Wie konnte Gott Mensch werden?: 16 Modelle der christlichen Zweinaturenlehre
By Lukas Ohly
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Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Studierende der Theologie, Religionswissenschaften und für alle, die dem Kern christlicher Modellentwicklung auf die Spur kommen wollen.
Lukas Ohly
Dr. theol. Lukas Ohly ist apl. Prof. für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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Book preview
Wie konnte Gott Mensch werden? - Lukas Ohly
Impressum
Wie konnte Gott Mensch werden?
16 Modelle der christlichen Zweinaturenlehre
Lukas Ohly
published by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
© Lukas Ohly
ISBN 978-3-8442-8272-6
Inhaltsverzeichnis
Einleitung. 2
Nestorius von Konstantinopel – Die phänomenologische Einheit von Gott und Mensch 6
Kommentar und Weiterführung. 9
Cyrill von Alexandrien – Untereinander angeordnete Naturen. 13
Kommentar und Weiterführung. 17
Das Chalcedonense – Das personale Bestimmtwerden durch Anderes. 22
Kommentar und Weiterführung. 24
Die lutherische Interpretation der Communicatio Idiomatum.. 29
Kommentar und Weiterführung. 33
Johannes Calvin – Das Extra-Calvinisticum.. 40
Kommentar und Weiterführung. 45
Friedrich Schleiermacher – Die Einheit des Prozesses mit dem Gehalt 48
Kommentar und Weiterführung. 55
Karl Barth – Der Vorrang des Werdens vor dem Sein. 61
Kommentar und Weiterführung. 65
Paul Tillich – Das Neue Sein als Symbol Gottes. 70
Kommentar und Weiterführung. 74
Gerhard Ebeling – Die Einheit in der Relation. 81
Kommentar und Weiterführung. 84
Wolfhart Pannenberg – Die Identität eines abgeschlossenen Prozesses. 90
Kommentar und Weiterführung. 94
Jürgen Moltmann – Die Vereinigung der Personen in einer Natur 99
Kommentar und Weiterführung. 103
Friedrich-Wilhelm Marquardt – Israel als Integral von Gott und Mensch. 109
Kommentar und Weiterführung. 116
Ingolf U. Dalferth – Der einheitliche Referenzrahmen des Handelns Gottes. 120
Kommentar und Weiterführung. 125
Wilfried Härle –Was Wesen und Erscheinung verbindet 130
Kommentar und Weiterführung. 135
Dietrich Korsch – Die Unbedingtheit von Selbst- und Weltverhältnis in der richtigen Form 139
Kommentar und Weiterführung. 144
Hermann Deuser – Verschlungene Repräsentationen. 149
Kommentar und Weiterführung. 154
Schluss: Tendenzen der christologischen Modelle. 157
Einleitung
Bestimmt hätte Gott auch einfach irgendjemanden von den Toten auferwecken können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt käme aber die Frage auf, wie viel von seinem Menschsein dann noch übrig geblieben wäre. Dieselbe Frage reicht ins Leben dieses Menschen, sobald seine Auferweckung in Zusammenhang zu seinem Leben steht. Wenn es dieser Mensch gewesen ist, der aus Nazareth kam, einige Jahre um den See Genezareth herumstrich, um dort das Reich Gottes anzusagen – und der dann schließlich von Gott auferweckt wurde, dann wird der Zusammenhang fraglich zwischen seinem Menschsein und dem, was durch seine Auferweckung von seinem Menschsein übrig geblieben wäre. In einer zeitlichen Abfolge lässt sich dieser Zusammenhang nicht darstellen: Denn nehmen wir einmal an, dieser Mensch wäre bis zu seinem Tod ein Mensch gewesen und nach seiner Auferweckung zu einem anderen Wesen verwandelt worden. Welche ontologische Basis besteht dann noch, in beiden Stadien von demselben Wesen zu sprechen? Selbst eine Referenztheorie, die auf einen und denselben Gegenstand referiert[1], ohne dabei auf seine Eigenschaften Bezug zu nehmen, führt hier nicht weiter. Denn dazu müssten zumindest die faktischen Bedingungen, unter denen wir einen Gegenstand erstmalig identifizieren, auf alle kontrafaktischen Situationen zutreffen, in denen wir noch von ihm reden und auf ihn referieren.[2] Dann wäre also dieser Auferweckte immer schon ein anderes Wesen gewesen. Und das heißt, dass er entweder nie ein Mensch war (Doketismus) oder dass er eine Art Zwitterwesen zwischen Mensch und Übermensch ist.
Nehmen wir dagegen an, es sei einem Menschen möglich, von den Toten aufzuerstehen. Dabei sei nicht eine Rückkehr ins irdische Leben gemeint, sondern eine Existenzweise, die mit den traditionellen Begriffen „Himmelfahrt und „Sitzen zur Rechten des Vaters
verknüpft ist. Immerhin nehmen Christen an, dass sie auch einmal von den Toten auferstehen werden. Dann besitzen Menschen also mögliche Eigenschaften, die sie zurzeit noch nicht realisieren können aufgrund ihrer spezifischen menschlichen Natur. Verändert sich dann nicht ihre Natur, sobald sie von den Toten auferstehen? Wenn sie sich aber nicht verändern soll und dennoch die Auferstehung für die menschliche Fortexistenz nach dem Tod wesentlich ist, so muss eine naturinterne Differenz unterstellt werden: Es verträgt sich dann mit der menschlichen Natur, dass sie Eigenschaften annehmen kann, die sie verändern, ohne dass sie dabei eine andere Natur wird. In diesem Fall muss die Identität der Menschen durch etwas sichergestellt werden, das nicht ihre Natur allein sicherstellen kann, aber doch mit ihr vereinbar ist. Diese Strategie verfolgt die christliche Zweinaturenlehre.
Die Zweinaturenlehre ist das ontologische Zentrum des christlichen Glaubens. Sie erschöpft sich nicht nur in der Frage, wie Jesus sowohl Gott als auch Mensch sein konnte. Denn wie wir eben gesehen haben, schließen zentrale Motive des christlichen Glaubens ein Wirklichkeitsverständnis ein, in dem auch unser Menschsein auf dem Spiel steht. Die Aussage, dass Gott Mensch wurde, ist zwar nicht der historische Ausgangspunkt des christlichen Glaubens, sondern die Erfahrung der Auferstehung Jesu von den Toten. Es ist aber folgerichtig, das Verhältnis seines Menschseins mit seinen Eigenschaften zu reflektieren, die seit seiner Auferstehung hinzugekommen sind. Dass Gott Mensch wurde, reflektiert also in geltungslogischer Hinsicht das Erste, während die Auferstehung Jesu dann das Zweite ist.
Damit ist aber nur das Problem formuliert und noch nicht gelöst. Wie Gott Mensch werden konnte, ohne beides zu relativieren oder in einem Dritten („Zwitter) aufzuheben, ist die entscheidende Herausforderung der christlichen Ontologie. Es geht um nichts weniger als um das Zusammensein Gottes bei den Menschen: Wie kann Gott bei seiner Schöpfung sein, ohne selbst zum Geschöpf zu werden? Wie kann er Mensch werden, ohne seine Gottheit aufzugeben? Dieses Problem werde ich im Fortgang das „Problem der Zweinaturenlehre
, das „Zweinaturenproblem oder das „christologische Problem
nennen.
In diesem Buch habe ich 16 theologische Modelle zur Zweinaturenlehre konstruktiv dargestellt. Ich lasse es also nicht dabei bewenden, diese Modelle nachzuerzählen. Vielmehr benutze ich sie als Werkzeuge, um das Herzstück der Ontologie des christlichen Glaubens zu entfalten. Insofern werden meine Interpretationen manchem Leser etwas kühn vorkommen. Ich bohre tief, um Aufschluss über das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens zu bekommen, das in diesen Modellen zum Ausdruck gebracht wird. Jedes Modell wird daher etwa in gleichen Anteilen einen schwerpunktmäßig referierenden Abschnitt und eine kritische Weiterführung enthalten. Doch selbst diese Abschnitte sind nicht methodisch klar getrennt, sondern geben nur eine Tendenz meiner Interpretationsarbeit wieder. Theologische Fortgeschrittene werden teilweise andere Schlüsse ziehen, als ich es tue. Falls es so ist, so handelt es sich auf meiner Seite um ein produktives Missverstehen der Sache wegen. Nicht primär der jeweilige Autor soll zu seinem Recht kommen, sondern die Sache, die er meint.[3]
Dieses Buch ist zugleich mit einer hohen Wertschätzung für die geistigen Werke der behandelten Autoren verbunden. Ich teile sie nicht ein in orthodoxe und häretische Autoren und fühle mich in der Interpretation einer bestimmten konfessionellen Prägung aus methodischen Gründen nicht verbunden. Glücklicherweise sind die Zeiten überwunden, in denen Theologen mit ihrem Denken riskierten, auf dem Scheiterhaufen zu landen. Diese sachliche Entkrampfung führt dazu, dass sie auf Augenhöhe zueinander behandelt werden können. Zugleich kann spielerisch mit ihren Gedanken umgegangen werden. Die Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Autor war für mich außerordentlich fruchtbar, weil ich das Wahrheitsinteresse jedes einzelnen Modells stark gespürt habe. Deshalb habe ich stets in meiner Weiterführung versucht, das jeweilige Modell so weiterzuentwickeln, dass es so stark wie möglich wird und das Problem der Zweinaturenlehre möglichst umfassend löst. Diese Weiterführungen sollen jeweils meine Wertschätzung für die Autoren bezeugen. Deshalb werde ich versuchen, aus ihren eigenen Modellressourcen schlüssige Fortentwicklungen zu generieren. Ich halte Theologie für Modellierungsarbeit[4], weswegen ich frei, spielerisch und konstruktiv mit theologischen Lehrentwicklungen umgehe.
Bei der Auswahl der Autoren liegt der klare Schwerpunkt in der Modellentwicklung der deutschsprachigen evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts. Die übrigen Autoren oder die Konzilsentscheidung von Chalcedon sind dagegen vor allem aus hermeneutischen Gründen ausgewählt worden, um eine grobe Linie zur methodischen Herangehensweise zu ziehen, wie sie die Theologie im 20. Jahrhundert prägt. Paradigmatisch für die christologische Lehrentwicklung war der sogenannte nestorianische Streit zwischen dem Bischof von Konstantinopel Nestorius und dem alexandrinischen Bischof Cyrill im 5. Jahrhundert. In der Folge führte er zum zentralen christologischen Dogma von Chalcedon im Jahr 451. Diese drei Modelle werden jedoch weitgehend für sich untersucht, ohne auf den kirchengeschichtlichen und politischen Kontext einzugehen. Auf diese Weise soll jedes Modell vorbehaltlos auf seine Stärken hin untersucht werden.
Eine zweite zentrale theologiegeschichtliche Auseinandersetzung zeigt sich in den innerreformatorischen Meinungsverschiedenheiten zur Präsenz Christi beim Abendmahl. Ihnen liegt zwar das gemeinsame Modell der Communicatio Idiomatum zugrunde, das im entsprechenden Kapitel auch als hermeneutische Folie der Christologie untersucht und gewürdigt werden soll. Lutheraner und Reformierte brachten darüber hinaus unterschiedliche Innovationen ein, die eine eingehende Untersuchung wert sind. Zuletzt rundet der Blick auf Friedrich Schleiermachers christologischen Ansatz aus dem 19. Jahrhundert den historischen Ausflug ab. Schleiermachers Ansatz ist im ausgehenden 20. Jahrhundert vor allem von Dietrich Korsch aufgenommen und weiterentwickelt worden.
Dieses Buch soll als Lehr- und Arbeitsbuch zur eigenen intensiveren Beschäftigung mit den Primärtexten einladen. Deshalb habe ich weitgehend auf den Verweis von Sekundärliteratur verzichtet. Am ehesten bringe ich ihn in der Darstellung der altkirchlichen Texte ein, da es sich zum einen um fremdsprachige Texte handelt, die oft ungenau übersetzt sind (bei Cyrill) oder nur sehr fragmentarisch vorliegen (bei Nestorius). Sekundärliteratur hat hier eine korrektive Funktion und wird auch nur darauf beschränkt. Ansonsten aber möchte ich meine Interpretation an den Primärtexten direkt vornehmen, um den Lesern den Einstieg zu erleichtern, ihre Beobachtungen direkt an den Texten abzugleichen, ohne vorher ein Gestrüpp von Sekundärverweisen abgehen zu müssen. – Für die intensivere Beschäftigung mit den Autoren findet sich hin und wieder ein Exkurs über die literarische Abhängigkeit eines Modells von bestimmten philosophischen Richtungen – dies trifft vor allem auf meine Darstellung von Paul Tillich und Hermann Deuser zu. Solche Exkurse sollen Denkfiguren leichter nachvollziehbar machen und Anschlusspunkte für eine vertiefende Beschäftigung setzen, sind aber ansonsten für die Erstbegegnung mit den Texten entbehrlich.
Am Anfang jedes Kapitels stelle ich einen oder zwei Literaturtipps voran, in denen sich die Leser „aus erster Hand" über das jeweilige christologische Modell informieren können. Dabei wird auffallen, dass ich jeweils nur relativ kurze Abschnitte als zentrale Textstellen vorschlage. Zwar habe ich die vorgeschlagene Textauswahl auf die wichtigsten Passagen komprimiert, um den Lesern eine schnelle Übersicht in der Primärliteratur zu erleichtern. Dennoch überrascht, dass sich die neuzeitlichen Autoren – Schleiermacher eingeschlossen – mit dem Zentrum des christlichen Wirklichkeitsverständnisses nicht annähernd intensiv beschäftigen wie noch die Theologie bis ins Zeitalter der Reformation. Das ist ein überraschender Befund, der darauf hindeutet, dass die Probleme neuzeitlicher christologischer Lehrbildung anders gelagert erscheinen und man von der Zweinaturenlehre weniger Lösungspotenzial für diese Probleme erwartet. Fragt man etwa nach dem Sinn des Kreuzestodes, so wird in erster Linie das Theodizeeproblem berührt. Fragt man nach der Möglichkeit von Auferstehung, so werden anthropologische und/oder naturwissenschaftliche Fragen gestellt. Allerdings zeigen die behandelten Autoren, dass ihr methodischer Weg auch Konsequenzen für die Auffassung der Zweinaturenproblematik hat. Ich stelle deshalb die umgekehrte These auf, dass eine konsequente Bearbeitung des Zweinaturenproblems auch Horizonte eröffnet, wie das Kreuz Christi theologisch zu entschlüsseln ist und wie seine Auferstehung von den Toten möglich ist.
Zitatangaben aus den Quellen, denen die vorgeschlagenen Textpassagen entnommen sind, werden im Haupttext erscheinen, während die übrige Literatur wie üblich als Anmerkungen aufgeführt werden.
Als Lehr- und Arbeitsbuch ist dieses Buch nicht darauf angelegt, dass es kontinuierlich in eine Richtung gelesen wird. Ich selbst habe die Kapitel nicht in der chronologischen Reihenfolge geschrieben, wie sie jetzt vorliegen. Die Leser können sich ihre „Rosinen rauspicken". Sie können sich sowohl auf die Autoren konzentrieren, die sie besonders interessieren, als auch sich entscheiden, ob sie ausschließlich referierende Abschnitte lesen möchten oder ein jeweiliges Gesamtkapitel. Kundige Leser werden bei ihrer Lektüre ihren Schwerpunkt in meiner konstruktiven Weiterführung setzen. Das Buch gibt keine fertigen Antworten, sondern gibt einen Werkstattbericht für eine Arbeit, die es wert ist, fortgesetzt zu werden.[5]
Nestorius von Konstantinopel – Die phänomenologische Einheit von Gott und Mensch
Brief des Nestorius an Cyrill; in: P.-Th. Camelot: Ephesus und Chalcedon. Geschichte der ökumenischen Konzilien Bd. II; Mainz 1963, 225– 228; Tragoedia oder Historia; in: F. Loofs (Hg.): Nestoriana. Die Fragmente des Nestorius; Halle 1905, 203–208 (Fragment); im Folgenden T abgekürzt
Von Nestorius liegen nur wenige Dokumente vor, die zudem oft fragmentarisch sind. Manche Dokumente warten noch auf eine Übersetzung. So liegt das größte Fragment, die Tragoedia, in syrischer Sprache vor und ist wiederum nur teilweise durch Referate anderer altkirchlicher Theologen ins Griechische oder Lateinische übersetzt worden. Daneben lässt sich seine Position einigermaßen rekonstruieren durch die gedankliche Auseinandersetzung mit ihm, die Cyrill von Alexandrien vor allem mit dem Buch „Quod unus sit Christus" nach dem Konzil in Dialogform nachträglich nochmals geführt hat.[6] Der geringe Quellbestand ist auf die Verurteilung des Nestorius auf dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 zurückzuführen. Der Bischof Nestorius von Konstantinopel hatte in einem Streit zwischen den damaligen theologischen Hochburgen Alexandria und Antiochia einen Schlichtungsversuch unternommen, der aber von alexandrinischer Seite als Parteinahme für Antiochia gewertet und schließlich Nestorius zum Verhängnis wurde.[7] In diesem Kapitel soll geprüft werden, ob Nestorius’ Erklärung, wie der Mensch Jesus zugleich Gott sein kann, wirklich so erhebliche Mängel aufweist, wie man ihm vorgeworfen hatte.
In dem Streit ging es darum, ob Maria, die Mutter Jesu, „Gottesgebärerin (Theotokos) oder „Menschengebärerin
(Anthropotokos) genannt werden dürfe. Die alexandrinische Schule vertrat die erste Position. Nestorius brachte in den Streit den Kompromissbegriff „Christotokos ein: Christusgebärerin (231). Wichtig war ihm dabei, die Gottheit Jesu Christi nicht zu vermenschlichen oder gar von einem Mensch, Maria, abhängig zu machen. Eine Vermischung der göttlichen mit menschlichen Eigenschaften müsse vermieden werden. „Das alles, was das Wort in dem mit ihm vereinigten Fleisch um unsertwillen auf sich genommen hat, ist gewiß anbetungswürdig, aber es seiner Hoheit zuzuschreiben, wäre eine Lüge
(232). Ein solcher Satz hat Nestorius den Vorwurf eingebracht, er bete zwei Christusse[8] oder gar einen Menschen[9] an. Dieser Vorwurf ist terminologisch nicht unberechtigt, gibt aber die Sache nicht ganz richtig wieder. Nestorius wollte gerade nicht die menschlichen Eigenschaften vergöttlichen: In Christus werde die menschliche Natur von Gott zu eigen gemacht (231). Eine solche „Aneignung dürfe aber nicht heißen, dass die menschlichen Eigenschaften dem göttlichen Logos zugeschrieben werde (231f.). Nestorius will also gerade verhindern, dass die menschliche Natur angebetet und verehrt wird, und stellt sich in diesem Punkt gegen die Alexandriner und gegen Cyrill. Daher betont er ihm gegenüber die Unterschiedenheit der göttlichen und der menschlichen Natur. „Er ist nämlich Sohn Davids dem Fleische nach und sein Herr der Gottheit nach
(231).
Dementsprechend besteht die große Herausforderung darin, die Einheit in Christus herauszustellen. Hierfür bedient sich Nestorius dreier begrifflicher Werkzeuge. Das erste Werkzeug besteht in der Differenz zwischen Gott und Gottheit (T 205). Der Sohn Gottes (231) vereinigt sich mit der menschlichen Natur, also nicht die Gottheit selbst, sondern der Logos (T 205), Gott in seiner zweiten trinitarischen Position. Ohne die Unterscheidung von Gott und Gottheit würden Verdrehungen entstehen, dass etwa der Heilige Geist die Gottheit zeugt und zu seinem Geschöpf macht (231) und dass die göttliche Substanz verändert werde (T 205). Unter Gottheit scheint dabei Nestorius die göttliche Natur zu meinen („Natur der Gottheit", 231), die nicht in die Welt eingehe oder vergänglich und leidensfähig (230f.) werden könne. Die Einigung der beiden Naturen dagegen ereignet sich anscheinend in der Welt. So zitiert Nestorius einen Teil der Einsetzungsworte Jesu beim letzten Abendmahl und kommentiert sie folgendermaßen: „’Dies ist mein Leib’ – und nicht ‚meine Gottheit’ –, der für euch hingegeben wird… Vielmehr war das die mit der Natur der Gottheit vereinigte Menschennatur" (231). Damit ist ein Doketismus abgewehrt, wonach das Dasein Gottes in dem Menschen Christus nur eine Erscheinung gewesen ist. Nestorius scheint vielmehr an der Menschwerdung Gottes festzuhalten, ohne allerdings die Menschwerdung der Gottheit zuzuschreiben. Die Gottheit bleibt über diesem Geschehen erhaben und unberührt. Das heißt nichts anderes als dass sich die Einigung der beiden Naturen außerhalb der göttlichen Natur vollzieht.
Doch worin besteht der theologische Unterschied zwischen Gott und Gottheit? Ist Gott weniger als Gottheit? Die Kompromissformel „Christotokos scheint ja anzudeuten, dass Christus ein Drittes aus zwei Naturen darstellt, nämlich weder Gottheit noch menschliche Natur, weil er Gott ist. Nestorius zieht dafür biblische Textstellen heran, nach denen auch andere Menschen von Gott „Gott
genannt werden – Mose etwa oder das Volk Israel (T 206f.). Auch seien die Könige Saul, Kyrus und David „Christus" genannt worden (T 207). An dieser Stelle droht Christus zu einem Nebengott zu werden.
Das bestätigt das zweite Werkzeug, das die Einheit der beiden Naturen in Christus nur nominell vollzieht. Die Gemeinschaft der Namen, etwa von Mose und Christus, macht nicht die Gleichheit ihrer Würde (T 207). Christus ist der Name für die gemeinsamen Eigenarten beider Naturen (229). Indem die Väter des nicänischen Glaubensbekenntnisses diesen einen Namen vorangestellt haben, „wollten sie einerseits vermeiden, daß man die zur Natur des Sohnes und des Herrn gehörigen Namen trennte, andererseits der Gefahr begegnen, daß man die Eigenarten der beiden Naturen einfach verschwinden und in der einen und einzigen Sohnschaft aufgehen läßt (229). Spürbar ist hier, wie Nestorius sich bemüht, Christus nicht als Drittes, als „Zwitter
beider Naturen erscheinen zu lassen: Darum soll keine Vermischung „zu einer einzigen Sohnschaft" statthaben. Zugleich wird aber für Nestorius das Problem nur nominell gelöst: Die Väter benutzten einfach einen Namen für das Wechselspiel der Naturen. „’Jesus’, ‚Christus’, ‚eingeboren’ und ‚Sohn’ seien angeblich „Bezeichnungen, die der Gottheit und Menschheit gemeinsam sind
(229). In diesem Argument liegt teilweise ein Zirkelschluss vor, denn „Jesus Christus wird einerseits als Name eingesetzt und andererseits als Eigenschaft, die die Namensnennung mit „Jesus Christus
rechtfertigen soll. Somit bleiben nur die beiden anderen Eigenschaften „eingeboren und „Sohn
als reale gemeinsame Eigenschaften übrig. Führen sie über eine nominelle Einheit hinaus zu einer realen Einheit? Bleibt man auf der Ebene der Natur, also der nicht-individuellen Allgemeinheit der Eigenschaften von Gottheit und Menschheit, so kann auch nur in einem allgemeinen Sinn gesagt werden, dass „eingeboren und „Sohn
gemeinsame Eigenschaften sind. So wie ich der Sohn meiner Eltern bin, sind alle Männer Söhne ihrer Eltern. Aber daraus folgt nicht, dass wir eine reale Einheit bilden, weil wir nämlich verschiedene Individuen sind. Vielmehr lässt sich allenfalls eine einheitliche Klasse nominell bilden: die Klasse der Söhne. Von der Klasse aller Söhne kann allerdings nicht gesagt werden, dass sie selbst ein Sohn ist. Nestorius macht dementsprechend Christus zu einer Klasse von verschiedenen Individuen, die einige gemeinsame Eigenschaften besitzen. Als Name für diese Klasse ist Christus aber keines der Individuen, die in ihr vorkommen.
Für eine reale Einheit müsste also anstatt von „gemeinsamen Eigenschaften" der beiden Naturen von den Eigenschaften eines Individuums gesprochen werden. Geht man über die Eigenschaften, um dieses Individuum zu bestimmen, so kann es folglich nur ein Individuum geben, das diese Eigenschaften zugleich besitzt. Die Konjunktion der Eigenschaften „Sohn" und „eingeboren" erfüllt allerdings diese Bedingung noch nicht. Sie würden sie nur dann erfüllen, wenn die Relation zu Gott dem Vater mit prädiziert werden würde: Christus ist dann der, der sowohl in seiner göttlichen also auch in seiner menschlichen Natur der eingeborene Sohn Gottes des Vaters ist. Obwohl also die Naturen sich gegenseitig widersprechen, kann mit Christus auf ein Individuum referiert werden, das beide Naturen hat. In diesem Fall ist Christus der logische Referent eines Individuums, auf das zwei einander widersprechende Beschreibungen zutreffen.
Solche scheinbar paradoxen Referenzen sind nicht selten und in der analytischen Philosophie[10] herausgearbeitet worden. Paradigmatisch ist hierfür der Stern Venus und seine Eigenschaft, als erster Stern am Abendhimmel zu erscheinen und auch am Morgen noch am hellsten sichtbar zu sein. So ist es begrifflich falsch, die Eigenschaft, Abendstern zu sein, so zu beschreiben: „Der Abendstern scheint am Morgen. Empirisch aber kann dieser Satz wahr sein. Es liegt aber dann eben nicht an der Eigenschaft, Abendstern zu sein, dass der Abendstern am Morgen scheint. Sondern es liegt daran, dass der Stern, der die Eigenschaft hat, der Abendstern zu sein, auch die Eigenschaft hat, der Morgenstern zu sein. Während sich also die Eigenschaften „Abendstern
und „Morgenstern" in ihrer Bedeutung gegenseitig ausschließen, können auf ein und denselben Stern beide Eigenschaften zutreffen.
Legt man dieses Verständnis zugrunde, so helfen also gerade keine nominellen Lösungen, um das christologische Problem zu beheben. Es hilft dann auch nicht, Christus über „gemeinsame Eigenschaften oder auch über den Vergleich von Eigenschaften zu identifizieren. Vielmehr kann ein Individuum auch Eigenschaften besitzen, die sich auf rein begrifflicher Ebene gegenseitig ausschließen. Das dritte Werkzeug, dessen sich Nestorius bedient, geht in diese Richtung, die kontingente Identität zwischen Christus in zwei Naturen zu begründen, obwohl die Naturen auf begrifflicher Ebene sich gegenseitig sogar ausschließen. Dieses dritte Werkzeug ist Nestorius’ Vorschlag, die Verbindung der beiden Naturen im Begriff „Prosopon
zu finden (230).[11] Interpreten übersetzen diesen Begriff in der Regel mit „Person, manchmal auch mit der Betonung der persönlichen Willenskraft, die anstelle einer natürlichen Verbindung die Einheit der Naturen willentlich herstellt.[12] Prosopon kann aber auch „Gesicht
heißen. Schon Alois Grillmeier hat diese Übersetzung herangezogen.[13] Er versteht die Bemühungen von Nestorius so, dass er auf ontischer Ebene die Einheit Christi herausstellen wolle, ohne dabei auf den Wesensbegriff als Basis zurückzugreifen.[14] In diesem Fall allerdings ist die Einheit der zwei Naturen in Christus nur eine unwesentliche Einheit: Christus sieht nur so aus, als ob er Gott und Mensch sei. Da wir oben schon gesehen haben, dass Nestorius einen Doketismus abwehren will, kann er sich mit dieser Lösung nicht zufrieden geben.
Kommentar und Weiterführung
Mit dem folgenden Vorschlag möchte ich die Prosopon-Einheit bei Nestorius phänomenologisch untermauern. Nun ist der Quellbestand bei Nestorius nicht umfangreich genug, um zu belegen, dass Nestorius wirklich so gedacht hat, wie ich das nun entwickle. Allerdings schließt der Quellbestand meinen Vorschlag auch nicht aus. Das Prosopon als Gesicht zu verstehen, bedeutet phänomenologisch, dass beim Anblick Christi beide Naturen begegnen, obwohl begrifflich ausgeschlossen ist, dass eine Entität beide Naturen zugleich haben kann. Christus hat keine zwei Gesichter. Im Anblick seines Gesichts sind seine Naturen ununterscheidbar vereint. Wird das Gesicht phänomenologisch begriffen, so tritt es einem Gegenüber in Erscheinung. Das Gesicht begegnet einem anderen Menschen. Niemand kann sich selbst ins Gesicht sehen, es sei denn dass er sich in einem Spiegel als Gegenüber projiziert. Das Gesicht ist also phänomenologisch auf ein Gegenüber angewiesen, um in Erscheinung zu treten. In dieser Beschreibung ereignet sich also die Prosopon-Einheit in Begegnung: Sie ist, indem sie sich ereignet, und sie ereignet sich, indem sie jemandem begegnet. Dies bestätigt nochmals die obige Beobachtung, dass sich bei Nestorius offenbar die Einheit Christi außerhalb der göttlichen Natur vollzieht. Sie vollzieht sich nämlich bereits außerhalb des Gesichts als Entität. Denn das Gesicht ist phänomenologisch immer schon ein extravertierter Gegenstand: Es tritt nur in Begegnung auf. Ist also das Gesicht die Einheit der Naturen, so ereignet sich die Einheit außerhalb dieses Gegenstandes „Gesicht, weil dieser Gegenstand als Phänomen immer schon „außerhalb seiner selbst
ist. Die Begegnung des Gesichts kann nicht von seiner Gegenständlichkeit abstrahiert werden.
Mit dieser Darstellung erledigt sich zugleich das Problem, dass die Einheit der beiden Naturen nur eine scheinbare sei. Denn das Wesen eines Gesichts ist phänomenologisch in seiner Erscheinung zu finden. Seine Erscheinung ist wesentlich. Sieht man dagegen von der Begegnung des Gesichts ab, so kann man allenfalls unwesentliche Eigenschaften von ihm bestimmen (zum Beispiel die