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Keine Zeit für Wut und Tränen: Das Fremde wird nah, die Nähe Fremd
Keine Zeit für Wut und Tränen: Das Fremde wird nah, die Nähe Fremd
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Keine Zeit für Wut und Tränen: Das Fremde wird nah, die Nähe Fremd

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Acht Stunden sind kein Tag und achtundsechzig Jahre nicht das ganze Leben. Reimar Oltmanns zeichnet seine Autobiografie auf, die sich wie ein Roman liest, um Vergangenes, Verdrängtes, Vergessenes ins Blickfeld zu rücken. So entstand ein subjektives Dokument der Zeitgeschichte von einer Offenheit, auch Gesellschaftskritik. Er traf in Deutschland und anderswo auf Charaktermasken und Karrieristen, deren Bilder sich wie Fratzen tief in sein Gedächtnis eingegraben haben.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateAug 3, 2017
ISBN9783745008364
Keine Zeit für Wut und Tränen: Das Fremde wird nah, die Nähe Fremd

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    Keine Zeit für Wut und Tränen - Reimar Oltmanns

    Furcht vor dem Nichts – Versuch eines Vorworts

    Das sein zu wollen, was ich bin, ist die einzige Freiheit, die mir bleibt.

    Jean-Paul Sartre

    (*1905+1980) französischer Philosoph

    Mit Notizen und Skizzen für dieses Buch begann ich dort, wo das Leben gemeinhin aufhört – auf dem Todesacker meiner niedersächsischen Heimatstadt zu Schöningen; einem Städtchen im Braunschweiger Land am Osthang des Buchenwaldes Elm gelegen. Jener kleine Friedhof ist die beschaulich anmutigende Heimstatt verstorbener Frauen und Männer – sinnlos gefallener Soldaten vieler Länder beider Weltkriege.

    Als junger Bub zupfte ich Sonntag für Sonntag Unkraut auf diesen Totenquadraten der Verwandten und Anverwandten. Dabei mochte ich den Gedanken an den Tod ganz und gar nicht, fürchtete mich. Ein Abschied für immer – nein niemals. Ich mied nach Möglichkeit auch jene Begleiterscheinungen, die sich gemeinhin mit dem Lebensende verknüpften – Krankenhäuser, Leichenwagen, Friedhöfe, Särge, schwarz in schwarz gekleidete Menschen mit Hüten und Zylinder. Gleichwohl befreite ich nahezu jeden Sonntag die kleinen Grabfelder vom all gegenwärtigen Löwenzahn, Blumenbeete vom erdrückenden Moos. Das war so üblich in meiner Kindheit. Der Sonntag gehörte dem akkuraten Spaziergang zu den Toten. Ich weinte viel vor der Marmorplatte meines Großvaters. Ich konnte es nicht verstehen, einfach nicht begreifen, warum er so plötzlich von uns gegangen ist.

    Ich fühle es heute noch, kann es nachempfinden, wie damals Krähenschreie eine innewohnende Ruhe aufstöberten und dem Friedhof seine schweigsame Unendlichkeit nahm. Verrottetes Laub glitschte unter meinen Füssen. Unachtsam, wie ich damals als Kind war, fiel ich mit meiner Gießkanne immer wieder hin, schlug mir die Knie auf. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass selbst dieser verwunschene Friedhofs-Platz endlich, alles vergänglich ist – selbst die Erinnerung an meinen Großvater. Sein Grab gibt es schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Nur an diesem Sonntag ist es mucksmäuschenstill, Eichhörnchen hüpfen geschwind von Baum zu Baum oder suchen auf den Wegen nach Futter.

    Vis-à-vis der Gräber auf der Müller-Mühlenbein-Straße gab es seit kurzem den Minimal-Markt zur Vollversorgung, 1200 Quadratmeter groß versteht sich. Mit der üppigen Vollversorgung kam auch eine Bushaltestelle. Endstation Friedhof. Das schien mustergültig der alten Menschen wegen. Die Leute konnten sich getrost ihre Taschen und Plastiksäcke vollstopfen, gar einen Blick auf die Andachtskapelle riskieren, an ihren Gräbern verweilen. Nur die Zubringerbusse brachten keine Kunden, kein Geld in die Kassen. Friedhofsbesucher blieben auch im Supermarkt weitestgehend unter sich.

    Die opulente, flinke Margret Hersel, vom Stammpublikum „Püppi" genannt, zählte 35 Jahre, als sie sich am Wurst-Tresen ihr Zubrot verdiente. Gutmütig schaut sie drein. Ein Hoffnungsschimmer. Endlich eine Anstellung nach Monaten der Arbeitslosigkeit. Sie wollte schon immer in ihrem Leben abwiegen, einpacken, Geld wechseln, den treuen Kunden aufmerksam einen schönen Tag wünschen. Sie wurde unehelich geboren, Vater unbekannt. Aufgewachsen bei Pflegeeltern. Sie geht zur Hauptschule. Sie beginnt eine Lehre als Einzelhandelskauffrau. Wird entlassen. Kriegt ein Kind von einem Coca-Cola-Betriebsfahrer. Schützenverein. Spielmannszug. Uniform. Wird geschlagen. Wird geschieden. Wird entlassen – aus dem Minimal-Vollversorgungsmarkt gleich gegenüber dem Friedhof.

    Margret – ein Dasein in Deutschland. Das Scheitern ist das offenbar Wesentlichste an ihrem Leben. Viele, unzählig Viele scheitern in jener ehedem seit jeher beargwöhnten, nahezu entvölkerten BRD-DDR-Region, die sich im Nachkriegs-Deutschland Zonenrand nannte. Weggucken. Schweigen, für lokale Chronisten nicht einmal eine Fußnote wert.

    Ihr Nachbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Supermarkt war nun einmal der Friedhof – der Tod. Oft in unwirtlichen Wintermonaten pfeift ein eisiger Wind ins dünne Baumgehölz. Irgendwann hatten Anwohner die Wurstverkäuferin noch einmal gesehen – dieses Mal vor dem Supermarkt. Irgendwann, wird sich Margret Hersel beruhigend gesagt haben, hier muss jeder über kurz oder lang durchs Portal, durchs Friedhofsportal.

    Der letzte Pfad zum Friedhof ist in Schöningen ein sehr deutscher Ort – vielleicht ein bisschen ausgerichtet nach einem Leben zwischen Sehnsucht und Selbsttäuschung. Der Tod scheint ein privilegierter Partner der Kontingenz zu sein. Zeit und Zufall vereinen sich. Die Zeit wird zeitlos, auch der Augenblick, an dem das Zeit-Ende in die Ewigkeit springt. Ihren Groll gegen die Welt hat Verkäuferin Margret offenbar still mit unter die Erde genommen. Das kleine Holzkreuz signalisiert: „unvergessen", mehr auch nicht. Birken wie Eichen spenden Schatten, stehen Spalier.

    In den letzten Jahren wuchs in mir das Bedürfnis, in den Sommermonaten immer wieder am Eingang vor der Friedhofskapelle die Nähe und ein präzises Erinnern zu längst entschwundenen Menschen zu suchen. Stille, Ruhe – welch ein Luxus, kein Geschrei, keine abgehackten, schnelllebigen Bewegungen, keine hastig verschluckten Halbsätze. Zu sich in weitläufigen Silhouetten über den Gräbern selber zu finden, sich zu spüren, sich neu zu entdecken – es sind Augenblicke der Selbstvergessenheit im Meer der Toten. Stille. Sigmund Freud¹ hat solche kurzen Zeitspannen als „wunschlose Glückseligkeit" beschrieben. Es ist demnach das „reine Sein, ohne dass unaufhörlich Gedanken durch den Kopf jagen, fließen …

    Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräuschen, schrieben Uli Hauser und Stephanie Brinkkötter²: „Wer der Sehnsucht nach Stille nicht folgt und sein Unwohlsein stattdessen damit tröstet, dass die Anspannung eines Tages wohl nachlassen wird, braucht den großen Knall, um wach zu werden."

    Alte, ehrwürdige Bäume am malerischen Wegesrand gedeihen unerwartet zu Schnittstellen zwischen Vergangenheit – der Gegenwart. Lang gehegte Träume, scheinbar verstaubte Ideen, unerledigte Begegnungen treten urplötzlich zwischen Bäumen entlang der pittoresken Wege aus dem Unterbewussten ganz unerwartet ans Tageslicht. Sie markieren, ob wir wollen oder auch nicht, die Vergänglichkeit. Grenzen zwischen Leben und Tod. Furcht vor dem Nichts? Die Zeit rast in Windeseile. Verschlungene Jahre drücken aufs Tempo, pressen die Gemüter bis zur Unkenntlichkeit. Melancholie des Augenblicks? Heimweh nach dem Traurig sein? Was uns am Ende festhält, überleben, weiterleben lässt – das ist ein engmaschiges Netz aus Erinnerungen.

    Gedächtnis, Gedenken – an wen? Ganz plötzlich, ganz unvermittelt fallen mir Personen, die mich in meinem Leben begleitetet haben; ganz gleich, ob ich sie persönlich kannte oder sie mich durch ihre Reflexionen oder Literatur mit auf ihren Lebensweg nahmen. Ich denke an den Bänkelsänger Franz-Josef Degenhardt (*1931+2011) – „Ich möchte Weintrinker sein". Ich entsinne mich an den Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (*1923+2011) – „Flüchten oder Standhalten". Mein Langzeit-Gedächtnis verweilt bei dem unvergessenen Schriftsteller Heinrich Böll (*1917+1985) – „Die verlorene Ehre der Katharina Blum".

    Meine Erinnerungen begleiten den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler im Nachkriegs-Deutschland Willy Brandt (*1913+1992). Er war auch für mich zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Vater-Figur im deutschen Durcheinander. Nur – sie alle waren nicht mehr, haben mich jählings verlassen. So empfand ich ihren Tod, fühlte ich mich von ihnen auf dem Friedhof zu Schöningen allein gelassen; für Momente auch verraten. Verlassenheit. Meine Rückbesinnung verweilt für Augenblicke bei Peter von Oertzen (*1924+2008).

    Er war ein brillanter Gesellschaftstheoretiker, Bildungspolitiker, auch Gerechtigkeitsfanatiker. Für ihn formulierte ich Reden und Pressetexte, ging mit ihm ein Stück des Weges. Peter von Oertzen scheiterte – war seiner Zeit weit voraus.  Programm-Vordenker.

    Vieles ist gesagt, geschrieben worden in all jenen Jahren der Wissbegierde. Fast alles ist gesellschaftlich abgegrast, gewagt worden an Provokationen, Regelverletzungen. Kaum ein gesellschaftliches Tabu dümpelt noch vor sich hin. Kaum einer hört noch hingebungsvoll zu. Gemeinsam erlebte Langeweile. Nahezu alles mündet in schnelllebigen Duplikaten der Billigheimer-Industrie. Zu selbstverständlich scheint sich alles in dieser funktionalen Welt auszunehmen. Selbstverständliche Grenzüberschreitungen signalisieren Fernweh, das sich oft im Zeitlupentempo als Heimweh zu erkennen gibt. Nur welches Heimweh lauert da? Mit meinen eng umzäunten Wurzeln fühlte ich mich an den Grenzpfählen ein wenig im Exil – fremd im eigenen Land.

    Nur wo sind eigentlich unsere Hoffnungen, Sehnsüchte, Verheißungen, Perspektiven geblieben? Wo? Sie beeinflussten uns Jahrzehnte, bestimmten unser Verhalten, unsere Lektüre, unsere Diskussionskultur. Utopie – ist zu einem lieblosen Unwort geworden. Es wird kaum noch benutzt, ist praktisch aus unserem Leben verschwunden. Kaum einer begreift noch eine Utopie als für sein praktisches Leben erstrebenswert. Sie war auch für uns in unserer oft sperrigen Alltagsbewältigung ein Zufluchtsort, eine Alternative – jedenfalls immer so lange, wie es noch unentdeckte Regionen auf der Erde gab, die wir mit unseren Sehnsüchten in Einklang brachten.

    Der Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust (*1871+1922)³ findet in diesem neuen Jahrtausend seine ungeahnte Fortsetzung. Fernweh entblättert sich zunehmend im Umkehrschluss als Heimweh. Es sind Erinnerungen, die unser Lebensgefühl mit oft diffusen Sehnsüchten nach Heimat und Identität versorgen. Heimat ist so gut wie zu Hause, Architektur, Landschaft. Und das bedeutet für viele nun einmal Heimeligkeit, Kindheit, Geborgenheit – Bezugspersonen, Bezugs- und Geburtsorte. Es sind allseits schleichende Ich-Verluste, die wir Tag für Tag zu erfahren haben. Es sind unsere unweigerlichen Bestrebungen, uns mit unseren Wurzeln in Zeit wie Raum wiederzufinden, anzuknüpfen, aufzubauen. – Heimat.

    Meter um Meter näherte ich mich auf dem Todesacker meiner Heimat, meiner Kindheit, meiner Jugend über die breite, altehrwürdige Friedhofs-Allee. Sonnenstrahlen brachen durch das Blätterdach, irgendwie begannen sich meine Erinnerungen aufzuladen. Diese von hohen Bäumen dicht gesäumte, malerisch angehauchte Straße hatte sich in meinem Gedächtnis fest eingegraben. Schon als Kind in den Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts harkte ich dort den Kies oder pflanzte mit meiner Mutter Primeln, Efeu, wahrscheinlich auch Zwiebelblümchen auf das Grab meines Großvaters.

    Nur als mittlerweile nahezu 70 Jahre alter Zeitgenosse, der ich bin, verhieß der Friedhof zu Schöningen nicht Abschied, nicht Schwermut, keine Reminiszenzen an vergilbte, unwiederbringliche fast vergessene Jahre. Selten ertappte ich mich auf Spuren von Traurigkeit. Jene Grabstätten mit ihrer weichen, duldsamen Atmosphäre luden mich ein zu einer unvermuteten Nähe längst verblichener Epochen, Ereignissen, Erlebnissen. Heimat-Gefühl. Der Friedhof als Zufluchtsort vor Krematorien modern anmutender Zeitläufe.

    Dabei ertappte ich mich mit dem Eingeständnis, dass meine Ich-Sehnsucht nach Stille, Frieden und der Gewissheit vor dem Tod vornehmlich einer Bestätigung nachhing – mich als einzigen Mittelpunkt des Lebens vor den Gräber-Verzierungen abzuheben, abzugrenzen, abzuschotten. Es ist landauf, landab ein vielerorts eingeübter, ungestillter Narzissmus – ein Überlebensgefühl, das sich als ein Antlitz meiner Epoche einzuschleichen verstand. Ich schaute über die scheinbar messerscharf gemeißelten, oft im Planquadrat geschnittenen Steinplatten und wanderte mit meinen Gedanken an die Grabstätte von Thomas Bernhard (*1931+1989)⁴ auf den Grinzinger Friedhof in Wien. Dort hatte ich dem wichtigsten Autor deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Gruppe 21, Reihe 6, Nummer 1 ein befreiendes Andenken gewidmet. Hatte er bezeichnender Weise geäußert: „Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt."

    Auch die das Leben umspannende Dramaturgie des britischen Literatur-Nobelpreisträgers T.S. Eliots (*1888+1965) von „Geburt, Koitus und Tod charakterisiert „das Schreiben als Versuch, sich den Tod vom Leib zu halten. Insgeheim dürfte es wohl keinen Autor geben, der sich nicht des Zusammenhanges zwischen dem Schreiben und der nagenden Ängstlichkeit vor dem Tode bewusst ist.

    Gerade hier, auf meinem Heimat-Friedhof zu Schöningen, musste ich wieder an den österreichischen Literaten Thomas Bernhard denken. Er hatte vor langen Jahren einmal die Achillesferse oder auch fortwährende Ego der Schriftsteller lokalisiert. Demnach ist für viele, unzählige Autoren das Schreiben nichts wesentlich anderes, „als ein verzweifelter Kampf gegen die eigene Vergänglichkeit, ein beharrlicher, aber vollkommen kindischer Versuch, den Tod zu überlisten, um etwas Ewigkeit zu erlangen…".

    Zusehends unruhiger verloren sich meine Blicke an irgendwelche Grabsteine im Irgendwo – schemenhaft, endlos. Ich kramte in meiner Umhängetasche nach dem Notizblock. Ich wollte die ängstlichen Augenblicke, die Furcht vor dem verflossenen, dem hastig entglittenen Leben notieren, bevor sich meine Erinnerung so schnell, wie so oft, verflüchtigen. „Der Augenblick", schrieb Robert Musil (*1880+1942), „ist nichts als der wehmütige Punkt zwischen Verlangen und Erinnern".

    Apropos Notizblock, später Tonbänder – sie waren über Jahrzehnte meine Wegbegleiter. Der Satz, das Credo von Egon Erwin Kisch (*1885 +1948)⁵ des bedeutendsten Reporters in der Geschichte des Journalismus – der war für mich zur Lebens-Maßgabe geworden. „Schreib das auf, Kisch! nannte er seine im Einband-Buch edierten Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg von der russischen Front. Junge Menschen brauchen Vorbilder; junge Journalisten, die sich der Wahrheit, Wahrhaftigkeit verpflichtet zu glauben wissen, erst recht. Egon Erwin Kisch, jüdischer Herkunft, zunächst österreichischer- ungarischer, sodann tschechoslowakischer Staatsbürger – dieser „rasende Reporter war für mich eine solche Leitfigur – eben die investigative, unbestechliche Hintergrund-Recherche im von Show-Effekten gejagten Infotainment dieser Jahrzehnte.

    Im Deutschen gibt es kein Äquivalent für den Begriff Grand Reporter, der in Frankreich eine große gelebte Tradition hat durch Reisende, Augenzeugen; Reporter, die auf höchstem literarischen Niveau, aber mit Engagement und Bestimmtheit Zeugnis ablegen von den Krisen in uns, beim Nachbarn, im Land und der Welt.

    So reiste ich als Reporter oder auch als teilnehmender Beobachter mein Leben lang mit besagten Notizblock durch die Lande, durch Deutschlands Metropolen wie Provinzen – flog zu anderen Kontinenten, tauchte irgendwo anders in Landstriche ein. Innenansichten. Immer war ich auf der Suche nach Aufbruch und Hoffnung, Spontaneität, Umbruch, Erneuerung, Menschlichkeit, Mitgefühl und Mitempfinden, Anteilnahme – auf der Suche nach Nähe, nach menschlicherem Umgang des Miteinanders.

    Oft, allzu oft wurde ich konfrontiert mit Gewalt, Tod, Folter, Unterdrückung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Armut – verzweifelten, hilflosen Gesichtern; auch mit Charaktermasken, Karrieristen, deren Bilder sich wie Fratzen tief in meinem Gedächtnis eingegraben haben. In vielen Ländern des materiellen Wohlstands schien das Gewissen ausgebürgert, ausgewandert zu sein. Viele Dinge machen arm. Ich begriff sehr schnell, dass ich nur eine Heimat habe: meine deutsche Sprache.

    Nach so manchen Erkundungs-Fahrten als Reporter deutscher Magazine wurde es mir vor der eigenen Haustür, dem Land meiner Väter, fremd, fremder – unnahbarer, kalt. Fremd im eigenen Land. Fremd im linkischen Verhalten versteckt angedeuteter Gesten, fremd in der Art und in Diktion der Wortführung, fremd beim unaufhörlichen Finassieren; selten ein Lächeln, kaum eine entspannte Lebensart. – Die Deutschen. Die offenkundige Spaltung der Gesellschaft zerfrisst das Miteinander.

    Die Gesellschaft sei „vergiftet", befand Sozialwissenschaftlicher Wilhelm Heitmeyer in seiner über zehn Jahre währende Langzeitstudie.⁶ Das ehedem vornehmlich gepriesene Bürgerliche reduziert sich zunehmend auf das zähe Anwachsen gesellschaftlicher Besitzstandswahrung. Ich beobachtete, ich erlebte die viel zitierte Enge der Bourgeoisie. Ich schien mich in ein engmaschiges Milieu verlockender Freiheitsansprüche zu begeben. Nur die Wirklichkeit, das soziale Umfeld insgesamt, erzeugte unabdingbare Gebote – Zwangscharaktere. Dort, wo gesellschaftliche Normen Alltäglichkeiten diktieren, sind kleinbürgerliche Eigenschaften nahe, auffällig dicht beieinander. Sein Habitus kennt viele Gesichter und so mancherlei Gemeinsamkeiten, die sich aus Feigheit, Spießertum wie Raffgier speisen.

    In den vergangenen achtziger Jahren lebte ich in Frankfurt am Main, auch als Bankfurt, Zankfurt, Krankfurt als zerrüttete Metropole apostrophiert. In jenem Jahrzehnt war ich viel mit der Eisenbahn unterwegs, meist gen Bonn – der damaligen Bundeshauptstadt. Wie heute kann ich mich an unvergessene, romantische ICE-Fahrten entlang des Rheins entsinnen; vornehmlich an den hohen steil aufragenden Felsriegel der Loreley, der sich dem Strom in den Weg stellt. Dort hing ich gelegentlich einer fernen, offenkundig sehr rar gewordenen Eigenschaft nach – dem Lachen, dem Lächeln, der Heiterkeit. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich mich im Anblick der Burg Katz fragte, wo eigentlich die Ursachen dafür zu suchen sind, dass die Schönheit dieser Landschaft weder in den blick-scheuen Augen noch in den einbetonierten Seelen der Bewohner einen Widerhall gefunden haben.

    Weltfremd? Vielleicht auch nicht: Das Fremde wird nah, die Nähe dagegen fremd. „Ist die Fremdheit also die paradoxe Signatur unseres Zeitalters", schrieb die Historikerin Karin Priester ⁷ „das sich rühmt, Grenzen, Distanzen, Zeitunterschiede zu überwinden, Mentalitäten zu verschmelzen, kulturelle Unterschiede nur noch als folkloristische Restgrößen zu erleben und der ‚einen Welt‘ näherzukommen."

    Einem herbstlichen Schäferidyll gleicht mein Friedhof zu Schöningen. Endzeitstimmung überkommt mich, Verausgabungen des eigenen Ichs aus Vergangenem holen mich plötzlich ein. Zeitlupentempo, das nicht weichen will. Klar, sonnenklar scheint die Luft, gletscherblau das Firmament. Über all den Wipfeln ist Ruh. Unter der Erde sowieso.

    Ich denke an meinen Jugendfreund – den Dorfschulmeister mit seiner Gitarre. „Testament eines Verkommenen" hatte er im Anflug seiner Depressionen auf einen Zettel geschmiert, bevor er auf einem Nebel verhangenen Landweg Hand an sich legte. Für ihn gab es keinen Baum geschmückten Friedhof, keinen dauerhaften Grabstein nirgendwo.

    Ich denke an meinen langjährigen Journalisten-Kollegen. Aufgerieben zwischen den Kriegs-Fronten im Nahen Osten. Erschossen vor seiner Haustür in Beirut. Nachruf keinen. Friedhof keinen. Ich denke an eine Freundin zu meiner Frankfurter Zeit in den Jahren 1980 bis 1990. Einst hatte sie als erfolgsversprechende, attraktive junge Soziologin „den Marsch durch die Institutionen" riskiert. Bevor sie sich – aufgedunsen und ausgemergelt – arbeitslos um ihren Verstand in den Tod getrunken hatte.

    Viele, sehr viele, ja zu viele verrannten sich in ihrer autonomen Lebensvision, jagten ihren Lebensideen und ihren Lebensgefühlen unablässig hinterher. Zu viele liegen nach nahezu zwei Jahrzehnten später verstreut auf den Friedhöfen des Landes, wenn überhaupt. Aus den Demonstrationen, aus dem Aufbegehren von einst wurden Schweige- oder auch Trauermärsche meist auf den anonymen Begräbniswiesen.

    In der deutschen Sprache summen kaum Melodien. Kein Ort nirgendwo. Sehnsucht nach Weltweitweg-Grenzen. Ich fühlte Fernweh und meinte Heimweh. Augenblicke. Heimat ist mir früh genommen worden. Heimjahre mit weggesperrten Kindern folgten. Gewalt an Kindern. Kasernierung wie Sträflinge. Und immer wieder Gewalt mit Knüppeln, Einschlag mit Fäusten in junge, verängstigte Gesichter auf ihrem ohnehin beschwerlichen Weg zu einem ordentlichen Deutschen.

    Sehnsucht nach dem Friedhof zu Schöningen? Nein, schon der Klang des deutschen Tonfalls in meinen Ohren beantwortete solch ein Liebäugeln. Diese Schallwellen speisen Herrschaftsinstrumente der Abgrenzung, Ausgrenzung, Entgrenzungen – Sprachgrenzen von Oben und Unten. Es bleiben fremde Misstöne in einem lustfeindlichen, entsinnlichten Lebensrhythmus. „Entfremdung", schrieb mein Kollege Norbert Klugmann, „geschieht auch in Zehntelsekunden. Ich habe es erlebt. Und sie hält an, man kann dann kaum noch was dagegen machen. Müsste es wohl auch wollen." Ich wollte nicht.

    In meinen jungen Jahren konnte ich derlei wiederkehrende Fremdheits-Momente übersehen, verharmlosen. War ich doch selbst atemlos, ein vom täglichen Konkurrenz- und Leistungsdruck in Redaktionskasernen deutscher Magazine Getriebener, von leidenschaftlicher Unrast beseelt nicht unter zu gehen, einfach bestehen, überleben zu wollen. Eben ein junger Schreiberling, der in seiner aufklärerischen Besessenheit in vielen, vielen Druckzeilen monomanisch nach seinem eigenen gedruckten Namen fahndete. Einfach deshalb, weil sich eine fett markierte Benennung des Egos in Schwindel erregender Millionenauflage wie ein Lebensdurchbruch, wie eine selbst gestrickte Karriere anfühlte. Trügerisch.

    So manche Journalisten aus meinem Umkreis blieben auf der Strecke, hielten den tagtäglichen Druck nicht stand, wurden als „Betriebsunfälle" abgebucht. Sie soffen sich zu Tode, sprangen aus dem Fenster, verschwanden monatelang von der Bildfläche, kratzten sich Pulsadern auf, landeten in der Psychiatrie, erstickten im eigenen Kot. Oder sie waren vom Konkurrenz- oder Leistungsdruck Getriebene, auf Kriegsschauplätzen ferner Länder – gejagt, erschossen. Ihre Leichen geben zumindest so viel her: eine hautnah bebilderte Illustrierten-Story, auch im TV-Format.  Ein Leben für ein Leben. Klappe zu.

    Jean Amérys Diskurs über den Freitod⁸ fand ich die bemerkenswerte Passage: „Es ist, als stieße man eine sehr schwere, in den Angeln ächzende, dem Druck widerstrebende Holztür auf, um ins Helle zu gelangen, Man wendet all seine Kraft auf, tritt über die Schwelle, erwartet nach dem Dämmergrau, in dem man stand, das Licht: stattdessen aber ist es nunmehr eine ganz undurchdringliche Finsternis, die einen umgibt. Verstört und angstvoll tastet man um sich, erfühlt Gegenstände da und dort, ohne sie identifizieren zu können. Sehr langsam gewöhnt schließlich das Auge sich ans Dunkel …".

    Hamburgs Totenacker Ohlsdorf, der größte Park-Friedhof der Welt mit 235.000 Gräbern, war längst zu einem ungewollten Ort vergessener Evergreens geworden. Trauer. Melancholie. Immer wieder galt es für die Verlagsspitzen Nino Rossos (*1926+1994) „Il Silenzio" oder Fabrizio de Andrés (*1940+1999) „Andrea" als Abschiedsmelodie an den Gräbern intonieren zu lassen. – Ein bisschen Nostalgie, viel Wehmut, Tränen über Tränen, Legenden über Legenden, Abschiedszeremonien. Alle hatten sich mit dem Tod einst erfolgreicher, vieler nahestehender Kollegen abzufinden. Und zur Abfindung aus dem Arbeitsverhältnis gab es einen Beileids-Scheck der Konzernspitze für die Hinterbliebenen. Schweigen. Seelen aus Holz.

    Jahrzehnte saß ich in Zeitungsredaktionen ein. Die längste Zeit verbrachte ich in einer schmalen mit grau getönten Magnet-Wänden ausgestatteten, klimatisierten Zelle – den beschaulich weitläufigen Blick auf die Hamburger Außenalster inbegriffen. Wehmut nach Freiheit. Damals, als ich anfing, glaubte ich noch an den „Marsch durch die Institutionen, an größere soziale Teilhabe vieler an dem unverschämten Reichtum in diesem Land, auch an Chancengleichheit in der Bildungspolitik; überhaupt an den gesellschaftspolitischen Veränderungswillen, an die Offenheit eines kritischen Dialogs, an meine und an die Lernfähigkeit anderer. An Menschlichkeit. Als ich dann aufhörte, besser gesagt ausstieg, war ich nicht resigniert. Vielmehr ging mir immer und immer wieder ein Satz durch den Kopf, der mich seither begleitet: „Das kann doch nicht alles gewesen sein.

    Misstrauen, Hab-Acht-Stellungen waren zu meinen Wegbegleitern geworden. Doppelrollen, Doppelbödigkeiten, Doppelspiel – überall. Die authentischen, tatsächlichen Biografien erschreckten jeden, der von ihnen erfuhr. Ein Reporter-Kollege für die Dritte Welt, der bei mir ständig freundschaftlich ein und ausging, war in seinem früheren Nazi-Dasein KZ-Kommandant. Der Nachbar von nebenan lieferte regelmäßig Berichte, Eindrücke, Befindlichkeiten ans Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit nach Ostberlin. Der Freund aus Prag entpuppte sich in späteren Jahren als Agent der Geheimpolizei StB. Die Zimmer-Nachbarin in Bonn mauserte sich zur Liebesdienerin eines Bundeskanzlers.

    Unbemerkt war mir mein Lebensrhythmus, mein ureigenes Lebensgefühl genommen, umgepolt worden. Ganz allmählich begann zudem die Technokratie-Elite der westlichen Welt, den Mensch zu entmenschlichen, die Demokratie zu entdemokratisieren und die viel zitierten Politiker zu entpolitisieren.

    Wir leben in der Gegenwart in einer atemberaubend flüchtigen wie auch gehetzten modernen Zeit. Die Konsumgesellschaften, das materielle Verlangen weisen dem Menschen die Rolle zu, einzig und allein ihrer Befriedigung nachzujagen. Im Blickfeld rückt nicht etwa eine postmoderne Moral, Verantwortung, Daseinsfürsorge, allenfalls das geschmeidige Wohlgefallen eines Markenartikels. Das Behagliche, das Bequeme wird nur deutlich, wenn das Nutzlose in den Mülleimer fliegt. Und Weggeworfen, aussortiert wird in dieser Wegwerfgesellschaft gedankenlos, rücksichtslos.

    Mich hatte das Grundgefühl eines sterilen, stereotyp vorbestimmten Lebens erfasst. Auch die scheinbar unabdingbare Einsicht, dass ich mich dieser technologisch-digitalen Diktatur zu beugen habe, löste in mir tiefe Verbitterung, Ohnmachtsgefühle, Resignation aus. Das war eben nicht der Stoff, die Konfliktfelder, aus denen meine Träume, Hoffnungen, Ziele waren. Menschen, denen ich unterwegs begegnete, wurden dabei zu Figuren, Leute zum >Anmachen<, >Ausquetschen< und >Abmelken< auf die harte, mal auf die weiche Tour. Warum sie an die Öffentlichkeit gingen, ihr Leid, ihr Schicksal oder auch ihre Ängste schilderten – das war im Prinzip nebensächlich. Was zählte, war die Geschichte, die andere „vom Stuhl reißen sollte. „Output hieß das in der Redaktion, Zeile um Zeile, Story um Story, Auflage um Auflage, Profit um Profit.

    Dabei gab es von außen betrachtet nicht einen wesentlichen Grund, larmoyant Klage zu führen, innere Befindlichkeiten kokett zu kultivieren. Im Gegenteil: Ich verdiente gut, Sportwagen, Jet-Set-Journalismus, Luxus-Hotels, an vielen Airports wartende Mädels.

    Ehefrauen wurden unter Stuck verzierten Decken mit Gobelin-Wandteppich im Altbau zu Hamburg abgestellt, Boutiquen-Einkäufe inbegriffen. Heute hier, morgen dort – Paris, Rom, New York, Buenos Aires, Nairobi … Wir durchlebten eine Ära in diesem Journaille-Milieu, in der das Zusammensein offenbar nur eine Faszination freisetzte, kannte, duldete, immer erneut speiste. Vordringlich galt es den Bedeutungsdrang zu füttern, Selbstbespiegelung zu schärfen und natürlich Triebe zu befriedigen. Über Sex wurde fortan geredet, getuschelt, gelispelt. Die Lust galt es zu entblößen, die Wichtigkeit heraus zu kitzeln, die Libertinage zu durchleben – Promiskuität der leisen Lagen – Tonlagen.

    „Sie alle hielten sich für Persönlichkeiten der Geschichte, für öffentliche Größen, nur weil sie ein Amt hatten, weil ihre Gesichter durch die Presse liefen, denn die Presse will ihr Futter haben, weil ihre Namen durch den Äther sprangen … Und wenn die Welt auch nicht viel von den beamteten Weltgeschichtlern hielt, so raschelten sie doch ständig mit ihnen, um zu beweisen, dass der Vorrat an Nichtigkeiten und Schrecken nicht erschöpft, dass Geschichte noch immer da sei." So gedacht, so formulierte der Schriftsteller Wolfgang Koeppen (*1906+1996) in seinem bereits 1953 erschienenen Buch „Das Treibhaus" Sein und Schein der Politiker-Klasse in der Bonner Republik . Diese Koeppen Aphorismen galten letztendlich so manchen kritischen Antriebsfedern in Bonn, nunmehr in Berlin wie auch anderswo.

    Ich blickte hinter die Fassaden des neureich erkalteten >Machertums<, war ich doch über lange Strecken ein Teil jener Männer-Kulisse. Ich hatte damals schon das Gefühl, dass der Kampf zwischen Männern und Frauen mehr war als ein Geschlechter-Kampf, wie er wohl immer noch dort zu beobachten ist, wo Männer sich in ihren angestammten Positionen bedroht fühlen. Es schien mir so, als würde sich mit den Frauen ein neues kulturelles Gesellschafts-Verständnis durchsetzen, als ginge hierum der eigentliche Kampf zwischen den routinierten Alleskönnern und Frauen neuer Nachdenklichkeit.

    Es war der Sozial-Philosoph Jürgen Habermas, der von einer zunehmenden Entkoppelung von System und Lebenswelt sprach. Aus dem System der verwalteten Welt gliedere sich nicht nur die Lebenswelt aus; innerhalb dieses Systems erfolge zudem ein Substanzverlust des Politischen; Politik in einem ernst zu nehmenden Sinne sei in Basisinitiativen und neuen sozialen Bewegungen zu finden.

    Wenn ich nun noch einmal in meinen Notizblöcken blättere, so ließ ich mich von dem Grundgedanken leiten, dass ich über weite Strecken Zeitzeuge, Begleiter eines aberwitzigen Jahrhunderts war. Mein Buch umfasst 60 Jahre – und sechs Jahrzehnte sind kein Tag. – Was ich wollte, was aus mir geworden ist. Innenansichten. Meine Leserinnen und Leser werden unweigerlich Rückschlüsse zu ihrem Leben suchen, Vergleiche anstellen. Sie werden sich auch fragen, welche Fortschritte oder Verbesserungen erreicht worden sind. Fehlanzeigen.

    Aber die allerersten Rückläufe gelten mir als Autor. In diesen Zeilen und Betrachtungen öffne ich mich – nicht als Exhibitionist, Voyeur, Exot oder Abenteurer aus fernen Ländern. Ich betrachte mich als einen gesellschaftskritischen Wegbegleiter dieser Zeitläufe. Ich skizziere mein Leben, um Vergangenes, Erreichtes, Verlorenes ins Blickfeld zu rücken. Dabei habe ich es niemanden heimzuzahlen oder offene Rechnungen nirgendwo mit irgendjemanden zu begleichen.

    Ich erzähle mein Leben, ich betrachte – auch selbstkritisch – mein Lebensschicksal als symptomatisch für viele Hunderttausende von Menschen der Nachkriegsgeneration. Ich schildere Ereignisse aus meiner Wahrnehmung, Deformationen im deutschen Journalismus, Eitelkeiten und Koketterien in der Politiker-Klasse. Verzagtheit. Ohnmacht. Ich skizziere meine Zeitläufe aus Deutschland, meine Jahre in Italien, Frankreich, Österreich. Ich berichte über meine Reporter-Reisen in Europa, Süd- und Nordamerika, Asien und Afrika. Versager-Ängste. Es ist die Wirklichkeit, aus dem der Stoff für Romane entsteht. Nur mit dem Unterschied – für mich gilt der deutsche Buchtitel des amerikanischen Autors Norman Mailer (*1923+2007) „… und nichts als die Wahrheit".¹⁰

    Als ich Deutschland Ende der achtziger Jahre im vergangenen Jahrhundert verließ, zunächst nach Italien, dann nach Frankreich und letztendlich nach Österreich zog, wollte ich in einen anderen kulturellen Lebenskreis treten, eintauchen und mich neu entdecken. Ich suchte nach Entspannung, höflicheren, freundlicheren, den Menschen direkt betreffenden Umgangsformen als sie im Land meiner Väter gelebt wurden. Ich suchte nach Authentizität. Ich war den selbstinszenierten Stress – das alltägliche Misstrauen der Menschen untereinander, die Hahnenkämpfe, Wichtigtuereien, Statussymbole Leid. Sehr oft, wenn ich von einem langen Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückkam, spürte ich die Verrohung des zwischenmenschlichen Umgangs besonders scharf, war ich der Kälte in diesem Land überdrüssig. Gefühlsverarmung drohte. Ich fror.

    Gewiss, gewiss. Gründe dafür gibt es derlei viele und nicht nur solche, die Deutschland zuzuschreiben sind. Wohl keine Zeit, wohl kein Jahrhundert, folgte so bedingungslos niederschmetternd seinem Niedergang; dem Verfall von Moral wie die Zerrüttung unserer Zivilisation. Wohl in keinem Jahrhundert keimten unverhofft zaghafte Träume, Visionen, Zukunftsfragmente, klagte sich das Prinzip Hoffnung ins Alltagsleben der Menschen ein. Vielleicht ein Aufbruch zu einer zaghaft angedeuteten >konkreten Utopie<. Wunschträume?

    Da waren die beiden Weltkriege, die systematische Ausrottung von 14 Millionen Menschen in den Hitler-Stalin-Diktaturen, deutsche Orte der Juden-Vernichtung – ihre Befreiung. Es folgten die fünfziger Jahre, Wiederaufbau, Wohlstand, Verdrängung der Nazi-Verbrechen, Unfähigkeit zu trauern, Kalter Krieg zwischen Ost und West, Wiederaufrüstung, Freund-Feind-Denken.

    An den Notstandsgesetzen in den sechziger Jahren entzündete sich die Rebellion der Außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen die Generationen der Väter. Die bleierne Zeit der Siebziger waren geprägt durch den Baader-Meinhof-Terrorismus, Berufsverbote; Feminismus, Wandel der Liebesmoral, Frauen-Rechte. Die Wiedervereinigung der alten Bundesrepublik mit der nicht mehr überlebensfähigen DDR verdeutlichte, dass die postindustrielle Gesellschaft bereits Wirklichkeit geworden ist.

    Auf dem Wege nach Europa folgte die Einführung des Euro als europäische Einheitswährung zu Beginn des zweiten Jahrtausends.

    Im neunziger Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zeichnete sich bereits der Paradigmen-Wechsel, nämlich das Ende der alten arbeitsteiligen Industrie-Gesellschaft ab. Das alte Jahrhundert mit seinen Gewohnheiten und Erfordernissen hatte sich schleichend verabschiedet. Der Euro sollte die Antwort der Europäer auf Globalisierung, die Digitalisierung der Welt durchs Internet und ihrer Märkte – das Leben schlechthin sein. Wettbewerbsschlachten durchdrangen unser Leben, Leistungsdruck oder auch Leistungsoptimierung in Unternehmen – Krieg an den Börsen der Finanzspekulanten. Gewinnsucht als Glaubensbekenntnis. Aktiennotierungen, Börsen-News glichen der Frontberichterstattung einstiger Kriegsverläufen. Nationen kapitulierten ohne dass ein Schuss gefallen war. Banken brachen zusammen, neue Super-Reiche zockten, sahnten, schöpften ab, ohne je gearbeitet zu haben.

    Bittere Armut, Elends-Flüchtlinge, Elends-Steppen waren zwangsläufig. Entwertung des Faktors Arbeit einschließlich ihrer Menschen folgten. Sie galt es sinnigerweise „freizusetzen" mit Billiglöhnen, Billigpreisen – hinein in die Massen-Erwerbslosigkeit von Millionen und Abermillionen arbeitslosen Menschen allein in Europa.

    Hastige Epochen schnelllebiger Austauschbarkeit schwappten schon zu Beginn des zweiten Jahrtausends über unsere Kontinente; Umbau wie Verfall des Sozialstaats inklusive. Soziale Kriege der Verteilung.

    Und in Afrika? Dieser an Bodenschätzen immens reiche Kontinent erlebt unvorstellbar Trockenheit großer Regionen, Hungersnöte, Epidemien. Alle zwei Sekunden stirbt ein Mensch an Unterernährung bei blühendem, profitablem Organhandel in und aus der Dritten Welt.

    Dabei wussten wir allesamt nicht so recht, ob der homo sapiens tatsächlich über die weltumspannende Tragweite jener Umbrüche umfassend informiert war. Und das eingedenk mit unseren nahezu 100 TV-Kanälen, iPads, Laptops; eben den Welten des Internets, die Tag für Tag in unserem Bewusstsein jonglieren, auf unseren Schaltzentrum einhämmern. Die Boulevardisierung des gesamten öffentlichen Lebens zum Ende des neunziger Jahrzehnts, vorangetrieben durchs Privatfernsehen und Internet, verschlangen Summen – Unsummen.

    Die vielen Dinge machen arm. Zumindest nach Befinden des Schriftstellers Max Frisch (*1911+1991) „leben wir in einer Zeit, in der die Menschen nicht mehr in der Lage sind, zu definieren, was eigentlich Kultur ist. Schöne Zeiten, schöne Aussichten. Sie deuten das Ende einer Denkweise an, die sich als eine Epoche übergreifende Aufklärung verstand. Der mit Terroranschlägen geführte „Dritte Weltkrieg um kulturelle Hegemonie und Selbstverständnis hat längst begonnen. Wir haben den Überblick verloren, wenn wir ihn je gehabt haben sollten oder auch nur wollten. Wir wissen hingegen eines zweifelsfrei: Unsere Freiheitsrechte sterben zentimeterweise.

    Indes: Ich begreife auch mein Dasein, meine Erinnerungen, Widersprüche, Konflikte, Verzagtheit wie Euphorie als unverbrüchliche Seismografen in den Übergangs-Jahrzehnten aus dem analogen ins digitalisierte Zeitalter. Ich zeichne mein Dasein auf, um Vergangenheit, Verdrängtes, Vergessenes vieler ins Blickfeld, ins Bewusstsein zu rücken, als gesellschaftspolitischen Aufriss sozusagen. Mein Leben glich atemberaubenden, auch lustigen wie spannenden Berg- und Talfahrten in einer Achterbahn.

    Es ging stets rauf wie runter.  Dabei rast die Zeit übereilt davon. Wir spüren es, alles wird uns im Alltag zu viel. Das ständige Blinken und Bimmeln von Handy und Smartphone, die ausnahmslos jedes Vier-Augen-Gespräche, jeden Blickkontakt zu sprengen drohen, Prestige, Status, Reputation. Unisono – wir haben abrufbar zu sein. Leise deuten Philosophen der Moderne auf einen Ausweg hin: wieder Muße zu empfinden, Muße zu leben.

    Ich bin nach meinem Fußweg entlang alter und neuer Gräber, vorbei an vom Wetter zerfressenen Steinen, zerborstene Inschriften wieder am Kapellen-Portal des Friedhofs meiner Heimatstadt angekommen. Wieder suchen meine weiten Blicke ein Schäferidyll im Irgendwo. Wieder halte ich Ausschau nach Männern in schwarzen Anzügen mit weißen Handschuhen.

    In meiner Fantasie vom Friedhof und Tod muss sich solch ein harmonisch-anheimelndes Bild festgezurrt haben. Klar und bitterkalt ist die Luft. Über allen Wipfeln ist Ruh – an diesem Nachmittag fast menschenleer. Wenn da nicht Spaziergänger mit oder ohne Hund, junge Mütter mit Kinderwagen oder auch junge Pärchen mit Thermoskanne und Brötchentüte zwischen den Grabreihen schlenderten. Dieser Friedhof ist nicht nur für mich ein Stück Heimat geworden. Tempi passati, die Zeit – unsere Zeit, meine Zeit ist vergangen, verrauscht, verhuscht, verpfuscht, verflossen und verweht – wir vergehen mit, bemerkte der österreichische Schriftsteller Jean Améry (*1912+1978) in seinem Büchlein „Über das Altern"¹¹.

    Der Tod ist gemeinhin der Höhepunkt des Lebens, so heißt es vielerorts. Der Trauer um den Verstorbenen folgte schon immer eine Inszenierung für die Nachwelt. Das wissen wir hinlänglich. Letztendlich bedürfen all die Schwermut, Trübsinn und Kummer eines Platzes der Erinnerung des Gedenkens, Friedhöfe genannt. Vornehmlich auf solch einem Todesacker werden sich die Menschen ihrer Endlichkeit bewusst.

    Von der gegenüberliegenden Müller-Mühlenbeinstraße wirbelt leise eine Trommel aus angrenzenden Häusern. Ich schließe meine Augen, sehe mich an einem Hang stehen. Hinter mir mein vorbeigerauschtes Leben. Ja, sicherlich doch – das war schon ein wenig so, wie Winston Spencer Churchill (*1874+1965) einst pathetisch formulierte, indem er schrieb: „Das Leben ist wie ein Theaterstück. Zuerst spielt die Hauptrolle. Dann die Nebenrolle. Dann souffliert man den anderen, Und schließlich sieht man zu, wie der Vorhang fällt".

    Natürlich stellte ich mir die Frage, ob sich die junge Generation, für Lebensgefühle und Alltagsbedingungen früheren Jahrzehnte noch interessieren mögen.  Augenblicke sind gefragt. Sie gilt es, im zugedröhnten Hier und Jetzt auszukosten.

    Ich hingegen machte mich vom Friedhof auf ins Zentrum der Heimatstadt Schöningen am Elm zu meinem Geburtshaus auf dem Marktplatz, den ich nach zwei Jahrzehnten wiedersah. Ich wollte leben, an meiner Autobiografie schreiben, an der vorgefühlten Grenze zum Tod zurück ins Leben finden. Dort in diesem Kleinstädtchen hatte ich in Jahren des Kalten Krieges zwischen Ost und West meine prägende Kindheit verbracht. Ich begann mein Buch zu schreiben: „Reporter-Leben in wilden, zerrissenen Jahren. Keine Zeit für Wut und Tränen Das Fremde wird nah – die Nähe fremd. Kein Ort nirgendwo."

    Aukrug in Schleswig-Holstein, Juli 2017                                  R.O.

    Kein Ort nirgendwo - Ichgrenzen in einem Städtchen

    Schöningen am einstigen Zonenrand

    In der Heimat vermisst dich niemand, in der Fremde erwartet dich niemand.

    György Konrad in einem Essay über das Verschwinden zu Lebzeiten

    Als Bub schaute ich vom Fenster oben herab auf Menschen und Geschehen. Meist an den Sonntagnachmittagen durfte ich im gut gepolsterten Sessel meiner Großmutter Platz nehmen und auf den Marktplatz luchsen. Unisono graue Putz-Fassaden galten meinem Blickfang, versteckten seinerzeit filigranes Fachwerk-Gemäuer in gegenüberliegender Häuserfront. Diese Welt war eng, die übertünchten Fassaden noch kleiner, der Marktplatz entsetzlich klein. Es war das Milieu der deutschen Kleinbürger-Gesellschaft aus Einzelhändlern, Handwerkern, Beamten und ehemaligen Parteigenossen der NSDAP.

    Es waren Menschen, die den Zusammenbruch Deutschlands 1945 seelisch nicht verkraftet hatten, flüsternd versteht sich; die nunmehr ungewohnten Zeitläufte fortlaufend beklagten. Auf diesem Kopfsteinpflaster im Kleinstädtchen Schöningen mit seinen 15.000 Bewohnern im Braunschweigischen Land, ganz nah der Zonengrenze, brodelte freilich nur auf wenigen Hunderten Quadratmetern Leben, Flüchtlingsleben, Schwarzmarkt-Leben, Besatzer-Leben in den frühen fünfziger Nachkriegs-Jahren. Ansonsten wurde geschwiegen. Betretene, auffällige Ruhe.

    Heute kommt es mir vor, als habe meine Kindheit nur Schwarz-Weiß-Farbtöne gekannt. Meine Welt, das war seinerzeit der äußerste Zipfel des alten Westens. Am Sonntag kletterten wir unter Obhut der Zöllner auf die Hochstände hinauf und sahen „rüber"; schauten neugierig, was hinter dem Todesstreifen zwischen BRD und DDR passieren mochte. Verminte Stille, Grenz-Schäferhunde. Es war noch immer irgendwie Krieg – Nachkriegs-Zeit. Männer ohne Beine, Frauen mit großen Kopftüchern.

    Irgendwie schien die Zeit stehen geblieben zu sein; zumindest lebten viele Menschen in diesem Städtchen zu Schöningen wieder so unbedacht wie einst zur Jahrhundertwende. Dabei war Aufbruch angesagt, am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft; die liberalste Verfassung, die sich die Deutschen jemals gegeben hatte – die Bundesrepublik Deutschland als ein Garant der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte war damit gegründet worden.

    Nur in Schöningen fuhren sie noch mit Pferdewagen über Pflastersteine; einmal in der Woche kam der Jauchewagen, um die Plumpsklos abzuholen. Die Frauen schrubbten ihre Wäsche in Zuber, und jeder Fünfte lebt von seinem erarbeiteten Geld auf dem Bauernhof. Trotz aller Niederlagen, Entsagungen, Entbehrungen, Tod wie Leid – den im Braunschweigischen Land fällt der mentale Abschied vom Kaiserreich, Diktatur wie Unmündigkeit schwer, sehr schwer.

    Dieses Schöningen in seiner duldsamen Normalität, im Volksmund geringschätzig als „schiet Scheinig abgetan, war ein unfreiwilliges Sittengemälde deutscher Kleinbürger und Bauern. Von weither hatten sich Kind und Kegel mit ihren Kutschen- und Handkarren bis ins Braunschweiger Land durchgeschleppt; aus den Masuren, Schlesien, aus dem Pommern Land. – „Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg. Wohl kein anderer Refrain umschrieb lebensnaher die Flüchtlings-Ohnmacht jener Jahre als das besungene Volkslied aus dem Dreißigjährigen Krieg um 1618. Wiederholungszwänge. Zeitlupen-Beobachtungen, die sich in meinem jungen Gedächtnis festzusetzen vermochten. Vielleicht auch deshalb, weil mich offenkundig diese sonderbar verzerrten, verlausten Köpfe Zeit meines Lebens nicht mehr loslassen sollten, mich wohl auch prägten.

    Es sind Augen-Blicke von verängstigten, ausgemergelten Menschen, von gefurchten, abgerichteten Gesichtern, die auf dem durch Pferdekot und Pferdejauche verdreckten Kopfsteinpflaster Tage um Tage ausharrten. Augen der Angst, des Elends. Sie waren auf der Flucht. Und dieser besagte Marktplatz zu Schöningen vor meinem Elternhaus war nun einmal der hastige Umschlagsplatz gestrauchelter, entwurzelter Familien. Lebensschicksale auf dem Weg in die Ungewissheit, nach irgendwo in Deutschland, egal wohin; nur weg vom Russen, weit weg. Sie baten um Obdach, um warme Decken, Milch, Brot.

    Dieser nach Fäulnis und Leichen riechende kleinstädtische Knotenpunkt war für zig Frauen ein Eldorado – ihre Rettung vor weiterer Männer-Gewalt, Soldaten-Gewalt. Historiker schätzen, dass allein von Januar bis Juni 1945 bis zu 1,9 Millionen Frauen missbraucht und geschändet wurden. Schweigen. Genaue, überprüfbare Zahlen gibt es nicht. Monat für Monat passierten durchschnittlich 200 aus den Ostgebieten von langen Fußmärschen ausgemergelte, versprengte Familien aus den einstigen Ostgebieten die Kontrollstation Hötensleben. Der Marktplatz in Schöningen bekam unablässigen Nachschub, füllte sich mit 20.000 hungrigen Mäulern wie von selbst. Insgesamt waren bis 1950 etwa 7,8 Millionen Deutsche gen Westen unterwegs.

    Ich erinnere mich an meinen ersten Klassenlehrer Grunwald in der Wallschule. Ich war in diesem roten Backsteinbau am 17. April 1956 eingeschult worden. Grunwald war ein vom Kriege gezeichneter Pädagoge, der uns zuallererst beibrachte, den anderen ausreden zu lassen und nicht ständig ins Wort zu fallen. Toleranz war gefragt, auch wenn wir das nicht so nannten. Nachsicht hatte ich vor allem bitter nötig.

    Ich war und bin ein Linkshänder, der nun auf einmal alles mit der rechten Hand zu schreiben hatte; ein junger Bub, der von einer latenten Lese- wie Rechtschreibschwäche begleitet wurde, statt „ei immer und immer wieder „ie vorlas; zur allseitigen Belastung seiner Klassenkameraden. Außenseiter. Jeden Schul-Vormittag vor der großen Pause packte Grunwald sein Frühstücks-Brot aus. Er verteilte tagein, tagaus, Schnitten an seine hungernden Jungen wie Mädchen. Auch den Begriff Solidarität kannten wir damals noch nicht.

    Ich lernte in Schöningen aber sehr schnell und nachhaltig für mein Leben: einer für alle, alle für einen. – Heimatgefühl oder auch das, was ich dafür einstweilen gehalten habe.

    „Heimat", schrieb der Philosophie-Professor Christoph Tücke¹², in einem Essay über die Rehabilitierung dieses Begriffs, „ist ein deutsches Wort, das sich nicht umstandslos in andere Sprachen übersetzen lässt. Heim, Haus, Schutz, Sesshaftigkeit schwingen da mit. … Heimat ist, wo man zu Hause, geborgen, mit allem vertraut ist. Heimat ist keine heile Welt. … Heimat – das sind gleichsam Ausdünstungen, Lärm und Laute, Farb-Kolorierungen, Architektur, Tradition und Sprache. Erst „in der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist", resümierte der Romancier Ernst Wichert (*1831+1931)¹³.

    Ich erinnere mich noch sehr genau an den alten andächtig daliegenden Staatsbahnhof, damals ein Kernstück dieser Stadt; irgendwie schon das Tor zur Welt sozusagen. Das Gebäude aus dem 18. Jahrhundert mit seinen geduckten Giebeldächern, üppigen Buchen auf dem Vorplatz mit Uhranzeiger auf dem Bushalteplatz und dem schwarz-weißen Ortsschild Schöningen für die Züge nach Jerxheim und irgendwo – diese zweigleisige Bahnstation war ein ruhender Pol, Ankunft und Aufbruch in einem. Hier jedenfalls kamen alle an in welchen Epochen auch immer – zusammengeschossene Kriegsgefangene, ausgemergelte Flüchtlinge, verwirrte Mütter mit ihren Kindern, seelisch Kranke, behinderte Menschen vom Ersten, vom Zweiten Weltkrieg, vom Kalten Krieg.

    Sie alle quetschten sich mehr oder minder durch den schmalen, gesichtslos erkalteten Flur in die Freiheit oder das, was sie für Freiheit hielten. Diese kleine, unscheinbare Bahnstation war in ihrer weit gefächerten oft verwirrenden Wahrnehmung alles oder nichts. Abschied, Trauer, Hoffnung, Neubeginn. „Hier ist Schöningen, der Eilzug aus Helmstedt erhält Einfahrt auf Gleis eins. Der Zug endet hier." Endstation. Ein Bahnhof, der Jahrzehnte später zu einem verklärten Mythos gedieh. Mit dieser zweigleisigen Haltestation war eine bemerkenswerte patriotische Gefühlshingabe verbunden. Seine Gleise, Gebäude legten deutsche Ersatzhandlungen frei, die früher in den Strophen des Deutschlands-Liedes zu finden waren.

    Damals knipste Eisenbahner Klaus Hoffmeister (er spielte des Sonntags Fußball bei Schöningen 08, linker Außenverteidiger zu glanzvollen Zeiten) all die Fahrkarten in seinem Kontrollhäuschen. Als ich einmal von ihm als siebenjähriger Bub mir eine Fahrkarte nach Jerxheim entwerten ließ, war ich stolz wie Oskar. Ich spürte in mir zum ersten Mal offenkundig das, was sich Fernweh nennt. Als ich im Jahre 2009 den zugesperrten Bahnhof mit seinen Abstellgleisen wieder in Augenschein nahm, da wurde ich stumm. Nein – in solch einem baulichen Verfall an diesem Ort – „hier ist Schöningen, bitte aussteigen, der Zug endet hier" – das darf und kann nicht wahr sein. Mit der Schließung des Bahnhofs hat man meinem Schöningen kurzerhand ein Stück seiner Seele genommen. – Das Städtchen atmete provinziellen Mief. Fernweh.

    Allenfalls der alljährliche Rummel in diesem Städtchen zwischen den Ost-West-Welten verlockte im Nachkriegs-Deutschland zu Aufbruchsstimmungen. Eine befreiende Ausnahme. Alle wollten beim Jahrmarkt dabei sein, Dreck wie Elend vergessen machen – Budenzauber, Spielmannszüge, Kneipengesänge, trunkenen Raufereien. Dabei reicht es vielen schon, sich mit selbst gebranntem Fusel zwischen Schießbuden und Karussells die Hucke volllaufen zu lassen. Genugtuung. Keine Kraft zum Feiern. Der Suff – eine einzige Quälerei.

    Die Menschen kamen von weit her mit eigenen Mopeds, frisierten Motorrädern oder sogar in kleinen Autos. Mit Rene Carols (*1920+1978) Gassenhauer „rote Rosen, rote Lippen, roter Wein schnalzten und schmachteten gekrümmte Gemüter dieser Jahre nur so dahin. Gelegentlich durfte auch ich mit meinen 50 Pfennig ein Karussell besteigen, auch Eiskugeln schlecken. Meistens verfolgte ich Budenzauber, Jubelklänge des Spielmannszugs „Rot Weiß, Tanz und Jux an der Achterbahn, Raufereien, Kneipengesänge oben im ersten Stock vom Fenster – mein Logenplatz.

    Meine Großmutter hatte nach dem Krieg ihren vierten Mann zu sich in ihr Haus geholt. Sie war eine sehr lebendige, zuweilen wilde Frau. Sie hatte eine Menge heimlich gelebter Männer-Geschichten bereits hinter sich gelassen und war infolge dessen ihrer Zeit weit voraus. Sie könne und wolle nicht allein sein und könne auch nicht nein sagen, wenn Männer sie nach Sex fragten, beteuerte sie zuweilen ganz beherzt. Ob sie jemals in ihrem Leben die „wahre Liebe gefunden habe, darauf konnte sie mir auch im hohen Alter keine Antwort geben. „Was heißt schon wahre, große Liebe, entgegnete sie mit einer Gegenfrage.

    „Papa, wie sie ihren Mann Nummer vier nannte, wurde geheiratet. Vielleicht hat sie sich von ihrem „Papa Sicherheit versprochen. Schließlich war er ja in früheren Jahren für die Stempelgelder beim Arbeitsamt in Braunschweig zuständig. Eben eine Vertrauensperson, ein deutscher Kleinbürger mit Beamtenstatus. „Papa" – Hans Hoff war ein sturer, kauziger Zeitgenosse von dickbäuchiger Gestalt. Er trug stets ein Jackett, an dem die ausgebeulten Seitenschlitze auf seine Extras der „Eigenversorgung" auffällig hinwiesen; Würstchen, Frikadellen, Jagdwurstscheiben in Hamstertaschen – griffbereit.

    Auf sogenannte Hamsterfahrten zu den Bauern im Umland war er häufig, fast täglich unterwegs. Er tauschte Pelze, Besteck oder auch Schmuck gegen Kartoffeln, Eier und Schinken, mauschelte um Preise, Schwarzmarkt-Preise. Vielleicht hat er auch seine Moral auf dem Schwarz-Markt verhökert? Keiner wusste es, keiner wollte es wissen. So manche Hungertoten säumten damals Ausfallstraßen zu den Rübenfeldern in Jahren des Elends.

    Wenn der „Papa" etwas zum Besten gab, war seine Tonlage grob. Grundsätzlich redete er nicht viel. Er muss es wohl geahnt haben, dass Hans Hoff in diesen Frauen-Haushalten mit ihren vielen unter zu bringenden Flüchtlingsfamilien der „Hanswurst" war. Eine Randfigur. Er verbreitete das Fluidum vom traurigen, alten Clown. Teilnahmslos schlurfte er in seinen Hausschuhen mit Hacke und Wassereimer über den Markt zu den Schrebergärten. Hauptsächlich hockte er beinahe apathisch in der guten Stube, paffte Zigarren um Zigarren. Kein Ton, gelegentlich knackte eine Bockwurst direkten Weges aus der Jackettasche in seinem Kiefer.

    Einmal in der Woche, das war sein Höhepunkt, ging es zum Pferderennen nach Braunschweig. Mal soll er bei den Rennwetten sogar etwas gewonnen haben. Mal. Fast immer gingen die Mieteinnahmen des Hauses meiner Großmutter drauf. Sie hingegen hielt unbeirrt zu ihrem Papa; gestand sie mir, er sei der erste Mann in ihrem Leben gewesen, der sie nicht geschlagen habe. Und das will schon was heißen in all den Jahren, in denen Männer ihre Ehefrauen wie nach einem „Naturgesetz" abstraften, prügelten, erniedrigten je nach Belieben.

    Ihr erster Mann, mein Großvater August Köhler, hatte es sogar in einem Anfall des Jähzorns fertiggebracht, ihr Kätzchen Mimie aus Eifersucht ins offene Feuer des Küchenherds zu werfen. Eines schien schon damals gewiss, obwohl ich als junger Bub allenfalls eine Vorahnung davon haben konnte. Ich wurde in einer zerrütteten oder auch zusammengewürfelten Familie groß, die nie eine glückliche Stunde erlebt hat oder auch erleben sollte.

    Ich entsinne mich noch sehr gut an diese unverkennbare „Papa-Figur, weil aus seiner Schlafkammer das Nachtgeschirr den penetrant scharfen Geruch von Altmänner- Urin mit einem Gemisch aus abgestandenem kaltem Zigarren-Rauch Haus und Hof verpestete. Sein Hauptaugenmerk galt dem Pferdekot. Eimerweise sammelte er auf dem Marktplatz die berühmten „Pferdeäpfel ein, um damit seinen Garten zu düngen. Bis 1959 musste Schöningen mit dem kalkhaltigsten Wasser Deutschlands (83 Härtegrade) vorliebnehmen. Aus umliegenden Dörfern kamen von Pferden gezogene Weichwasserwagen ins Städtchen. Und mit den Gespannen kam die Scheiße auf den Markt. Das war Hoffs Stunde.

    Ansonsten schlichen die Leute zu Schöningen nach dem Zweiten Weltkrieg wie geprügelt durch die Gassen. Man musste nicht lange suchen, es wimmelte überall von deutschen Kleinbürgern. Ihr Lebensziel offenbarte Knauserigkeit mit bornierter Behaglichkeit. Damals, nach dem Krieg, hatten sie alle noch nicht sehr viel. Nur das Wenige galt es sogleich zu schützen, zu verteidigen wie ein Bollwerk zu barrikadieren – gegen das Fremde; Flüchtlinge, Zugereiste.

    Dabei hatten sie immer geglaubt, gehofft, sich auf Seiten der Sieger wieder zu finden. Jedes Mal beschied ihnen die Geschichte den Verlierer-Gang. Nicht einmal, nein, immer wieder. Vornehmlich im Südosten Niedersachsens, der Metropole Braunschweig, in Städten Helmstedt, Schöningen, Schöppenstedt und seinem Umland, tritt „kleinbürgerliche Radikalität an die Stelle des ländlichen Konservativismus", urteilte der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008). Die Menschen dieser Region ließen sich wetterfühlig schon oft von extremen Bewegungen mitreißen. In der Stadt Heinrich des Löwen zwangen 1918 die Bürger den Welfen-Herzog Ernst August (*1897+1953) zum Thronverzicht.

    In der Weimarer Republik (1918/19 bis 1933) liefen sie Fahnen schwenkend erst den Roten nach. Dort, wo dann der sozialdemokratische Krankenkassen-Angestellte und spätere DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl (*1894+1964) zum Justizminister ernannt wurde, marschierten wenige Jahre später 1931 riesige SA-Kolonnen stundenlang durch das Stadt-Zentrum. Im Jahre 1932 wurde der Österreicher Adolf Hitler (*1889+1945) vom Braunschweiger Innenminister – wie von Gott gegeben und gewollt – zum Regierungsrat ernannt, damit er deutscher Staatsbürger wurde und für die Reichstagswahl 1933 kandidieren konnte.

    Nach der deutschen Kapitulation – der Befreiung im Jahre 1945 – hissten Schöningens Bürger gleich zweimal zusammengeflickte weiße Tücher ihrer eilfertigen Ergebenheit; erst vor amerikanischen Panzern, sodann vor britischen Haubitzen. Fünf Kilometer oder knappe vier Autominuten von Schöningen entfernt – am Zonenrand – lauerte in Hötensleben fortan die Rote Armee hinter ihrem Rücken. Drohgebärden. Schreie vergewaltigter Frauen … … Schweigen.

    Mittlerweile sind Wahnsinns-Zahlen historisch verbrieft, an ihnen gibt es nichts mehr zu deuteln. Mehr als drei Millionen Rotarmisten sind in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorben oder gar ermordet worden. Mehr als eine Million deutscher Soldaten sind in sowjetischen Lagern umgekommen.

    Eroberungen und Vergewaltigungen von Frauen wohnt ein kausaler, geradezu zwanghafter Automatismus inne. Für Männer hat es offenbar eine Folgerichtigkeit, ihre kriegerische Omnipotenz an Frauen auszuleben. In Zahlen: Im Großraum Berlin wurden 110.000 Frauen und Mädchen Opfer flächendeckender Massenvergewaltigungen; Tür um Tür, Etage um Etage, Keller um Keller. In den Ostgebieten waren es Hunderttausende von Frauen wie Mädchen, denen ihre Kleider heruntergerissen wurden. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance zu fliehen oder sich gar zu verstecken. Die in Ostpreußen geborene Publizistin Marion Gräfin Dönhoff (*1909+2002)¹⁴ schilderte wenige Jahre vor ihrem Tod, was wirklich geschah: „Tatsächlich waren nackte Frauen in gekreuzigter Stellung ans Scheunentor genagelt, zwölfjährige Mädchen vergewaltigt worden."

    Als kleiner fünf- oder auch sechsjährige Junge plagten mich auf dem Fenstersims mit Blick auf den Markt Ängste vor den Russen, obwohl ich einen Sowjet-Soldaten noch nicht einmal von weitem gesehen hatte. Unter einem Russen stellte ich mir bildlich einen großen Elefanten vor. Ein furchterregendes Mammut-Ungeheuer, das mit Stoßzähnen, seinem langen Rüssel von durchdringenden Trompetenlaute begleitet alles niedermachen, alles zerstören, alles töten konnte.

    Das war der Russe – ein baumgroßer Gorilla – mindestens. Der bedrohte mich. Er ließ mich des Nachts nicht ruhig schlafen. Dieser Fantasie-Mensch hielt mich in seinem Bann gefesselt. Unverarbeitete Ängste rissen mich nachts aus meinen Träumen, ließen mich schlafwandelnd das Fenster aufreißen und hilfeschreiend auf den Markt plärren: „Hilfe, Hilfe, die Russen sind da." Es ist auch vorgekommen, dass ich im Pyjama direkt auf den Marktplatz in das gegenüberliegende Polizeirevier gerannt bin. Ob jung oder alt – wir hatten ja alle abgründigen Vorahnungen von dem, was sich hinter dem nahezu alles umspannenden Stacheldraht – dem Todesstreifen verbergen mochte.

    Es waren jene denkwürdigen Tage um den 4. November 1956, an denen russische Truppen mit Brachialgewalt Ungarn überfielen, um die legitime demokratische Regierung der Ungarischen Volksrepublik zu stürzen. In Schöningen gab es derweil kein anderes Thema. Ich hörte zu. Ich war dabei. Ich erlebte mit. 15.000 Männer und Frauen versuchten die Sowjets mit ihren heranrückenden 16 Divisionen aus der Hauptstadt Budapest zu vertreiben. Vergeblich.

    Etwa 200.000 Menschen flohen, 2.500 ließen ihr Leben. Und im weit entfernten Schöningen zitterte die Bevölkerung mit. Ungarn in Schöningen? Es gab wohl niemanden, der eine russische Invasion, etwa in einer militärischen Nacht-und-Nebel-Aktion nicht für möglich, in diesen wirren, angespannten Zeiten des Kalten Krieges für unwahrscheinlich hielt. – Fünf Kilometer oder vier Autominuten zum Krieg – die Rote Armee lauerte in Hötensleben. Todesängste …

    Die Menschen strömten schweigend in sich gekehrt in das dreischiffige, gotische Kirchengebäude von St. Vincenz. Sie hatten sich nicht abgesprochen. Aber sie kamen. Der verhaltende Glanz, Stilelemente aus Renaissance und Barock, wirkten wie Balsam auf angekratzte Gemüter. Überfüllt war das Kirchen-Schiff bis hin zum Altar. Angst hatten sie. Eingehakt hockten sie auf den Bänken, sangen und sangen. „Ein feste Burg ist unser Gott …. – „Harre meiner Seele, harre des Herrn. … In allen Stürmen, in aller Not wird er dich beschirmen, der treue Gott." Charismatisch war die Ausstrahlung des Pastors Walter Menzel (*1903+1991). Der Theologe, der in seiner kirchlichen Funktion eigentlich auch ein Psychotherapeut war, erinnerte daran, „dass wir als Menschen immer auch aus der Finsternis eigener Verlorenheit und Hilflosigkeit zu Gott kommen, aus unserer Nacht in sein Licht." Linderung für zerrissene Seelen jener fünfziger Jahre im letzten Jahrtausend. – Schöningen.

    Verständlich, dass Frauen wie Männer aufgewühlt ihrem Tagwerk – meist im Braunkohle-Tagebau – nachgingen. Nachvollziehbar auch, dass die Gegner von einst, Amerikaner oder auch Engländer, wie Befreier auf dem Marktplatz umjubelt wurden. Wenn auch nur ein Jeep vor dem Rathaus auftauchte – Beifall war ihnen gewiss. Tommys und GIs betrieben oben auf dem Golfplatz eine Spionage-Abhörstation, hörten russische Telefongespräche bis in den Ural ab.

    Jedenfalls kannte meine Großmutter, die Mämä, in ihrem Frauenkreis an den Kaffee- Kuchen-Sonntagen unablässig nur ein sie beherrschendes Thema mit ihren Freundinnen, den Damen Wollny, Kassebaum, der Flüchtlings-Frau Zirkler, der Krieger-Witwe Schlichting oder auch der Elle Dittmer. Schreckensberichte, Schreckenserlebnisse, Vergewaltigungen über Vergewaltigungen, Traumata über Traumata angerichtet von Männern, die in diesem Fall aus der Sowjetunion kamen und Hötensleben der Zipfel des Westens bedeutete. Sie saßen einträchtig am Nierentisch neben der obligaten Tütenlampe. Ihre Verlassenheit, aber auch die Verlassenheit des Grenzstädtchens Hötensleben war in der Silhouette des abendlichen Sonnenuntergangs spürbar; Wassertürme, Grenztürme, einstöckige Backsteinhäuser mit Pacoplatt-Verkleidung, vor jedem Haus eine Buche.

    Am 19. November 1989 öffnete sich plötzlich – mir nichts, dir nichts – die schwer bewaffnete Staatsgrenze gen Westen; unvorstellbar, Hoffnung auf Nähe. Hastige Blicke in den Ortskern des DDR-Städtchens verrieten eine innere Leere der Verlassenheit, Aufgeräumtheit, auch der Lieblosigkeit. Leblos verstaubte HO-Läden, verfallene Höfe, rissiges Backsteingemäuer. Einsilbig protzte die Partei-Propaganda an ausgefransten Straßenrändern: „Tag der Nationalen Volksarmee…Tag der Frauen… Es lebe die Deutsche Demokratische Republik der Staat der deutschen Zukunft…".

    Auf mich wirkte Hötensleben wie eine Geisterstadt oder auch eine Filmstudio-Attrappe. Gespenstisch – ein Ort ohne Widerhall. Menschen, die dieses kommunistische Gemeinwesen aufbauen sollten, die waren nirgendwo mehr zu sehen. Sie hatten sich allesamt aufgemacht in die Freiheit, die sie Schöningen nannten; wo in Supermärkten Regale vom Schnellkauf leergefegt wurden. Nachholbedarf.

    Mit ihrem heiseren Geschrei „Urat! Urräh! berichtete mit belegter Stimme Frau Zirkler damals nach dem Zweiten Weltkrieg ihrer Frauen-Runde. Sie standen ganz plötzlich in ihren knallgelben Uniformen auf unserem Hof. Unvergessen. Mit ihren Kalaschnikows im Anschlag zerrten sie uns in den Keller: „Dawai! Dawai!

    In den drauf folgenden Nächten kauerten die Frauen bei Kerzenlicht im Verließ. Strom gab es nicht, an Schlaf mochte keine denken. Ihre Gesichter hatten sie mit Ruß beschmiert und dreckige Sachen angezogen. Draußen vor der Tür lungerten russische Soldaten umher, stöberten Mädchen und Mütter auf. Ihnen eilte der gefürchtete Ruf voraus: „Frau komm, dawai, dawai." Als die Damen in der Kaffeerunde so erzählten, ihr Leid und sich beklagten, schienen sie jemanden ganz vergessen zu haben - nämlich mich, der ihnen wie gebannt zuhören mochte.

    Vor der Wiedervereinigung im Jahre 1990 war die Ortschaft Hötensleben mit seinen 2.500 Einwohnern für mich jedenfalls unerreichbar; eine andere, in sich verschlossene Welt. Neugierde. Hier, genau hier, verlief der zehn Meter breite „Antifaschistische Schutzwall". Es war ein Todesstreifen von 1.378 Kilometer inmitten durch Deutschland mit Grenzzäunen, Grenzmauern und ein Bollwerk aus zusammengeschweißten Eisenschwellen, Kontrolltürmen. Genau 872 Grenzgänger, Flüchtlinge fanden zwischen der BRD und der DDR in den Jahren 1961 bis 1989 den Tod. In der Ära des Kalten Krieges sah ich diese mit Waffen übersäte Demarkationslinie zwischen Ost und West fast an jedem Wochenende. Da spielte ich Zöllner. Das hatte ich den Uniformierten abgeguckt, glaubte ich doch einer von ihnen sein.

    Vor ihnen musste ich mich nun verstecken. Ich wollte nicht wieder wie ein aufgegriffener Flüchtling von westdeutschen Grenzern mit einem VW-Bus nach Hause geschickt und meiner Mutter übergeben werden. Nein – da war ich lieber unbemerkt mit meinem Gummi-Roller auf den stummen, unkontrollierten Grenzen zum „Alten Fährhaus" unterwegs, Limo trinken; vorbei an Schussanlagen, kläffenden Hunden an Laufleinen, den Zäunen, Selbstschussanlagen, Sichtblendmauern. Hektisch sprangen die Scheinwerferlichter in den Abendstunden von Baum zu Baum.

    Über die Wipfel fegte der Lichtstrahl die Böschung hinab in die Weiten des Niemandslandes des morastigen Unterholzes. Ich glaubte mich an diese Landschaft zu erinnern. Schließlich hatte ich dort wichtige Jahre meiner Kindheit durchlebt. Aber was mir bleibt, ist sentimental und verschwommen, eine heimatlich verdichtete Atmosphäre mehr als ein präzises Gedächtnis. Schweigen. Grabes-Stille.

    Gleichwohl suchten meine Pupillen die ehedem grabentiefe Frontverläufe; Gesinnungsgrenzen zwischen kapitalistischer wie kommunistischer Hegemonie – und das nicht nur für mich. Spannend, ja richtig prickelnd aufregend waren solch abgründige Frontabschnitte, Gesinnungsgrenzen. Atemnot. Unvorstellbar, wie hier Menschen systematisch wie Hasen über das Niemandsland gejagt, erschossen wurden.

    Zur eigenen „Sicherheit" hatte ich mir von meiner Eisenbahner-Kinder-Uniform die rote Schaffner-Mütze aufgesetzt, auch eine Trillerpfeife, gar eine Signalkelle umgehängt. Kinder-Fantasien als eine Kopie der Wirklichkeit, der Welt der Erwachsenen. Auch ich fühlte mich als Grenzer – ein Grenzer ohnedies.

    Dabei konnte das Leben im Sperrgebiet einsam, still, sehr einsam sein. Nichts zum Spielen, keine Kinder, keinen Kumpanen, gar nichts. Langeweile. Dafür atmete ich eine unheimliche, fortwährende innewohnende, gespenstige Ruhe ein. Hier und nur hier erspürte ich die Metaphorik eines Satzes, der mich ein Leben lang begleiten sollte.

    „Mit jeder Grenzüberschreitung nähert man sich dem Tod." Der war nicht nur in Hötensleben, der war mir später überall gegenwärtig. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis ich mich als Grenzgänger begriff – eben als einen Reporter, der überall und nirgends

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