Muzungu Facetten zentralafrikanischer Jahre
By Peter Kunkel
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Book preview
Muzungu Facetten zentralafrikanischer Jahre - Peter Kunkel
Peter Kunkel
MUZUNGU
Facetten zentralafrikanischer Jahre
© Peter Kunkel
Druck und Verlag epubli GmbH. Berlin
ISBN 978-7375-5436-7
Umschlagbild: Inseln bei Kalehe am Westufer des Kivusees, Demokratische Republik Kongo
Aufgenommen 1967 © Peter Kunkel
Vorwort zu Wiederauflage
Die erste Auflage dieses Buches erschien 2000, vor dreizehn Jahren. Die darin geschilderten Zustände lagen schon damals um dreißig Jahre zurück. Es schien mir dennoch wesentlich, sie zu schildern und zu veröffentlichen, weil in dem ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit der Schlüssel zu vielen Entwicklungen, und Fehlentwicklungen, der Mitte Afrikas liegt. Es scheint mir deshalb auch heute noch von Interesse, diese Schilderung weiterhin verfügbar zu halten.
Die Wiederauflage hält sich im Wesentlichen an die erste Fassung. Eingefügt wurden einige wenige zusätzliche Bemerkungen, dort, wo Ansätze einer Entwicklung, die heute auch von Europa aus wahrnehmbar ist, bereits in die geschilderte Zeit fallen. Wie es in dem von uns erlebten Raum heute wirklich aussieht, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, daß manchmal wenige Kilometer Distanz genügen, um sich ein falsches Bild von den Zuständen in der Nachbarschaft zu machen.
Berlin, den 15. Januar 2013 Peter Kunkel
Dem Andenken meiner Mutter für vieles,
auch dafür, daß sie darauf bestanden hat, daß ich dieses Buch schreibe
Inhalt
(Einleitung) 7
Zu Hause im Kivu 13
Die Anreise oder wie man es nicht machen soll 33
Farben und Fetzen 52
Anfangszeiten: Wohlergehen im Chaos 61
Bedient werden will auch gelernt sein 81
Leben mit dem Hunger 108
Alle Jahre wieder 138
Das Haus des Königs 147
Straße oder Autopfad 167
Die Stadt – das fremdgebliebene Erbe 177
Der schwarze Amtsschimmel 213
Alte Sachen 232
Ist das Négritude? 258
Anmerkungen 272
Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben dazu, um Affen, Papageien und Mohren um sich zu ertragen. – Manchmal wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der solche Wunder in lebendiger alltäglicher Verbindung sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.
Johann Wolfgang Goethe. Die Wahlverwandtschaften.
Der Schauplatz dieses Buches ist zumeist das ‚Herz‘ Afrikas, von wo man beinah gleich weit laufen müßte, um an die Ost- oder Westküste des Kontinents zu gelangen. Es ist jene Region, in der Gebirge und ausgedehnte Wasserflächen die Savannen Ostafrikas vom Regenwald am großen Fluß trennen, der bald Kongo, bald Zaire hieß und heute wieder Kongo heißt, mit anderen Worten, die nähere und weitere Umgebung des Kivusees, in der wir fast zehn Jahre gelebt haben, lange bevor sie mit dem Genozid in Rwanda und den folgenden Ereig-nissen traurige Aktualität erlangte. Und behielt, bis heute. Riesige Flüchtlingslager bei Goma und Bukavu, die Rebellion Kabilas und das anschließende Chaos im Osten des kongolesischen Staates haben dafür gesorgt.
Mit alledem beschäftigt sich dieses Buch nicht, denn ich bin nicht da-bei gewesen, und ich weiß, wie falsch sich solche Ereignisse bereits aus wenigen Kilometern Entfernung darstellen. Ich möchte aus den zehn Jahren berichten, die wir wirklich im Lande waren. Es wird von grundlegenden Dingen die Rede sein, die sich dort bis heute nicht geändert haben, und von anderen, aus denen sich das heutige Unheil in unausweichlicher, damals bereits erkennbarer Folgerichtigkeit ent-wickelt hat. In erster Linie aber will ich hier den Weg schildern, den ich gebraucht habe, um wenigstens in großen Zügen zu begreifen, wo ich war und unter welchen Menschen ich lebte.
Es war ein langer Weg, denn hier schreibt ein muzungu¹. Deshalb heißt das Buch auch so. Muzungu ist ein Kiswaheliwort² und bedeutet Europäer, richtiger gesagt, Weißer, denn auch ein Bürger der Ver-einigten Staaten oder Australiens ist, sofern er nur ein Weißer ist, selbstverständlich ein muzungu. Kiswaheli aber ist die Sprache, in der man sich fast überall im östlichen Äquatorialafrika über Sprach- und Stammesgrenzen hinweg verständigt, vom mittleren Abschnitt der ostafrikanischen Küste bis zum Oberlauf des Kongo-Zaire-Flusses. Auch die Leute am Kivusee sprechen es untereinander, wenn sie nicht demselben Stamm angehören, und wir haben uns mit vielen von ihnen ebenfalls meistens auf Kiswaheli unterhalten.
Muzungu ist mehr als nur eine Bezeichnung für Nationalität oder ‚Rasse‘. Für den schwarzen Bewohner des weiten Kiswahelisprach-raums kennzeichnet das Wort einen Menschentyp nicht nur von fremdartigem Aussehen, sondern von mindestens ebenso fremd-artigem Charakter und einer Geisteshaltung ganz besonderer Art. Das Fremdartige überwiegt so sehr das Menschliche, daß sie uns oft mit „Muzungu" anreden, wenn sie uns nicht näher kennen. Solcher Gebrauch von Volks- und ‚Rasse‘bezeichnungen verrät in der Regel nichts Gutes. Man denke an Nigger und Gringo – hier machen sich im Wesentlichen nur Haß und Verachtung Luft. Diese Komponente fehlt auch dem Wort muzungu nicht ganz. Erstaunlicherweise hält ihr aber fast immer ein gewisser Respekt und sogar Zuneigung die Waage. So ist es mir wenigstens immer vorgekommen, auch in kritischen Situationen, in denen undifferenzierter Weißenhaß nicht nur ver-ständlich, sondern auch entschuldbar gewesen wäre.
Manchmal ist aufschlußreich, wovon sich eine Nationalitäten-bezeichnung ableitet. Wir schlagen also im offiziellen englischen Wörterbuch für Standardkiswaheli unter mzungu nach, wie man im feinen, ‚korrekten‘ Kiswaheli der ostafrikanischen Küste sagt, dort, wo die Sprache entstanden ist, und findet neben der Bedeutung ‚Europäer‘ noch: etwas Wunderbares, Erschreckendes, Scharfsinn, Schlauheit, Kunststück, Trick, wunderbarer Plan, Plan, um Schwierig-keiten zu entkommen…
Hand aufs Herz, es ist zu schön, um wahr zu sein. Es schmeichelt uns, solches zu lesen. Es ist gut für unser Selbstbewußtsein. Als moderner Euromasochist möchte man allerdings ein so positives Bild von sich nicht wahrhaben. Man ist geneigt anzunehmen, daß die beiden Bedeutungen des Wortes zufällig gleich lauten, aber etymologisch nichts miteinander zu tun haben, oder man sucht nach einer histo-risch-düsteren Erklärung dieses offensichtlichen Irrtums.
Eine solche bietet sich leider nur zu leicht an. Die ersten Europäer, die an der ostafrikanischen Küste auftauchten, waren Portugiesen. Sie führten sich ein, indem sie eine arabische Stadt nach der andern in Schutt und Asche legten, jene muslimischen Kolonialstädte, die dem schwarzen Hinterland die Segnungen der arabisch-persischen Zivilisation, hauptsächlich aber Sklaverei, Menschenjagd und Entwür-digung gebracht hatten. In der Tat mögen die Neuankömmlinge den Landeskindern im Inneren als Wunder erschienen sein. Nur ist Kiswaheli gar nicht die Sprache der Stämme im Inneren, sondern eben jener Städte, deren Kultur so grausam von den Portugiesen ausgelöscht wurde.
Inzwischen ist das Kiswaheli freilich ins Binnenland eingedrungen. Es hat unterwegs nicht nur seine komplizierte Grammatik mit ihren differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten verloren, sondern auch gro-ße Teile des Wortschatzes, und so kennt am Kivusee kein Mensch mehr eine andere Bedeutung von muzungu als eben ‚Weißer‘. Und doch geben die übrigen Sinngehalte des Küstenkiswaheli recht genau wieder, was den Weißen in den Augen der Landeskinder auszeichnet: auf der einen Seite hohes technisches Können, wenigstens nach landesüblichen Maßstäben, nicht zuletzt auch die Fähigkeit, mit unvorhergesehen Situationen fertig zu werden, auf der anderen Seite ein erschreckender Aktivitätsdrang, der die schwarzen Mitmenschen einfach überrollt, auch solche, die intelligenter sind als der Weiße und wissen, daß falsch ist, was sie unter seinem Druck tun.
Verblüffend ist, wie wenige Europäer in Zentralafrika diesem Bild nicht entsprechen. Oder wenigstens zu unserer Zeit nicht ent-sprachen. Ihre Aktivität und Spannkraft mochte zum Teil eine unbe-wußte Antwort auf die Vorstellung sein, die sich die schwarze Umwelt a priori von ihnen machte. Mehr noch schienen sie sich aus der freudigen Erkenntnis zu entwickeln, daß der Tatendrang hier plötzlich nicht mehr an die tausend Schranken stieß, die ihm in Europa gleichgerichtete Dränge der Mitmenschen setzen. Fähigkeiten traten zu Tage, die, wie man schaudernd wahrnahm, ‚zu Hause‘ nicht einmal zu ahnen waren. Sie waren nicht immer nützlich oder auch nur begrüßenswert. Jeder Weiße, der länger in diesen Ländern lebte, verfiel in einen Dauerrausch, mancherorts ‚coup de bambou‘ genannt, der den Blick für sogenannte Realitäten Europas trübte und das Wertesystem verschob, weg vom Perfektionismus, hin zu einer Vorliebe für Improvisationen, von grauer Bescheidenheit zu aus-ladendem Auftreten. Auch Leute, die Land und Leute nicht an sich heranließen, die eine dichte, abgeschlossene Atmosphäre um sich herum aufbauten, verfielen ihm. Auch sie wurden dem Begriff muzungu immer gerechter im Lauf der Jahre.
Leider ist das nur die eine Seite des Muzungutums. Die andere ist ein abgrundtiefes Unvermögen, schwarzafrikanische Denkwege, Motiva-tionen und Empfindungen zu erfassen oder gar daran teilzuhaben, ein Mangel an Sensibilität für Schattierungen zwischenmenschlicher Beziehungen, die den sozusagen ausschließlichen Inhalt schwarz-afrikanischen Lebens ausmachen. Der Europäer ist in schwarzafrika-nischen Augen einsam, wenn auch meistens nicht alleine. Er lebt in einer sozial und psychisch eiskalten Wolke. Sein Interesse für Dinge, die oft weitab der menschlichen Sphäre in schwarzafrikanischem Sinn liegen, ist absurd. Leute vom Land, die nicht eine Schule besucht und dort einen verständnisfernen Respekt vor europäischem Wissen aufgeklebt bekommen haben, mußten über den muzungu, wenn ihm nicht gerade, wie leider nicht ganz selten, die Galle überlief, eigentlich immer lachen. Was er auch tat, sagte oder fragte, war umwerfend komisch und der Drang unwiderstehlich, den Reichtum und die gewiß anerkennungswerten Fähigkeiten dieses freundlichen Narren für eigene Zwecke in Gang zu bringen. Er selbst wußte ja offenbar nichts Rechtes damit anzufangen.
So etwa stellt sich in großen Zügen der muzungu für die Landeskinder dar, ein, milde gesagt, etwas einseitiges Bild. Aber kann das ein Trost sein, wenn wir unsererseits diese Leute so wenig verstehen? Unter all den Menschentypen, die in größerer Anzahl den Erdball bevölkern, setzt vielleicht kein anderer unserem Einfühlungsvermögen soviel Widerstand entgegen wie die schwarzen Afrikaner. Nach jahrelangem Zusammenleben kann man ihre Reaktionen zwar in etwa voraus-sehen, die Empfindungen und Motivationen, die zu ihnen führen, nachzuerleben bleibt unendlich schwer.
Natürlich wird man sich trotzdem bemühen, seine schwarz-afrikanische Umgebung zu begreifen, und ab und zu geht uns auch ein kleines Licht auf. Aber man braucht Jahre und Jahre dazu, und ein muzungu bleibt man doch. Man bleibt eingeschlossen in sein europäisches Denken und Fühlen, und was Afrika uns bietet, zu-nächst werden wir es immer mit den Augen des Weißen sehen. Manchmal kann man dafür auch dankbar sein: Man sieht Vieles, und vieles Schöne, für das die schwarzen Landeskinder offenbar voll-kommen blind sind.
Dieses Buch schildert den Weg eines muzungu zu einem Verständnis Schwarzafrikas, bescheidener und richtiger gesagt, der schwarzen Zentralafrikaner, unter denen wir gelebt haben. Ich will nicht sagen, daß ich wirklich angekommen bin auf diesem Weg, Eben weil ich ein muzungu bin, ist das Verständnis fragmentarisch geblieben, und der Pfad war voller Umwege und Irrgänge. Ich werde Facetten des Lebens in den Ländern um den Kivusee beschreiben, die mein Bild von dem, was uns umgab, verschoben und korrigiert haben, bis es schließlich kaum noch etwas mit den Vorstellungen gemein hatte, mit denen ich nach Afrika gekommen war. Es ist mein persönlicher Weg, und auf ihn möchte ich mich hier beschränken. Ich möchte meine Beschreibung nicht damit belasten, daß ich die zahllosen Afrikabilder anderer diskutiere und mit dem meinen vergleiche. Ich glaube, das kann ich getrost dem Leser überlassen. Nur was an Schriften und Arbeiten anderer zu meinem Verständnis beigetragen hat, soll in meine Schilderung eingehen.
Zu Hause im Kivu
Vor unserem Haus steht eine Bank. Zwei Stützen aus aufgemauerten Feldsteinen und ein dickes Brett darüber, grau vom Regen vieler Jahre, mit einem großen Riß über die ganze Fläche hin. Sie paßt nicht recht zu den beiden Flügeltüren mit ihren vielen kleinen Glasscheiben und ihrem Anspruch auf Schloß, zwischen denen sie an der Haus-wand steht. Aber es gibt keinen schöneren Platz, um zu sitzen und zu schauen.
Unter uns, sechshundert Meter tiefer, liegt der Kivusee, fast zehn Kilometer weit weg. Nur ein kleiner Teil davon ist zu sehen; hohe Grasberge zu beiden Seiten des Panoramas und vor allem die große Insel Idjwi, die sich als langer Riegel durch zwei Drittel des Sees zieht, verdecken das Meiste von ihm. Hinter Idjwi steht die zerklüftete Kette der Berge Rwandas in der verblauenden Ferne. Vom Ufer des Sees mit seinen Buchten, Halbinseln und Grashügeln steigt das Gelände steiler und steiler zu uns empor, ein kleinteiliges Mosaik von Hügelrücken, Senken und Tälchen, über das das frische Grün der Kulturen hinzieht: der satte Farbton ausgedehnter Bananen-pflanzungen, der hellere der Felder von Sorghohirse und Mais und der noch hellere der Bohnenfeldchen, dazwischen immer wieder Feldstücke, die nicht bestellt sind und sich erholen sollen, gelblich von den unzähligen Blüten der Kompositen und Kleinsträucher, die sie gleich nach der letzten Ernte überziehen. Ein Sumpf, der eine Senke mit seinen graugrünen Seggen und dunklen Randgebüschen ausfüllt, ist der einzige größere Fleck in diesem Flickenteppich.
Dieses Kulturland unterhalb unseres Hauses gehört zu den am dich-testen besiedelten ländlichen Gebieten des Kongo-Zaire. Vom See-ufer reicht es bis zu zweitausend Meter über dem Meer auf die Flanken der Berge hinauf und zieht sich bald breiter, bald schmäler den ganzen See entlang. Höher hinauf ist Wildnis, Bergwald und dichte Bambusbestände, in denen die wenigen Pygmäen umher-streifen und Berggorillas zu Hause sind. Eine Gruppe der großen Menschenaffen kommt alle paar Monate auf dem Rundgang durch ihr Territorium einen knappen Kilometer hinter unserem Haus vorbei.
Von der dichten Besiedlung unter uns ist fast nichts zu sehen. Nur direkt vor uns, hinter dem Rasen unseres Gartens, wo eine ausge-diente Fahrstraße zu unserem Haus, jetzt nur noch eine Ansammlung von Erosionsrinnen, ein Anwesen durchschnitten hat, sind zwischen Bananenstauden ein paar Hütten in Bienenkorbform zu sehen. Oder eine frisch gebaute Hütte steht einsam auf einem neu angelegten Feld. Gewöhnlich aber sind die Gehöfte in den Bananenpflanzungen versteckt, und aus der Ferne gibt nur die Vegetation Kunde von menschlicher Tätigkeit. Anstelle des Waldes, der sich einmal bis fast zum Seeufer hinuntergezogen hat, Felder und Grashügel, also das, was der Mitteleuropäer zu Hause bereits als sehr viel Natur anzunehmen geneigt ist.
In dieser Landschaft ist – sehen wir einmal von den wenigen europäischen Gebäuden ab, Fremdkörpern in jeder Beziehung – kein Punkt gesetzt, um den sich jetzige und künftige Geschlechter sammeln und historischen Gefühlen hingeben können, nicht immer zum Guten ihrer Gegenwart. Das unterscheidet die zentral-afrikanische Landschaft zutiefst von den pathetischen Landschaften anderer Kontinente, in denen Schlösser, Tempel oder Kathedralen einen unübersehbaren Akzent in eine Ebene setzen, eine Burg sich einen Felsen, eine Kirche sich eine Halbinsel so vollkommen unter-ordnet, daß alle Linien in ihnen zusammenzulaufen scheinen, in denen sogar ein Hügelchen durch ein Marterl sich selbst entfremdet und zum Träger einer Idee gemacht wird, von etwas so Unseligem wie Deutschlands Bismarcktürmen ganz zu schweigen.
Nicht daß ein Hügel oder eine Halbinsel nicht in den Augen der Einheimischen religiöse oder metaphysische Bedeutung haben könn-te. Sie kann, im Gegenteil, oft wuchtiger und verbindlicher sein als die von Überresten versunkener Epochen anderswo, besonders wenn Hügel oder Halbinsel Sitz eines Heroen oder Stammesgründers sind. Aber man sieht es ihnen nicht an. Sie sind mit Gras überzogen, in den Flanken wachsen ein paar schüttere Akazien mit ihren horizontalen Ästen in mehreren Etagen übereinander, oder sie tragen unregel-mäßige Flecken höchst alltäglicher Pflanzungen, immer wieder Bananen, Bohnen, Sorgho. Sie sind ohne jedes Pathos, ohne Zusammenfassung und damit auch Knechtung ihrer Linien durch Menschenhand, ohne die Wehmut der Vergänglichkeit. Jede Halb-insel gleicht der nächsten. Jeder Hügel ist einer von tausend ähnlichen, die in geringer Variation einander bis zum Horizont folgen und darüber hinaus bis zum Rand des Kontinents.
Man wird nicht müde, die Landschaft im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten zu betrachten. Morgens, kurz bevor die Sonne über den Bergen von Rwanda aufgeht, liegt der See in stumpfem Bleigrau spiegelglatt zwischen den grauen Bergen, deren Runsen im scharfen Wechsel von Licht und Schatten deutlich hervortreten. An ihren Flanken ziehen sich Wolkenbänke oder Reihen fast gleich geformter Wolkenfetzen entlang, von gleichem Grau wie die Berge und so genau horizontal, daß die Berge darauf stehen wie Kurven auf einer Abszisse. Über dem nahen Kulturland hängen Nebelfetzen. Sie geben nur hie und da den Blick frei auf einen größeren Baum oder eine Hügelspitze mit ein paar Bananenstauden. Es ist schneidend kalt. Nie sieht die Landschaft abweisender aus als zu dieser Stunde. Sogar die Vegetation ist optisch weggewischt, vom Herrn der Schöpfung gar nicht erst zu reden. Es sieht aus, als ob selbst die Pflanzen erst einmal erfunden werden müßten, und Gott gerade eben gesagt habe: „Es werde Licht."
In der Regenzeit hängen die Wolken oft schwer über dem See. Das Grün bekommt einen düsteren bläulichen Stich. Schmale Regen-vorgänge verdecken einen Teil des Panoramas, allerdings immer nur einen kleinen: Es regnet im Kivuhochland nie anders als in kleinen Streifen und für kurze Zeit. Selten dauert die wolkenbruchartige Flut länger als eine Stunde, bevor sie wieder der Sonne Platz macht. Nach dem Regen ist die Sicht weit, besonders morgens um neun Uhr herum, wenn die Luft reingewaschen ist vom nächtlichen Regen und sich noch nicht wieder mit Dunst und Staub gefüllt hat. Man kann von der Fahrstraße zu unserem Haus aus manchmal sogar drei der acht Virungavulkane sehen, deren Sicht von unserer Bank aus durch den nächsten Grashügel versperrt ist. Sie riegeln den See in achtzig Kilometer Entfernung ab, und aus dieser Distanz wird das einsame Übermaß dieser Bergriesen deutlich, die den See bis zu mehr als dreitausend Metern überragen.
Deprimierend ist die Trockenzeit von Mai bis September, wenn man von den ersten vier bis sechs Wochen absieht, in denen noch alles grünt und blüht. Später vergilbt und verwelkt ein großer Teil der Vegetation. Graue und braune Töne gewinnen die Oberhand. Nur die Bananenpflanzungen behalten ihr frisches Grün und heben sich scharf ab. Große Wolken ziehen über den Himmel hin, geben aber kein Wasser. Die Luft füllt sich zunehmend mit Staub und Dunst, besonders wenn die Buschfeuer anfangen, in langen Linien über die Grashügel zu laufen und sie schwarz von Asche zu hinterlassen. Zuletzt ist der Dunst so dicht, daß man kaum hundert Meter weit sehen kann, und dort, wo man den Kivusee und die Berge Rwandas weiß, ist graue, formlose Unbestimmtheit. Es ist eine Zeit allgemeiner Reizbarkeit, wie sie anderswo Föhn und Chamsin erzeugen, und in ihr brechen gewöhnlich auch die Revolutionen aus.
Zu allen Stunden und Jahreszeiten strahlt die Landschaft den Zauber der Unberührtheit aus, dem sich keiner unserer europäischen Besucher je hat entziehen können. Auch dort, wo sich Einheimische in ihr betätigt und breitgemacht haben, bleibt sie unbeschrieben und frei. Hier ist nichts von fremder Hand hineingezeichnet. Die Ge-danken bleiben nicht am gestalteten Ausdruck anderer, fremder Gedanken hängen. Man empfindet die Versuchung, selbst einmal etwas in diese leere Tafel zu schreiben, zugleich aber auch, wie anmaßend und absurd dieser Versuch wäre: Würde nicht auch das Beste in dieser durch und durch nicht menschlichen Landschaft kleinlich wirken?
Nun, man betrachte, was die Kolonialzeit hier an Marken hinterlassen hat. Ein wenig nach rechts liegt unten am Hang, etwa zwei Kilometer entfernt, das Hauptzentrum unseres Instituts. Von meiner Bank aus sehe ich nur einen kleinen Teil der Gebäude, eine Reihe weißer Häuschen, die zum Dorf für die Angestellten gehören, das Gästehaus in belgischem Landhausstil und den Hauptblock in zartem Rosa, mit Bibliothek, Labors und Verwaltung. Ein englischer Besucher hat ihn etwas unfreundlich, aber nicht ganz unzutreffend als Kreuzung zwischen Naziarchitektur und Maharadjapalast bezeichnet. Die übri-gen Häuser verbergen sich unter dem dunklen Laub der Albizzien-bäume in den Gärten und Anlagen.
Erstaunlich genug, nimmt die Entfernung den Gebäuden all das, was dem englischen Besucher unangenehm war. Wie auch die wenigen anderen europäischen Gebäude, die man sieht, ein Pflanzerhaus, eine Klinik am Seeufer und eine ferne Krankenstation auf der Insel Idjwi, sehen sie rein funktionell aus. Sie verlieren alles, was sie aus der Nähe an Pompösen haben mögen, und wirken so nüchtern und alltäglich wie ein Bohnenfeld. In den großen Linien der Landschaft kommen sie sozusagen gar nicht vor.
Niemand würde auf den ersten Blick von hier oben vermuten, daß dieses scheinbar so menschenferne Land übervoll von Menschen ist: Im Anbaugebiet zwischen See und Wald leben, das heißt, lebten bereits in den sechziger Jahren mehr als dreihundert Menschen auf dem Quadratkilometer. Das entsprach der Durchschnittsdichte Bel-giens und der Niederlande. Wenn man daran denkt, wie stark gerade Niederländer und Belgier ihre Länder umgestaltet, wie sehr sie sich im wahrsten Sinn des Wortes in ihnen breitgemacht haben, empfin-det man einen regelrechten Schock beim Anblick dieses übervöl-kerten und doch so unberührt wirkenden Landes. Gewiß, es sind nur die hohen, dichten Bananenstände, die uns den Blick auf die über das ganze Land verstreuten Hütten versperren. Aber wie anders sähe die Landschaft aus, wenn jede Familie ein Bauernhaus europäischen Stils besäße. Solche Unterkünfte ließen sich bestimmt nicht hinter Bana-nenstauden verstecken. Wohin verkrümelt sich diese Masse Menschen? Oder man muß wohl anders fragen: wie klein muß der Raum sein, den jeder um sich herum gestaltet, um so in der Landschaft zu verschwinden?
Nun, der Wirkungskreis einer bäuerlichen Familie erstreckt sich zwangsläufig auf eine Hofstelle mit ihren Feldern. Im Kivuhochland lebt jede Familie für sich inmitten des Landes, das sie bestellt. Dörfer gibt es nicht. ‚Posten‘ wie Städte sind eine Errungenschaft der Kolonialzeit und heute kaum neunzig bis hundert Jahre alt. Traditio-nellerweise legt man ein Gehöft am liebsten auf der Kuppe eines Hügels an und pflanzt um es herum, was schnell zu ernten, also auch leicht zu stehlen und zu wertvoll ist, um nicht ständig unter den Augen des Besitzers zu bleiben, vor allem die Bananen. Ein paar Fruchtbäume wie Papaya, Orangen oder Zitronen, seit Ende der sechziger Jahre zunehmend auch Kaffeebäumchen, dicht bei der Hütte etwas Tabak und ein Busch scharfer Paprika . Alles andere – Bohnen, Sorgho, Maniok, Erdnüsse, Mais, Bataten und manches mehr – pflanzt man weiter draußen auf den abschüssigeren Teilen des Hügels oder unten an seinem Fuß, wo die bei diesem Verfahren unvermeidliche Erosion die fruchtbare Erde zusammengeführt hat. Diese Felder müssen sich immer wieder erholen und lagen wenig-stens früher zwischendurch für mehrere Jahre brach. In den Brachen weidete das Vieh, das sich sonst sein Futter an Stellen suchen muß, die für den Anbau nicht mehr geeignet sind, an Steilhängen und, vor allem in der Trockenzeit, in den sumpfigen Niederungen, die die Senken zwischen den Hügeln ausfüllen.
Ein Bild, das allerdings der Vergangenheit angehört. Bei einem Be-such zu Anfang der neunziger Jahre war kaum noch eine