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Schnee von gestern ...und vorgestern
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Ebook812 pages11 hours

Schnee von gestern ...und vorgestern

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About this ebook

Eine zerbrochene Familie - drei Verbrechen.

Der Vater der Familie Prancock, britischer Kommissar, findet während seines Urlaubs im Gästesafe eine Nachricht: "To Mr. P. Help me!" War wirklich er gemeint? Und wenn ja, braucht wirklich jemand Hilfe? Währenddessen recherchiert Ex-Frau Else für die Lokalzeitung über Verbrechen der Vergangenheit. Dabei entdeckt sie das 30 Jahre alte
Foto einer skelettierten Leiche, welches Rätsel aufwirft, die bis in die Gegenwart reichen.

Und Tochter Jasmin bekommt einen erschreckenden Anruf: "Sie bringen mich um. Komm schnell!" Schafft sie es, ihrer Freundin rechtzeitig zu Hilfe zu eilen?

Mysteriöse Nachrichten, dubiose Spuren, vertuschte Verschwörungen und unerwartete Hindernisse bei den Ermittlungen halten die Familie gehörig auf Trab. Letztlich müssen die drei sich gemeinsam bewähren, denn sie geraten zunehmend in ein Katz-und-Maus-Spiel auf Leben und Tod.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateDec 11, 2014
ISBN9783737520829
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    Book preview

    Schnee von gestern ...und vorgestern - Günther Klößinger

    Es war einmal ein Krimi – Vorwort

    Am Anfang jeder Geschichte steht eine Idee. So eine geistige Initialzündung entsteht zumeist aus einem inspirierten Moment heraus und begeistert im Idealfall zunächst einmal den Autor. Manchmal folgt der kreative Prozess aber auch Irr- und Umwegen, sodass das künftige Werk nur noch wenig mit dem ursprünglichen Gedanken zu tun hat. Mit den Romanen um Kommissar Prancock und seinen Sidekick Steffens verhält es sich ganz ähnlich.

    Es war eine dunkle, stürmische Nacht im Herbst des Jahres 2002. Ich konnte mal wieder nicht schlafen und da ich kein Mathematik-Freak bin, hatte ich keine Lust, mich mit Schäfchenzählen oder ähnlichen Rechenoperationen in den Schlaf zu wiegen. Stattdessen sinnierte ich über das Leben, das Universum und den ganzen Rest, während Wind und Regen vor dem Fenster für die richtige „Sturm und Drang-Stimmung sorgten. Tatsächlich hatte ich einen Gedankenblitz: Ich sah einen Rockmusiker in der Midlife-Crisis vor mir, dem beim Geschrei seiner Kinder und dem Genörgel seiner überforderten Frau die Inspiration abhandenkommt. Er beschließt, back to the roots zu gehen und wie ein pubertierender Pennäler einfach abzuhauen. Einfach raus ins feindliche Leben, endlich wieder Erfahrungen aus erster Hand, die ihm hoffentlich Stoff für neue Songs bringen würden. „Wow! Welch eine Story!, dachte ich. Noch im Halbschlaf fand ich die Idee grandios und schlummerte selig ein.

    Tags darauf setzte ich mich voller Tatendrang an meinen Computer und begann, die Erzählung niederzuschreiben. Doch bald entpuppte sich die Idee, die mich zunächst so begeistert hatte, als echter Langweiler. Ich fand keinerlei passende Worte für die Charaktere, jeder Satz strotzte nur so vor Plattitüden und die zu beschreibende Midlife-Crisis schwappte auf mich über. Das fühlte sich nach einer echten Schreibblockade an, und diese hatte nach noch nicht einmal zwei getippten Seiten eingesetzt. Frustriert hielt ich inne und fragte mich, wie es dazu hatte kommen können.

    „Das haste nun davon, schalt ich mich, „da willst du mal so richtig große Literatur verfassen, ganz und gar vielschichtige Typen mit all ihren Abgründen und Aufregungen erschaffen, sie durch ein ergreifendes Schicksal jagen – und was passiert? Du fällst auf die Nase!

    Aber Moment: Die Hauptfigur der geplanten Schmonzette wollte zurück zu ihren Wurzeln. Vielleicht sollte ich mir auch mal Gedanken darüber machen, wo denn die meinen lagen. Ich bin von jeher ein Erzähler und liebe es, Gruselgeschichten und Märchen vor Publikum zu erzählen. Und dabei geht es vor allem um eines: Spannung!

    Mit einem einzigen Tastenklick löschte ich das Ursprungskapitel des begonnenen Schicksalsromans und schrieb stattdessen aus einer spontanen Laune heraus die Worte „Die Leiche lehnte an der Wand" in die frei gewordene Datei. Ich hatte keine Idee, keinen großartigen Plan, kein festes Personarium im Kopf, sondern ließ mich einfach treiben. Und wie aus dem Nichts war da Kommissar Prancock, damals noch Inspektor, ein polternder Engländer, der in einer x-beliebigen deutschen Stadt für die hiesige Kripo arbeitet. Auch sein Kollege Steffens trat umgehend auf den Plan, ebenso Prancocks Familie und Freundeskreis. Ebenso formierten sich die Gegenspieler innerhalb kürzester Zeit. Der Kriminalfall nahm mehr und mehr Gestalt an. Ich schrieb mich in einen wahren Rausch hinein. Nach dreißig Seiten befand ich die Grundlage der Story für tragfähig genug, um weiterzumachen. Das dargestellte Verbrechen faszinierte mich … doch hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie der Fall zu lösen wäre.

    Von diesem Moment an ging ich allerdings mit der gebotenen Ernsthaftigkeit an die Geschichte heran, und innerhalb eines Jahres brachte ich „Blüten aus Babylon, den ersten Roman um Kommissar Prancock, zu Papier. Nach der Beendigung des Skripts stellte ich fest, dass mir die Charaktere der Geschichte derart ans Herz gewachsen waren, dass es mich drängte, diese weiterzuentwickeln. Die Idee für einen neuen Fall schwirrte bereits in meinem Kopf herum, und so ging das Team um den Anti-Gentleman Prancock in die zweite Runde. „Schnee von gestern … und vorgestern? entstand dann in den Jahren 2003 bis 2005.

    Danach lagen die Manuskripte aus verschiedenen Gründen lange Zeit in der Schublade. Ich widmete mich verstärkt meinen Aktivitäten als musikalischer Märchenerzähler „Gynni K. und verlor das Genre „Krimi ein wenig aus den Augen. Im Jahr 2010 schließlich nahm ich die beiden Romane wieder einmal zur Hand und stellte fest, dass ich noch zu hundert Prozent hinter den Storys stand. Die dargestellten Motive erschienen mir trotz des zeitlichen Abstandes als zeitlos, wie zum Beispiel Kriminalistik und Verbrechen, aber auch Erwachsenwerden, Konkurrenzkampf und Beziehungskram. Auch die angeschnittenen gesellschaftlichen und politischen Themen à la Asylproblematik, Rechtsradikalismus, Atompolitik und die Halbwelt der Geheimdienste haben nicht an Aktualität und Brisanz verloren.

    Je mehr ich mich wieder mit den Texten befasste, desto stärker wurde das Gefühl, sie sollten nicht weiterhin in den Tiefen meines Schreibtisches verstauben. Gleichzeitig bemerkte ich aber auch, dass die beiden Romane stilistisch nicht mehr meinen Vorstellungen entsprachen. Brachten die Handlung und die Charaktere in mir eine Saite zum Schwingen, wollte ich sprachlich noch mehr Schwung und Biss reinbringen. Und so machte ich mich daran, die zwei Bücher literarisch und sprachlich zu polieren und in eine neue Form zu bringen.

    Zugleich stellte ich fest, dass eine Erzählung in welcher Form auch immer im Hinblick auf alltägliche Details innerhalb weniger Jahre zum historischen Roman mutiert. Unser Zeitalter ist dermaßen schnelllebig, dass viele Elemente aus den Geschichten mittlerweile hoffnungslos veraltet wirken. Amüsiert stellte ich fest, dass in den längst vergangenen Tagen, an denen die Urfassungen der Bücher entstanden waren, internettaugliche Handys eine echte Sensation darstellten, der Umgang mit Suchmaschinen eine richtige Herausforderung war, in der Gastronomie allerorten hemmungslos geraucht wurde und Navis für den durchschnittlichen Autofahrer Zukunftsmusik waren. Ich widerstand der Versuchung, solche Inhalte zu aktualisieren. Wozu auch? In fünf bis zehn Jahren wären sie abermals veraltet. Zudem sind sie Teil der Atmosphäre und spiegeln die Zeit wider, in der ich die Romane schrieb.

    Zunächst ging ich davon aus, dass das Überarbeiten der Texte etwa ein halbes Jahr in Anspruch nehmen würde – nach nunmehr vier Jahren liegt „Schnee von gestern … und vorgestern? mit diesem Werk endlich vor und „Blüten aus Babylon befindet sich in der Endkorrektur.

    Dass dieses Buch seinen Weg zu Ihnen gefunden hat, freut mich. Ohne die Unterstützung und Ermunterung einiger lieber Menschen wäre es nie so weit gekommen. Daher möchte ich mich an dieser Stelle bei all jenen bedanken, die an mich und an diese Geschichten geglaubt haben. Zuallererst ist da meine Frau Cornelia, die mich immer wieder dazu ermutigte, weiterzumachen. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank meinen Erstleserinnen Susi und Laura Fechner, die mir stets wertvolle Impulse gaben. Ein ebenso herzliches „Danke" geht schließlich an meine Lektorin Anne Baum, die nicht nur inhaltlich immer den Durchblick behielt, sondern mir eine literarische Stilberatung von unschätzbarem Wert angedeihen ließ.

    Günther Klößinger, Oberkaufungen, den 15.04.2014

    Ortstermin

    Wir befinden uns in einer typischen deutschen Stadt. Viele nennen sie eine Kleinstadt, böse Zungen sprechen gar von einem etwas zu groß geratenen Dorf. Wohlwollende Mitbürger werden jedoch nicht müde, das besondere Flair hervorzuheben, das es so angenehm macht, hier zu leben.

    Die beschauliche Innenstadt mit ihren auf mondän getrimmten Boutiquen und nostalgisch anmutenden Läden vom Obstmarkt bis hin zum „New Age"-Shop verströmt eine durchaus heimelige Atmosphäre. Die Gastronomie ist gediegen und gemütlich. Gerade angesichts der kleineren Cafés und Lokale werden die Kritiker und Spötter mit der stets spürbaren Provinzialität versöhnt: In den Gaststuben herrscht zumeist eine urige, persönliche Atmosphäre. Die Leute hinter den Tresen kennen ihre Gäste nicht selten beim Namen.

    Das örtliche Tagblatt, „Die Allgemeine", bemüht sich mehr oder minder redlich, das Sensationelle im Alltäglichen zu entdecken und kleine Ereignisse wortgewaltig in kulturell bedeutende Events umzumünzen. Da wird schon mal der Häkelkreis in der Seniorenresidenz zum sozialen Großprojekt.

    Immerhin kann die Stadt mit einer Veranstaltungsreihe auch überregional punkten: dem jährlich stattfindenden Opernfest. Kurz vor Ostern präsentiert man bei hochkarätigen Eintrittspreisen mittelprächtige Solisten und Orchester. Dennoch erfreut sich das Festival großer Beliebtheit und lockt ein im wahrsten Sinne des Wortes buntes Völkchen von Klassikfans in die Stadt. Merkwürdig bleibt dennoch, dass sich neben dem farbenfrohen Treiben der Musikliebhaber ganzjährig mehr und mehr lichtscheue Subjekte vor Ort breitmachen.

    Der erstaunlich hohen Kriminalitätsrate stellt sich ein eingespieltes Team von Ermittlern entgegen. Allerdings müssen Kommissar Prancock und seine Mitstreiter nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch gegen zunehmend leere Kassen ankämpfen. Das kleine Polizeirevier ist chronisch unterbesetzt und überlastet. Kein Wunder, dass die höchst engagierten Beamten hier stets zwischen wahnsinnigem Stress und Urlaubsreife schwanken.

    Kurzum: eine ganz normale deutsche Stadt, wie wir sie wohl alle kennen.

    Personenkarussell

    Kommissar Fox Prancock (Pranke)

    Der zeitweise etwas bärbeißige Brite hat vor Jahren quasi in die deutsche Kripo eingeheiratet. Ist seine Erfolgsquote im Job auch exzellent, hat das Privatleben umso mehr gelitten. Seit Fox Prancocks Ehe den Bach runterging, ist er alleinerziehender Vater. Inzwischen hat er sich jedoch wieder in eine neue Beziehung gestürzt.

    Sowohl in der Eltern- als auch der Polizistenrolle sind seine Ausdrucksweise und sein Vorgehen nicht immer gesellschaftsfähig. So macht er sich meist zusätzliche Probleme und bringt sich mit seiner impulsiven Art stets in verzwickte Situationen.

    Kommissar Steffens (Steff)

    Der ewige Junggeselle befindet sich mit Fox Prancock in einem Dauerwettlauf zur obersten Sprosse der Karriereleiter. Da er bevorzugt im Hintergrund agiert, steht er nach außen hin etwas im Schatten seines englischen Kollegen. Steffens’ Qualitäten liegen eher in der Recherche und der Computerarbeit als in publikumswirksamen Großaktionen. Inspirieren lässt er sich gerne vom Helden der Groschenromanserie „G-Man Gary Button".

    Else Müller

    Bis vor nicht allzu langer Zeit war sie Prancocks Ehefrau und Chefin. Infolge eines Burn-outs ließ sie Berufs- und Familienleben hinter sich und brannte mit einem Mathelehrer durch. Da sich dieser mittlerweile auch aus dem Staub gemacht hat, steckt Else in einer tiefen Sinnkrise. Jedoch konnte sie, dank einer außergewöhnlichen Vermittlungsaktion ihrer Tochter, wieder ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Exmann aufbauen.

    Petra Roth (Penny)

    Bevor sie sich als Privatdetektivin selbstständig gemacht hat, war sie die Sekretärin von Fox und Else Prancock. Nach deren Scheidung steht sie zwischen den Stühlen, hat aber einen besonderen Draht zur Tochter der beiden.

    Daneben ist sie hinter den Kulissen für manchen Ermittlungserfolg von Kommissar Steffens verantwortlich. Dass sie mit ihm nicht nur kriminaltechnisch zu tun haben möchte, scheint dieser nicht zu bemerken.

    Ilka Trebes

    Die Jungjournalistin bei der örtlichen Tageszeitung „Die Allgemeine" ist die neue Freundin von Fox Prancock. Sie avancierte schnell zu einer Vertrauten seiner Tochter und versteht sich sogar gut mit Else. Als sie gemeinsam in einen schicksalhaften Fall des Kommissars verwickelt waren, warfen die beiden Frauen alle gegenseitigen Vorbehalte über Bord.

    Jasmin (Jassy)

    Die mittlerweile 16-jährige Tochter von Fox und Else fühlte sich lange Zeit von ihren Eltern vernachlässigt. Umso wichtiger sind ihr ihre Freundinnen und Freunde geworden. In der neuen Partnerin ihres Vaters sieht sie nun aber so etwas wie eine große Schwester.

    Ihre poetische Ader lebt Jasmin vor allem beim Schreiben von Rocksongs aus, zudem ist sie Sängerin und Gitarristin einer Schülerband.

    Vor Kurzem war sie Opfer einer Entführung und hat an den traumatischen Erlebnissen noch immer zu knabbern.

    Nick (großer Zauberer)

    Er ist Jasmins Freund und Muse zugleich: Beide lieben Musik, Poesie und Kino. Für ihn ist seine Freundin eine Märchenprinzessin und er ist ihr großer Zauberer. Es ist unübersehbar: Der Junge ist auf dem Fantasy-Trip. In der gemeinsamen Band spielt er Bass und schreibt ebenfalls Songs.

    Momentan fühlt er sich allerdings von Jasmin schwer vernachlässigt, da diese mehr Zeit mit ihren Busenfreundinnen als mit ihm verbringt.

    Jessica (Jessy)

    Seit Jahren ist sie Jasmins beste Freundin. In der Schule gelten die beiden gar als das Dreamteam „Jassy und Jessy". Jessicas entwaffnender Humor hat die gemeinsame Clique schon vor so manchem Dauerstress bewahrt.

    Als Keyboarderin der Schülerband bringt sie ihr Temperament und ihren Witz ebenso ein wie ihre Musikalität.

    Robert (Robby)

    Er ist der Drummer der Band von Jassy und Co. Jasmin war einmal seine große Liebe. Das Ende ihrer Beziehung hat ihn hart getroffen, doch Jessica schaffte es, ihn aus seinem Tief heraus und in die Band herein zu holen. Seither ist er Jessys Freund.

    Als Schlagzeuger tobt er sich zeitweilig ziemlich lautstark aus, im Freundeskreis ist er eher der ruhende Pol, der die anderen immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt.

    Janine (kleine Hexe Jeannie)

    Sie ist eine alte Bekannte von Nick. Der selbst gewählte Spitzname spiegelt ihre Persönlichkeit trefflich wider, denn Janine hat eine leicht esoterische Ader und arbeitet im örtlichen „New Age Shop". Sie eroberte Jasmins Herz im Handumdrehen und wurde deren spirituelle Freundin.

    Freitag

    „Ich bring ihn um!", presste er hervor. Seine bislang nur mühevoll im Zaum gehaltene Wut jagte mit zügelloser Gewalt herein. Raserei wurde zum alles beherrschenden Element. Schweißperlen glitzerten unheilschwanger über funkelnden Augen. Die wilden Blicke schossen wie unsichtbare Pfeile durch den Raum und suchten mit irrer Entschlossenheit ihr Ziel. Ein Knall ließ die Wände so stark erzittern, dass die Spinne in einer Ecke der Decke fluchtartig das Netz verließ, um dann schließlich auf eine andere Website zu wechseln.

    „Na, na, Steffens! Was regst du dich denn auf? Dass unser neuer Boss ein Arschloch ist, haben wir doch von Anfang an gewusst", sagte Prancock zu seinem Kollegen. Dabei ließ er den Blick nicht von dem Klumpen Coffee-Creamer, der trotz heftigster Rührbewegungen nicht im dunklen Strudel der Tasse verschwinden wollte. Der Kommissar musste schmunzeln. Er wusste genau, was Beschwichtigungsversuche mit Steffens’ Adrenalin-Spiegel anstellten: Sie brachten ihn noch näher an die Explosionsgrenze.

    „Versuch erst gar nicht, dein Grinsen zu verbergen, Fox. Du hast gut lachen. Du machst die nächsten zwei Wochen Urlaub in Frankreich und ich darf mit diesem Kotzbrocken alleine …"

    „Wahrscheinlich erst einmal den Türstock sanieren. Alle Achtung: In nur sechs Wochen hast du’s geschafft, das Ding fast komplett aus den Angeln zu knallen!" Fox unterbrach seinen Vortrag mit einem genüsslichen Schlürfen.

    „Vielleicht fällt sie ja mal ganz aus dem Rahmen und erschlägt den Scheißkerl", brummelte Steffens mit einem Seitenblick auf die Tür und bediente sich dann ebenfalls an der Kaffeemaschine.

    „Was soll hier wen erschlagen?, fuhr eine eisige Stimme in das Büro. Erschrocken blickten Fox und Steffens auf: Die windschiefe Tür öffnete sich. Kriminalhauptkommissar Häfner trat, um majestätischen Schritt bemüht, herein und markierte den großen Boss. Abschätzig musterte er seine Untergebenen. Prancock schaffte es gerade noch rechtzeitig, die richtige Taste des Dienstcomputers zu drücken. Augenblicklich verschwand das Ballerspiel „50 Ways to Slaughter your Boss vom Bildschirm. Stattdessen blinkte ein Dokument auf, das Zeugenaussagen zum Fall des ermordeten Arabers Ibrahim aus der Schnetzelgasse enthielt.

    „Steffens meinte nur …", hob Fox an, um seinem Kollegen zur Seite zu stehen.

    Häfner unterbrach ihn barsch: „Sie sind nicht gefragt, Kommissar Prancock!"

    „Ich habe eben über den Fall dieses erschlagenen Ausländers nachgedacht", verteidigte sich Steffens.

    „Und ich, fuhr der machtbewusste Chef ihn an, „habe Ihnen diesen Fall soeben entzogen.

    Als Fox das hörte, wunderte er sich nicht mehr, dass Steffens die Tür so brachial ins Schloss geworfen hatte, als wolle er damit die Wette in einer Fernsehshow gewinnen. Vielmehr hätte er sogar verstehen können, wenn der Kollege gleich eine Bombe gezündet hätte.

    „Entzogen? Aber Herr Häfner, ich bin ab morgen im Urlaub, und wenn Steffens nicht weiter ermittelt …"

    „Sie können beruhigt in den Urlaub fahren! Ihre Beteiligung an diesem Fall ist ebenfalls nicht mehr vonnöten. Im Übrigen: Die korrekte Anrede lautet ‚Herr Kriminalhauptkommissar Häfner‘, ist das klar?!"

    „Bis ich das vollständig ausgesprochen habe, sind alle Gangster längst getürmt!"

    „Prancock, Ihre flotten Sprüche …"

    „Die korrekte Anrede lautet übrigens ‚Herr Kriminalkommissar Prancock‘, Herr Häfner!", gab Fox mit provozierend gelassener Stimme zurück.

    „Noch ein paar solche Bemerkungen, Herr Kommissar, und Sie sind schneller wieder Inspektor, als Sie Ihre Waffe nachladen können. Ich persönlich werde in dem Fall Ibrahim ab jetzt exklusiv ermitteln."

    Mit diesen Worten stapfte Häfner zu Prancocks PC, drückte den Auswurfknopf und entnahm die Diskette. Prancock wurde blass. Die Dokumente zum Fall des toten Arabers befanden sich auf CD-Rom, die Diskette enthielt jenes Spiel, in dem Chefs splattermäßig gekillt wurden – ein illegales Programm von einer verbotenen Internetplattform, das Prancock noch dazu über den Dienstanschluss gecrackt hatte.

    Der Hauptkommissar drehte sich um, wandte sich Steffens zu und bellte ihn an: „Und Sie kümmern sich ab sofort um den Ladendiebstahl in der Aida-Allee, klar?"

    Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, gestikulierte Häfner auf das Heftigste in der Luft herum. Steffens nutzte die Gunst der Stunde: Wie aus Versehen rempelte er den Chef an und tat so, als wolle er die Kaffeekanne zurück zu der noch immer frotzelnden Maschine bringen. Dabei streifte das heiße Glas die Hand des Vorgesetzten. Mit einem unterdrückten Aufschrei wich Häfner zurück. Die Diskette glitt ihm aus den Fingern. Steffens bückte sich und schob blitzschnell die dampfende Kanne vor. Mit leisem Plätschern und Geklapper fiel der Datenträger in den jüngst aufgebrühten Kaffee.

    „Gute Reaktion, was, Chef?, meinte Prancock und deutete voller Bewunderung auf seinen Kollegen. „Da macht unserem Steffens so schnell keiner was vor!

    „Die Daten! Kommissar Steffens, alle bisherigen Ergebnisse …"

    „… hat Kollege Prancock mittlerweile auf CD-Rom gebrannt! Ist doch viel sicherer!"

    Häfner bekam einen hochroten Kopf. Obwohl seine Software ihm jede Menge wüster Beschimpfungen vorschlug, brummte die Hardware nur zerknirscht. Wortlos trat er an Prancocks Arbeitsplatz, drückte „Eject" und nahm die CD an sich. Schnaubend stürmte der Chef hinaus. Wieder einmal dröhnte der charakteristische Knall durch die Dienststube.

    „Lang macht’s der Rahmen wirklich nicht mehr!", meinte Fox. Sein Blick ruhte auf der noch immer zitternden Tür.

    „Ich glaube, du schuldest mir ein Bier, Fox", bemerkte Steffens trocken.

    „Nach dem Urlaub! Ilka und ich wollen heute noch packen."

    „Aber nicht vergessen, Boss!"

    „Mann, Steffens, gewöhn’ dir endlich das ‚Boss‘ ab! Seit man uns diesen Oberfuzzi vor die Nase gesetzt hat, sind wir gleichberechtigte Partner, kapiert?"

    „Wir sind alle gleich, Genosse!, gab Steffens resigniert zurück. „Wie im real existierenden Sozialismus.

    „Aber sag mal, Steffens, meint Häfner das wirklich ernst mit dem Ladendiebstahl?"

    „Laden? Mann, Bo…, äh, Fox, ich wünschte, es ginge wenigstens um einen Laden! An der Parzival-Promenade …"

    „Ich dachte, in der Aida-Allee?", unterbrach Prancock seinen entnervten Leidensgenossen.

    „Von mir aus am Rigoletto-Ring – es ist jedenfalls kein Laden, sondern nur ein kleiner Kiosk!"

    „Wie bitte? Wie viel war in der Kasse?", wollte Fox wissen.

    „Nichts!", antwortete Steffens und trank geräuschvoll seine Tasse aus.

    „Ich meinte, vor dem Bruch!", warf sein Gegenüber leicht gereizt ein.

    „Auch nichts – vielleicht ein paar Cent Wechselgeld! Der Besitzer bringt jeden Abend fast die gesamte Kohle zur Bank!"

    „Was wurde dann geklaut?"

    „Zwei Stangen Zigaretten!"

    „Oh, Herr Kommissar, das wird bestimmt der größte Fall ihrer Karriere!", spottete Prancock, woraufhin Steffens ihm einen Kaffeelöffel an den Kopf warf.

    Fox konterte nicht, sondern blickte nur stirnrunzelnd zur Decke. „Warum nur, sang er in sich hinein, „ist Häfner so wild auf die Sache mit dem Araber …?

    „… und gibt mir einen Fall, der allerhöchstens was für Habich und seine Jungs von der Streife wäre?"

    „Das ist ja noch einfach, Steffens: Er will dich eben ärgern!"

    „Halt mal den Pinsel, Robby!", sagte Jessica. Sie sah gedankenverloren die Wand an. Irgendwie wollte die weiße Farbe das Mauerwerk nicht gleichmäßig bedecken.

    „Moment, antwortete Robert, „ich krieg’ meine Kappe nicht hin. Hilflos versuchte der Junge, ein überdimensionales Blatt Zeitungspapier in Form zu bringen.

    „Oh Mann, Robby, rief Jasmin aus der anderen Ecke herüber, „Schiffchen falten sollte man schon in der ersten Klasse gelernt haben! Auf ihrem Kopf saß ein tadelloser Papierhelm, der schon von zahlreichen Klecksen verziert war.

    „Ich hab’s doch auch gleich!", wollte Robert beschwichtigen, doch selbst nach höchst konzentriertem Knicken und Falzen hielt er ein Gebilde in der Hand, das mehr an einen Faltenrock erinnerte als an ein Hütchen.

    „Mann, mach schon, die Farbe tropft gleich!" Noch immer hielt Jessica ihrem Freund den von weißer Tünche verschmierten Borstenpinsel hin. Der klebrige Griff klemmte zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger.

    Robby zog sich mit lautem Geraschel den frisch gebastelten Faltenrockhelm auf den Kopf und nahm seiner Freundin schließlich das von Farbe triefende Etwas ab. Dabei griff er versehentlich in die eingeweichten Borsten.

    „Igitt!", zischte er angeekelt und wich einen Schritt zurück. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen einen Farbeimer, der bedenklich zu wanken begann.

    „Oh nein!", rief Nick. Er hatte das Schauspiel von der Türe aus beobachtet. Mit einem beherzten Sprung hechtete er in den Raum und ergriff den schwankenden Kübel mit beiden Händen.

    „Gerade noch mal geschafft, meinte Jessica und atmete erleichtert auf. „Das hätte ’ne schöne Sauerei gegeben.

    „Was bitte?", mischte sich Jasmin ein. Sie hatte für einen Augenblick nicht zugehört, sondern ihre Gedanken wandern lassen.

    Das hier würde also ihr neues Zuhause werden – wirklich ihre eigenen vier Wände. Noch vor sechs Wochen hätte sie nicht zu träumen gewagt, bereits im Alter von 16 Jahren auszuziehen. Sie hatte ihr heimeliges Zuhause bei Papa Prancock geliebt und doch weinte sie dem alten Kinderzimmer keine Träne nach. Es hatte eben alles seine Zeit im Leben. Immerhin würde sie ihre Kinder- und Jugendbücher sowie einige Möbelstücke mit in ihre neue Wohnung herüberretten. Ihr alter Zottelbär und die anderen Stofftiere mussten selbstverständlich auch mit. „So fängt also ein neuer Lebensabschnitt an! Bei diesem Gedanken lächelte Jasmin in sich hinein. „Ich werde erwachsen – aber nicht ohne meinen Teddy!

    Plötzlich schüttelte sie sich. Die harmonischen Rückblenden in die unbeschwerten Momente ihrer Kindheit und Jugend drohten zu verblassen – die Tatsache, dass noch vor Kurzem ihr Leben ein einziger Albtraum gewesen war, begann stattdessen, ihre Gedanken zu verdunkeln. Sie wollte, nein, durfte den Erinnerungen an die Entführung keinen Raum geben. Es war schon genug, dass die Stimme des Kidnappers immer wieder durch ihre nächtlichen Träume dröhnte und höhnte. Das geschah immer dann, wenn sie es tatsächlich einmal geschafft hatte einzuschlafen. Merkwürdigerweise fand Jasmin aber nichts Beängstigendes an der Vorstellung, in die Wohnung einzuziehen, in der Ilka ähnlich Schlimmes erlebt hatte. Noch dazu hätten hier beinahe ihr Vater, Jessy und Robert den Tod gefunden. Angesichts des Albtraums, der damals ihr eigenes, sehr reales Leben gewesen war, erschienen ihr die Schrecknisse der anderen jedoch beinahe wie ein Märchen aus uralten Zeiten. Außerdem: Die Bude hier würde nach der Maleraktion und mit ihren eigenen Möbeln eine ganz andere sein als zuvor: Tapetenwechsel für Außen- und Innenräume war angesagt. Sogar der Therapeut, der Jasmin beim Aufarbeiten ihrer traumatischen Erlebnisse zur Seite stand, hatte den Umzug befürwortet.

    „Aufwachen, Prinzessin!", beendete Nick ihre Tagträumereien.

    Jasmin blinzelte, als wäre sie gerade aus einem langen Mittagschlaf erwacht. Sie blickte sich in dem noch kahlen, nach frischer Farbe riechenden Zimmer um und trat dabei einen Schritt zur Seite.

    „Vorsicht!, schrie Robby in ihre Richtung und Jessica brachte nur noch ein quietschiges „Oh, nein! zustande. Dann war es auch schon passiert: Jasmin hatte ihren noch immer auf dem Boden knienden Freund übersehen. Mit einem kurzen Kreischen stolperte sie über ihn und stürzte. Nick wirbelte herum, um nach Jasmin zu greifen. Er fing sie auf, bevor sie sich den Kopf an der Wand stoßen konnte. Dabei kippte er allerdings den Farbeimer um. Dessen Inhalt ergoss sich mit einem schmatzenden „Schwapp" auf die ausgebreiteten Bögen Zeitungspapier. Nick umklammerte noch immer fest seine Märchenprinzessin, konnte aber das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er und Jasmin landeten in der ekelhaft klebrigen Brühe. Farbe spritzte auf. Die vier Nachwuchsmaler und eine der Wände waren mit einem Mal weiß gesprenkelt. Wohin man auch schaute, die Tünche war überall. Zielsicher suchte sie die Ritzen zwischen den alten Zeitungen auf, um Richtung Fußboden weiterzublubbern. Nick und Jasmin hatten die meisten Farbspritzer abbekommen. Die beiden saßen in einer weißen Lache und sahen aus, als litten sie an einer merkwürdigen Abart der Masern. Zunächst blickten die zwei sich wütend an, aber als Jessica schließlich ihr unverkennbares Lachen hören ließ, wich der Ärger. Auch der Schreck war schnell vergessen. Jasmin und Nick prusteten los. Strahlend und glucksend drückte die farbverschmierte Prinzessin ihrem ritterlichen Freund und Hofzauberer einen Kuss auf den matschigen Klecks, unter dem sie die Backe vermutete.

    „Läuft alles, wie es soll?" Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang nervös. Das Schweigen war zu einer Art Ritual zwischen den beiden Männern geworden.

    Der Anrufer lauschte. „Ja, dachte er. „Ja, kau’ nur an deinem elenden Kugelschreiber rum. Ich hoffe, du verschluckst ihn eines Tages! Und wenn du dran verreckst, werde ich jede Nacht höchstpersönlich auf dein Grab pinkeln!

    Erschrocken biss er sich auf die Lippen. Hatte er das jetzt wirklich nur gedacht? Oder hatte er wieder einmal schneller geplaudert, als sein Hirn die Worte zur allgemeinen Verbreitung freigeben konnte?

    Der andere blieb ruhig. Ein Klacken verriet, dass er seinen Stift zur Seite legte. Damit begann immer der entscheidende Teil ihrer Telefonate.

    „Ihr macht sie also fertig?"

    „Wie geplant! Heute Abend. Soll ich meinen Benzinkanister ein wenig spazieren führen?"

    „Tu, was du nicht lassen kannst, Kleiner!"

    „Dann müsste ich dir gehörig die Fresse polieren und dich in Jauche ersäufen!" Der Anrufer grinste: Es war wirklich nur ein Gedanke gewesen. Sein Ruf, schneller zu reden als zu denken, war ihm wohl doch etwas überstürzt vorausgeeilt. Warum nur musste dieser Kerl ihn in der Hand haben? Am liebsten hätte er den Großkotz in den Staub getreten wie ein wertloses Insekt und danach die Karten in der Organisation neu gemischt. Dummerweise hatte er sich einmal von seinem derzeitigen Boss übervorteilen lassen. Damit war er zu ewigem Speichellecken verdammt. Trotzdem hielt ihn der Gedanke, dass es um etwas Großes, Wichtiges ging, bei der Stange. Schließlich verfolgten sie dieselben Ziele und der Kugelschreiberschreck war definitiv der bessere Planer von ihnen beiden. Aber dennoch: Vom Thron gestürzt zu werden, war nichts, das man so leicht verdaute. Jedenfalls nicht ohne heftigste Blähungen.

    „Keine Probleme wegen der benachbarten Anwesen?", tönte es aus der Muschel.

    Okay, hier ging es um die Sache, nicht um die Demonstration gegenseitiger Abhängigkeit. „Alles abgecheckt. Genug Natur dazwischen. Ich wette, wir fallen gar nicht auf. Ist ja auch ’ne Ausflugsgegend. Wenn uns jemand sieht, meint er bestimmt, wir machen Urlaub auf dem Bauernhof."

    „Gut, gut! Und nicht vergessen: Macht sie fertig, aber kein Mord, ist das klar?"

    „Schade!, dachte er diesmal, sagte aber: „Klar!

    „Eine jammernde Göre, die anschließend aller Welt erzählt, wie schrecklich wir sind, ist wertvoller als jemand, der sich auf ewig über uns ausschweigt. Wir müssen den Druck erhöhen, bis kein Ventil ihn mehr hält. Der Rest wird sich dann irgendwann von selbst erledigen! Aber gehen wir ans Eingemachte: Wann könnt ihr loslegen?"

    „In einer Stunde!"

    Ein kurzes Kaugeräusch, Amalgam auf Plastik war zu hören, dann, statt eines Abschieds: „Ich erwarte deinen Bericht!"

    „Eigentlich müsste ich heulen und mich bemitleiden!", dachte sich Else. Sie blickte durch ihr Küchenfenster auf die immer dunkler werdende Frühabendsonne, die sich gähnend und behäbig dem Horizont näherte. Die Kaffeetasse fühlte sich mittlerweile fast frostig an. Else hob sie an die Lippen und schlürfte die lauwarme Brühe. Der schale Geschmack erinnerte an das Aroma abgestandenen Heizöls. Else schüttelte sich, stand auf, ging zur Spüle und überantwortete den letzten Rest ihres Kaffees schwungvoll dem Ausguss. Das Gluckern aus der Leitung erinnerte sie an jenes peinlich berührte Gurgeln in Mr. Mathes Hals, als er sie mit der Wahrheit konfrontiert hatte.

    „Du kannst hier wohnen bleiben, Else. Weißt du, Brenda und ich, wir … nun, sie hat ein Haus, ganz in der Nähe. Vielleicht … – da war es gewesen, dieses Gurgeln, das direkt aus dem Trainingscamp für Mundwasserwerbung zu kommen schien – „… wir könnten doch – äh – ich weiß, das klingt abgegriffen, aber wir …

    „Ich scheiße auf deine Freundschaft, falls du das meinst!, hatte Else ihm hysterisch entgegengebellt und ihm so den Allgemeinplatz par excellence erspart. „Brenda? Aus welcher Daily Soap hast du die denn entführt?

    Er tat verletzt. „Brenda ist Physikerin. Sie genießt höchstes Ansehen …"

    „… jedenfalls mehr als eine lausige Ex-Kommissarin der hiesigen Polizei, was? Und sie versteht was von Formeln und Gleichungen, oder?"

    Nicht zu fassen: Wegen diesem Mann hatte sie einmal ihre Ehe mit Fox Prancock aufgegeben und damit das Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter lange Zeit auf Eis gelegt. Langsam verstand sie, warum Jasmin immer so spöttisch von ihrem früheren Mathelehrer gesprochen hatte: In seinen Augen folgte das ganze Leben ausschließlich den Gesetzen der Algebra. Die zerbrochene Beziehung war für ihn nur eine Ungleichung und Else lediglich eine Variable. Ausgerechnet diese stand, im Gegensatz zu der anderen Unbekannten, jetzt auf der „Kleiner"-Seite des Terms.

    Klirrend zerschellte die Tasse an der Wand. Ein Rest Kaffee verschönerte selbstlos das karge Tapetenmuster und durchbrach dessen kühle Symmetrie. Else starrte den braunen Fleck an.

    „Leben!, fuhr es ihr durch den Kopf. „Leben zwischen erstarrten Formen. Das wirst du nie schaffen mit deiner Reagenz-Brenda!

    Else erschrak über sich selbst. Dass sie ihre Wut so exzessiv auslebte, war ihr fast ein wenig peinlich. Es war beinahe wie am Ende ihrer Ehe mit Prancock. Sie starrte adrenalinberauscht in die Scherben, die auf dem Teppich ein modernes Ballett zusammenwackelten. Dann wartete sie auf das erneute Hereinbrechen ihres Selbstmitleids. Es hatte sich noch nicht einmal eingestellt, als die Scherben schließlich still und unbewegt lagen.

    „Ich bin einsam, verdammt noch mal!", versuchte sie sich in die richtige Jammerstimmung zu versetzen. In diesem Moment klingelte das Telefon.

    „Ich sagte ‚einsam‘", knurrte Else in Richtung des Geräts. Erneutes Klingeln.

    „Wenn du das bist, Mr. Mathe, kannst du was erleben! Angriffslustig riss Else den Hörer von der Gabel und meldete sich: „Zentrale Beschneidungsstelle, was kann ich für Sie tun?

    Kurzes Schweigen. Else triumphierte bereits innerlich, doch dann erklang fröhliches Gelächter aus der Hörmuschel.

    „Hallo, prustete es am anderen Ende, „hier Ilka! ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht.

    „Ilka? Entschuldige bitte, ich dachte …"

    „Schon gut, Else, und weiter so. Aber mal was anderes: Suchst du nicht einen Job?"

    „Na ja, nachdem ich jetzt hier die Miete zahle, auch was essen will und Fox seine Kohle mehr für dich braucht …"

    „Wie bitte?" Ilkas gute Stimmung war verflogen.

    „Entschuldige, Ilka! Ich wollte dich nicht … weißt du, ich bin bloß …"

    Jetzt, wo sie es nicht brauchen konnte, machte sich das Selbstmitleid in ihr breit. Es blähte sie auf wie einen Ballon, dessen Ventil in der Tränendrüse steckte. Heiße Tropfen fielen auf das Telefon. Else schluckte. Mit traurigem Stolz stellte sie fest, dass sie es wenigstens schaffte, ihr Schluchzen im Hals zu halten.

    „Schon gut. Also, interessiert dich nun der Job?"

    „Worum geht’s denn?", fragte Else.

    „Die Redaktion plant eine Artikelserie über ungelöste Verbrechen der letzten fünfzig Jahre, die hier in der Umgebung …"

    „Ich habe keinen Zugang mehr zu Polizeiakten, falls du das meinst, Ilka."

    „Nein, aber Gregor Brand war völlig begeistert von meinem Vorschlag, dich als Autorin für die Serie zu gewinnen."

    „Hm … und du denkst …?"

    „Du bist den Leuten noch immer ein Begriff – und eine anerkannte Spezialistin obendrein. Na, wäre das nichts?"

    Beide schwiegen kurz. Gedankenverloren wischte Else die Tränen von ihrem Telefonapparat. „Ich überlege es mir mal …"

    „Aber nicht zu lange, Else. Ich habe dir einen Termin für Montagmorgen in der Redaktion reserviert!"

    „Wie bitte? Du kannst doch nicht einfach …"

    „Entschuldige, Else, ich wollte dich nicht überrumpeln, aber du weißt doch, dass Fox und ich morgen früh Richtung Frankreich aufbrechen!"

    „Stimmt ja", sagte Else und verschwieg, dass sie das neue Liebesglück ihres Exmannes ab und zu verdrängte. Sie mochte Ilka, und gerade deswegen tat es Else oftmals weh, die junge Reporterin Seite an Seite mit Fox zu sehen. Letztlich konnte sie nicht anders, als sich für die beiden zu freuen. Ihre eigenen Enttäuschungen musste sie in jenen Momenten hinunterschlucken, und das war schmerzlich. Viel lieber wäre sie wütend oder schadenfroh und könnte sich mit Aggressionen von der gähnenden Leere auf dem eigenen Glückskonto ablenken.

    „Nun, wie steht’s?", fragte Ilka. Ihre Stimme verriet einen Anflug von Ungeduld.

    „Ich werde da sein. Um wie viel Uhr?"

    Farbe und Schweiß flossen auf Jessicas Stirn ineinander. Mit dem Handrücken wischte sie sich Tünche von der Nase. Sie kniete vor einem übervollen Putzeimer. In einer mörtelgrauen Soße schwamm ein verklebter Klumpen. Er hatte sein früheres Leben als Wischlappen wohl in Ausübung seiner Pflicht endgültig ausgehaucht.

    „Mein Rückgrat muss dringendst zur Reparatur", stöhnte Jessy, als sie den Kübel anhob, um ihn hinauszuschleppen.

    Robert kämpfte sich soeben verzweifelt durch einen Berg aufgeweichter und zerknüllter Zeitungsbögen. Leise vor sich hin fluchend, versuchte er, den Unrat nach und nach abzutragen und in Müllsäcke zu stopfen.

    „Sagt mal, fragte er dabei, „wollte diese Jeannie nicht auch vorbeikommen und mithelfen?

    „Eigentlich schon. Jasmin blickte von ihrer Arbeit auf. „Sie wusste zwar noch nicht, ob sie Zeit hat, wollte aber anrufen, falls ihr was dazwischenkommt.

    Nick bemühte sich, nicht zu grinsen. Jeannie war eine alte Bekannte seinerseits. Er hatte sie und die Märchenprinzessin miteinander bekannt gemacht, aber inzwischen hatte er das schon oft bereut. Seit Jasmin Jeannie und diese Ilka Trebes kannte, hatte sie immer weniger Zeit für ihn. Jeannie hier, Ilka da. Wenigstens hatten Jassy und er noch ihre Band, zusammen mit Jessy und Robby, sonst gäbe es kaum noch gemeinsame Unternehmungen. „Zweisamkeit schien mehr und mehr zum Fremdwort zu werden. Darüber hinaus hatte Jeannie Jasmin eine dunkle Haarfarbe verpasst, was Nick gar nicht gefiel: Die einstmals goldblonde Mähne war mittlerweile fast schwarz, womit seine Freundin aussah wie Ilkas Zwillingsschwester. Und so verhielt sie sich in seinen Augen auch. Sie hatte sogar begonnen, sich genau so zu kleiden wie die neue Flamme im Hause Prancock. Als diese kürzlich eine schwarze Lederjacke im Schnäppchenmarkt abgesahnt hatte, musste Jasmin natürlich unbedingt dasselbe Modell haben. Nick sehnte sich nach Jasmins Märchenblond zurück. Für ihn war sie immer eine Prinzessin gewesen, aber mit den schwarzen Haaren und der Lederkluft sah sie eher aus wie eine Rockerbraut. Als er diesem heiklen Thema einmal nicht ausgewichen war, hatte sie nur gelacht und gemeint: „Vielleicht solltest du dich auch mal verändern, mein großer Zauberer. Wie wär’s mit Smaragdgrün? Übrigens: Jessy findet, ich sei kein Blondchen und Schwarz stünde mir besser. Außerdem wirkt es auf der Bühne total klasse!

    Er konnte sich den Anflug eines bitteren Grinsens letztlich nicht verkneifen. Sollten sie sich doch wundern, wo Jeannie blieb. Vor einer guten Stunde hatte Nick einen der unzähligen Müllsäcke voller zerknüllter Papierfetzen hinausbringen wollen. Im Flur war er an der Uraltgarderobe vorbeigekommen, an der auch Jasmins Jacke hing. Er hatte sich und den Müll gerade durch die Tür ins Treppenhaus zwängen wollen, als „Für Elise" zu ihm herüberpiepte.

    „Geh doch ran!, hatte Jasmin vom Wohnzimmer aus gerufen. Laut und theatralisch ächzend stellte Nick den Müll in ein Eck. Dann griff er in die Seitentasche ihrer Jacke. Das Holz des altmodischen Kleiderständers „Marke Sperrmüll extra ächzte bedrohlich, als Nick das Handy hervorzog. Beethovens größter Hit im Sound telekommunikativer Alltagsetüden nervte ihn nun noch lauter an. Gerade, als er den Anruf entgegennehmen wollte, sah er, dass Jeannies Nummer auf dem Display leuchtete. Jetzt, wo alles so gut wie gelaufen war, meldete sich Madame! Selbst zum Aufräumen wäre sie zu spät dran! Aber wahrscheinlich wollte sie sich zur gemütlichen Pizza danach einladen. Und das hätte zur Folge, dass Nick den Rest des Abends wieder mal die zweite Geige spielen würde. Grinsend drückte er auf „Auflegen" und schaltete das Handy dann ganz ab.

    „War schon weg, Prinzessin!", hatte er in Richtung Wohnzimmer gerufen und dann fröhlich pfeifend den Abfall entsorgt.

    Kaum war er von draußen zurück, hatte Jasmin bereits zwei weitere Müllsäcke vollgestopft und ihm mit einer kurzen Geste bedeutet: „Deine Aufgabe!" Das ging noch rund eine halbe Stunde so weiter. Schleppen, schleppen und noch mal schleppen – Papiermatsche, Krimskrams, Uraltmöbel und leere Farbkübel.

    Inzwischen war Jessica fast fertig damit, verhärtete und widerborstige Breitbandschreiber in geschmeidige Pinsel zurückzuverwandeln. Robert brachte den allerletzten Müll raus und das Einräumen würde Zeit bis morgen haben. Nach einem kurzen Blick in die Runde waren sich schließlich alle einig: „Schluss für heute!"

    Ein bisschen sauer waren sie auch auf die treulose Jeannie.

    „Sie hätte sich wenigstens mal melden können, maulte Jessica, aber Jasmin wechselte flugs das Thema: „Wollen wir noch auf ’ne Pizza zu ‚Fredo‘? Hatten wir doch so angedacht!

    „Typisch, dachte sich Nick, „seit die heilige Ilka dort öfters speist, ist Ginos Eiscafé schon Schnee von gestern.

    „Ich lade euch ein!", versuchte Jasmin den Entscheidungsprozess anzukurbeln.

    „Darf ich Sie, werte Frau Prancock, darauf hinweisen, sagte Jessy und rückte den Papierhelm auf ihrem Kopf mit gespielter Eitelkeit zurecht, „dass wir in puncto Abendgarderobe und Körperhygiene momentan nicht unbedingt den Standards dieser Lokalität entsprechen.

    Sie blickten sich in die verschmierten Gesichter, begutachteten ihre verklecksten Klamotten und lachten los.

    „Okay, dann in eineinhalb Stunden bei Fredo, ja?, schlug Jasmin vor, wobei sie sich beinahe verschluckte. „So spät ist es ja noch nicht.

    Sie gingen in den Flur, zogen ihre Sommerjacken über und beratschlagten weiter. Aus Gewohnheit griff Jasmin in die Seitentasche und zog ihr Handy hervor.

    „Nanu? Das ist ja aus?"

    Verwundert sah sie Nick an. Dieser war froh, dass weiße Kleckse in seinem Gesicht die aufsteigende Röte verdeckten. Er zuckte mit den Schultern und meinte beiläufig: „Vielleicht ist der Akku leer." Dabei nestelte er betont umständlich an seiner Kapuze herum, um Jasmin nicht in die Augen sehen zu müssen.

    „Habe ich doch frisch geladen", murmelte diese und schaltete das Mobiltelefon an.

    „So was kommt manchmal vor!", sagte Robert.

    „Ich höre mal schnell die Mailbox ab!"

    „Muss das sein?, warf Nick ein. „Zu spät sollten wir auch nicht los!

    „Geh doch schon mal, wenn du’s eilig hast!", pflaumte Jassy ihn an und drückte eine Kurzwahltaste.

    Beleidigt wandte sich Nick zum Gehen, doch Jessica packte ihn am Ärmel und zwinkerte ihm frech zu. Sie wollte die Situation mit einem ihrer unschlagbaren Scherze entschärfen, hielt aber plötzlich inne. Irgendetwas stimmte nicht. Jasmin schien unter der kalkweißen Schicht aus Tünche jede Farbe verloren zu haben. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre grünbraunen Augen starrten erschreckt ins Leere. Auch die beiden Jungs bemerkten, dass Jassy kurz vor einem Kollaps zu stehen schien. Nick wusste, dass er seiner Freundin eigentlich beistehen müsste, bewegte sich aber nicht. Instinktiv spürte er, dass er etwas verbockt hatte.

    Jessica trat zu Jasmin und legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern. Mit der anderen Hand ergriff sie das Telefon. Als wäre dies ein geheimes Signal, schlug Jassy reflexartig die Hände vors Gesicht. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Sanft zog Jessy die zitternde Freundin an sich und streichelte ihr zart den Rücken. Gleichzeitig rief sie die Nachricht auf der Mailbox erneut ab. Obwohl sie nur eine Hand frei hatte, drückte sie die „Sieben für „Nachricht wiederholen. Dann presste sie das Gerät an ihr Ohr.

    Zunächst glaubte Jessica, nur Störgeräusche zu hören. Schnell wurde ihr jedoch klar: Die seltsamen Laute gingen nicht auf das Konto einer wackeligen Netzverbindung. Dröhnendes Trommeln und wildes Klopfen schepperten ihr aus der Muschel entgegen. Dann hörte sie keuchenden Atem und schließlich eine Stimme, die vor Panik und Angst bebte: „Jasmin? Oh Gott, Jasmin! Komm schnell!"

    Jessica schluckte. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Als Gag-Spezialistin wusste sie sofort: Das hier war kein Scherz. Immer bedrohlicher schwoll das Klopfen im Hintergrund an. Das Getöse drohte die Stimme zu übertönen.

    „Oh nein, sie sind tatsächlich gekommen! Bitte hilf mir! Jasmin, bitte!"

    Das war eindeutig Jeannie. Sie bemühte sich, leise zu reden. Als das brutale Hämmern zu einem irren Stakkato anwuchs, begann sie zu schreien.

    „Die legen mich um! Bitte komm schnell! Bring Nick mit – und die anderen! Bitte! Helft mir! Um Himmels willen, ihr müsst mir helfen!"

    Das Trommeln und Klopfen wich einem ohrenbetäubenden Krachen. Dumpfes Gelächter, unverständliches Gebrabbel und unartikuliertes Grölen – eine Kaskade der Gewalt schoss so bedrohlich durch die Leitung, dass es Jessy eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper jagte. Sie fühlte sich, als wäre sie selbst mit dabei, als gelte der gnadenlose Angriff ihr. Eine irrationale Angst packte sie, die inneren Bilder verselbstständigten sich. Da waren Männer mit Knüppeln. Der Mob raste auf sie zu, johlende Hooligans schwangen ihre Stöcke. Als ihr Jeannies Schreie schrill in den Ohren hallten, zuckte Jessica unweigerlich zusammen. Ihr Kopf drohte zu platzen.

    „Bitte, Jassy, mach schnell. Aber kein Wort zu deinem Vater! Hast du verstanden? Das ist wichtig! Keine Polizei! Sonst …"

    Undefinierbare Geräusche unterbrachen den Hilferuf. Nervtötendes Knacken, Zischen und Rauschen verwies darauf, dass die Verbindung kurz vor dem Kollaps stand.

    „Oh nein, es ist zu spät!, schrie Jeannie. „Hilfe! Kommt schnell! Bitte!

    Das letzte „bitte war nur noch ein Kreischen. Erneut krachte ein Donnerschlag. Holz splitterte. Atmosphärische Störungen verzerrten höhnisch gegrölte Drohungen bis zur Unverständlichkeit. Mit einem Male wurde das tobende Chaos von elektronischem Knistern verschluckt. Ein letztes mechanisches Knacken klang noch aus dem Hörer, dann nichts mehr. Nur eine freundliche Computerstimme, die meldete: „Ende der neuen Nachrichten. Zum Wiederholen bitte die ‚Sieben‘ drücken!

    Ilka steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein wenig merkwürdig fand sie es schon, mit welcher Selbstverständlichkeit sie inzwischen hier ein und aus ging. Noch vor sechs oder sieben Wochen war sie verschüchtert vor ebendieser Wohnung gestanden, um ein Interview zu erbitten. Mittlerweile war sie hier eingezogen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern. Diese hatten Ilka in der Provinz für sicher gehalten, was „intime Affären betraf. Als langjährige Boulevardreporter dachten sie wohl stets in solchen Kategorien. „Beziehungen oder gar „Lebensgemeinschaften gab es in der Welt der Regenbogenpresse nicht, sondern nur „Affären.

    Ilka hielt kurz inne, bevor sie durch die Tür trat. Schmunzelnd dachte sie an den Moment zurück, als sie mit Fox vor der elterlichen Haustür in Berlin gestanden hatte. Es war ihr ein großes Bedürfnis gewesen, Vater und Mutter den Freund vorzustellen. Dem Herrn Papa war die Kinnlade so weit heruntergeklappt, als wollte er den Wannsee ausschlürfen. Frau Trebes hatte die Augen zusammengekniffen und Prancock von oben bis unten abschätzig gemustert. Mit einem eisgekühlten „Hier!" hatte sie ihm schließlich einen Platz angeboten.

    „Vielleicht hätte ich ihnen doch schon vorher mehr über Fox erzählen sollen!, war Ilka in jenem Moment durch den Kopf geschossen. Doch als sie im Vorfeld Fox’ Beruf erwähnt hatte, war ihr bereits aufgefallen, dass sich die Freude ihrer Eltern sehr in Grenzen hielt. Sie hatten sich für ihre Tochter etwas ganz anderes erträumt. Um weitere Enttäuschungen erst einmal abzuwenden, hatte Ilka es bei ihren regelmäßigen Telefonaten vermieden, auch Fox’ Alter anzusprechen. Nachdem dann statt einem jungen, dynamischen Ermittlungsyuppie ein Mann vor Papa und Mama Trebes stand, der ihrer eigenen Generation wesentlich näher war als der ihres Kindes, war ihnen sofort klar: „Oh Gott, unsere Kleine ist an einen Lustgreis geraten!

    Dennoch musste Ilka bei diesen Erinnerungen lächeln: Fox hatte sich sehr bemüht, den Anti-Gentleman nicht hervorzukehren. Mit einigen amüsanten Anekdoten aus seiner Biografie war es ihm sogar gelungen, Ilkas Mutter ein verschämtes Kichern abzuringen. Dieses war allerdings augenblicklich wieder erstorben, als er von seiner Tochter im Teenie-Alter erzählt hatte.

    Entschlossen riss sich Ilka los von den Gedanken an jenen Abend und drückte die Klinke herunter. Sie betrat die kleine Diele.

    „Hallo, Liebling!", rief sie in Richtung Küche, wobei sie die Tür hinter sich zuschob. Keine Antwort.

    Ilka sah sich um: Der alte, speckige Trench hing wie immer völlig schief an der Garderobe, also musste Fox zuhause sein. Sie ging in die Küche. Die knochigen Überreste einer Schnellmahlzeit vom Hähnchenstand gegenüber fetteten den Esstisch und eine Fernsehzeitung ein. Plötzlich hörte Ilka es: Lautstarkes Stöhnen kam aus dem Schlafzimmer, begleitet vom Quietschen des Bettgestells. Schlagartig fiel ihr wieder die spätere Gardinenpredigt ihrer Eltern ein. Sie hatten nach besagtem Abend – natürlich nur aus rein journalistischem Interesse – einiges über Fox Prancock zusammengesammelt: Zeitungsmeldungen, Radioberichte, Kommentare, sogar noch aus seiner Zeit bei der englischen Kriminalpolizei.

    „Der Mann, hatte ihr Vater halb entsetzt, halb triumphierend in die Muschel gehechelt, „ist für seine sehr lockere Auffassung von Moral bekannt und hat einen eindeutigen Ruf! Du wirst schon sehen, woran du bist, Ilka! Behaupte dann aber nicht, wir hätten dich nicht gewarnt!

    Ilka trat näher an die Schlafzimmertür heran. Sie erkannte Fox’ Stimme: „Na, komm schon, mach dich platt! Jetzt zier’ dich nicht! Warum denn so verklemmt? Die Worte des Kommissars klangen atemlos, fast schon gehetzt. „Ja! Ja! Das ist gut, stieß er verzückt hervor, dann erfüllte nur noch lautes Stöhnen und leises Quietschen den Raum. Schnellen Schrittes ging Ilka zur Tür und riss sie auf, genau in dem Moment, als Prancock in entrückter Ekstase wieder röhrte: „Ja! Ja!". Er hatte die Welt um sich herum völlig vergessen und bemerkte nicht einmal, dass seine Freundin hereinstürmte.

    Sie blieb vor dem großen Doppelbett stehen und hatte den Blick starr auf die Szene gerichtet, die sich direkt vor ihren Augen abspielte.

    Urplötzlich schrak Fox auf. Er sah Ilka und schaute verdattert zu ihr hoch. Nach einer Sekunde des Schweigens meinte er: „Hallo, Schatz! Sorry, hab dich gar nicht gehört! Hilfst du mir mal, diesen dämlichen Koffer zuzukriegen?"

    Ilka musste laut lachen, als sie Fox so zwischen Bett und Kommode auf einem hoffnungslos überfüllten Reisekoffer knien sah. Er versuchte, ihn mithilfe des eigenen Körpergewichts und einer Gürtelschlinge zu schließen.

    „Was gibt’s da zu lachen? Ich dachte mir eben, ich fange schon mal an mit der Packerei!"

    „Und ich war immer davon überzeugt, dass es eher ein weibliches Problem ist, das Reisegepäck unterzukriegen!", spöttelte sie gut gelaunt. Dann ging sie zu Fox, strich ihm zart durch die Haare und beugte sich zu ihm herab. Er küsste sie kurz, aber seinen freudigen Willkommensblick genoss Ilka noch viel mehr.

    „Sag mal, Fox, muss dein zweiter Trench denn mit? Es reicht doch der, den du anziehst, oder? Außerdem haben wir fast Sommer!"

    „Na gut, Frau Reiseleiterin! Aber ich sage Ihnen: Wenn ich mir im eisigen Frankreich den Arsch abfriere, dann …, murrte Prancock, ließ die Drohung aber unvollendet. Schließlich zog er den Mantel aber doch aus den abenteuerlich zusammengeknüllten Klamotten heraus. Mit einem lauten „Hauruck! schafften sie es schließlich tatsächlich, den Deckel so weit herunterzudrücken, dass die kleinen Schlösser des Koffers einschnappten.

    Fox richtete sich auf, wischte sich Schweiß von der Stirn und nahm Ilka in die Arme. „Jetzt erst mal richtig ‚Hallo‘!"

    Sie strahlte ihn an, doch mit einem Mal wurde ihr Blick fahl. Wie schockgefroren stand sie vor ihrem Freund. Die dunklen Augen starrten ausdruckslos durch Fox hindurch.

    „Was hast du denn?", fragte er verwirrt.

    Mit einer zaghaften Handbewegung bedeutete Ilka ihm, zum Bett hinüberzusehen. Auch Fox verwandelte sich augenblicklich in einen Eisblock: Auf dem Oberbett lagen zwei Stapel Herrenunterwäsche und ein buntes Knäuel Socken. Wieder blickten die zwei sich an, prusteten laut heraus und ließen sich auf die Bettkante plumpsen.

    „Wollen wir vielleicht nicht erst was essen?", fragte Ilka.

    „Ich hatte schon ein Hühnchen. Für dich ist noch eins da."

    „Und Jasmin?"

    „Konnte nicht sagen, ob sie noch mal vorbeischaut. Sie wollte mit ihren Freunden von der Band so viel wie möglich in der Wohnung erledigen."

    Der Taxifahrer hatte nicht schlecht gestaunt, als seine Fahrgäste einstiegen: vier farbverschmierte Jugendliche mit verkrusteten Klecksen auf der Kleidung, in den Haaren und Gesichtern.

    „Seid ihr Schwarzarbeiter auf der Flucht vor den Bullen?", juxte er unbefangen. Verwundert musste er allerdings feststellen, dass niemand auch nur ansatzweise über seinen Witz lachte. Die vier erschienen stattdessen ungemein nervös und angespannt.

    „Wohin soll’s denn gehen?", fragte er Jasmin, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

    Sie reagierte zunächst überhaupt nicht, sondern zitterte nur vor sich hin.

    „Die Kleine ist in ihren Gedanken aber ganz weit weg", stellte der Fahrer fest. Er musterte die junge Kundin verstohlen aus den Augenwinkeln und sah, dass sie Gänsehaut auf den Armen hatte.

    „Wohin bitte?", fragte er nochmals. Als er wiederum keine Antwort bekam, stieg seine Verwunderung weiter an und er räusperte sich.

    In diesem Moment schrak das Mädchen neben ihm hoch, als hätte er sie aus einem schlimmen Traum gerissen. „Entschuldigung!", nuschelte Jasmin kurz, dann nannte sie die Adresse von Jeannies Bauernhof.

    „Wird gemacht!", bemerkte der Mann und fuhr los.

    Mit Fahrrad und Bus hätte es zu lange gedauert, darüber waren sich Jassy, Jessy, Robby und Nick sofort einig gewesen. Flugs hatte man beschlossen, das für die Pizza verplante Geld in eine Taxifahrt zu investieren, auch wenn man vor dem Fahrer nicht offen reden konnte.

    „Was war da nur los?, randalierte die Ungewissheit in Jasmins durcheinandergewürfelter Gefühlswelt. Und noch eine weitere Frage machte Bungeesprünge in ihrem Kopf: „Warum keine Polizei?

    Jeannie wusste, dass Jasmin und ihr Vater inzwischen ein wirklich erwachsenes Vertrauensverhältnis zueinander hatten. Warum war es ihr dann so wichtig, dass die Polizei außen vor blieb, selbst wenn es um Leben und Tod ging?

    „Ganz schön weit draußen!", unternahm der Mann am Steuer seinen letzten Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. Mit einem freundlichen Seitenblick in Richtung Jasmin bemühte er sich, eine Reaktion zu erheischen. Das Mädchen sah nur flüchtig zurück. Ein scheues Lächeln blitzte kurz in ihrem Gesicht auf. Danach starrte sie wieder hinaus in die Nacht. Die Dunkelheit verschlang die schwachen Strahlen der maroden Scheinwerfer wie ein kleines Häppchen für zwischendurch. Auch die Lichter der Vorstadt waren mittlerweile nur noch eine Ahnung auf trüben Rückspiegeln.

    Dem Fahrer wurde mehr und mehr mulmig: Noch nie hatte er eine Wagenladung von Jugendlichen transportiert, die nur geschwiegen hatten. Außerdem: Was wollten die vier um diese Zeit auf einem alten, einsamen Bauernhof? Wenn Teenies einstiegen, ging’s normalerweise in die Disco und schon der Trip dorthin wurde zur Party. Meistens hatte er bei solchen Fahrten die neuesten Jokes, Hits und Trends mitbekommen.

    „Es ist einfach auf nichts Mehr Verlass, dachte er bei sich, „nicht mal mehr auf die Jugend von heute!

    Er schüttelte kurz den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Jessica bemerkte, dass sich Jasmins Finger in die Bezüge des Beifahrersitzes krallten. Sie blickte hinüber zu Nick, der blass und teilnahmslos aus dem Seitenfenster stierte. Von Zeit zu Zeit strich er mit dem Rücken seines Zeigefingers über die Scheibe, als wollte er, wie im Winter, den Beschlag vom Glas wischen. Sein nahezu apathisches Schweigen verwunderte Jessica: Auch wenn Nick ab und an eifersüchtig auf Jeannie, Ilka oder sie selbst war, käme es ihr niemals in den Sinn, an seiner Loyalität zu zweifeln. In Krisen- oder Katastrophenfällen hatte er immer Ideenreichtum und Tatendrang an den Tag gelegt. Nicht selten war ihm buchstäblich in letzter Sekunde der rettende Einfall gekommen, den er dann mit schöner Regelmäßigkeit aus dem Hut gezaubert hatte. Jessica stieß Robby leicht in die Seite. Ihr Freund wandte ihr den Kopf zu, zuckte kurz mit den Schultern und sah dann ebenfalls wieder geradeaus. Gut, beruhigte sich Jessica, für Robby ganz normal: einfach mit großen Augen dem entgegensehen, was da kommt.

    In Jasmins Gedächtnis hatte jemand „Repeat gedrückt. Wieder und wieder hörte sie, wie ihre kleine Hexe nach ihr rief: „Jasmin! Bitte! Sie fühlte sich schuldig, die Freundin alleine gelassen zu haben. Krachen und Splittern ließen Jassys Brummschädel nahezu bersten. Immer lauter donnerten die zerstörerischen Schläge und entluden sich in einem Gewitter aus purem Hass. Zwischen explosionsartigem und wuchtigem Tosen ging das Flehen und Kreischen mehr und mehr unter: „Jasmin! Jasmin!" Dieser Soundtrack passte jedoch nicht zu dem rasant geschnittenen Videoclip in Jassys Kopfkino. Aufnahmen von wundervollen, gemeinsamen Momenten flitzten vorbei: Sie tanzte mit Jeannie um ein nächtliches Lagerfeuer, schwamm mit ihr im klaren Wasser eines Waldsees und blickte ihr immer wieder tief in die unergründlichen Augen.

    Das Taxi passierte eine Bushaltestelle. Szenenwechsel: Die erste Begegnung mit Jeannie. Genau hier war es gewesen, vor gar nicht allzu langer Zeit. Jasmin hatte diese junge Frau mit dem spitzbübischen Lächeln sofort unter der Rubrik „Allerliebste Menschen" auf die CD-Rom ihrer Gefühle gebrannt.

    Ihre Fingernägel drohten fast, das Sitzpolster zu durchstoßen, als der Wagen plötzlich anhielt. Robby sah verdutzt auf, als wäre er aus einem kleinen Nickerchen erwacht. Jessica schaute mit erwartungsvoller, doch auch leicht ratloser Miene in die Runde. Nick schien noch nicht einmal bemerkt zu haben, dass sie angekommen waren. Seine Augen fixierten noch immer stur einen Punkt jenseits der Seitenscheibe. Er vermied jeglichen Blickkontakt. Jasmin musste sich zwingen, das in ihr ablaufende Programm herunterzufahren. Ohne nachzudenken, zog sie den Geldbeutel hervor und fragte: „Wie viel?"

    „Fünfundzwanzig! Ist alles roger, oder soll ich hier warten?"

    „Nein danke!", durchbrach Jessicas Stimme vom Fond her die quälende Schweigesekunde.

    „Na gut!", murmelte der Fahrer, kassierte und wartete, bis seine seltsamen Fahrgäste ausgestiegen waren. Dann fuhr er mit durchdrehenden Reifen davon, als wäre der Gehörnte persönlich hinter ihm her und wollte ihn rechts überholen.

    Jeannies altes Gehöft lag still und finster vor den vier Freunden. Die laue Luft verströmte das behagliche Flair einer Frühsommernacht, aber die Herzen der Jugendlichen spielten Technoparty. Jessica machte einen Schritt auf die Haustüre zu. Robert packte sie am Ärmel und hielt sie fest.

    „Spinnst du?, keuchte er. „Wir haben keine Ahnung, was da überhaupt abgeht! Du kannst da nicht so einfach rein!

    Jessica hasste es, belehrt zu werden. Obwohl sie wusste, dass ihr Freund recht hatte, zischte sie ihm ein vernichtendes „Lass mich!" entgegen.

    „Stimmt schon, was Robby sagt", flüsterte Jasmin in die aufgeladene Atmosphäre hinein. Dabei verspürte sie, wie tiefe innere Ruhe sie ergriff. Aller Beklemmung zum Trotz wechselte die Panik in den Pausenmodus und machte Platz für klare Gedanken. Drei Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf Jassy. Sie war soeben stillschweigend, in geheimer Wahl zur Anführerin ernannt worden.

    „Wir wissen nicht, was uns in dem Haus erwartet …, begann sie, und Nick ergänzte: „… oder wer!

    „Oh Mann, fiel Robert jetzt mit ein, „wir sind einfach planlos durchgestartet …

    „Für Kriegsrat war ja wohl keine Zeit mehr, oder?, herrschte Jessica ihn, so leise sie konnte, an. „Wir sind unbewaffnet! Und was wir da auf der Mailbox gehört haben, klang verdammt gewalttätig!

    „Seid bitte still! Wir müssen erst mal feststellen, ob es was Verdächtiges gibt." Kaum hatte Jassy das ausgesprochen, verstummten die anderen auch schon. Jasmin fühlte sich nahezu wie in Trance: Die Stimmen und Bilder waren aus ihr verschwunden, es gab nur noch das Hier und Jetzt – die Dunkelheit, die Schatten ihrer Freunde, die Geräusche: Wind umstrich eine alte, verloschene Laterne. Die Scharniere etlicher Tore und Türen quietschten leise vor sich hin. Vom nahen Wald klangen die Laute der Nachtvögel herüber. Jasmin schloss die Augen und lauschte.

    „Nichts!, sagte sie schließlich. „Wir gehen rein, aber leise, klar?

    Niemand antwortete. Nick war als Erster an der Haustüre. Wie in Zeitlupe legte er seine Hand auf die schmiedeeiserne Klinke. Das Pochen in den Ohren erschien ihm unerträglich laut. Er spürte, wie seine Finger zitterten, und glaubte fast, Schweißtropfen auf die Treppe platschen zu hören. Sachte drückte er die Klinke herunter.

    Ein ohrenbetäubender Knall donnerte los. Augenblicklich warf sich Nick zu Boden. Die anderen erstarrten. Alle erwarteten eine Stichflamme, doch die scheinbare Detonation verhallte ohne Rauch und Feuer.

    „Verdammt, was war das denn?", fragte Robert.

    „Die Tür!, antwortete Jessica. In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Hysterie mit. „Sie ist komplett nach draußen gefallen.

    „Wieso haben wir eigentlich keine Taschenlampen dabei?", fragte Robert und versuchte mit zusammengekniffenen Augen etwas im Mondlicht zu erkennen.

    „Coole Frage, Robby, schnaubte Nick. „Hättest du die nicht vor einer Dreiviertelstunde stellen können? Er rappelte sich umständlich wieder auf.

    Alle starrten schweigend zu der dunklen Türöffnung hin.

    „Und wenn wir doch die Polizei rufen?", wagte Jessica die Stille zu durchbrechen.

    „Nein!", reagierte Nick ungewohnt heftig. Das Bild vor seinem inneren Auge wollte und wollte nicht verblassen, ja, nicht einmal vergilben: Jasmins Handy, auf dessen Display Jeannies Nummer blinkte. Das Mobiltelefon klingelte und klingelte und klingelte …

    „Nick hat recht, stimmte Jasmin zu, „Jeannie hat das bestimmt nicht nur so gesagt! Aber egal – wir gehen jetzt da rein!

    Jassy betrat als Erste die Diele. Sie blinzelte und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.

    „Mannomann, draußen hatten wir wenigstens Mondlicht!", stellte Robert fest.

    „Kannst du nicht schnell das Dach abdecken?", versuchte Jessica die Freunde wenigstens ein bisschen aufzumuntern.

    „Hier muss doch irgendwo ein Lichtschalter sein!", sagte Jasmin, mehr zu sich selbst. Sie tastete sich an der Wand entlang, auf das Treppenhaus zu. Die hölzernen Stiegen führten zu Jeannies Wohnzimmer im ersten Stock hinauf. Vorsichtig arbeiteten sich die Jugendlichen Schritt um Schritt vorwärts.

    Plötzlich stolperte Jasmin. Ihr Aufschrei zerfetzte die atemlose Stille. Rumpelnd polterte es unter ihr. Sie ruderte mit den Armen und versuchte das Gleichgewicht zu halten, fiel aber schließlich in das Schwarz der Nachtschatten hinein. In diesen Sekundenbruchteilen durchlebte sie noch einmal die schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens: ihre Entführung und die Gefangenschaft in einem muffigen, modrigen Keller. Sie glaubte, wieder in jenes Loch hinabgestoßen zu werden, erwartete einen nicht enden wollenden Sturz in die Schrecknisse ihrer Erinnerung. Jasmin prallte mit den Knien hart auf Holz, ihre Hände schürften, Halt suchend, über Staub und Spreißel. Schmerz und Wut stoppten die scheinbare Endlosigkeit des Falls. Ein weiteres Krachen dröhnte durch den dunklen Flur, als Jasmins Ellenbogen auf eine der Stufen knallten. Keuchend zog sie sich am Geländer hoch und setzte sich auf die Treppen. Sie hatte ihre Orientierung wiedergefunden und blinzelte in Richtung Tür. Zwinkernd bemühte sie sich, die Schatten, die sich vom schwach hereindringenden Mondlicht abhoben, ihren Freunden zuzuordnen. Ohne lange nachzudenken leckte Jasmin an der aufgeschürften Handfläche und schüttelte sich, als der Geschmack von Schmutz und Blut bitter auf der Zunge prickelte. Die offenen Wunden brannten und pulsierten schmerzhaft.

    „Ich bin auf der Treppe! Kommt her, aber passt auf! Da liegt ein Stuhl oder so im Weg. Kurz vor der Stiege muss irgendwo ein Lichtschalter an der

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