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Der Pferdestricker
Der Pferdestricker
Der Pferdestricker
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Der Pferdestricker

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About this ebook

Warum wird ein Mensch verrückt und ein Serienmörder?
Es beginnt mit einem Fall von Stalking gegen einen jungen Polizisten, dem es anfangs schwer fällt, das alles überhaupt ernst zu nehmen. Vor allem wenn der Stalker ganz offensichtlich ein Mann ist. Er hat nicht die geringste Ahnung davon, dass er schon längst zu einer Art Gott in der Phantasiewelt des Täters geworden ist, dem man Tiere und Menschen zu opfern hat. Erst als das konkrete Leben zu einem Albtraum zu werden droht, wendet sich der junge Polizist an Richard Börner, inzwischen erfolgreicher Rechtsanwalt. Als angesehenes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft glaubt Börner, diesen Fall natürlich auflösen zu können. Er täuscht sich gewaltig.
Der Pferdestricker ist der vierte Roman um den schwulen Ex-Kommissar Richard Börner.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJan 3, 2020
ISBN9783750219397
Der Pferdestricker

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    Der Pferdestricker - Thomas Hölscher

    Samstag, 8. Juli 2006

    Trotz der wegen der wochenlangen Hitze unvermeidlichen braunen Flecken sah die Grasfläche wie ein geradezu gepflegter Rasen aus. Zum Ufer hin fiel sie leicht ab und endete in einem schmalen Streifen Sand, der nur ab und zu vom Wasser des Sees überspült wurde.

    Auf dem Rasen saßen zwei Männer.

    Der eine Mann war Anfang bis Mitte 50, mittelgroß und schlank und saß mit scheinbar nach hinten auf den Händen abgestütztem Oberkörper und weit nach vorn gestreckten Beinen auf dem Rasen; in Wirklichkeit waren seine Hände mit metallenen Handschellen auf dem Rücken zusammengebunden. Er trug eine verwaschene Jeans, Turnschuhe und ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft. Sein kurzgeschnittenes, dunkles Haar war an den Schläfen leicht ergraut und auch in seinem Schnäuzer hatten sich einzelne Haare bereits verfärbt.

    Der andere Mann war Mitte bis Ende 20, auch er war schlank, aber größer und kräftiger als der ältere Mann, sein ebenfalls kurzgeschnittenes Haar etwas heller. Auch er trug eine Jeans und ein T-Shirt, hatte die Beine angewinkelt und die Arme scheinbar lässig auf seine Knie gelegt. In der rechten Hand hielt er eine Pistole.

    Wo hast du dieses Ding her?, fragte der ältere Mann und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Waffe in der Hand des jüngeren Mannes.

    Sie haben gar kein Recht, hier irgendwelche Fragen zu stellen, antwortete der jüngere.

    Ich weiß es ohnehin, sagte der ältere Mann unbeeindruckt. Das ist die Dienstwaffe von Herrn Westermann.

    Obschon ab und zu eine leichte Brise vom Wasser her über das Gras wehte, war es sehr heiß. Die Sonne schien von einem völlig wolkenlosen Himmel. Die Hitze ließ die Luft über dem Wasser des Sees vibrieren und die Konturen des gegenüberliegenden Seeufers verschwimmen.

    Wo sind wir hier?, fragte der ältere Mann, und der jüngere grinste nur. Wo werden wir schon sein? Sie wissen es ja ohnehin.

    Keine zehn Meter von den beiden Männern entfernt stand auf der zum Wasser leicht abfallenden Grasfläche ein riesiger junger Kerl, dem es offenbar schwer fiel, seine Nacktheit vor den beiden anderen Männern zuzulassen.

    Warum lässt du nicht wenigstens Herrn Westermann in Ruhe?, fragte der ältere Mann und der jüngere schüttelte unwirsch den Kopf. Wer ist Westermann? Ich kenne keinen Westermann?

    Das ist doch menschenverachtend, sagte der ältere Mann und der jüngere grinste. Sie haben Recht, stimmte er schließlich zu, und ich habe noch nie einen Hehl daraus gemacht. Ich verachte die Menschen. Er richtete die Pistole in seiner Hand auf den nackten Mann. Aber ich liebe die Götter. Und die heißen nun mal nicht Müller, Meier oder Westermann. Er lachte kurz, und als ärgere ihn sein eigenes Lachen, fuhr er den nackten Mann plötzlich an: Na los, du weißt, was zu tun ist.

    Ohne den Sprecher auch nur eines Blickes zu würdigen, wandte sich der Riese einem kleinen weißen Pferd zu, das mit den Zügeln an einem der Büsche direkt am Seeufer angebunden war. Vorsichtig löste er den Lederriemen aus den Ästen und hob ihn über den Kopf des Tieres. Nicht dort, sagte der jüngere Mann entschieden, ohne auch nur für eine Sekunde die Waffe in seiner Hand nicht auf den nackten Körper vor sich zu richten. Geh ins Wasser!

    Der riesige Kerl fasste das Tier am Halfter und führte es langsam neben sich her in den See, bis seine Füße bis über die Knöchel vom Wasser überspült wurden. Dann stellte er sich in dem seichten Wasser neben das Tier, strich dem mit der rechten Hand über den Rücken und legte schließlich sein rechtes Bein auf den Rücken des Tieres. Als es ruhig blieb, stieß er sich mit dem linken Bein vom Boden ab und rutschte ganz auf den Tierrücken.

    Die Füße des Riesen reichten an beiden Seiten bis in das seichte Wasser und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seine Füße unter dem weißen Tierkörper sich berühren zu lassen. Aber er schien geradezu ängstlich darauf bedacht, jede Bewegung zu vermeiden und saß regungslos auf dem kleinen Tier.

    Perfekt, sagte der jüngere Mann so leise, dass schon der ältere ihn kaum verstehen konnte. Ganz einfach perfekt.

    Wo hast du diese Tiere her?, fragte der ältere Mann. Du nimmst doch nie irgendeines, du suchst sie aus.

    Der jüngere sah ihn wie überrascht an, als falle es ihm schwer, in die Welt seines Gegenüber zurückzukehren. Ganz richtig, sagte er schließlich und nickte heftig zustimmend mit dem Kopf. Ich suche sie genau aus. Er zögerte einen Augenblick. Sie werden natürlich wissen, was ein Einhorn ist.

    Das ist kein Einhorn, sagte der ältere Mann schnell und mit einem Lachen, das schnell wieder aus seinem Gesicht verschwand, als sei es auch ihm in der Situation augenblicklich als völlig unangebracht deutlich geworden. Das ist ein Pferd.

    Der jüngere lachte leise. Natürlich ist das kein Einhorn, sagte er schließlich. Ich bin doch nicht verrückt. Und es soll auch gar nichts anderes sein als das, was es ist. Als warte er auf einen erneuten Einwand seines Gegenübers, ließ er einen Augenblick verstreichen, bevor er fortfuhr. Aber Sie haben Recht, ich suche sie genau aus, und das kostet jedes Mal viel Zeit und Mühe. Die meisten Menschen heutzutage verschwenden ihre Zeit und Energie für völlig unwichtige Dinge. Ich nicht. Es schien, als wolle er dem älteren erneut eine Möglichkeit zu einem Einwand geben. Sie haben keinen Respekt mehr vor Göttern, fuhr er schließlich fort, und seine Stimme klang, als könne er sich nicht entschieden, ob er meinte, was er sagte, oder ob er dazu selber in einer seltsam ironischen Distanz stand. Und wer sich um seine Götter nicht sorgt, der darf sich schließlich nicht wundern, wenn er keine Träume mehr hat. Und als habe diese Behauptung in jeder Beziehung nur unzureichend das zum Ausdruck gebracht, was er eigentlich hatte sagen wollen, fügte er mit plötzlich äußerst aggressivem Tonfall hinzu: Wenn alle in ihrer banalen und langweiligen Scheiße ersticken. Er riss mit der linken Hand ein Büschel Gras aus und warf es wie ein trotziges Kind von sich. Wissen Sie eigentlich, fragte er nach einer Weile, dass auch Michelangelo so gearbeitet hat, er hatte einen adeligen Freund, der .......

    Du bist nicht Michelangelo, unterbrach ihn der ältere Mann ganz entschieden, du bist ganz einfach ein Mörder. Ein brutaler Serienmörder. Und noch bevor er fortfahren konnte, hatte der jüngere ihn seinerseits unterbrochen: Sie müssen aufpassen mit dem, was Sie sagen. Sie müssen gut aufpassen mit dem, was Sie sagen, flüsterte er, als dürfe der Riese auch nicht ein Wort davon mitbekommen. Und doch verstärkte sein Flüstern noch die unverhohlene Drohung seiner Worte. Beim Sprechen ließ er den nackten Mann vor sich keine Sekunde lang aus den Augen.

    Womit hast du Westermann gezwungen, hierher zu kommen, fragte der älter Mann.

    Der jüngere Mann schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Er blickte mit regungslosem Interesse auf das weiße Tier, das ganz plötzlich energisch den Kopf bewegt und versucht hatte, nach vorne zu gehen und daran von dem schweren Mann auf seinem Rücken eben so energisch gehindert wurde.

    Womit hast du Westermann gezwungen, hierher zu kommen?, fragte der ältere noch einmal, und der jüngere Mann sah ihn überrascht an. Ich habe niemanden zu irgendetwas gezwungen.

    Doch, das hast du, und wahrscheinlich hast du auch Inga Weber entführt.

    Warum sollte ich das tun?

    Hast du auch Inga entführt?

    Inga! Der jüngere Mann schüttelte ärgerlich den Kopf. Inga Weber! Wer ist denn das? Und warum sollte ich so etwas tun?

    Weil Westermann sonst ebenso wenig hierher gekommen wäre wie ich.

    Der junge Mann lachte kurz. Doch, zumindest Sie wären hierher gekommen, wenn ich Ihnen nur gesagt hätte, dass er auch hier ist.

    Wer?

    Ihr Gott. Er lachte leise. Oder besser einer Ihrer vielen Götter.

    Lächerlich!, sagte der ältere und seine Stimme klang verächtlich. Ich bin hier, weil du auch Christiane in deine Gewalt gebracht hast. Für kein Geld der Welt wäre ich ansonsten irgendwo hingegangen, wenn ich nur geahnt hätte, dass du dort auch bist.

    Zum ersten Mal wandte der junge Mann seinen Blick wieder dem älteren zu. Und warum nicht?

    Der ältere Mann sagte nichts.

    Warum nicht, habe ich gefragt. Die Stimme des jüngeren Mannes hatte nun einen nicht mehr zu überhörenden bedrohlichen Ton angenommen.

    Du weißt es doch selber, also wozu soll ich es dir auch noch sagen?

    Weil ich es hören will. Die Augen des jüngeren Mannes waren nun unentwegt auf den älteren gerichtet, bis der von sich aus dem Blick des anderen mit einer arroganten Mimik auswich.

    Blitzschnell hatte der jüngere Mann mit der linken Hand eine neben ihm liegende Gerte gefasst und sie dem älteren mit voller Wucht quer über das Gesicht geschlagen. Weil Sie mich für ein Schwein halten, darum, schrie der junge Mann. Für ein verrücktes, perverses Schwein. So ist es doch?

    Der ältere Mann hatte die Möglichkeit, die Hände schützend vor sein Gesicht zu nehmen, schon wegen der hinter seinem Rücken zusammengebundenen Hände nicht gehabt. Aber ganz offensichtlich hatte er mit einer solchen Reaktion auch überhaupt nicht gerechnet. Über die rechte Gesichtshälfte zog sich nun ein immer dunkler werdender roter Streifen, die Oberlippe war aufgeplatzt und blutete auf das weiße Fußballtrikot.

    So ist es doch?, rief der jüngere Mann noch einmal außer sich vor Wut und sah den älteren erwartungsvoll an.

    Der schüttelte nur langsam den Kopf. Nein, sagte der schließlich leise. So ist es nicht.

    Sekundenlang noch fixierten die Blicke des jüngeren den anderen Mann, bis sich seine Gesichtszüge urplötzlich aufhellten und er mit der Gerte auf das Gesicht des älteren Mannes deutete. So ein Schmiss im Gesicht steht Ihnen übrigens richtig gut, sagte er schließlich. Macht Sie männlich. Er lachte kurz. Noch männlicher.

    Es war eine Zeit lang still, und als sei ihm diese Stille schließlich zu peinlich geworden, sagte der jüngere plötzlich: Eigentlich müssten Sie mich doch fragen, warum ich ausgerechnet Sie ausgesucht habe.

    Ich frage es mich aber nicht.

    Doch, natürlich haben Sie es sich schon häufig gefragt. Das letzte Mal haben Sie es sich in der Wohnung Ihres Freundes Sundermann gefragt. Ich weiß es doch.

    Man sollte sich schämen, wenn man fremde Menschen in deren Wohnung abhört.

    Einen Augenblick lang schien der jüngere Mann diese Bemerkung des älteren nicht einordnen zu können; dann ging er darauf mit keinem Wort ein. Es war wegen Milewski, sagte er stattdessen schließlich. Milewski hat mir alles über Sie erzählt.

    Ich wüsste nicht, was Milewski dir über mich erzählt haben sollte.

    Ach nein? Der jüngere Mann grinste breit.

    Nein.

    Dass Sie sogar seine Scheiße gefressen hätten, wenn er es verlangt hätte, das hat er mir erzählt.

    Der ältere Mann schüttelte den Kopf, als habe ihn die Geschmacklosigkeit der Bemerkung des jüngeren schockiert. Ich habe noch nie Scheiße gefressen, und Gottseidank ist auch Volker Milewski nie so weit gesunken, etwas Derartiges von mir zu verlangen.

    Wirklich nicht?, fragte der jüngere Mann höhnisch.

    Nein, wirklich nicht.

    Abrupt stand der jüngere Mann auf. Na gut, sagte er und wandte sich an den riesigen Kerl. Komm her!, rief er. Dann richtete er die Pistole auf den älteren Mann. Und Sie stehen auf!

    Der Mann auf dem Pferd trieb das Tier vorsichtig aus dem Wasser und hielt es keine zwei Meter von den anderen beiden Männern entfernt an. Die ganze Zeit hielt der jüngere Mann dabei die Pistole auf ihn gerichtet. Es sieht wahnsinnig aus, sagte er leise. Ganz einfach wahnsinnig.

    Es ist widerlich, sagte der ältere Mann und wandte den Blick ab.

    Warum denn das?

    Es ist entwürdigend, einen anderen Menschen zu so etwas zu zwingen.

    Hatte der nackte Mann bisher wie versteinert auf dem kleinen Tier gesessen, als sei er nicht mehr als eine notwendige Requisite in einem Theaterstück, so war nun deutlich zu sehen, dass sein Gesicht vor Scham rot wurde, ein uralter Reflex, der sich jeder bewussten Kontrolle entzog.

    Entwürdigend!, wiederholte der junge Mann und gab seiner Stimme einen übertrieben empörten Klang. Und zu gar nichts muss man diesen Körper zwingen. Der will das, der genießt das doch.

    Es ist einfach entwürdigend, wiederholte der ältere entschieden und wandte erneut den Blick ab.

    Mit der Gerte berührte der jüngere Mann das Kinn des älteren. Sie sollen ihn ansehen.

    Wozu das?

    Weil ich es so will. Erst als der ältere den Blick wieder dem Mann auf dem Tier zugewandt hatte, fuhr der jüngere fort. Man kann es doch sehen. Dieses Vieh ist zu nichts anderem erschaffen als dazu, von diesem Körper beherrscht zu werden. Und dieser Körper ... Er berührte mit der Gerte das Knie des nackten Mannes und fuhr langsam über dessen Oberschenkel nach oben, als müsse er dem anderen ganz genau zeigen, was dieser zu beobachten hatte, ohne selber genau zu wissen, was das eigentlich war. Dieser Körper ist zu nichts anderem da als dazu, diese armselige Kreatur zu beherrschen. Alle armseligen Kreaturen. Man kann es doch sehn! Schau doch genau hin!

    Was soll ich sehen?

    So und nicht anders ist die Welt. Brutal und genial.

    Die Welt kann man verändern.

    Einen Augenblick lang sah der jüngere den älteren Mann an, als habe der gerade allen Ernstes etwas Ungeheuerliches behauptet, das jeder Vorstellung des gesunden Menschenverstandes zuwiderlief. Vielleicht kann man das, räumte er schließlich ein, wir tun es ja andauernd, aber das kann man doch gar nicht wollen.

    Man muss es sogar.

    Warum denn?

    Zum Beispiel weil dieser Körper Stefan Westermann heißt und in keiner Weise da ist für Dinge, zu denen du ihn zwingst.

    Der jüngere Mann schien einen Augenblick irritiert, dann lachte er kurz. Und wie über die Naivität seines Gegenüber amüsiert schüttelte er schließlich den Kopf. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich über meinesgleichen auch alles gelesen habe, was irgendwelche Seelenklempner sich ausgedacht haben. Sie wollen mir weismachen, dass ich nichts als ein perverser Serienmörder bin, und nun machen Sie mich auf Individuen aufmerksam, geben ihnen allen Namen, weil mich das angeblich daran erinnern soll, dass ich es mit wirklichen Menschen und nicht mit beliebigen Opfern oder Sachen zu tun habe. Er grinste. Ich weiß das doch alles. Sie können sich ihre Bemühungen ersparen.

    Eine Zeitlang war es still. Manchmal glaube ich, dass auch Sie nur Angst haben, fuhr der jüngere schließlich fort.

    Wovor sollte ich Angst haben?

    Vor diesem Bild natürlich. Wieder wies der jüngere Mann auf den nackten Mann auf dem Pferd.

    Ich habe davor keine Angst, aber es empört mich und ich finde es widerlich.

    Sie haben Angst, fuhr der andere unbeirrt fort, weil es Sie an Milewski erinnert.

    Warum sollte es mich an Volker Milewski erinnern.

    Weil es deine Beziehung zu Milewski auf den Punkt bringt: Der ist oben, du bist unten. Du bist doch auch nichts anderes als eine armselige Kreatur. Das ist die Realität, und man kann das akzeptieren, oder man geht daran zugrunde.

    Niemals. Ich war niemals unten, sagte der ältere Mann entschieden. Und ich will vor allen Dingen nicht, dass du mich duzt. Für Sekunden schien der jüngere Mann plötzlich völlig irritiert, schien mit den Augen hilflos und ohne jedes Ziel zwischen Gegenständen in der nächsten Umgebung hin und her zu irren, nur um den älteren nicht ansehen zu müssen. Außerdem, fuhr der ältere schließlich fort, ist Milewski tot. Deine Götter können also sterben. War dir das eigentlich klar?

    Natürlich!, stimmte der jüngere sofort zu. Nur dumme Menschen wollen das nicht glauben. Natürlich ist jeder Gott nur ein Firlefanz in unserem Kopf. Ein Traum. Eine Sehnsucht. Sonst nichts.

    Irgendwo in der Ferne war das Aufheulen eines Motorradmotors zu hören, es steigerte sich für einen Moment zu provozierender und fast unverschämter Lärmbelästigung und entfernte sich dann in einer scheinbar menschenleeren Szenerie. Für einen kurzen Augenblick schien das Tier plötzlich unruhig werden zu wollen, und der junge Mann richtete die Pistole auf den nackten Mann. Und Sie setzen sich wieder auf den Boden!, sagte er zu dem älteren. Um mit den auf dem Rücken zusammengebundenen Händen keine hektischen Bewegungen zu verursachen, ließ der sich langsam in das trockene Gras sinken. Als müsse er sich über die Richtigkeit der neuen Konstellation absolute Sicherheit verschaffen, ließ der jüngere seinen Blick hektisch zwischen den beiden anderen Männern hin- und herschweifen. Erst als alles seine Richtigkeit zu haben schien, setzte auch er sich wieder neben den älteren.

    Weißt du es eigentlich selber?, fragte der plötzlich.

    Was weiß ich selber?

    Warum du gerade mich ausgesucht hast.

    Ich habe es doch gesagt: Seelenverwandtschaft.

    Und ich habe dir gesagt, dass das nicht zutrifft.

    Der jüngere Mann sah den älteren eine Zeit lang an, als sei er überrascht, geradezu peinlich berührt, und wolle ihm nichts zu dessen Bemerkung einfallen; schließlich hob er nur die Schultern. Schade, wenn es so ist. Aber dann kann ich es eben nicht ändern.

    Nein, du kannst es nicht ändern, stimmte der ältere ihm zu. Aber warum fragst du nicht einmal mich, warum ich dich ausgesucht habe.

    Warum sollte ich das tun?

    Mach’s doch einfach.

    Also: Warum haben Sie gerade mich ausgesucht?

    Der ältere Mann schien einen Augenblick zu überlegen.

    Weil Sie mich verachten, sagte der junge Mann schnell, als sei ihm die plötzliche Stille peinlich oder könne er wie ein kleines Kind die Antwort auf irgendeine Frage gar nicht erwarten.

    Der ältere Mann schüttelte langsam den Kopf. Nein, deshalb nicht.

    Warum dann?

    Noch immer schien der ältere Mann in Gedanken versunken, als müsse er jedes der Wörter auf die Goldwaage legen, die das zum Ausdruck bringen sollten, was er sagen wollte. Wenn wir uns früher kennen gelernt hätten, sagte der ältere Mann schließlich leise und langsam und doch besonders akzentuiert, ..... ich hätte das Lied ohne Worte für dich gespielt. Nur für dich. Darum.

    Für Sekunden schien der jüngere völlig irritiert. Fassungslos schaute er den älteren Mann an. Meinen Sie das im Ernst?, fragte er schließlich.

    Der ältere Mann nickte. Das meine ich im Ernst. Als müsse er die Glaubwürdigkeit des Gesagten noch unterstreichen, fügte er nach einer Weile hinzu: Und ich bin mir sehr sicher, es wäre ein Liebeslied geworden.

    Und jetzt ist es natürlich zu spät?

    Nicht ganz. Das liegt ausschließlich an dir.

    Warum nicht ganz.

    Weil ich nicht will, dass sie dich abknallen, sagte der ältere Mann schnell und sah sein Gegenüber konzentriert an. Inzwischen wissen sie natürlich längst, wer du bist, und es wird für sie überhaupt kein Problem sein herauszufinden, wo du dich im Augenblick aufhältst. Sie werden hier alles abriegeln, umstellen, ein SEK hierher bringen und irgendein Scharfschütze wird dich letztlich erschießen.

    Ja und, vielleicht will ich das doch.

    Ich will es aber auf gar keinen Fall.

    Warum nicht?

    Der ältere Mann schüttelte langsam wie widerwillig den Kopf.

    Warum nicht?, fragte der jüngere noch einmal. Bitte sag es mir doch.

    Ich habe es dir doch schon gesagt. Was willst du denn noch mehr?

    Ganz langsam legte der jüngere Mann die Pistole vor sich in das Gras, rutschte auf den Knien bis dicht neben den immer noch mit nach hinten gestreckten Händen regungslos auf dem Boden sitzenden älteren Mann zu und sah dem unentwegt ins Gesicht. Es tut mir leid, sagte er schließlich, und noch bevor der ältere etwas sagen konnte, strich der jüngere mit der Hand leicht über den inzwischen verkrusteten Striemen im Gesicht des älteren. Es tut mir wirklich leid, sagte er kaum hörbar. Ich habe dich nicht schlagen wollen.

    Ich weiß.

    Als sich ihre Köpfe fast berührten, sagte der ältere Mann mit so leiser Stimme, als müsse er endgültig sicherstellen, dass niemand außer dem jüngeren Mann ihn hören konnte: Was ist mit Janosz?

    Du weißt doch bestimmt, dass er seit 16 Jahren tot ist.

    Und Jonas Z.? Ist der auch tot?

    Ja, der auch.

    Ganz offensichtlich hatten beide den Riesen auf dem Pferd völlig aus den Augen verloren. Urplötzlich hatte der hinter dem jüngeren Mann gestanden. Pass auf!, rief der ältere noch, aber da hatte der riesige Kerl den jungen Mann bereits mit einem wuchtigen Tritt gegen den Kopf wie leblos zu Boden gestreckt.

    Prolog 1

    23.9.2000

    Das Anwesen war viel zu groß für einen Menschen.

    Vielleicht, dachte er plötzlich, war das typisch für dieses Land: zu wenige Menschen wohnten in viel zu vielen und zu großen Häusern. Und die Menschen, die solche Häuser hätten bevölkern können, die mochte man in diesem Land nicht. Dann wollte er diesen Gedanken nicht mehr weiterspinnen: Irgendwie verursachte ihm ein solches Denken ein Gefühl des Unwohlseins, manchmal sogar der Angst; der Angst, schon längst zum Fremden geworden zu sein im eigenen Land. Er wusste, dass er selber auch zu den Stammtischstrategen gehörte, die die vielen Ausländer nicht mochten und ständig neue Ideen hatten, was man mit denen anstellen sollte. Und sobald er alleine war, wollte er auch an sein Gerede am Stammtisch nicht mehr denken, verursachte es ebenfalls ein ungutes Gefühl und manchmal sogar die Überzeugung, dafür irgendwann so etwas wie die Quittung zu erhalten.

    Dabei gab es für ihn in der Realität schon seit Jahren keine Abende an irgendeinem Stammtisch mehr.

    Und doch waren es vor allem die vielen Ausländer gewesen, die sie vor Jahren schon aus dem Süden von Gelsenkirchen geradezu hatten flüchten lassen. Ein riesiges Haus hatten sie dort gehabt für sich selber und mehrere Mietshäuser für andere Leute. Zunächst hatten sie nichts dagegen gehabt, auch ausländische Familien in ihren Häusern wohnen zu lassen: schließlich war man kein Unmensch, und die Leute hatten nett und sauber ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, und sie hatten oft davon gesprochen, sobald wie möglich wieder in ihre eigenen Länder zurück zu gehen. Aber nur ein paar Jahre später waren sie gezwungen gewesen, fast alle Wohnungen an ausländische Familien zu vermieten oder leer stehen zu lassen, weil diese Leute nicht mehr weggingen, sondern immer mehr von ihnen kamen, und viele von diesen Leute hatten auch nicht mehr nett ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, weil es die Arbeiten, die sie einst ins Ruhrgebiet gelockt hatten, gar nicht mehr existierten. Und gewollt und immer häufiger auch verlangt hatten sie vor allem nur noch eines: dass man sie gewähren ließ, wenn sie Regeln nicht nur nicht achteten, sondern sogar gezielt verletzten. Für Unruhe hatten sie gesorgt, für ein ungutes Gefühl zunächst, dann für immer schneller steigende Sorgen und Ängste. Und da waren sie kurzerhand weggezogen ins Grüne wie so viele, die es sich irgendwie leisten konnten wegzugehen aus einer Umgebung, die ihnen längst fremd und oft sogar unerträglich geworden war.

    Und sie hatten sich diesen ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Raesfeld, einem kleinen Ort im Münsterland am Rande des Ruhrgebiets, allemal leisten können. Eigentlich ist es Feigheit vor dem Feind, hatte seine Frau damals gesagt, und sie hatten darüber gelacht. Mittlerweile lachte er darüber schon lange nicht mehr.

    Eines Nachmittags waren sie einfach rausgefahren, hatten kurz vor Raesfeld die stark befahrene B224 verlassen und waren nach ein paar Kilometern vor dem damals schon leerstehenden Gehöft gelandet. In the middle of nowhere, das hatte er damals bereits gesagt, die nächste menschliche Behausung war schließlich über einen Kilometer entfernt; aber der Hof hatte ihnen beiden gefallen, war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so hatten sie, ohne lange zu überlegen, das Haus mit einem großen Stück Land gekauft.

    Allein der Umbau hatte ein Vermögen gekostet, Geld, das sie aber hatten. Das er auch jetzt noch hatte. Viel mehr, als er in der noch verbleibenden Zeit seines Lebens je würde verbrauchen können.

    Das war nicht immer so gewesen: aus einer kleinen Bäckerei hatten sie im Laufe von weniger als zehn Jahren eine ganze Kette von Läden in mehreren Städten des Ruhrgebiets aufgebaut, hatten Tag und Nacht geschuftet, um weitere Filialen zu eröffnen und noch mehr Geld anzuhäufen. Nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das viele Geld auch auszugeben.

    Und dann war es ihm als eine grauenhafte Absurdität vorgekommen, dass seine Frau nur drei Monate nach Fertigstellung dieses großen Anwesens und dem Umzug aufs Land gestorben war und die einzige Tochter erklärt hatte, sie werde nicht mit ihnen dort wohnen; sie wolle lieber eine Wohnung in Bochum haben, wo sie damals studierte. Mittlerweile hatte sie geheiratet und wohnte in der Nähe von Hamburg. Das einzige Enkelkind, ein mittlerweile fünfjähriges Mädchen, hatte seine Frau nicht mehr gesehen; er selber hatte die Kleine außer bei der Taufe aber auch nur noch vier Mal gesehen. Zumeist hatte die Tochter mit ihrem Mann irgendwelche Bekannte im Ruhrgebiet oder die Familie des Schwiegersohnes besucht, und die beiden hatten nicht mehr als einen kurzen Zwischenstopp bei ihm eingelegt. Obschon seine Tochter ihn bei ihren gelegentlichen Telefonaten schon mehrfach eingeladen hatte, war er nie nach Hamburg gefahren: als mittlerweile Sechsundsiebzigjähriger wollte er nicht mehr seine Tochter und deren Familie besuchen. Er wäre sich vorgekommen wie ein Bittsteller, wie ein zufälliger Bekannter, den man nur deshalb im Haus duldete, weil es die Höflichkeit verbot ihm zu sagen, dass er störte.

    Es war Samstag, der 23.9.2000.

    Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, es war ein herrlicher Tag gewesen, vielleicht sogar schon zu warm, ein wenig drückend auf jeden Fall, so dass mit einem Gewitter gerechnet werden musste. Und gerade diese schönen Tage empfand er als besonders unerträglich, weil ihn solche Tage nach seinem Dafürhalten geradezu aufforderten, irgendetwas Sinnvolles zu tun, irgendeine hier und jetzt gegebene Möglichkeit zu nutzen, das Leben eines sehr reichen Mannes einfach zu genießen. Die Tage mit scheußlichem Wetter gaben zumindest Anlass, sich zu ärgern, mit anderen über irgendein Sauwetter zu reden; die schönen Tage machten nur deutlich, dass man mit sich selber nichts mehr anzufangen wusste. Er wusste immer weniger, wie er die Zeit vom Aufstehen bis zum Einschlafen verbringen sollte, eine Zeitspanne, die zudem auch noch immer länger wurde, weil er abends nicht einschlafen konnte und morgens selbst im Sommer zumeist noch vor dem Sonnenaufgang aufstand. Vielleicht, hatte er oft gedacht, war es die schlimmste Geißel des Alters, insgesamt immer müder zu werden, ohne noch schlafen zu können.

    Dreimal in der Woche kam eine Frau aus Dorsten, einer Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, und brachte das Haus in Ordnung, kochte für ihn, kaufte ein und erledigte überhaupt alle Besorgungen, um die er sie bat. Alle 14 Tage kam ein junger Mann aus der Nachbarschaft und brachte den Garten in Ordnung. An allen anderen Tagen kam niemand, und es passierte an diesen Tagen sehr häufig, dass er den gesamten, immer unendlicher werdenden Tag lang mit keinem Menschen auch nur ein Wort wechselte. Wieso ziehst du nicht wieder in die Stadt?, hatte ihn die Tochter schon mehrfach gefragt. Oder in unsere Nähe? Und dann hatte er jedes Mal ganz entrüstet geantwortet, dass er sich hier wohlfühle wie die Made im Speck, weil er insgeheim davon überzeugt war, dass sie ihn in irgendein Altersheim stecken wollte. Natürlich in das teuerste und beste, das es gab, aber auf jeden Fall in ein Altersheim. Dort, das wusste er, würde er verrückt werden.

    Außerdem hatte sich in den letzten drei Monaten zumindest ein ganz klein Wenig verändert. In den letzten drei Monaten war schon zum wiederholten Mal etwas passiert, das ihn zumindest für eine kurze Zeit seine Langeweile hatte vergessen lassen.

    Beim ersten Mal hatte er fürchterliche Angst gehabt. Er hatte seinen Augen nicht getraut und gewusst, dass er den Vorfall eigentlich bei der Polizei hätte melden sollen. Aber bereits nach ein paar Tagen war er froh darüber gewesen, nicht zur Polizei gegangen zu sein, überhaupt mit niemandem über diesen Vorfall gesprochen zu haben. Es war ihm selber so vorgekommen, als habe er nur so sicherstellen können, ganz allein einem unerhörten Geheimnis auf die Spur zu kommen.

    Und dann war es tatsächlich wieder passiert. Nur ein oder zwei Wochen später, das wusste er nicht mehr, und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, dass es ein Fehler war, über diese Vorkommnisse nicht genau Buch geführt zu haben.

    Die große Stehuhr im Wohnzimmer schlug elf. Für einen Augenblick dachte er daran, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten; dann erschien ihm der Zeitpunkt noch viel zu früh. Wenn es heute passieren sollte, würde es noch Stunden dauern, das wusste er.

    Schon oft war ihm die ungeheure Ruhe aufgefallen, die hier ringsum herrschte. Vor allem als sie gerade hier eingezogen waren, hatte er es nicht für möglich gehalten, dass es eine solche Ruhe überhaupt gab.

    Und gerade diese Ruhe war es gewesen, die ihm Angst bereitet hatte, als es zum zweiten Mal passiert war. Niemand würde seinen Hilferuf hören, wenn ihm etwas zustoßen sollte, das war ihm schlagartig klar gewesen, und er hatte hinter der Gardine gestanden und war davon überzeugt gewesen, dass selbst draußen noch sein Atem und sein schneller Herzschlag zu hören waren.

    Zuvor hatte ihm die Abgeschiedenheit des Hofes noch nie Angst bereitet. Schon mehrfach hatte die Tochter ihn gefragt, ob er nicht Angst davor habe, ganz allein dort zu wohnen, und jedes Mal hatte er ihr wahrheitsgemäß gesagt, dass er keine Angst habe. Das Haus war schließlich mit teuren Sicherheitsvorkehrungen und einer aufwendigen Alarmanlage ausgestattet. Er hatte nie Angst gehabt. Bis vor ein paar Wochen. Aber das war eine Angst, die man sich mit Alarmanlagen nicht vom Halse schaffen konnte.

    Gegen kurz vor zwölf schaltete er das Licht im Wohnzimmer aus.

    Noch als es zum dritten Mal passiert war, es musste vor zwei oder drei Wochen gewesen sein, hatte er nur gewagt, die Szene vom Fenster seines Schlafzimmers im ersten Stock zu beobachten. Nun ging er langsam durch den dunklen Flur und öffnete die Tür zur Tenne, die sie damals umgebaut hatten zu einem viel zu großen Partyraum, in dem noch niemals eine Party stattgefunden hatte. Neben dem großen Tor war ein Fenster, von dem aus man die beste Aussicht auf die kleine Weide hatte.

    Als ihm seine fast krampfhaften Bemühungen bewusst wurden, in der Dunkelheit jedes auch noch so geringe Geräusch zu vermeiden, musste er vor sich selber zugeben, was er natürlich schon längst wusste: Er wollte, dass es wieder passierte. Bereits vor ein paar Tagen hatte er sich gesagt, dass er schließlich nicht der Gejagte war: Er war der Jäger. Und je mehr er sich in diese Bildlichkeit verstiegen hatte, desto nachdrücklicher waren alle Reste der Angst einem Gefühl gewichen, das er nun als das bezeichnen konnte, was es war: Jagdfieber.

    Bei seinen allabendlichen Streifzügen durch das Haus hatte er den besten Beobachtungsplatz ausgekundschaftet, hatte kaum die Enttäuschung darüber verkraften können, dass es an vielen Tagen hintereinander wieder einmal nicht passiert war. Er war mit dem Wagen bis in die Innenstadt von Essen gefahren, um sich das beste Fernglas zu kaufen, das er finden konnte. Und er hatte begonnen, das, was er tat, um jeden Preis auch vor den wenigen Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung verborgen zu halten. Er war fürchterlich wütend geworden, als seine Haushaltshilfe das Fernglas entdeckt und ihn daraufhin angesprochen hatte. Er brauche das Gerät, um Tiere zu beobachten, hatte er der völlig überraschten Frau äußerst unfreundlich mitgeteilt und schließlich noch hinzugefügt, sie solle sich gefälligst nicht in seine Privatangelegenheiten mischen.

    Und dabei hatte er nicht einmal gelogen, dachte er plötzlich und musste kurz lachen: Ich habe mir dieses Fernglas gekauft, um Tiere beobachten zu können.

    Das Fenster bot den besten Blick auf den Tatort, aber schon nach wenigen Minuten spürte er wieder die Nachteile, die sein Beobachtungsplatz mit sich brachte: Das Fenster war so hoch, dass man nur im Stehen durch die zudem verdreckte Scheibe sehen konnte. Er hatte in den vergangenen Tagen lange überlegt, ob er das Fenster nicht säubern sollte, aber dann war es ihm jedes Mal als die sicherere Lösung vorgekommen, die Scheibe so verdreckt zu belassen, wie sie war. Auf diese Weise würde er als Beobachter von außen nicht zu entdecken sein.

    Das Alter vermindert das Bedürfnis nach Schlaf, nicht aber die Neugierde und die Ungeduld. Das Warten wurde wie immer für ihn eine Tortur.

    Er führte sogar eine Art Protokoll, und nur einen halben Tag später hätte die Mordkommission der Recklinghausener Polizei sich zumindest für kurze Zeit der Hoffnung hingeben können, damit den Schlüssel zur Lösung zumindest eines der rund gerechnet fünf bis sechs Morde in der Hand zu haben, die rein statistisch in diesem ziemlich großen Landkreis pro Jahr begangen werden. Aber da war dieser Notizblock verschwunden.

    Zunächst hatte er irgendwo im Haus vorhandenes Papier benutzen wollen; dann war er aber doch eines Tages mit dem Wagen nach Dorsten gefahren und hatte in einem Schreibwarenladen einen neuen Notizblock gekauft. Nach langem Hin und Her hatte er sich für 50 Blatt DIN A 6 entschieden.

    Nur knapp eine halbe Seite dieses Notizblocks sollte beschrieben werden, bevor es für immer der Chance beraubt war, in der Asservatenkammer der Polizei zu verschwinden:

    Es ist jetzt mittlerweile Sonntag, der 24. September 2000, 0 Uhr 30.

    Als habe der Schreiber mit dieser kurzen Notiz das jungfräuliche Papier ohnehin ein und für alle Mal entweiht, fügte er hinzu: Es ist schon dreimal passiert, aber ich weiß nicht mehr genau wann. Nun ist es ruhig.

    Es kam ihm vor, als sei er stundenlang durch das gesamte Haus gelaufen, um einen Bleistift, Kuli oder Füller zu finden, der auch schrieb. Es musste Hunderte dieser Gegenstände im Haus geben, aber sie schrieben alle nicht.

    Um ein Uhr war es dem angefertigten Protokoll nach immer noch ruhig; Das letzte Mal, so wurde hinzugefügt, ist es vor ungefähr zwei oder drei Wochen passiert. Kann mich leider nicht mehr genau erinnern.

    Um zwei Uhr war es zum letzten Mal ruhig in dem Notizblock. Um 2 Uhr 14 brachen die Aufzeichnungen ab: Ich gehe jetzt nach draußen. Das ist ja unglaublich!

    Das Rufzeichen hinter dem Satz hatte er noch gemacht. Dann hatte er ganz offensichtlich die Tür geöffnet, hinter sich ins Schloss fallen lassen und war nach draußen gelaufen in Richtung der Weide, wo das Pony stand, das er für seine kleine Nichte gekauft hatte, die ihn noch kein einziges Mal besucht hatte. Alle kleinen Mädchen mochten Pferde, hatte er gedacht. Kurz bevor er starb, sah er, wie eine völlig nackte Person von dem Tier rutschte und auf ihn zulief. Für Sekunden nahm er dann noch die Silhouette eines Kindes vor den dichten Brombeersträuchern direkt neben der Weide wahr. Danach nahm er nichts mehr wahr, weil er tot war.

    Die Leiche wurde erst gegen 10 Uhr von der Frau entdeckt, die gekommen war, um im Haus für Ordnung zu sorgen. Der Tote lag am Rand der völlig durchnässten Weide. Am frühen Morgen hatte sich ein starkes Gewitter entladen, ein Umstand, der der nur wenig später eintreffenden Polizei die Spurensuche nicht gerade erleichterte.

    Der Tod war durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herbeigeführt worden. Der Täter hatte mit solcher Heftigkeit zugeschlagen, dass der Schädelknochen an der linken Schläfe zertrümmert worden war. Und als habe der Täter ganz sicher sein wollen, musste er das bereits tote Opfer auch noch gewürgt haben. Als Tatzeitpunkt wurde die Zeitspanne zwischen zwei und vier Uhr morgens angegeben.

    Die Tür, die in die Tenne führte, war beschädigt worden. Ganz offensichtlich war mit ziemlicher Gewalt sowohl am Schloss als auch an der Tür hantiert worden. Was die untersuchenden Beamten verblüffte, war die Tatsache, dass die Alarmanlage im gesamten Haus ausgeschaltet worden war.

    Auf Grund der ersten Untersuchungsergebnisse kam die Polizei somit zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass ein Unbekannter versucht haben musste, in das Haus einzudringen. Dabei musste diese Person vom Eigentümer überrascht worden sein. Dieser hatte die Alarmanlage des Hauses entweder gar nicht eingeschaltet gehabt oder aber sie eigenhändig ausgeschaltet, um sich dem Eindringling zu stellen und ihm letztlich bis auf die Weide vor dem Haus nachzulaufen. Dort musste ihn der Täter erschlagen haben; denn die Blutspuren auf der Weide sagten eindeutig aus, dass der alte Mann dort gestorben war.

    Jede von der Polizei vorsichtig und vorläufig formulierte Antwort warf natürlich auch neue Fragen auf. Warum hatte der Täter sein ihm unterstelltes Vorhaben nach dem Mord nicht zu Ende geführt? Weshalb war er nicht in das Haus eingedrungen und hatte sich genommen, was er haben wollte? Niemand hätte ihn in dieser Einöde mitten in der Nacht daran gehindert. Und es hätte sich auf jeden Fall gelohnt: die untersuchenden Beamten waren geradezu entsetzt darüber, welche Summen alleine an Bargeld aus dem Haus zu entwenden gewesen wären. Aber sie waren eben nicht entwendet worden. Es gab überhaupt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass der Täter trotz der auch noch bei der Ankunft der Beamten halb offen stehenden Tür in das Haus weiter eingedrungen war.

    Warum war die Alarmanlage des Hauses nicht eingeschaltet gewesen? Warum war das Opfer dem Täter sogar noch nachgelaufen?

    Das Opfer war ein Mann von sechsundsiebzig Jahren. Wenn dieser Mann seine Kräfte nicht maßlos überschätzt hatte, lag der Verdacht nahe, dass er den Täter gekannt hatte. Dass er ihn womöglich sogar erwartet hatte: dafür sprach auch das Ausschalten der Alarmanlage.

    Wen also hatte dieser Mann gekannt?

    In der näheren Umgebung ließ sich die Liste der in Frage kommenden Personen schnell abarbeiten: Bis auf die Haushaltshilfe und den Jungen, der alle 14 Tage kam, um den riesigen Garten in Ordnung zu halten, kannte den Mann niemand näher. Und natürlich wurden diese beiden Personen und deren Umfeld genau unter die Lupe genommen.

    Die Haushaltshilfe hieß Koscinski und wohnte im ungefähr 10 Kilometer entfernten Dorsten. 1988 war sie mit ihrer Familie aus Schlesien in die Bundesrepublik gekommen und hatte alle Klischees über polnische Spätaussiedler bedient: Das Wort Sozialhilfe hatte sie sogar buchstabieren, aber ansonsten kein einziges deutsches Wort sprechen können. Ihr 58jähriger Mann hatte über 45 Jahre in schlesischen Kohlegruben gearbeitet – zumindest hatten das zwei ebenfalls aus Schlesien geflüchtete Kumpel bei der Knappschaft beeidet – und bezog deshalb eine Rente, die weit über dem lag, was ein deutscher Kumpel im Durchschnitt als Altersruhegeld bezog. Ihre zwei Kinder waren inzwischen volljährig: die Tochter arbeitete als Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus in Essen, war verheiratet und wohnte auch dort; der 21jährige Sohn, der erklärte Liebling der Mutter, studierte Ingenieurswissenschaften in Bochum. Er hatte als Spätaussiedlerkind zwar problemlos eine Bude im Studentenheim in Bochum bekommen, wohnte aber dennoch zumeist bei Muttern.

    Mutter selber hatte schon früh die Vorteile des Kapitalismus erkannt und war sich trotz der üppigen Rente des Ehemannes nicht zu schade gewesen, das Familieneinkommen durch diverse nie versteuerte Jobs zu erhöhen. Als sie den in einer Zeitung annoncierten Job bei Schneider tatsächlich bekommen hatte, hatte es ihr zu Beginn den Atem verschlagen. Wenig später hatte ganz Dorsten erfahren, dass sie als Haushälterin bei dem Millionär arbeitete.

    Für die Polizei gab es hier Fragen, die mit dem Mord zusammenhingen, schon sehr bald nicht mehr.

    Das war bei der anderen ständigen Kontaktperson des Ermordeten allerdings nicht der Fall. Dabei handelte es sich um den einzigen Sohn vom Nachbarhof. Karl, so hieß der arme Kerl, war mehr oder weniger geistig behindert, und setzte somit eine uralte westfälische Tradition fort, der zufolge der Älteste Pastor, der zweite Lehrer, der Dämlichste Arzt und irgendeiner der Spökenkieker werden musste. Da auch im katholischen Münsterland die Antibabypille mittlerweile ihre verheerende Wirkung entfaltet hatte, waren der Pastor, der Lehrer und sogar der Arzt ausgefallen, und nur Karl war zur Welt gekommen. Als geistig Behinderter kam Karl natürlich sofort in das Fadenkreuz der Untersuchungen; dennoch war in diesem Fall nicht einmal einem Gärtner etwas anzuhängen, an dem sogar eine Annette von Droste-Hülshoff ihr Vergnügen gehabt hätte.

    Ansonsten war sehr schnell klar, dass das Opfer so offensichtlich gar kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten gehabt hatte, dass es bei den Menschen in einer ländlichen Gegend wie dieser aber sehr wohl bekannt war, dass sich dort ein steinreicher Unternehmer in ihrer Mitte niedergelassen hatte. Er wollte zwar niemanden kennen, aber natürlich wusste man, wer er war. Die Zahl möglicher Täter und Motive explodierte.

    Denn schließlich war dieser Mann nicht irgendwer.

    Konrad Schneider kannte man im Ruhrgebiet. In allen Städten dieser Region trug zumindest jede zweite Bäckerei seinen Namen.

    Dieser Mann war zunächst Arbeiter in einem Stahl produzierenden Betrieb in Duisburg gewesen. 1988 war dieser Betrieb geschlossen worden und Schneider war arbeitslos geworden. Damals war er 56 Jahre alt gewesen und somit in dem von der Gewerkschaft erarbeiteten Sozialplan nicht berücksichtigt worden. Mit 57 Jahren hätte er in die Frührente gehen können.

    Der Mann war aber nicht in Rente gegangen.

    Zum Arbeitsamt auch nicht.

    Mit der nicht unerheblichen Abfindung, die ihm auf Grund seiner mehr als 35 Jahre Arbeit in diesem Betrieb gezahlt worden waren, hatte er sich einen Kindheitstraum verwirklicht: Er hatte immer schon Bäcker werden wollen.

    Bei der Verwirklichung dieses Traumes war er sehr schnell an die Grenzen seiner Träume gekommen: In Deutschland gab es schließlich eine völlig überflüssige Handwerksordnung, und selbst wenn man nur kleine Brötchen backen wollte, brauchte man dafür einen Meisterbrief. Da er nicht im Besitz eines solchen war, hatte Schneider schnell einen Kompagnon gefunden, mit dessen Meisterbrief der erste Laden eröffnet werden konnte. Diesen Mann hatte Schneider finanziell über den Tisch gezogen, ein Verhalten, das er beim Aufbau seines Backimperiums ganz offensichtlich nicht zum letzten Mal gezeigt hatte. Sein Weg zum Millionär war gepflastert mit vielen Bankrotteuren, die Schneiders gnadenloses Geschäftsgebaren ruiniert hatte. Feinde, das war der Polizei sehr schnell klar, hatte dieser Mann mehr als genug gehabt, und so war es mehr als verständlich, dass sich die Untersuchungen schließlich vor allem auf das geschäftliche Umfeld des Opfers konzentrierten.

    Von Erfolg waren diese Bemühungen allerdings allesamt nicht gekrönt. Und hatte der Mord zunächst auch überregional für Aufsehen gesorgt, so war das öffentliche Interesse daran auch schnell wieder verflogen.

    Fast anderthalb Jahre nach dem Mord sorgte der Fall noch einmal für landesweites Aufsehen, wurde er doch in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY" behandelt. Die Polizei war inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder im geschäftlichen Umfeld des Opfers zu suchen war, und fragte deshalb nach dem Verbleib einer Person, die ebenfalls von dem Opfer um die Existenz gebracht worden und mittlerweile von der Bildfläche verschwunden war.

    Zunächst war man bei der Mordkommission in Recklinghausen optimistisch, weil die Zahl der eingegangenen Hinweise außergewöhnlich hoch war. Aber schon bald wurde deutlich, dass keiner dieser Hinweise etwas brachte und schon gar nicht das war, was man eine heiße Spur nannte.

    In den folgenden Jahren nahm nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit rapide ab. Ein Beamter nach dem anderen wurde zur Bearbeitung anderer Fälle aus dem Untersuchungsteam abgezogen, und spätestens zu Beginn des Jahres 2003 drohte der Fall Schneider zu dem zu werden, was man einen cold case nannte: ein Fall, den man nicht lösen konnte und deshalb schon ad acta gelegt hatte.

    Das große Anwesen war mittlerweile längst verkauft worden. Es hatte einen Preis erzielt, der die einzige Erbin, die Tochter des Ermordeten, wütend machte, lag dieser Preis doch nur geringfügig über dem, den der Vater vor sieben Jahren für einen ziemlich heruntergekommenen Bauernhof irgendwo in the middle of nowhere gezahlt hatte. Im gesamten Ruhrgebiet waren die Immobilienpreise im Keller: In allen Städten verzeichnete man hohe Abwanderungsquoten, weil man das Sterben der ursprünglichen Industrien Kohle und Stahl und den Aufbau neuer Strukturen viel zu lang hinausgezögert hatte.

    Blieb noch ein kleines Problem: das weiße Pony.

    Die Haushaltshilfe des Ermordeten erklärte sich auf Bitten der Tochter des Opfers bereit, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Der Tochter war es völlig gleichgültig, ob mit diesem Tier noch irgendein Gewinn zu erzielen war.

    Der Haushaltshilfe nicht.

    Zum Ende des Jahres 2000 gab es für lebende Ponys ganz offensichtlich keinen Markt; den höchsten Preis zahlte nämlich schließlich ein Schlachter.

    Irgendjemand kam dem Schlachter aber zuvor und schnitt dem alleine auf weiter Flur grasenden Pony eines Nachts kurzerhand die Kehle durch. Am Morgen lag das Tier mit sauber durchtrenntem und ausgeblutetem Hals auf dem Rasen. Ein einsamer Spaziergänger hatte es gefunden.

    Zunächst hatte sich dieses Ereignis aufgrund der nach kurzer Zeit bereits in der gesamten Umgebung kolportierten Berichte der herbeigeeilten Polizeibeamten wie eine Sensation angehört; bereits am nächsten Tag war es in der polizeilichen Routine herabgestuft worden auf das, was es rein juristisch war: Sachbeschädigung.

    Im September 2000 hatte die Kripo von Essen viel Wichtigeres zu tun: Am Morgen des 3. September hatte eine allein erziehende Mutter aus dem Stadtteil Stoppenberg im Essener Norden bei der dortigen Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ihre fünfjährige Tochter hatte morgens nicht in ihrem Kinderbett gelegen. Ihre eigenen Recherchen bei Verwandten und Bekannten hatten allesamt das gleiche Ergebnis gebracht: das Kind war verschwunden.

    Rein statistisch werden in der Bundesrepublik jedes Jahr fast 40000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten dieser Kinder tauchen Gottseidank schnell wieder auf; aber eben nicht alle: Fast 1000 Kinder gelten nach Angaben des Bundeskriminalamtes als dauervermisst.

    Mit jedem Tag, der nach dem Verschwinden verstreicht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von zwei grauenhaften Szenarien: zum einen, dass das Kind nie mehr auftaucht, zum anderen, dass es Opfer einer Sexualstraftat geworden ist.

    Prolog 2

    17.3.2001

    Die Chance, dass ein Mann irgendwo auf der Welt und irgendwann in seinem Leben einmal in einem Sportverein Fußball gespielt hat, muss bei über 50 Prozent liegen.

    Die Chance, dass ein Mann schwul ist, liegt überall auf der Welt bei ungefähr 5 Prozent. Die Chance, dass ein schwuler Mann zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte wesentlich geringer sein, hängt diese Sache doch ab von der Bildung und dem Grad an Zivilisation, über den die Gesellschaft verfügt, in der er lebt.

    Die Chance, dass ein schwuler Fußballer zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte in welcher Gesellschaft auch immer eine zu vernachlässigende Größe sein. Es ist eher zu befürchten, dass statistische Erhebungen in dieser Richtung die Grundlagen der Mathematik auf den Kopf stellen würden, da sich im Ergebnis die hier zu erzielenden Zahlen im Minusbereich bewegen werden: Ein schwuler Mann, der gerne Fußball spielt, tut gut daran, alles Erdenkliche zu veranstalten, um den Eindruck zu erwecken, er sei alles, aber auf gar keinen Fall schwul. Am besten sofort das Gegenteil davon, was auch immer das sein mag.

    Rolf Werners war schwul, und er war Fußballer aus Leidenschaft. Seit seinem sechsten Lebensjahr war er Mitglied bei Germania Hassel, einem Sportverein im Gelsenkirchener Norden. Mittlerweile war er 33 Jahre alt, ein Alter, in dem man in aller Regel nur noch bei den alten Herren mitspielt und außerdem oft gefragt wird, warum man eigentlich noch immer nicht verheiratet ist.

    Manchmal glaubte er selber, man könne nur erahnen, welch eine Karriere als Fußballer er hätte machen können, wenn er nicht den überwiegenden Teil seiner Energie damit verschwendet hätte, sein Schwulsein zu verbergen. Als Fußballer hatte er sich zwar keinen großen Namen gemacht; dafür aber als Erzähler der besten Schwulenwitze beim Stammtisch nach den Spielen.

    Wann sein Interesse an Männern begonnen hatte, das hätte er nicht mehr sagen können; dass es massiv da war, davon zeugten vor allem seine Aktivitäten im Internet. Er mischte überall mit, wo es darum ging, unter möglichst phantasievollen Namen und geschützt durch ständig wechselnde Passwörter die eigene Geilheit zumindest in einer virtuellen Welt auszuleben. Aber selbst in dieser Scheinwelt konnte er die Angst nicht wirklich loswerden. Als sein Computer einmal den Geist aufgegeben hatte, da war in ihm sofort der fürchterliche Verdacht aufgetaucht, ein Bekannter aus dem Fußballverein habe sich auf irgendeine Weise in seinen Computer gemogelt und wisse nun, dass sich sein Interesse fast ausnahmslos beschränkte auf Materialien, die sich unter gay sex, leather and spurs, submission oder bareback riding subsumieren ließen. Auf Deutsch hätte er sich nicht einmal selber eingestehen können, dass er auf so Sachen wie schwulen Sex, Leder und Sporen, Unterwerfung, ungeschützten Sex und Reitvorführungen von möglichst strammen Kerlen auf ungesattelten Pferden stand; auf Englisch klang das alles einfach viel selbstverständlicher. Und nicht so provinziell. Angeblich konnten ja auch die vielen Schlagersternchen und sonstige Verantwortliche der Unterhaltungsmusik ihre Gefühle auf der Bühne viel besser in der englischen Sprache ausdrücken: I love you ging ohne weiteres; ich liebe dich klang angeblich doof.

    Neben der Angst gab es noch etwas, das mit zunehmendem Alter nicht etwa geringer, sondern immer stärker wurde: Den Wunsch, all diese Bilder und Wörter in seinem Kopf sollten endlich einmal Realität werden. Die bevorzugte Rolle des unbeteiligten Zuschauers hatte zweifelsohne ihre Vorteile, was die Handhabung der Angst anbetraf; was die Befriedigung der eigenen Geilheit anbelangte, reichte sie jeden Tag weniger aus.

    Vor zwei Monaten schien die virtuelle Welt tatsächlich in seine Realität gekommen zu sein. Der Kerl hieß Dirk Berger, war von seiner Firma aus Norddeutschland ins Ruhrgebiet versetzt worden und hatte sich sofort bei Germania angemeldet. Und vom ersten Augenblick an schien kein Bild, das etwa unter den Stichworten jeans butt, bulging jeans oder horny crotch schon tausendfach auf dem Monitor seines Computers erschienen war, mit diesem Dirk Berger konkurrieren zu können: Dessen geiler Arsch, so glaubte er, war jeden Weltkrieg wert, und was sich da zwischen den großen Oberschenkeln unter dessen Jeans abzeichnete, das ließ ihn träumen und das Duschen nach dem ersten Fußballspiel herbeisehnen.

    Das erste gemeinsame Duschen übertraf dann sogar noch seine kühnsten Träume, und von jenem Tag an plädierte er ständig für zusätzliche Trainingseinheiten und die Einführung von englischen Wochen auch im Spielbetrieb der alten Herren in Deutschland. Zudem schien ihm die Einführung neuer Trainingsmethoden in der Art angezeigt, wie sie als Bilder auf dem Speicher seines Computers unter Begriffen wie shoulder ride, chicken fight oder human pony zu finden waren: Diesen geilen Kerl würde er auf seinem Rücken, seinen Schultern oder auf allen Vieren dreimal um die Welt schleppen, um zumindest ein klein wenig von dem herzustellen, was er sich selber um jeden Preis verboten hatte: den körperlichen Kontakt. Und so war er denn auch, je geiler dieser Kerl ihn machen konnte, um so ängstlicher bemüht, nur ja kein zu offensichtliches Interesse an dem zu zeigen, ihn am besten sogar zu reduzieren auf eine Art Gegenstand, der wider alle Vernunft aus der Scheinwelt seines Computers in die trübe Realität seines Lebens gekommen war.

    Natürlich funktionierte das nicht. Was immer stärker wurde, war der Wunsch, dieser Gegenstand solle ihm bei ihren auf den Sport reduzierten Treffen neben dem visuellen Genuss auch noch eine ganz andere Welt eröffnen. Ein solcher Kerl verlangte einfach nach mehr als den Fliesenwänden in einer schon ziemlich heruntergekommenen Dusche oder der spartanisch eingerichteten Umkleide, die immer nach dem unreinen Atem uralter Abflussrohre und Schweißfüßen roch, nach etwas, das schon eine ganz andere Umgebung verlangte und Dinge geschehen ließ, die sich die kühnste Phantasie kaum ausmalen konnte und das gerade deshalb so stimulierend war.

    Es war der 17.3.2001 um exakt 17 Uhr 30, als sie das Spiel gegen alte Herren aus Marl im strömenden Regen endgültig verloren hatten und wie immer in solchen Fällen mit hängenden Köpfen, schlechter Laune und gegenseitigen Vorwürfen in Richtung der Umkleiden gingen. Immerhin konnte Rolf Werners dem Regen noch positive Seiten abgewinnen, hatte der doch schon längst auch das Trikot von Dirk Berger dermaßen durchnässt, dass dessen Körperlichkeit unter dem nassen Textil noch geiler aussah, als posiere der Kerl splitternackt vor ihm. Aber nichts von der Faszination hätte man ihm angemerkt; denn mittlerweile war er endgültig davon überzeugt, aufpassen zu müssen: Es hatte da keinerlei eindeutige Hinweise gegeben, und doch glaubte er felsenfest, dass sein Interesse an einem gewissen Dirk Berger anderen nicht entgangen sein konnte. Wenn andere leise miteinander sprachen, war er mittlerweile davon überzeugt, dass sie über ihn sprachen, und wenn sie nichts sagten, glaubte er, sie redeten nur aus Rücksicht ihm gegenüber nicht weiter.

    Während seine Mitspieler sich zumeist mit weit gespreizten Beinen nur kurz auf den Holzbänken niederließen, sich möglichst schnell der völlig verdreckten Schuhe und durchnässten Trikots entledigten, um dann sofort unter die warme Dusche zu gehen, blieb er, als mache er sich immer noch Gedanken über das gerade knapp verlorene Spiel, mit den Händen vor dem Gesicht in der nach Seife und menschlichen Ausdünstungen riechenden Umkleide sitzen. Er würde es nicht überleben, wenn sie ihn für einen Schwulen halten würden, das wusste er. Wenn auch nur bei einem von ihnen ein solcher Verdacht auftauchen sollte.

    Und dann war da plötzlich dieses Geräusch, das er sich nicht erklären konnte. Es hörte sich im ersten Augenblick an, als tippele eine Frau mit Stöckelschuhen aufgeregt über den gefliesten Gang vor dem Umkleideraum. Aber dann war ihm schnell klar, dass das Geräusch nicht durch den Gang eines Menschen verursacht worden sein konnte, weil dieser Mensch wegen der schnell aufeinander folgenden Schritte schon eine Art Stepptanz hätte aufführen müssen, um diese Geräusche zu verursachen. Und noch bevor er mit seinen Gedanken zu einer eindeutigen Zuordnung gekommen war, hatte sich das Geräusch in Richtung Duschraum bewegt und war schließlich irgendwo dort verschwunden.

    Dafür brach nun ein Lärm los, den er allerdings sehr eindeutig zuordnen konnte und der ihm in den letzten Wochen aus ihm selber zunächst unerklärlichen Gründen immer verhasster geworden war: Das laute und völlig ungenierte Gegröle und Gejohle seiner Mitspieler. Obschon er immer gewusst hatte, dass es Unsinn war, hatte er ein paar Mal ihr ausgelassenes Toben auf sich bezogen, hatte geglaubt, einen Vorgeschmack davon zu bekommen, wie es wäre, wenn sie herausfanden, dass er schwul war: In die Mitte würden sie ihn stellen, mit den Fingern auf ihn zeigen und sich mit eben diesem Gegröle und Gejohle über sein Malheur totlachen. Einmal war er mitten in der Nacht sogar schweißgebadet aus einem solchen Traum erwacht.

    Es waren vielleicht zwei oder drei Minuten vergangen, das Geschreie hatte sich ein wenig gelegt, als die ersten seiner Mitspieler die Tür zur Umkleide mit noch tropfnassen Haaren aufstießen und ihm lachend mitteilten, dass er etwas verpasst habe. Was, das wollten sie ihm nicht verraten, er solle doch selber sehen, sagten sie, und das führte bei ihm zu neuem Misstrauen. Möglicherweise war das eine Falle, würden sie dort auf ihn warten, um ihn zu blamieren, und als er daran dachte, spielte er den Desinteressierten und ließ noch einmal rund zwei Minuten vergehen, bis er sich schließlich langsam und fast widerwillig in Richtung Duschraum in Bewegung setzte wie jemand, der etwas ohnehin nur tat, um dem lästigen Gequengel kleiner Kinder keinen Vorwand mehr zu geben. Als er dann endlich die Tür zur Dusche öffnete, wollte er nicht glauben, was er sah: Mitten in dem vom heißen Wasser völlig vernebelten Raum stand ein schwarzes Pferd.

    Eigentlich war es kein Pferd, es war eher ein Pony, das auf dem gefliesten Boden inmitten der nackten Kerle und des wegen seines Erscheinens nun wieder anschwellenden Lärmpegels ganz offensichtlich selber nicht so recht wusste, was es da eigentlich verloren hatte. Weil fast zwanzig Menschen gleichzeitig auf ihn einzureden schienen, dauerte es eine Zeit lang, bis er verstanden hatte, dass dieses Vieh urplötzlich in der Dusche erschienen war, und da hatte sich schon einer der Leute erbarmt, hatte sich ein Handtuch um die Hüften gelegt, das Tier bei der Mähne gepackt, es über den Flur zur Tür gebracht und dort mit einem Klaps auf den Hintern aus dem Gebäude geworfen.

    Die folgenden Tage waren eine Tortur. Der Berger habe splitternackt unter der Brause auf dem Vieh gesessen, hatten sie ihm mitgeteilt und damit in ihm eine nicht enden wollende Flut geilster Bilder ausgelöst und vor allem ein kaum zu bewältigendes Gefühl aus Ungewissheit und der Überzeugung, irgend so etwas wie die größte und vielleicht einzige Chance seines Lebens endgültig verpasst zu haben. Die Ungewissheit versuchte er durch zunächst vorsichtiges, dann aber immer ungenierteres Nachfragen und den Gebrauch seiner Phantasie zu kompensieren; es bremste ihn jedes Mal erst die Angst, gleich könnten die Kerle skeptisch werden und wissen wollen, weshalb er denn immer nachfrage und ob er eigentlich schwul sei. Die Gewissheit, etwas Entscheidendes verpasst zu haben, war ihm ja ohnehin nicht neu; aber so hatte sie noch nie geschmerzt.

    Noch wochenlang träumte er davon, eher die Umkleide verlassen zu haben, den splitternackten Berger groß und schwer auf dem nassen Tier sitzen gesehen und mit der Kamera seines Handys abgelichtet zu haben. Ins Internet hätte er die Aufnahmen gestellt, und in seiner Phantasie malte er sich die überall fast ausschließlich auf Englisch abgegebenen Kommentare derjenigen aus, die für ihn in seiner Homophobie schon seit Jahren das Echo der Welt und das Maß aller Dinge, in Wahrheit aber nur eine kleine Minderheit geiler und verklemmter Voyeure waren. Dass sie unter einem derart geilen Arsch das Vieh beneideten, stand dann dort, dass der Kerl bei seinem nächsten Ritt doch sie nehmen solle, dass man besonders schätze, wenn dem geilen Kerl auf dem nassen Tierrücken die große Nülle auch noch hart werde und so weiter und so weiter.

    Die wirkliche Welt maß diesem Ereignis viel weniger Bedeutung bei: in einem winzigen Artikel wurde darüber als einem großen Jux in der Lokalpresse berichtet, und das auch nur, weil einer der Spieler mit einem freien Mitarbeiter der WAZ befreundet war, der absolut nicht mehr wusste, was er schreiben sollte, da es Sauregurkenzeit und dann auch noch die Vorstandsitzung eines Kaninchenzüchtervereins ausgefallen war.

    Prolog 3

    Mai/Juni 2001

    Kein ernst zu nehmender Mensch glaubt noch, dass Kinder und Jugendliche wegen der Schule lernen; sie lernen trotz der Schule. Zumindest war sie seit langem insgeheim davon überzeugt, und manchmal machte ihr diese Vorstellung geradezu Angst.

    Nicht dass sie Schüler deshalb für intelligente Wesen hielt; sie hielt sie für eine dumme, träge und wurstige Masse und hatte sie über die Jahre und Jahrzehnte niemals für etwas anderes gehalten. Sie wussten zwar viel, konnten viele Dinge, um die sie sie manchmal insgeheim sogar beneidete; aber alles in allem wussten sie eben das Falsche, perfektionierten zumeist nur ihre technische Intelligenz und blieben darauf reduziert, eigneten sich eine oft unangreifbare Bauernschläue an, glaubten – je länger sie im Schuldienst war - immer ungenierter, sich allen traditionellen Bedeutungen entziehen zu können, ohne sich auch nur ein einziges Mal ernsthaft damit auseinandergesetzt zu haben.

    Sie war Oberstudienrätin für Latein und Französisch an einem humanistischen Gymnasium in Essen und hatte sich in den letzten Monaten schon des öfteren ganz diskret zu der Frage kundig gemacht, wie lange sie mit ihren 58 Jahren diesem Beruf noch nachgehen musste. In Gesprächen mit ihren wenigen Bekannten – fast ausnahmslos Lehrer – war des öfteren zur Sprache gekommen, dass man als Unterrichtender an einem Gymnasium noch die beste aller möglichen Karten gezogen hatte; der Job an einer Haupt- oder Gesamtschule vor allem im Essener Norden musste eine Tortur, die rapide steigende Zahl von Nachkommen sogenannter bildungsferner Haushalte gar nicht zu bändigen sein. Es wurden dann Horrorgeschichten erzählt von Kollegen, die im Unterricht sogar tätlich angegangen worden waren, und all diese Geschichten hatte sie mit der notwendigen Empörung zur Kenntnis genommen, sie in Wirklichkeit aber nicht geglaubt. Sie hatte sie einfach nicht glauben wollen, weil diese Vorstellung ihr eine geradezu bodenlose Angst einflößte und sie sich statt dessen lieber einredete, dass gerade sie es war, die den härtesten aller möglichen Jobs zu erledigen hatte und dafür auch völlig zu Recht am meisten Geld von allen Lehrern bekam: Auch Gymnasiasten waren heutzutage schon lange nichts anderes mehr als die allgemeine respektlose und frechdumme Masse, die nur noch Rechte und keinerlei Pflichten hatte, aber ihre wenn auch immer bescheidener werdende Intelligenz machte sie viel gefährlicher als dieses hirnlose und schmutzige Pack, das sich in den letzten Jahren anscheinend aus allen unterentwickelten Regionen der Welt in deutschen Schulen verabredet hatte, um dort das Chaos zu veranstalten. Nach zehn Jahren, die ihnen eine völlig unfähige und ignorante Kultusbürokratie als Schulpflicht verordnet hatte, war diese Charge in aller Regel nicht einmal in der Lage, die Sprache des Landes, in dem sie ihr Unwesen trieb, fehlerfrei zu sprechen. Diese Dinge wusste sie zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber schließlich brauchte man nur den Fernseher einzuschalten oder die Zeitung aufzuschlagen, um derartige Dinge zu wissen. Wörter wie Latein und Französisch sagten solchen Leuten natürlich gar nichts. Aber das war auch völlig überflüssig, da sich dieses Gesocks ohnehin mit nichts anderem beschäftigte als damit, sich so schnell wie möglich zu reproduzieren. Und wenn sie an solche Dinge dachte, dann war sie manchmal sogar froh an einem humanistischen Gymnasium zu unterrichten, wirkte diese Schulform doch immer noch wie eine Art Filter, der den sozialen Abschaum außen vor hielt. Die Zugangsberechtigung war die soziale Herkunft, nicht unbedingt die Intelligenz der Schüler. Und ein paar renitente Akademikereltern, die bei jeder zu gebenden Note mit dem Rechtsanwalt drohten, waren immer noch leichter zu handhaben als ein Mob, der Gewalt in jedweder Form nicht nur androhte, sondern auch anwendete und letztendlich gar nichts lernen wollte.

    Eigene Kinder hatte sie nicht, war auch nicht verheiratet; überhaupt war da nie etwas Ernsthaftes gewesen mit Vertretern des anderen Geschlechts, und bis kurz vor ihrem 50. Geburtstag hatte sie sich einreden können, dass sie voll und ganz in ihrem Beruf aufging.

    Aber dann hatte sich etwas geändert. Nicht schlagartig, eher schleichend, so dass sie im Rückblick nicht einmal mehr sagen konnte, wann alles angefangen hatte. Und was genau es war, das sich geändert hatte, das konnte sie ohnehin nicht sagen. Es war nicht so sehr das Gefühl, etwas Unbestimmtes noch erreichen zu wollen; es war

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