Fußballade Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsENDE DER BEDENKZEIT: Erzählungen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDas Klingeln des Telefons am Abend: Eine Novelle aus 12 Tönen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsMAD MOISELLE: oder Das Sterbezimmer der Madame Duvalier Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDIE SCHULE DER ALLESKÖNNER: Eine experimentelle Kopfkino-Geschichte mit ungewissem Ende Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsARGUMENTE DER ANKLAGE: Erzählungen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsK E S S: Erzählungen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDER GEHIRNERSCHÜTTERTE HERR CAMENBERT: oder Das Weiße im Auge des fauchenden Löwen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsWILHELM TELL ME A STORY: und andere Satiren #11 Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDenkzettel eines Zweiflers: Unzensierte Gedanken Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDER MANN DER IMMER UNRECHT HATTE: Unvergessliche Vorlese-Geschichten für Kinder, die was wollen ... Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsGeflegelte Worte: Satiren & Aphorismen & Bilder Rating: 0 out of 5 stars0 ratings
Related to FLORIAN GROBIAN
Related ebooks
Sekt & Lederhose Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsHinter jeder Tür wartet neues Glück: Liebesgeschichten Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDas Lachen der Yanomami Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsSchuldsaldo Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsSwinging Village Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDie Einsamkeit der Ersten ihrer Art: Roman Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsLobarg: Wer willst du sein? Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsWolke 7 verpasst: Liebesroman Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDie Schnelligkeit der Dämmerung Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsTale of Caleno'k: Die Kräfte der Tiere Rating: 0 out of 5 stars0 ratingstodschick verliebt Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDas Stadtturmmäderl: Erinnerungen an ein Leben im Straubinger Stadtturm 1945-1962 Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsStille aus Liebe Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsPlankton: Das Büro 3 Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsTessa: Die Wandlung Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsTÜREN, TORE & PORTALE: 55 fantastische Kurzgeschichten Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsWENN DIE TOTEN SPRECHEN: Der Krimi-Klassiker! Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsThe Fairy Teacup Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDubliner Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsTiefenrausch: Rapture in the deep Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsLand der Mädchen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDie Frau am Kreuz Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDonnerschlag und Rattenschiss! Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsOstfriesenkind: Roman Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsEine ganz normale Hure Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsRaunächte: Das Grauen in Gestalt eines Menschen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsLa Catherine Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsIn irrer Mission Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsWhite Sleep - Unschuldig in den Tod Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsErbin der Zeit: Die Schlacht von Pyrinas Rating: 0 out of 5 stars0 ratings
General Fiction For You
Heinrich Heine: Gesammelte Werke: Anhofs große Literaturbibliothek Rating: 5 out of 5 stars5/51984 Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsGrimms Märchen: Mit hochauflösenden, vollfarbigen Bildern Rating: 4 out of 5 stars4/5Schöne neue Welt von Aldous Huxley (Lektürehilfe): Detaillierte Zusammenfassung, Personenanalyse und Interpretation Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDer Struwwelpeter - ungekürzte Fassung: Der Kinderbuch Klassiker zum Lesen und Vorlesen Rating: 4 out of 5 stars4/5Die Welle: In Einfacher Sprache Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsSchneewittchen und die sieben Zwerge: Ein Märchenbuch für Kinder Rating: 4 out of 5 stars4/5Denke (nach) und werde reich: Die 13 Erfolgsgesetze - Vollständige Ebook-Ausgabe Rating: 5 out of 5 stars5/5Italienisch lernen durch das Lesen von Kurzgeschichten: 12 Spannende Geschichten auf Italienisch und Deutsch mit Vokabellisten Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsWalter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke: Neue überarbeitete Auflage Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsImmanuel Kant: Gesammelte Werke: Andhofs große Literaturbibliothek Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsGesammelte Werke: Romane, Memoiren, Essays, Novellen und Erzählungen Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDer Tod in Venedig Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsSämtliche Creative Writing Ratgeber: 5 x Kreatives Schreiben Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsJames Bond 01 - Casino Royale Rating: 4 out of 5 stars4/5Annas Tagebuch: A Short Story for German Learners, Level Elementary (A2): German Reader Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDie Edda - Nordische Mythologie und Heldengedichte Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsGesammelte Werke Gustav Meyrinks Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDas Nibelungenlied Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsAlois Irlmaier 1894-1959: Der Seher von Freilassing Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsHandbüchlein der Moral Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsDienstanweisung für einen Unterteufel Rating: 4 out of 5 stars4/5Der kleine Hobbit von J. R. R. Tolkien (Lektürehilfe): Detaillierte Zusammenfassung, Personenanalyse und Interpretation Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsKaiserin Elisabeth und die historische Wahrheit Rating: 0 out of 5 stars0 ratingsGermanische Mythologie: Vollständige Ausgabe Rating: 0 out of 5 stars0 ratings
Reviews for FLORIAN GROBIAN
0 ratings0 reviews
Book preview
FLORIAN GROBIAN - Erhard Schümmelfeder
Vorwort des Autors
Eine Erinnerung aus der Schulzeit
Als ich neunzehn Jahre alt war, führte ich ein Gespräch mit Wieland, einem Deutschlehrer. Er fragte mich nach dem Unterricht, als wir allein in der Klasse waren: »Sie schreiben?«
»Ich versuche es«, antwortete ich.
Er fuhr fort: »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was das Wichtigste für einen Schriftsteller ist?«
»Nein«, gab ich zu.
Er redete viel von der Magie der Sprache, von der Gefahr der Missdeutungen und vielem mehr. Der Satz aber, den ich nie vergessen werde, lautete: »Das Wichtigste für einen Schriftsteller ist - « Er unterbrach sich, dachte einen Moment nach und begann den angefangenen Satz von neuem: »Das Wichtigste für einen Schriftsteller ist, dass er Armut kennt.«
Aus: Denkzettel eines Zweiflers
FLORIAN GROBIAN
Das erste Telegramm meines Lebens erhielt ich mit dreizehn Jahren an einem Mittwoch im Sommer 1996 von meinem Cousin Berthold. Sooft ich an diesen sonnig-heißen Tag denke, höre ich immer zuerst das helle Klimpern der Münzen, die ich lose in meiner rechten Hosentasche bei mir trug: Es waren drei Fünfmarkstücke, selbst verdient an den Nachmittagen der ersten Ferienwoche in der Wohnung von Herrn Lindner durch das Vorlesen der Tageszeitung. Fünf Mark zahlte Herr Lindner, bei dem Mama einmal in der Woche den Hausputz erledigte, für meine täglichen Dienste.
Obwohl ich eigentlich ein wenig unglücklich darüber war, in diesem Jahr nicht in die Ferien fahren zu dürfen, gaben die lustig kichernden Münzen mir ein zuversichtliches und tröstliches Gefühl, als ich in den Dunklen Weg einbog und auf das Mietshaus mit der Nummer 38 zusteuerte. Hinter der verglasten Holztür des Hauses nahm ich den sich verflüchtigenden Bratkartoffelduft wahr, der sich mischte mit den Gerüchen von Bohnerwachs, Kaffee und Zigarettenqualm. Ich ging durch den gefliesten Flur, in dem meine Schritte leise nachhallten, zu unserer Wohnungstür. Die gedämpften Geräusche im Haus erinnerten mich an zurückliegende Sonntage, die begleitet waren von einer feierlich anmutenden Stille. Ganz plötzlich verflog dieser Eindruck, als ich eine Wasserspülung aus dem Obergeschoss rauschen hörte. Irgendwo in einer der drei Mietwohnungen wurde die Musik aus einem Radio lauter gestellt. Eine Waschmaschine summte. Im Haus räumte jemand Geschirr klappernd in einen Schrank. Ich nahm meinen Schlüssel, öffnete unsere Korridortür und ging über den Flur in die Küche.
»Mama!«, rief ich. »Bist du zu Hause?«
Ein kaum spürbarer Windzug strich durch die Wohnung. Als ich ins Wohnzimmer kam, sah ich die offene Balkontür. Mama trug draußen den Wäschekorb ans Ende der kleinen Gartenwiese, wo die Leinen zwischen den eisernen Pfählen gespannt waren.
»Suchst du mich?«, hörte ich sie rufen, als sie gerade eine rote Bluse meiner Schwester Barbara mit zwei Klammern aufhängte.
»Fünfzehn Piepen habe ich jetzt beisammen«, sagte ich und kletterte über die Balkonbrüstung hinunter in den Garten.
»Wie schön«, sagte Mama, zupfte einen dünnen Faden von dem Wäschehaufen und blies ihn fort in die Richtung des nahen Bahnhofs. »Aber sag nicht immer Piepen, hörst du? Es klingt so ordinär.«
»Ja«, sagte ich gleichgültig.
»Hast du Herrn Lindner von mir gegrüßt?«
»Türlich«, sagte ich, obwohl ich es in Wahrheit vergessen hatte.
»Gehts ihm wieder besser?«, wollte Mama wissen.
»Etwas«, sagte ich. »Er hat noch immer Probleme mit den Augen und den Beinen.«
»Schrecklich«, sagte Mama. »Der arme Mann.«
»Wann fahren wir in Urlaub?«, fragte ich, als mich ein Gefühl von beginnender Langeweile beschlich.
Mama seufzte. Ohne mich anzublicken sagte sie monoton jene Worte, die schon oft über ihre Lippen gehuscht waren: »Wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, wenn die Schulden bezahlt und wir aus dem Gröbsten heraus sind.«
»Soll ich dir helfen?«, fragte ich.
»Wie spät ist es denn jetzt?«
»Halb vier oder so«, antwortete ich.
»Dann muss ich gleich Moritz aus dem Kindergarten holen.«
Ich nahm die saharagelbe Decke aus dem Korb, warf sie über die straffe Leine und klammerte sie an einer Seite fest.
»Nicht so«, sagte Mama.
»Wie denn?«
»Das macht man anders«, erklärte sie. »Man faltet die Decke zu einem Dreieck und hängt sie mit der Spitze nach unten auf. Siehst du?«
»Wozu soll das gut sein?«
»Das Wasser sammelt sich in der Spitze und läuft rasch aus der Decke. Auf diese Weise trocknet sie schneller.«
Ich ließ mich rückwärts ins Gras purzeln und beobachtete gespannt die Spitze der Decke. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich der erste dicke Wassertropfen zeigte und herunterfiel. Ich legte meinen Kopf ins Gras. Eine Wäscheklammer plumpste zu Boden und blieb beinahe aufrecht, gestützt von den grünen Halmen, im Gras stehen. Aus diesem Blickwinkel mochte eine Heuschrecke die Welt betrachten.
»Ich werde ein wenig zeichnen«, sagte ich. »Eine Wäscheklammer - so groß wie das Empire State Building oder so.«
»Du hast übrigens Post bekommen«, sagte Mama.
»Heute Nachmittag?«
»Ja. Eben kam ein Telegramm für dich.«
»Ein Telegramm?« Augenblicklich stand ich wieder auf den Beinen. »Wo ist es?«
Mama lächelte. »In deinem Zimmer.«
Ich lief über den Rasen, stolperte den kleinen Schräghang hinauf und überkletterte erneut die Balkonbrüstung. Ich hatte nie zuvor im Leben ein Telegramm bekommen, wusste nicht einmal, wie ein solches aussah. Ich meinte, ein Telegramm müsse ein schmaler Papierstreifen sein, ähnlich wie die Kassenbons, die Mama jeden Tag an der Kasse höflich den Kunden des Supermarktes reichte.
Auf der Fensterbank, die mir als Schreibtisch diente, fand ich zwischen unfertigen Zeichnungen einen blauen Briefumschlag, auf dem ich als erstes ein schwarzes Posthorn und den Aufdruck Telegramm erkannte.
Herrn
Florian Grob
Am dunklen Wege 38
stand in maschinengeschriebener Schrift rechts auf dem Papier.
Ich nahm einen angespitzten Bleistift aus der Blechdose und schlitzte das Kuvert an der Oberkante auf. Dann zog ich ein weißes Blatt hervor und las in einem umrandeten Feld die Worte:
Danke für die Einladung. Ich freue mich,
dich morgen kennenzulernen.
Dein Cousin Berthold.
Ich hörte, wie Mama den Plastikwäschekorb im Bad an die Wand hängte.
»Mama«, sagte ich aufgeregt, »mein Cousin will mich besuchen. Was soll ich denn jetzt machen?«
»Dich über den Besuch freuen«, sagte sie, ohne einen Blick auf das Telegramm zu werfen. »Florian, ich hole schnell deinen Bruder aus dem Kindergarten. Du könntest inzwischen für mich eine schöne Tasse Kaffee kochen, ja?«
»Hast du Berthold eingeladen?«, fragte ich.
»Ich war so frei«, sagte Mama, als sie ihre Schuhe aus dem Schrank hervorholte.
Ich fand, sie hätte mich vorher fragen müssen. »Kommt er allein?«
»Mit seiner Mutter, Tante Martina, die du ja schon kennengelernt hast.«
»Wie - wie alt ist er denn?«, fragte ich.
»Ungefähr so alt wie du«, sagte Mama und öffnete die Korridortür. Für einen Moment erschien das Gesicht von Frau Krawinkel in der Türöffnung. Grußlos, mit verkniffenem Mund, stieg sie die Flurtreppe hinauf in die obere Etage.
»Mama, was - wie ...«
»Bis gleich! Denk an den Kaffee. Zwei gehäufte Löffel kommen in die Kanne.«
»Was ist er denn für einer?«, fragte ich hastig.
»Das musst du schon selber herausfinden«, sagte Mama davoneilend, während sich die grauweiße Tür langsam zwischen uns schloss.
Die Tatsache, einen Cousin zu haben, war mir vertraut. Obwohl Bertholds Eltern seit einigen Monaten in ihrer Villa am Stadtrand wohnten, war ich meinem Cousin bislang nie begegnet. Er besuchte ein Internat im Norden Deutschlands und kam nur einmal im Monat zu seinen Eltern nach Hause.
Ich ging in die Küche, ließ Wasser in den Kessel laufen, nahm zwei gehäufte Löffel Kaffee aus dem Glas und gab das Pulver in die Warmhaltekanne. Es interessierte mich, ob Berthold meiner Schwester Barbara auch ein Telegramm geschickt hatte. Die Tür zu Barbaras Zimmer war offen. Ich war ein Unbefugter in diesem Raum. Barbara, die schon fast fünfzehn war, besaß ein Zimmer für sich allein, während ich mit Moritz den winzigkleinen Raum neben dem Wohnzimmer teilen musste. Barbaras Zimmer hatte schöne Möbel aus hellem Kiefernholz - ein Geschenk von Tante Judith, ihrer Patentante -, einen flauschigen Teppich und einen richtigen Schreibtisch mit verschließbaren Fächern. Barbaras Zimmer war nicht aufgeräumt. Ein Schlüpfer und verknäulte Strümpfe lagen vorm Bett. Schulbücher, Hefte, grellbunte Zeitschriften und silbriges Kaugummipapier häuften sich auf ihrem Schreibtisch. Ein Telegramm konnte ich nirgends entdecken.
In der Küche pfiff der Wasserkessel auf dem Herd. Ich schaltete den Regler auf O und goss das dampfende heiße Wasser in die Kanne, die ich mit einem Deckel verschloss. Dann ging ich in mein Zimmer und setzte mich ans Fenster. Herr Lindner, der früher Kunstlehrer gewesen war, hatte mir vor einiger Zeit einen farbigen Bildband geschenkt: es waren hundert Gemälde berühmter Meister darin abgedruckt. Ich zog den Band aus dem Regal und blätterte darin. Bald fand ich, wonach ich suchte. Das Bild hieß Der blaue Knabe. In einer bewegten herbstlichen Landschaft stand ein schöner Jüngling mit einem blauen, seidig schimmernden Anzug. Der schlanke Knabe mochte vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Er hatte mittellange braungelockte Haare. Ein letzter kindlicher Ausdruck war in dem schmalen Gesicht über dem weißen Spitzenkragen erkennbar. Die dunklen Augen hatten einen bescheidwissenden Blick. Der geschlossene Mund schien ein geheimgehaltenes Wissen zu verbergen. Der Junge wirkte