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Splitter: Lehrjahre des Schülers Thorsten
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Splitter: Lehrjahre des Schülers Thorsten

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About this ebook

Diese Aufzeichnungen, niedergelegt in einem Notizbuch, einem Poesiealbum und zwei Ringbüchern, nannte der Verfasser, mein verstorbener Großvater, sein "Buch". Sie umspannen einen Zeitraum von siebzehn Jahren und stellen eine chronologische Mischung aus Tagebuch, Kopfkissenbuch und Poesiealbum dar. Ich habe dieses "Buch" im Nachlass meiner Großmutter, die meinen Großvater überlebte, gefunden. Die Einträge sind durchnummeriert. Eine Reihe von Einträgen fehlt. Ich nehme an, dass mein Großvater, vielleicht auch meine Großmutter, die entsprechenden Seiten aus unterschiedlichen Gründen vernichtet haben. Ich habe lange überlegt, ob ich die Texte nicht komplett entsorgen sollte, habe mich aber doch dagegen entschieden. Mein Großvater hätte sie sicher selbst vernichtet, wenn er nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass seine Kinder und Enkelkinder in diesem Buch blättern.
Die Texte sind von unterschiedlicher Qualität. Sie zeigen aber eine deutliche Entwicklung vom pubertierenden Sechszehnjährigen zum erwachsenen Mann.
Sie belegen eine schrittweise Emanzipation von starren religiösen und gesellschaftlichen Konventionen, ein Reifen der Liebesfähigkeit und ein Überwinden persönlicher Fehlhaltungen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Mein Großvater hat es sich nicht leicht gemacht, aber er war lernfähig.
Die Träume sind abgeflogen wie Papiervögel über ein ab-geerntetes Feld. Der Sommer ist vorbei. Einen Augenblick lang waren meine Augen verschlossen. Jetzt trete ich aus mir hervor, unsicher, die Augen noch einmal geblendet und ganz von einem neuen Geruch erfüllt. Der Sommer ist über die abgeernteten Felder fortgeflogen und hier bin ich. Und ich erwache. Die Dinge nehmen ihren festen Platz ein, und ich beginne mit alten Worten diesen neuen Tag zu besprechen. Meine leeren Hände sind überzogen von alten Linien. Das Haus ist still bis in den letzten Winkel. In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen, dich erreichen, fesseln? "
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateOct 20, 2019
ISBN9783750245228
Splitter: Lehrjahre des Schülers Thorsten

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    Splitter - Christoph Klesse

    Splitter der Lehrjahre des Schülers Thorsten

    Titel

    Vorwort

    Im Jahr der Ratte (A)

    Im Jahr der Fledermaus (B)

    Im Jahr des Hundes (C)

    Im Jahr der Schwalbe (D)

    Im Jahr der Schildkröte (E)

    Im Jahr des Kamels (F)

    Im Jahr der Schlange (G)

    Im Jahr des Karpfen (H)

    Im Jahr der Schnecke (I)

    Im Jahr des Dinosaurus (J)

    Im Jahr des Zebras (K)

    Im Jahr des Kolibris (L)

    Im Jahr des Faultiers (M)

    Im Jahr des Gepards (N)

    Im Jahr des Luchses (Keine Einträge)

    Im Jahr der Forelle (O)

    Erschienen 2019

    Alle Rechte vorbehalten

    Druck und Bindung epubli

    (Holzbrinck Digital Content Group)

    Printed in Germany

     Christoph Klesse

    Splitter

    oder Lehrjahre

    des Schülers Thorsten

    Vorwort

    Diese Aufzeichnungen, niedergelegt in einem Notizbuch, einem Poesiealbum und zwei Ringbüchern, nannte der Verfasser, mein verstorbener Großvater, sein „Buch. Sie umspannen einen Zeitraum von siebzehn Jahren und stellen eine chronologische Mischung aus Tagebuch, Kopfkissenbuch und Poesiealbum dar. Ich habe dieses „Buch im Nachlass meiner Großmutter, die meinen Großvater überlebte, gefunden. Die Einträge sind durchnummeriert. Eine Reihe von Einträgen fehlt. Ich nehme an, dass mein Großvater, vielleicht auch meine Großmutter, die entsprechenden Seiten aus unterschiedlichen Gründen vernichtet haben. Ich habe lange überlegt, ob ich die Texte nicht komplett entsorgen sollte, habe mich aber doch dagegen entschieden. Mein Großvater hätte sie sicher selbst vernichtet, wenn er nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass seine Kinder und Enkelkinder in diesem Buch blättern.

    Die Texte sind von unterschiedlicher Qualität. Sie zeigen aber eine deutliche Entwicklung vom pubertierenden Sechszehnjährigen zum erwachsenen Mann.

    Sie belegen eine schrittweise Emanzipation von starren religiösen und gesellschaftlichen Konventionen, ein Reifen der Liebesfähigkeit und ein Überwinden persönlicher Fehlhaltungen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Mein Großvater hat es sich nicht leicht gemacht, aber er war lernfähig.

    Im Jahr der Ratte (A)

    Ein leeres Buch (1)

    Was soll ich mit dir anfangen. Soll ich eine Zitatensammlung anlegen oder ein Haushaltsbuch mit Einnahmen und Ausgaben, oder etwa gar ein Tagebuch? Ein Tagebuch jedenfalls brauche ich nicht, denn an Ereignisse erinnere ich mich für gewöhnlich recht gut, und den Rest vergesse ich lieber. Was die Geschehnisse auslösen, Gefühle, Stimmungen, Vorsätze, das kommt mir leicht abhanden. Dazu könnte ich mir mal Notizen machen.

    Das Dumme ist: Die Sätze, die ich mir abpresse, kommen mir vor wie Ramsch, wie billige Konfektionsware im Schlussverkauf.

    Ich könnte natürlich üben für Gespräche mit Dorothe, meiner Freundin für drei Sommer, die nach einer langen Unterbrechung, einer Pause von drei Jahren, genau wie wir es verabredet hatten, rechtzeitig zur Tanzstunde wieder in mein Leben eingetreten ist. Nach der ersten noch ziemlich holprigen Kontaktaufnahme sind wir uns rasch wieder nähergekommen, aber unser Verhältnis wurde bald kompliziert.

    Bis zur Wiederbelebung unserer Freundschaft glaubte ich zu wissen, wer ich war und kam ganz gut zurecht. Jetzt stecke ich in einer pubertären Krise. Nach außen gebe ich mich gelassen, ausgeglichen, aber drinnen geht es schon mal zu wie auf der Achterbahn.

    Zitate (2)

    Laufen wir uns warm, mit ein paar Zitaten:

    „Herr, ich werde heute sehr beschäftigt sein. Es ist möglich, dass ich dich vergesse, aber vergiss du mich nicht." (Sir Jacob Astley, Gebet vor der Schlacht von Edgehill 1642, zitiert in Sir Philip Warwick, Memoires, 1701).

    „Angst hat noch keine Brücke gebaut, keinen Kampf gewonnen, kein Problem gelöst" (Sir Astley).

    „Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Finsternis zu verdammen." (Sir Astley).

    Jacob Astley (1579 bis Februar 1652) war ein royalistischer Kommandant im englischen Bürgerkrieg.

    Anmerkung: Keine Ahnung, wo ich diese Zitate herhabe! Aber auf in den Kampf!

    Automatisches Schreiben (3)

    Es ist also beschlossen. Ich werde mich an diesem Buch versuchen. Dabei nehme ich mir vor, „automatisch" zu schreiben, also ohne nachzudenken. Mal sehen, was dabei herumkommt!

    Ideale und Selbstkontrolle (4)

    Heute habe ich eine seit Freitag andauernde Missstimmung überwunden, endlich. Es macht mich schon ungehalten, wenn ich mich überwinden muss, etwas Vernünftiges anzufangen.

    Ein erfülltes, mindestens aber ausgefülltes Leben braucht so etwas wie Ideale, eine Vorstellung, was sein sollte. Allerdings sind Ideale ihrer Natur nach unerreichbar. Aber wenn sie schon nicht erreichbar sind, wie kann man ihnen wenigstens nahekommen?

    Ich denke in erster Linie durch Selbstkontrolle. Wir müssen begreifen, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht habe. Wir sollten auch wissen, was andere über uns denken. Zu diesem Zweck müssen wir beobachten, so als wären wir zweimal vorhanden, als wenn wir uns kritisieren von einem Standpunkt außerhalb unserer Person. Wir können uns dies leichter machen, indem wir darauf achten, wie wir auf unsere Umgebung wirken.

    Felder (5)

    Jeder ist umgeben von einem Feld. Dieses Feld wird geformt durch Glauben, Wünsche, innere Haltung. Es zeigt sich in der Bewegung, im Gesichtsausdruck, im ganzen Körper. Stellt man Kontakt zu einem anderen Menschen her, so beeinflusst man dessen Feld, verändert damit seine Ausstrahlung und ebenso wird unser Feld durch den Kontakt modifiziert. Dies zeigt sich in kleinen Veränderungen der Bewegung, der Mimik und so weiter. Wir können die Menschen, die uns umgeben und uns selbst, als Reflektoren auffassen.

    Diese Art der Selbstbeobachtung, verbunden mit unermüdlicher Gewissenserforschung, ist angebracht, aber man darf die Fehler, die man dabei an sich selber entdeckt, nicht zu schwer nehmen, denn sonst wird man gehemmt und zieht sich aus Angst, etwas falsch zu machen in sich selbst zurück.

    Anmerkung: Diese unglückliche Auffassung ist mich teuer zu stehen gekommen!

    [Abschnitte 6 und 7 fehlen]

    ….Ich kann zärtlich flüstern in die gedämpfte Musik hinein und das undeutliche Murmeln. Illusion! Traum! Spuk! Nur die Wirklichkeit zählt!

    Ene me ne mu und wer bist du? (8)

    Wir sind einsam mit uns selbst, in die Welt hineingeraten (wie auch immer) und fremd in ihr. Gefühle drängen in Wellen heran, aber sie rollen ab, ohne auf Widerstand zu treffen. Rätsel der Existenz! Wer oder was sind wir? Wer ist dieses ICH? Warum sind wir? Warum sind wir so, wie wir sind und nicht ganz anders? Der Mensch scheint zwei Pole zu haben. Manchmal habe ich das Gefühl, nur in dem wirklich vorhanden zu sein, der außerhalb meiner selbst existiert (merkwürdige Idee!). Dann möchte ich glauben, einen schlechten Film anzuschauen, der vor mir abläuft, ohne dass ich mit dem Hauptdarsteller in Kontakt treten kann, um ihn aus seiner Mittelmäßigkeit herauszuholen.

    Totentanz (9)

    Ich bin neugierig auf das Unvermeidliche, den Tod. Wo werde ich aufschlagen? In einem Himmel? Oder werde ich vom Regen in die Traufe kommen? Eine Hölle kann ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.

    Wer wird hinter meinem Sarg hergehen und trauern, wenn man ihn in der Erde versenkt? Werde ich etwas hinterlassen, das für eine Weile erinnert wird? Ich bin sehr neugierig auf die Zukunft, wobei der Tod auch unvermeidbare Zukunft ist.

    Irgendwie fühle ich mich unvollständig, als wäre bei mir etwas vergessen, oder ein Teil von mir abgeschnitten worden. Müdigkeit, Schlaf, schlafen können: Es bleibt die Hoffnung.

    Tod und Teufel (10)

    Interessante Zeiten, interessante Aspekte! Veränderungen zeichnen sich ab. Es sollte mich nicht wundern, nach allem, was mir in letzter Zeit widerfahren ist. Zuerst wäre der Tod von Großvater zu nennen. Er hat mir meine Einstellung zum Sterben deutlich gemacht. Fragt sich, ob diese Haltung ein Minus oder ein Plus auf dem Zeugnis darstellt, das man mir anlässlich meines Todes ausstellen wird?

    Anmerkung: Das Leben ist eine Schule, aber Zeugnisse gibt es nicht.

    Mir ist der Tod denkbar gleichgültig, erschreckend gleichgültig. Mit den Toten fühle ich mich gleichermaßen verbunden wie mit den Lebenden. Mir ist, als ob die Toten noch gegenwärtig sind, vielleicht vorausgereist.

    Bin ich schlecht oder gut? Ich weiß es nicht. Werde ich es dahin bringen, wohin ich es bringen möchte? Kaum! Ich bin zusammengesetzt aus Fragwürdigkeit und komme mir lächerlich vor. Überhaupt kommt mir heute so ziemlich alles lächerlich vor, ein schlechtes Zeichen.

    Was nun? Was tun? (11)

    Lassen wir die Selbstbespiegelung hinter uns und kommen zum zweiten Punkt: Fräulein Dorothe Wolfrath, Salz und Pfeffer meiner Kindheit, Stachelbeere meiner pubertären Jugend. Ich habe lange geglaubt, ja gehofft, sie wäre meine Vergangenheit, und jetzt hoffe ich tatsächlich, dass sie meine Zukunft wird. Der Verstand sagt „Nein, das wird nichts, aber die anderen Organe behaupten „Sie ist dein Schicksal. „Sie ist die Frau deiner Träume (und deiner Albträume). Und das, jemanden genau wie sie, hast du dir gewünscht. „Selber schuld, sagen die höheren Mächte.

    Was mache ich nun, nachdem ich auf sie schon wieder abgefahren bin und sie heftig begehre, was sie genau weiß, obwohl ich mir sogar verweigere, ihre Hand zu halten? Am besten gar nichts, denn was ich auch anstelle, es ist falsch.

    Man ist nicht so, wie man gerade zufällig ist, sondern so, wie man sein will. Also will ich besser sein. Es wird Zeit, dass ich mich ertüchtige und diesen Sündenfall, Dorothe, erstmal hintanstelle.

    Anmerkung: Ehrlicher gesagt Glücksfall!

    Ich sollte mal anfangen zu leben, ganz einfach und selbstverständlich, mit anderen, nicht gegen sie. Hinein ins Getümmel, die Leute auch mal überraschen. Etwas Wichtiges hätte ich beinah vergessen: Träumen ist ab sofort zu stoppen!

    Zur Ehre Gottes (12)

    Mon Dieu du Tagebuch, bis ich dich heute gefunden habe. Eine gute dreiviertel Stunde lang habe ich dich suchen müssen. Das kommt davon, wenn man seine Sachen zu gut versteckt.

    Heute wäre beinahe ein ganz dummer Tag gewesen, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, einen meiner Hauptfehler aufzudecken. Ich bin zu empfänglich für alles, was meine fünf Sinne aufnehmen.

    Auch wenn ich mich nur mühsam abfinde mit dieser Umwelt, so wünsche ich doch etwas Beifall. Ich möchte ein bisschen bewundert werden, gerade weil ich nicht bewundernswert bin.

    Ab morgen werde ich mich nicht mehr darum kümmern, was die anderen von mir denken, ob ich ihren Gefallen finde. Ich werde für mich leben und für Gott. Geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, das muss ich allmählich lernen, muss endlich ernst machen mit meinem Christentum, das ich mir umgehängt habe wie ein biederes Mäntelchen!

    Sternschnuppe (13)

    Heute Abend habe ich eine Sternschnuppe gesehen, ein weißes Stück Glut, das vom Himmel herabfiel, verlosch und Nacht zurückließ. Meine Gedanken sind wie Sternschnuppen oder Kometen. Einer dieser Kometen kreist um das Mädchen, das meine Freundin sein sollte und vielleicht ist. Ich weiß nicht warum, doch komme ich von ihr einfach nicht los, bin an sie angekettet.

    Mitternacht ist vorbei. Bald wird sich ein neuer Morgen ankündigen. In rötlichem Schein wird die Sonne aufsteigen, ihre warmen Strahlen aussenden, um die taunasse Erde zu trocknen, die Glieder zu lösen. Morgen wie an jedem Tag wird alles neu.

    Anmerkung: Der Weg zu uns selber ist steinig. Zu gern sehen wir uns besser, als wir sind. Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist dürftiger Abklatsch fremder Gedanken, Gedanken die schon andere vor mir hatten. Schade!

    Nichts Besonderes (14)

    Heute war kein schlechter Tag, habe recht ordentlich gearbeitet, war nur wenig abgelenkt und habe keiner Versuchung nachgegeben.

    Zum Problem der Selbstbefriedigung: Allmählich habe ich gelernt, wie man sie ausführt. Doch laufe ich nun ständig Gefahr, der Versuchung nachzugeben, mich in Spannung zu versetzen, bis der Erguss erfolgt. Ich mache das ganz raffiniert, rede mir ein, ich wolle ja nur einen Reiz bis nahe vor den Erguss, um die dabei eintretende Spannung zu genießen, doch ist es mir noch nicht gelungen, den Vorgang wieder abzustoppen. Ich sollte ihn deshalb künftig erst gar nicht mehr in Gang setzen, wenn mir auch nicht klar ist, was an der Sache sündhaft sein soll.

    Die gestrige Erkenntnis beginnt, ihre Früchte zu tragen, schneller als ich dachte. Eine leise Angst vor der Zukunft hat sich in mir eingenistet. Sie muss schleunigst abgestellt werden. Ein jeder Tag hat für sich Plage genug.

    Was mir noch nicht gelingt, ist zu lieben, ohne einschränkende Bedingungen daran zu knüpfen. Allmählich muss ich auch die kindliche Wunschvorstellung ablegen, mich zu etwas Besonderem ausformen zu können.

    Gott gib Vertrauen (15)

    Das ist ein seltsamer Tag heute. Ich fühle mich gleichzeitig schwach und stark. Ich habe gesündigt mit Absicht, um meinen freien Willen zu demonstrieren. Das war ein Fehler. Dabei ist der Wille doch alles. Man muss alles ausblenden, außer dem, was man wirklich erreichen will. Ich will etwas erreichen. Aber: Will ich das Richtige erreichen? Und was muss geschehen, damit ich es erreiche? In erster Linie: kein Selbstzweifel. Ich bin, was ich bin, und ich werde aus dem, was mir von Gott gegeben wurde, schon noch etwas Brauchbares machen.

    Heute habe ich mich im Spiegel gesehen, und ich bekam fast Angst vor mir, und ich wollte diese Angst. Denn heute fühle ich mich stark. Was mir nur noch fehlt, das ist Gott. Ich bin sehr weit von ihm entfernt. Mein Gott, ich bitte dich, gib mir das Vertrauen, an deine Hilfe zu glauben.

    Glück (16)

    Heute bin ich wieder einmal so weit, dass ich über mich lachen möchte, schallend lachen und herumtoben nach Herzenslust, mich auslaufen in dem Park dieser Welt bis zur Erschöpfung. Man könnte meinen, ich sei glücklich, erfüllt von meinem Glück, und es scheint tatsächlich der Fall. Dabei fühlte ich mich noch vor einer halben Stunde todtraurig, bedauerte mich selbst und klagte: Ich bin eben nicht zum Glücklichsein geschaffen, bin immer unzufrieden mit mir. Eine neue Weisheit ist mir inzwischen aufgegangen. Glück und Unzufriedenheit widersprechen einander nicht. Sie können eine Verbindung miteinander eingehen. Das Einzige was mir jetzt noch kompliziert erscheint, ist zu dieser Verbindung als drittes Instrument konzentriertes Arbeiten hinzuzufügen. Dann wäre es ein harmonisches Zusammenspiel.

    Dorothe (17)

    Heute muss ich mich alt fühlen, alt und weise, muss vernünftig reden, mich an den Diskussionen beteiligen, und im Kopf behalten, dass ich etwas Besonderes in mir trage, auch wenn ich nicht weiß, was das sein soll. Ich hätte aber sonst kaum Dorothes Zuneigung gewonnen. Auch bei anderen Frauen hätte ich sonst kaum Erfolg gehabt. Und immerhin bin ich Obergruppenführer bei den Pfadfindern, Redakteur unserer Schülerzeitung, unter den Klassenbesten. Kein Grund also, sich zu verstecken.

    Anscheinend hat es mich ernsthaft gepackt. Dorothe geht mir nicht aus dem Sinn. Hundertmal möchte ich ihren Namen schreiben. Schade nur, dass ich mich immer so leicht verletzt fühle, und es nicht fertigbringe, meine Gefühle offenzulegen. Aber: mit meinem Gott springe ich über alle Mauern.

    Selbstbespiegelung (18 )

    Ich konnte nicht einschlafen (Halsweh). Also holte ich die Taschenlampe, um meinen Rachen zu inspizieren. Dabei entdeckte ich ganz raffinierte Möglichkeiten, mein Gesicht zu beleuchten, sodass ich fast Angst vor meinem Gegenüber im Spiegel bekam.

    Warum hat dieser komische Gott mich so dämlich erschaffen? Fragen ohne Antwort. Trotz des Einsamen. Dieser Kerl muss lernen, Subjekt zu werden, anstatt sich als Objekt gegenüber zu stehen. Vor mir selber stehe ich als Mauer, die sich den Weg versperrt.

    Lieben lernen (19)

    Heute bete ich: Danke Herr, danke für die Gnade, die du mir geschenkt hast, für alle, die du in meine Nähe gestellt hast, damit ich sie annehme, so wie du mich annimmst. Leider habe ich in letzter Zeit nur mich bedacht, über meine Probleme gegrübelt, mich mies gefühlt und verlassen von dir oder allen guten Geistern. Ich werde mich nicht in mir selber finden, vielmehr in den Menschen, die ich liebe. Lieben aber kann ich nur, wenn ich mich öffne. Noch ist der Weg zu dir unübersehbar weit. Hilf mir, dass ich schneller laufe, Ballast und Falschheit abwerfe und nur die Liebe behalte. Zielbewusst lernen, arbeiten und leben ist Erziehung zur Liebe. Es wird Zeit, dass ich meinen Fleiß etwas kräftiger und häufiger gieße, damit er endlich wächst und Früchte bringt.

    Schwesterherz (20)

    Mir wird zunehmend klar, dass ich mich gegenüber meiner Schwester falsch verhalte. Was muss sie von mir denken? Ich muss einen ganz anderen Weg einschlagen, wenn ich sie im guten Sinne bilden will, sie nicht verständnislos kritisieren, sondern ihr helfend und verstehend zu begegnen. Mit Taten, nicht mit Worten auf sie wirken!

    Ganz klein muss ich werden, damit Gott in mir wachsen kann. Ich sollte mich ganz vergessen, um in Gott groß zu werden. Man mag es nicht glauben, wie Sinn stiftend eine kleine Halsentzündung sein kann, wie sehr sie die Selbstbesinnung fördern kann.

    Eine neue bestürzende Erkenntnis: Menschen drängen darauf, Liebe an dich weiterzugeben. Du musst dich ihnen nur öffnen.

    Unverständlich unerreichbar (21)

    Alle Klarheit ist wieder dahin, alle Sicherheit verloren. Die gleichen Fragen stellen sich wieder und wieder, und ich finde keine Antwort. Wozu hat Gott mich in diese verrückte Welt gesetzt, in der ich mich kaum zurechtfinde? Dieses Leben ist Unsinn. Es wäre besser, ewig zu schlafen, traumlos, sicher und selbstvergessen. Die Welt wird mir immer rätselhafter. Früher konnte ich Selbstmörder, Beatle-Fans und Weiteres, was in diese Richtung geht, nicht verstehen. Jetzt weiß ich, wie schwierig es sein kann, mit sich selbst ein Auskommen zu finden, sich fünfzehnmal die gleiche dumme, Schallplatte anzuhören, bis man ganz ausgehöhlt ist, bis alle Fragen ausgelöscht sind.

    Was? (22)

    „Wie geht es dir?, „Gut, „Kein Wunder bei der Frau!" Idiot, der sowas sagt und meint. Je attraktiver ein Mädchen ist, desto schwieriger wird es für den, der sie liebt, ganz besonders im vorliegenden Fall, wo man einfach nicht weiß, woran man ist. Eine Zeitlang glaubte ich, Dorothe sei auf Jungen aus, wie die meisten. Sollte ich mich getäuscht haben? Ist sie wirklich so vernünftig, wie sie sich darstellt? Oder liegt ihr nicht wirklich an mir? Würde sie aber dann mit mir ausgehen? Alles Mutmaßungen, die zerfallen wie ein Kartenhaus, und ich stehe da wie ein Tölpel, der nicht weiß, was er anstellen soll. Was ich anfange, zerbröselt. Ich komme mir vor wie ein Möchtegern-Bergsteiger. Ich klettere, meine Beine werden weich, meine Hände verlieren den Halt und ich rutsche ab. Ich fange von vorn an und wieder passiert es. Je höher ich aber komme, desto tiefer falle ich.

    Bildersturm (23)

    Es ist zum Weinen, so blöd sind die Bilder, die mir im Kopf herumfahren. Thorsten der Held, der kaltblütig sein Leben einsetzt, um das seiner Liebe zu retten, der mit Revolver und Maschinenpistole hantiert wie Andere mit dem Bleistift. Es widert mich an.

    Flaschenpost (24)

    Liebe Dorothe!

    dieser Brief wird dich leider nie erreichen. Ich habe nicht die Absicht, ihn in die Post zu geben. Je länger ich dich kenne, desto mehr bin ich beeindruckt, und ich wünsche mir, dass wir in einem Jahr und später genauso miteinander gehen wie jetzt. Leider stehen diesem Wunsch Hindernisse im Weg. Das erste ist meine Unfähigkeit, mich dir gegenüber unbefangen zu verhalten. Überhaupt finde ich mich in der Welt derzeit schlecht zurecht. Um mich in dieser seltsamen Welt einigermaßen sicher zu bewegen, habe ich auf Basis meiner Eindrücke, Verhaltensregeln aufgestellt. Nun aber ist mein Regelwerk eingestürzt. Du bist anders als die Frauen, die ich kennengelernt habe. Bei denen wusste ich mich zu verhalten, wusste, was sie von mir erwarteten, und wann ich die Verbindung zu ihnen abbrechen musste, wenn ich nicht meinen starren Prinzipien untreu werden wollte, oder Gefahr lief, mich auf etwas einzulassen, was mir später leidgetan hätte.

    Schließlich waren sie mir alle nicht wirklich wichtig. Ich wollte mit ihnen verkehren, aber ansonsten halbwegs Ruhe haben. Gleichgültigkeit war meine Einstellung, und mit der hatte ich sogar Erfolg. Dummerweise bist du mir überhaupt nicht gleichgültig. Erschwerend ist, dass ich mir von dir kein klares Bild machen kann. Entweder bist du tatsächlich so vernünftig, wie du tust, worüber ich mich freuen würde, oder du spielst bzw. heuchelst. Meine Unsicherheit ist die Ursache dafür, dass ich mich bei dir so dumm anstelle. Du musst Geduld haben und Nachsicht mit mir üben.

    Programm für Montag:

    In der Schule aufpassen, mitarbeiten, sich um Klassenkameraden und Pfadfinder-Mitgliederwerbung kümmern. Danach Dorothe abholen, sich bei ihrer Mutter für ungeschicktes Benehmen entschuldigen. Zuhause Latein lernen, etwas Sport, abends zur Erholung Pläne für die Oberrunde ausarbeiten, und nicht zuletzt Beten.

    Verstoßen (25)

    Herr, ich komme mir verstoßen vor. Wozu bin ich in diese Welt gesetzt? Doch nicht dafür, dass ich hier sitze und mich im Gespinst meiner Gedanken verliere! Ich möchte abwerfen, was mich schwermacht, was mich festhält fern von dir. Ich spüre den Dämon in mir. Er durchströmt meine Glieder, er dringt in mein Gehirn ein. Er klammert sich an mich. Du aber bist entfernt, unerreichbar. Du hast mich verlassen hast mich einfach zurückgelassen. Komm zurück!

    Zur Lage (26)

    Meine Stimmung hat sich entschieden verbessert. Noch ein schwaches Brummen im Kopf, aber sonst wiederhergestellt. Ich sehe meine Chancen steigen. Nach meinem Entschuldigungsanruf, mit dem ich mein Ansehen bei Frau Wolfrath wohl gehoben habe (man weiß ja, wie blöd ich mich letzten Samstag benahm, ausführliche Erörterung erübrigt sich also) hoffe ich, dass die Mutter ein gutes Wort für mich bei der Tochter einlegt.

    Vorbild (27)

    Frau Tolksgraf, die Witwe unseres kürzlich an Magenkrebs verstorbenen Mathelehrers, die wir (um Material für einen Nachruf zu sammeln) heute besucht haben, ist eine tolle Frau. An ihr könnte sich Großmutter ein Beispiel nehmen. Noch nie habe ich den Unterschied zwischen zwei Menschen gleichen Alters, die dasselbe erlebt haben, so deutlich gesehen wie heute. Wieder ein neues Vorbild.

    Der Idiot (28)

    Mein Vater ist ein Kind, ein unbeholfener Kindskopf. Er benimmt sich jedenfalls so. Heute fiel es mir besonders auf, schon als er in Lederhosen in die Küche kam, vollends aber, als wir unsere Hecke, die der Gärtner reichlich kurz und dünn geschnitten hatte, so dass man von der Straße bis hinein ins Wohnzimmer sehen konnte, mit zwei Schilfmatten bedeckten. Gegenüber der Nachbarin, Frau Merbel, konnte man sein Benehmen noch gelten lassen, aber gegenüber Herrn Merbel, war sein Auftreten kümmerlich. Jetzt weiß ich, wie ich später nicht sein möchte: tapsig, pessimistisch, plump. So darf ein Mann nicht sein, jedenfalls sollte man es ihm nicht so krass anmerken. Es ist traurig, dass ich über meinen Vater so urteilen muss, besonders da ich ja weiß, dass er sich im Berufsleben sehr vernünftig darstellt.

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