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Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia: Historischer Frauenroman 1850 -2015
Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia: Historischer Frauenroman 1850 -2015
Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia: Historischer Frauenroman 1850 -2015
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Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia: Historischer Frauenroman 1850 -2015

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About this ebook

Als Pia zufällig einen TV Bericht über die Befreiung Rosstals im April 1945 durch die Amerikaner sieht, beginnt sie sich Fragen zustellen nach der Geschichte ihrer Familie und inwieweit dies Einfluss auf ihre eigene Biografie hatte.
Sie stößt auf die Tagebücher und andere Dokumente ihrer Ahninnen. Es spannt sich ein Bogen von 1850 von Notburga, der Ururgroßmutter über deren Tochter Maria, die eine Suffragette war, hin zur Oma Cäcilie, die nach Paris ging, zurück kehrte, heiratete und Pias Mutter gebar. Pia reist durch den Wandel der Zeiten, Aufbruch und Niedergang, Beginn des Technologiezeitalters. Sie erfährt, die allmählich veränderte Stellung der Frau von einer rechtlosen, dem unmündigen Kindern gleichgestellten Frau hin zur emanzipierten Frau der heutigen Gesellschaft einerseits. Andererseits gibt es die individuellen Antworten der Protagonistinnen auf ihre persönliche Lage.
Dieses Buch führt den Leser vom beschaulichen Franken, nach Frankreich, Norwegen und Afrika. Im Spiegel der Biografien und Lebenswege der Ahninnen klärt sich für Pia ihr eigenes Leben.
Am Ende versteht Pia ihr eigenes Leben besser, basierend auf den Erfahrungen ihrer Ahninnen trifft sie eine Entscheidung
Ein Buch über die Irrungen, Wirrungen, Hoffnungen, Wünsche und Träume der Menschen. Ein Buch über verstehen, verzeihen und versöhnen. 165 Jahre lebendige deutsche Zeitgeschichte.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateMar 7, 2017
ISBN9783741898570
Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia: Historischer Frauenroman 1850 -2015

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    Book preview

    Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia - Sybille A. Schmadalla

    cover.jpg

    Von

    Notburga, Maria, Cäcilie,

    Malin und Pia

    Historischer Roman

    Frauenschicksale von 1850 - 2015

    von

    Sybille A. Schmadalla

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog    

    Cäcilie 1895 - 1968   

    …und Pia stellt Fragen  

    Maria 1874 - 1958   

    Notburga 1850 - 1935   

    Malin von Althaus 1924 - 2000  

    Pia recherchiert die Kriegsjahre

    des Vaters 1943 - 1946

    Malin und Robert 1948 - 2000 

    Pia und Malin 1956 - 2015  

    Anhang 

    Impressum Dank Kurzbiografie

    Quellenverzeichnis   

    Übersicht zur Rechtsgeschichte 

    Psychologische Dimensionen 

    Stammbaum der Frauen  

    Back up

    Vorbemerkung

    Wer über die geschichtliche Entwicklung von Frauenrechten schreibt, kommt am Thema Gewalt nicht vorbei.

    Staatliche, gesellschaftliche, individuelle Gewalt. Letztlich ein Spiegel der gesellschaftlichen Haltung zum Thema Gewalt.

    Stets gilt es die Rechte der Frauen aufs Neue zu verteidigen! Ein Thema, das immer politisch virulent ist. Die Debatte um Gleichen Lohn für Gleiche Arbeit oder die Flüchtlingswelle, die insbesondere das Thema Gewalt gegen Kinder und Frauen aufwirft. Das Wiederaufleben des Barbarischen, wie es die Terroristen des IS proklamieren, steht erkennbar gegen die Rechte des Individuums und die Errungenschaften der Zivilgesellschaft seit 1789.

    Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen der Geschichte.

    Dieser Roman umfasst die Zeitspanne 1850 bis 2015 und belegt den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland in dieser Frage.

    Die Protagonistinnen stehen jeweils für einen psychologisch belegbaren Typus. Die aktuelle Lage in Afrika und Europa, die Katastrophe einer drohenden Völkerwanderung unbekannten Ausmaßes, fordert das Handeln des Einzelnen.  Zu welchen Werten werde ich mich bekennen? Die Deutschen, die noch immer unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs leiden, müssen Antworten finden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und wären dem gemeinsamen Erleben wie Kriegstraumata, Vertreibung und Flucht geschuldet.

    Die Handlung und die in ihr vorkommenden Charaktere sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig.

    Jedoch ist der geschichtliche Kontext wie z.B. die Luftangriffe auf Nürnberg, der Afrikafeldzug, der Kampf um Frauenrechte usw.  historisch verbürgt.

    Prolog

    „Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen:

    lange müssen sie warten, bis sie wissen,

    was in ihre Tiefe fiel."

    Friedrich Wilhelm Nietzsche: Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle und Keinen Kapitel 23 Von den Fliegen des Marktes.

    Malin von Althaus, geborene Grundler

    Malin hatte in ihrem grünen Sessel gesessen. Sie wartete. Sie dachte nach. ‚Ich werde alleine sein‘. ‚Ich‘ hatte sie seit 1962 nicht mehr gesagt oder gedacht. ‚Ich‘. 1962. Achtunddreißig Jahre her.

    Malin summte vor sich hin, ein Weihnachtslied. Verwundert lauschte sie ihrer inneren Stimme: „… still und starr liegt der See, weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich, ‘s Christkind kommt bald …in den Herzen wird‘s warm, still schweigt Kummer und Harm ..." Mit einer ärgerlichen Handbewegung scheuchte sie die Gedanken.

    Sie fühlte wie immer – nichts. Still und starr. Malin wartete. Sie war jetzt Mitte 70. Sie war alt. Die Kinder sollten sie abholen und ins Krankenhaus fahren, wo ihr Mann Robert im Sterben lag. Schweigen schwebte im jedem Raum, füllte das Haus, mit der Gewissheit, was da kommen würde. Das Wohnzimmer, mit dem braunen, blockartigen Parkettboden, typisch fünfziger Jahre, die Marmorfensterbretter, alles gemeinsam ausgesucht. Es ging zu Ende. Gedankenverloren zwirbelte sie mit den Fingern die Tischdecke des Beistelltischchens. Jetzt fühlte sie etwas, einen leisen, ziehenden Schmerz, dort, wo die Seele sein sollte. Bedauern. Malin weinte schon lange nicht mehr. Das letzte Mal hatte sie geweint, als ihre Mutter starb, Cäcilie Grundler, das lag mehr als 30 Jahre zurück. Jetzt würde Malin alleine sein, alles, was schwer war, kam immer zu ihr. Einsamkeit wog schwer. Sie würde nicht einsam sein, nicht als Mutter von fünf Kindern. Fünf lebenden Kindern. Sie besuchten sie oft, das würde so bleiben. Es fielen ihr Sätze ein. Sätze aus Büchern, die sie den Kindern immer vorgelesen hatte >die Stille wanderte auf und ab< oder >ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen<. Bei diesem Satz wurde ihr bewusst, dass sie fast fünfzig Jahre mit Robert verheiratete war. Ihr größtes Geheimnis teilte sie bis heute nur mit ihrer Schwester Amalie und ihrer Mutter - beide lange tot. Er wird es nie erfahren. Genauso wenig, wie er nicht ahnte, dass sie es wusste. Sie wusste, was er, Arthur, ihrem erstgeborenen Sohn, angetan hatte. Nie hatte sie Robert zur Rechenschaft gezogen. Sie seufzte tief und dachte ‚Warum eigentlich nicht?‘. Danach hatte sich alles verändert. Alles. ‚Ich‘ – Malin spürte Ratlosigkeit. Was sollte werden, wenn Robert nicht mehr lebte? Es würde kein neuer Anfang sein, obwohl es definitiv das Ende von etwas bedeutete. Wer würde sie sein? Was würde geschehen mit ihrem ungeliebten Leben? Was anfangen? Sie würde alleine sein. Das traf heute schon zu. Ihre ständigen Begleiter hießen Einsamkeit und Traurigkeit. Nie hatte sie sich verstanden gefühlt. Was sollte sich daran ändern?

    Sie dachte an ihre Kinder, die Zwillinge Alma und Arthur. ‚Gleich Zwillinge‘, das hatte sie fast überfordert. Alma war ein liebes, braves kleines Mädchen gewesen, aber Arthur! Es fehlte ein Ärmchen, es schauderte sie, als sie den Moment erinnerte. ‚Ein behindertes Kind! Zu Beginn zudem ein unentwegt quengelndes Kind. Seine Behinderung lastete schwer auf ihrer Seele. Eine körperliche Behinderung bis Robert…‘ mit einer ungeduldigen Bewegung unterbrach sie sich, scheuchte sie erneut die Gedanken. Das Unaussprechliche blieb sogar als Gedanke undenkbar. ‚Schon im Jahr drauf kam Tilde auf die Welt, wieder ein Mädchen, robust, blond und rosig, aber eben wieder ein Mädchen und kein Junge. Jedes Jahr ein Kind, Pia, erneut ein Mädchen! Alle Kinder schienen ihr so fremd. Aber dann, die Fehlgeburt zählte nicht, aber dann gebar sie Johannes, einen rundum properen Knaben, ihr Liebling. Es gab dazwischen eine Totgeburt - wieder nur ein Mädchen‘ ‚Ich‘ – viel konnte sie damit nicht anfangen. ‚Ich?‘ Die Stille wanderte auf und ab. Ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen – vor langer Zeit.

    Johannes

    Johannes, das jüngste der Kinder, der gesunde Stammhalter, Jahrgang 1960, hatte auf der Bank im Krankenhausflur gesessen.

    Er sollte die  Verwaltungsdame treffen, um die letzten Dinge zu regeln. Johannes, der Autorenfilmer in der Rolle des liebenden, trauernden Sohnes, der der Mutter die helfende Hand reichte. Er, der die letzten Dinge für sie regelte. Eine Paraderolle. Johannes fand sich genial. Als Filmschaffender  und Regisseur fühlte er sich unabhängig. Er inszenierte sich regelmäßig -  ein begnadeter Selbstdarsteller. Er hielt sich für außergewöhnlich intellektuell, unglaublich gebildet, sprachgewandt, belesen, unterhaltsam, schillernd und begabt. Schlicht, er fand sich phantastisch. Johannes kannte Gott und die Welt und was viel mehr zählte - Gott und die Welt kannten ihn! Johannes scheute sich nicht einen Satz, wie >mein Wille geschehe <, in Mikrofone zu sprechen, und ‚schon tanzten in seinen Filmen alle Figuren nach seiner Pfeife‘ – meinte er. Mit dem unbedeutenden Schönheitsfehler, dass er noch keinen ‚bedeutenden‘ Film gedreht hatte, aber das stellte in seinen Augen maximal eine Petitesse dar.

    Er, der gesunde Sohn, der Liebling der Mutter, ‚der Sonnenschein‘, ‚der Augenstern‘, ‚das Süßerle‘. Er lächelte maliziös. ‚Niemand wird mich mehr hindern, das zu tun, was ich will. Meine Macht über sie ist groß. Bei mir bockt sie nicht.‘ Er stand nervös auf, nur um sich sofort wieder zu setzen. ‚Du liegst in dieser Kiste. Ich habe deine Augen zugedrückt, aber du schlugst sie wieder auf, also nochmal und noch einmal. Die Stille im Raum, die atemlose Betroffenheit im Krankenhauszimmer. Totenstille, im Sinne des Wortes‘. Er wippte nervös mit dem überschlagenen Bein, sah erneut zur Uhr, konzentriert begutachtete er seine teuren Slipper.

    ‚Ich hatte vorher mit den Ärzten geredet. Ich hätte dir eine Spritze gegeben, ich hätte das für dich getan, mein Vater. Ich bin ein guter Mensch, bereit dich zu ermorden, bereit dich zu erlösen. Du bist vorher gestorben. Als Kind habe ich mich versteckt, wenn ich dein Auto in der Auffahrt gehört habe. Ich erinnere mich nicht, ob du mich je geschlagen hast. Aber ich erinnere mich, an deinen Jähzorn. Egal, jetzt bin ich am Drücker!‘ Johannes stand auf. Er ging Richtung Wanduhr. Er tigerte ungeduldig den Flur entlang. Die Uhr zeigte nach neun. ‚Man muss in die Zukunft blicken. Ab jetzt werde ich mich um das gesamte Vermögen kümmern! Ich überzeuge sie schon davon, dass dies das Beste ist‘ Bei dem Gedanken besserte sich eine Laune schlagartig.

    Matilde

    Nach den Zwillingen erblickte Matilde das Licht der Welt. Wieder eine Tochter, das dritte Kind, 1952. Als Dreijährige konnte Matilde ihren Namen nicht richtig aussprechen, seither hieß sie Tilde. Sie liebte das Genaue, Akkurate, Exakte. Zahlen gaben Halt, die logen nicht, die zeigten sich verlässlich, berechenbar. Tilde galt als diszipliniert, präzise, korrekt. Sie arbeitete als Buchhalterin in einer renommierten Steuerkanzlei. „Stinklangweilig" ätzte Johannes. Größere Unterschiede zwischen Geschwistern hätte es kaum geben können. Darüber hatte sie sich des Öfteren gewundert, wie Kinder, die dieselben Eltern haben, so verschiede Entwicklungen nehmen konnten.

    Der erwartete Anruf traf ein. Der Vater war in den Mittagsstunden verstorben. Tot.Tilde und ihre Tochter Imke saßen über Fotoalben gebeugt, betrachteten die Fotos aus Tildes Kindheit. Weihnachten, Kommunion, Nikolaus und Schulbeginn. Tilde erinnerte sich. Sie strich über die Seiten, gedankenverloren sah sie ihre Tochter an: „Wir hatten eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Ein schönes, neues Haus mit weitläufigem Garten. Wir haben Zelte und Baumhäuser gebaut." Imke nickte. Tilde schwieg, sie erinnerte sich. Es gab einen Sandspielkasten, im hinteren Teil des weitläufigen Gartens. Eine Schaukel. Sie und Alma im Sandkasten und Pia, wie sie dem Vater Sandkuchen verkauften gegen Erdbeeren oder Radieschen.

    Tilde versank wieder in Gedanken. Der Vater war tot. Jetzt wurden alle liebevollen Erinnerungen herausgekramt. Sie war seine Lieblingstochter gewesen, da war sie sich sicher. Brauchte es dafür einen Beweis? Nein, Tilde genügte ihre eigene Gewissheit. Sie war seine Lieblingstochter - schon immer. Tilde tutzte. Es beschlich sie ein plötzliches Unbehagen. ‚Meine schöne Kindheit?‘ Sie rief sich zur Ordnung ‚Ja! Ich hatte eine schöne Kindheit und einen liebevollen Vater‘ versicherte sie sich selbst.

    >Wer seine Rute schont, der hasst sein Kind; wer es aber liebhat, der züchtigt es bald<

    Das hatte er oft gesagt, irgendetwas aus der Bibel. Tilde dachte trotzig, ‚ich war deine Lieblingstochter‘, sie merkte das Aufsteigen eines Klumpens im Hals. Jetzt bloß keine Aufwallungen hochkommen lassen, Kontrolle, alles unter Kontrolle! Tilde beherrschte sich, lies keine anderen Gedanken zu. Nein, alles  o.k. - wie immer. Alles unter Kontrolle! Ökonomie der Emotionen. Niemand sollte sie weinen sehen.

    Tilde hatte eine Suppe gekocht, eine dicke, sämige Kartoffelsuppe mit Majoran. Suppe zentriert. Suppe heilte Wunden, beruhigte die Sinne. Suppe ließ Aufregung oder Anspannung einfach dahinschmelzen in ihrer sanften, wohlschmeckenden Wärme. Erst auf der Zunge und dann im Bauch verströmte sie Wohlbehagen.

    So hatte jeder seine Aufgabe. Pia und Johannes hatten in der Nacht abwechselnd beim Vater Wache gehalten. In der Früh hatte Johannes die Mutter ins Krankenhaus gefahren, Pia kam grau und erschöpft zurück.

    Pia

    Der Vater existierte nicht mehr. Gestorben, vor wenigen Stunden. Pia blickte auf ambivalente Erinnerungen. An ihn, den Vater. Sie las in ihrem Tagebuch, aus Kindertagen: „Sein Atem schlägt heiß in mein Gesicht, ich spüre die Feuchte, so nah ist er. Seine Augen glühen schwarz vor Wut, Hass, Zorn sie blitzen, sprühen Funken. Sein Gesicht ist verzerrt, ich erkenne ihn kaum wieder. Schweißtropfen stehen auf seiner Oberlippe. Der Mund bewegt

    sich, was er schreit, höre ich nicht. Meine Arme sind dick, taub und rot, ich halte sie hoch, vor mich. In meinen Ohren rauscht es, wenn seine Fäuste mich treffen, wackle ich wie Pudding - alles ist in die Ferne gerückt. Es läuft nass und warm meine Beine hinunter. Ich schäme mich. Ich will ein gutes Kind sein. Ich bin 8 Jahre. Allein. Mutti ist nie da, wenn das passiert. Es passiert oft und dafür braucht es keinen Anlass. Ich beobachte ihn genau. Ganz genau. Immer."

    Pia blätterte, übersprang Seiten, gedankenverloren las sie: „‘Widersprich mir nicht!‘ herrschte er Mutti am Sonntagsmittagstisch an, sein Gesicht leicht gerötet. Seine Augen funkelten schon wieder gefährlich. Sein Finger kreiste am Rand des Rotweinglases und die Flasche halb leer, Alarmstufe rot. Spätestens jetzt musste man sich verdünnisieren. Mutti schwieg und senkte die Augen. Ihre Finger zwirbelten das Eck des Tischtuchs. Hilflos. Kampflos. Ohne Macht – ohnmächtig. Wie sooft. Alle Kinder blickten in ihre Teller oder irgendwo ins Leere. Angespannte Stille. Mozarts Flötenkonzert schwebte schwerelos im Raum, in einer gewalttätigen Stille, die vor Spannung fast zersprang, schwang sich die Querflöte unter atemlosen Tirilieren dem Blau des Himmels entgegen. Elegant, leicht und schwerelos. Ich widersprach! Er griff nach den Kartoffeln auf seinem Teller und warf nach mir." Sie lies das Tagebuch sinken. Pia wusste noch, dass sie damals laut gelacht hatte, weil es so absurd, so lächerlich erschien. Niemand spottet dem Tyrann - halbtot hatte er sie geprügelt.

    Wieder eine andere Seite: „Die Ader auf seiner Stirn schwoll an, er brüllte, ich brüllte zurück, wir brüllten uns an. Ich hielt seinem Blick stand. Ich stand auf und ging, er sprang auf - hinterher. Außer sich vor Wut! Pia las den Satz: „Ich habe schon lange keine Angst mehr vor ihm, Prügel schrecken mich nicht mehr. Das weiß er, also setzte er jetzt auf Verbote und Psychoterror. Dafür lüge ich ihn an, dass sich die Balken biegen. Wir schenken uns rein gar nichts! Ein Machtkampf. Meine Lügen als Antwort auf den Terror, den er verbreitet! Alle lügen ihn an.

    Pia ließ gedankenverloren das Tagebuch sinken, die Gedanken wanderten, sie hörte seine Stimme: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe auf Erden". Pia hatte  widersprochen. Das hieße nichts anderes, als wenn es einem nicht wohl erginge, dass man dann selber schuld sei, denn dann hast du eben deine Eltern nicht genügend geehrt. So einfach geht das. Du bist schuld. Du hast keine Forderungen zu stellen. Du hast Deine Eltern nicht zu kritisieren. Eltern machen nichts falsch. Basta.

    Pia nahm den Faden wieder auf und las weiter.

    „Wutentbrannt warf er die Türe so ins Schloss, dass die Glasscheibe mit einem Geräusch zwischen klirrend, kratzend und kreischend auf dem Boden zerschellte und in tausend Stücke zersprang. Stille! Immer noch sangen Vivaldis Geigen ihr Konzert in der sonntäglichen Mittagsstunde und ich sah seinem Gesicht an, dass er buchstäblich wieder zu sich kam. Ich drehte mich um und ging. Pia wusste, dass sie damals vierzehn Jahre altgewesen war. Immer war sie damit allein. Keines der anderen Familienmitglieder muckte. Der nächste Satz in der geschwungenen Mädchenhandschrift auf hellgrauen Zeilen auf den letzten Seiten des Tagebuchs mit leicht gelblichen Seiten lautete „Alles wurde anders! Aus der Ohnmächtigen wurde eine Mächtige - und was für eine!

    Pia las, die Tagebuchzeilen aus ihrer Kindheit: „Die Metamorphose der Mutter zur Eiskönigin  - jeder der es hätte sehen wollen, hätte es sehen können Es kündigte sich lange vorher an.  Sie wurde eine Meisterin darin, ihn zu blamieren, ihn auflaufen zu lassen, ihn zu konterkarieren. Ungewaschene, strähnige Haare, rotes, fleckiges Gesicht mit Pickeln. Zu dick, schlampige Figur, hässlich angezogen, hinkender Gang, ungepflegte Zähne. Stinkend, lustlos, freudlos! Keine Meinung – ihre Insignien der Macht." Pia erinnerte sich. Er flehte, er bettelte, er kaufte Pelzmäntel, Brillantringe, Perlenketten, Schmuck, eine Rolex – nichts half, weil er nichts verstand.

    Erst verachtete Pia ihn, später bemitleidete sie ihn, weil er so gar nichts verstand. Ein Trottel -  in dieser Hinsicht..

    Pia hatte damals gedacht „Aber ich bin fair! Ich bin dein Widerpart und kämpfe mit offenem Visier! Sie hingegen kämpft verdeckt, sie ist dein unlösbares Rätsel" Jetzt lag er tot im Kühlraum  des Kankenhauses und bis zum bitteren Ende hatte er nichts verstanden.

    Pia erinnerte sich -  die Hand mit dem  Buch sank herunter -  an die Sterbenacht. Das war gerade zwei Tage her. Morgen gab es eine pompöse Beerdigung, das stand fest.

    ‚Nachts. Im Krankenhaus. Es herrschte diese ungute, erwartungsschwangere Stille. Der Vater rang nach Luft. Schnappatmung nannten es die Ärzte. Pia nannte es für sich schweres Schnarchen, weil sie es sonst nicht hätte aushalten können. Er lebte noch, ihr Vater. Sie wollte ihn immer lieben, Pia wollte immer ein gutes, braves Kind gewesen sein. Pia wollte, dass er sie liebte. Jetzt saß sie an seinem Sterbebett.

    Reden konnten sie wenig, denn er bekam kaum Luft. Drei Uhr in der Früh. Er war wach. Er wollte heim. Dieses Bett verlassen, in dem er sterben würde. Pia dachte an die Worte der Pfleger und dass es so kommen würde. Er wusste, dass er sterben würde. Vor einer Woche war er ins Krankenhaus gegangen, wissend, dass er nicht mehr heimkommen würde.

    Er hatte alle anrufen lassen, alle könnten sich von ihm verabschieden.

    Jetzt wollte er, dass Pia ihn anzöge. Er unterbreitete seinen Plan, wie sie das Krankenhaus ungesehen verlassen könnten. Pia rief

    den Pfleger. Pia erinnerte sich, wie winzig die Seele wurde, als sie mit ihrer vierundvierzigjährigen Kinderstimme flüsterte „ich hab Dich lieb, seine Augen lächelten und er röchelte „ich Dich auch.

    Der Pfleger hatte den Raum verlassen und nun betrat  der Tod die Bühne. Der Sensenmann. Pia spürte ihn, der Tod kam, bereit ihn zu holen. Der Vater bereit mit ihm zu gehen. Pia fühlte sich winzig. Sie verspürte die Erleichterung, dass es nicht sie betraf.  Sie durfte leben. Gleichzeitig schämte sie sich dafür. Aber der Vater wartete. Er wartete auf sie, seine Frau. Die, die zu Hause saß. Die, die nicht seine Hand hielt. Also ging der Moment vorüber.

    Ein kalter Wintermorgen, grau- sah zum  Fenster herein. Eine Amsel zwitscherte.  Pia öffnete das Fenster und wieder kam so ein Moment, wo sie sah, dass er gehen wollte. Es war an der Zeit. Er wartete. Er wartete auf sie, auf seine Frau, die Mutter seiner Kinder. Sie, die nicht an seinem Bett saß. Sie, die erst spät kommen sollte, fast zu spät. Er wartete seit 1948.

    Pia atmete tief durch, mussten die Kinder das verstehen, was diese Ehe über die Jahrzehnte zusammenhielt? Stand es ihr zu, das zu fragen? Ging sie das was an? Pia öffnete erneut das Fenster, beugte sich zu ihm und er lächelt sie an und sagte „Danke". Sein letztes Wort an sie.  Sollte das die Versöhnung mit all den Jahren der Gewalt sein?‘

    Pia stand auf, griff nach dem Sterbebild, das Morgen zu seinem Gedenken verteilt werden würde. Aus dem Foto strahlten seine blitzenden braunen Augen, sie sah sein lachendes Gesicht.

    Arthur

    Der Vater verstorben. Arthur fuhr mit dem Bus zur Aussegnungshalle. Abschied nehmen. Wie üblich, alle kümmerten sich um alles, aber niemand kümmerte sich um ihn. Selbst seine Zwillingsschwester Alma, die um einundzwanzig Minuten Ältere,

    schaute nicht nach ihm. Arthur nahm in der hintersten Reihe platz.  Er musterte den Sarg. ‚Ich bin dein Sohn Arthur und ich habe seit Geburt einen verkrüppelten Arm. Ich bin die Schmach der Familie‘. Unentwegt strömten Menschen in die Aussegnungshalle. Viele Menschen in schwarzen Kleidern. Verwandte,  Nachbarn, ehemalige Kollegen, einige Vereinsfreunde und eine Delegation der Siedlergemeinschaft. Die Stimmen, ein verhaltener Klangteppich, hüsteln, flüstern, verstohlene Blicke, kurzes Begrüßungsnicken. Es war einer der frühen, ersten Frühlingstage in diesem Jahr, kein Wintertag und vorne stand der Sarg, in dem der Vater lag. Arthur sinnierte ‚Anfangen konntest Du mit mir nichts. Ich bin dein erstgeborener Sohn. Selbst wenn Alma einundzwanzig Minuten älter ist als ich, ist sie nur ein Mädchen. Aber ich bin dein Stammhalter und dein Erbe! Womit ich nichts anfangen kann. Aber du hast gekämpft für mich. Die Mutti schämte sich nur für mich. Die Sprachlosigkeit zwischen uns, als Zeichen eines vollumfänglichen Nichtverstehens! Ich dich nicht und du mich nicht. Nordpol und Südpol. Du wolltest etwas Gutes für mich, nur gab es zwischen uns keinerlei Berührungspunkte. Ich hätte Sänger werden können, aber das lag weit außerhalb deiner Vorstellungswelt. So bekam ich dank deiner Hilfe meine Gärtnerhelferstelle in der Lebenshilfe. Das hast du getan für mich. Muss ich dankbar sein? Bin ich dir dankbar? Ja, ich bin dir dankbar, so einer wie ich muss dankbar sein‘ Arthur stand auf und ging den Gang zwischen den Stuhlreihen entlang. Er hielt die Rose am äußersten Ende. Sie hätte ihn stechen können. Arthur mochte nichts, was klebte oder pikste. Die Rose wippte im Rhythmus seiner Schritte. Er ging durch das Spalier der ihm unangenehmen Blicke, spürte sie in seinem Rücken und legte seine Rose auf den Sarg, hastig, fast hektisch. Arthur mochte diese Aufmerksamkeit nicht. Ein echtes Opfer aus Dankbarkeit. Bei sich dachte er ‚ich hoffe du weißt es zu würdigen. Du, der du stets gerne im Mittelpunkt standest‘. Dann ging er zurück, wieder durch das dornige Spalier dieser Blicke und setzte sich. Jeder mit sich beschäftigt, jeder allein, obwohl so viele Menschen den Saal bevölkerten.

    ‚Gab es zwischen uns noch etwas, was gesagt sein müsste?‘ Arthur erahnte etwas. Ungenau, grau, versunken in der Zeit, etwas das seinen Vater mit ihm besonders verband, etwas das es wert gewesen wäre, erinnert zu werden, aber es fiel ihm nicht ein, er erinnerte es nicht.

    Alma

    Almas Hände zitterten, ihr ging es schlecht, sie fühlte sich kraftlos. Während Alma in sich gekehrt den Gedanken nachhing, lachte die Sonne vom Himmel, der in frühlingshaftem Blau erstrahlte, mitten im Winter. Die Vögel zwitscherten, der Frühling nahte, Aufbruch und Beginn. Alma dachte verbittert ‚Ich war Deine älteste Tochter, eine der Zwillinge und ich war das erste Kind. Ein Mädchen, was für eine Enttäuschung. Nur ein Mädchen. Einundzwanzig Minuten nach mir kam der ersehnte Stammhalter. Arthur. Die Freude währte nur kurz. Großvater wollte nicht, dass sie den Krüppel nach ihm benannten. Mutter hatte es uns oft erzählt. Alma und Arthur. Ich sehe Dir ziemlich ähnlich, eine Gemeinsamkeit, die wenig zählte. Deine Erwartungen waren hoch. Irgendwann habe ich sie wohl nicht mehr erfüllt. Dann musste ich ins Internat, das tat weh‘. Almas Augen füllten sich mit Tränen. Sie blickte auf den Sarg. Tausend widersprüchliche Bilder tanzten in ihrem Kopf. Da ist der Vater, der lachte und mit den Kindern bastelte, einen Drachen baute, der grillte und die ‚Zigeunersoße‘ erfand, der bei den Kindern Sandkuchen kaufte, der mit blitzenden Augen, viele wilde Ideen sofort in die Tat umsetzte. Unterhaltsam, chaotisch, ein Lebenskünstler und dann gab es da den zweite Mann, der in ihm steckte. Der, dessen Augen schwarz wurden, vor Zorn, Wut, Hass. Der schlug, der brüllte, der alles verbot, der nur das Schlechteste von seinen Kindern annahm. Der Mann, der in der Familie Angst und Schrecken verbreitete. Alma erinnerte sich, an einen Urlaub in Schweden, oder wie er Tilde  …pscht, pscht … daran wollte sie jetzt nicht denken. Liebevolles Gedenken! Liebevolles Gedenken! Ja, nur liebevolles Gedenken ist einer Beerdigung würdig. Alma schaute sich um und registrierte zufrieden ‚Mein Kranz ist der Größte und Teuerste! Ich habe stets darauf geachtet, dass meine Geschenke die Größten, die Teuersten, die Schönsten sind. >Deine Bestechungsgeschenke< verspottete sie ihr Mann. Aber ja, das musste so sein. Alma erinnerte sich, wie sie die silbernen Bilderahmen mit ihren Bildern auf dem Buffet stets nach vorne rückte, jedes Mal wenn sie die Eltern besuchte, damit Vati und Mutti sie sofort sahen. Genauso wie sie stets darauf geachtet hatte, dass sie als Letzte bei den Familienfeiern ankamen, das sicherte ihnen die Aufmerksamkeit Aller. Da konnte sie der gesamten Familie und Verwandtschaft das nagelneue, sündhaft teure Auto präsentieren. Sie erinnerte sich, wie sie es genossen hatte,  das große Hallo. Alle Augen auf sie gerichtet. Männer verstanden so etwas nicht. Alma schwelgte in Erinnerungen. Ihr Leben lief gut. Sie besaßen Häuser, eine gutgehende Praxis, zwei Luxusautos. Sie unternahmen exklusive Reisen, sie führten eine gute Ehe. Sie hatte ihren Zahnarzt, bei dem sie gelernt hatte, gleich geheiratet.  Sie hatte alle Erwartungen erfüllt. Alma fühlte Zufriedenheit in sich aufsteigen, sie sah sich als Siegerin. Diejenige, der immer alles gelang. Das erfolgreichste Kind! Zu guter Letzt hatte sie zwei Kinder bekommen, alles in der richtigen Reihenfolge. Jetzt würde sie erben.‘ Alma lies ihren Blick schweifen. Sie war die am besten angezogene Frau hier, frisch frisiert, geschminkt. Alles musste tipp topp sein. Ihre Kinder trugen jedes einen neuen,  schwarzen Anzug mit weißem Hemd, beide saßen still neben ihr. Alma liebte ihre Kinder über alles. Ein und zweieinhalb Jahre alt, der Großvater konnte sie nicht mehr erleben. Alles ist gut. Sie würde ihren Kindern eine exzellente Erziehung angedeihen lassen, sie würde sie verwöhnen wo es nur ging, sie würde … Almas Gedanken sprangen. ‚Auf deinem Totenbett habe ich dir versprochen, mich um Arthur, meinen Zwillingsbruder zu kümmern, damit du in Ruhe sterben kannst. Ja, so großzügig war ich zu dir, mein lieber Vater. Ich bin ein guter Mensch. Der die größten Lasten dieser Welt mit Ruhe und Geduld erträgt. Der sich opfert. Ich weiß, wie man im Leben die Dinge richtig anpackt. Ich bin für andere da und manchmal denke ich, ich schaffe es nicht mehr‘. Alma schrak zusammen. ‚Arthur besaß eine Eigentumswohnung in Nürnberg, wie sollte das gehen? Sie in Oldenburg und er in Nürnberg? Da musste er eben umziehen! Er musste seine Wohnung verkaufen! Manchmal denke ich, ich schaffe es nicht mehr. Am Besten rede ich mit meiner Sitznachbarin, dann muss ich nicht mehr denken‘.  Alma wandte sich der Person, die neben ihr in der Bank saß, zu. Sofort plapperte sie los, übertönte die Gedanken. Im angemessenen Flüsterton plauderte sie routiniert bis zum Beginn des Gottesdienstes. Aus dem Füllhorn ihres Small talk Schatzes schöpfend, türmte sie  harmlose, nichtssagende Banalitäten Satz auf Satz in die feierliche, gedämpfte Stimmung, die das festlich mit Blumen geschmückte Gewölbe verbreitete.

    Zart schwebte Mozarts Flötenkonzert in der lauen Frühlingsluft, die einen Hauch Kälte in sich trug. Die Türflügel der Aussegnungshalle standen weit geöffnet und die Trauergemeinde erhob sich.

    Robert von Althaus

    ‚Da wo ich herkam, war es am besten, wenn man mit zugedrückten Augen auf der Bahre lag. Mit neunzehn zog ich in den Krieg. Weg von einer strengen Mutter und einem Vater, der mich mit dem Gürtel schlug. Als Hitlerjunge ahnte ich nicht, was da kommen könnte. Beeindruckt von Wochenschaubildern mit Marschmusik, stattlichen, heroischen Männern mit kantigen Gesichtern, breiten Schultern und festem Blick. Bilder von fernen Landschaften und Ländern, von denen ich träumte sie zu bereisen, Abenteuer und Entdeckungen. Ein heldenhafter Deutscher, mit Ritterkreuz und Eichenlaub, ein Flieger, wie der rote Baron, ein Panzerfahrer im Afrikakorps unter dem Wüstenfuchs Rommel … Heldengesänge….‘                                     Am 13.5.1943 ging ich mit 230.000 deutschen und italienischen Kameraden in britische Kriegsgefangenschaft. Die Schlacht um Bou Arada ging verloren, der Krieg ebenfalls verloren. Erst dreiundzwanzig Tage vorher war ich in den Krieg gezogen. Nie konnte ich darüber sprechen – mit niemand. Jetzt ist es zu spät. Diese inneren Bilder, klar und deutlich, sie quälten mich. ‚Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, …durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld... …Der allmächtige Gott erbarme sich meiner, sei meiner armen Seele gnädig …er lasse mir die Sünden nach und führe mich zum ewigen Leben…‘  Im Verlöschen der letzten Sekunde, kam die Versöhnung zwischen dem, was war, dem, was ist und dem, was hätte sein können.

    Cäcilie 1895–1968

    „Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben! Und darum mußtet ihr den bitteren Kelch eurer Liebe trinken. Bitternis ist im Kelch auch der besten Liebe."

    Quelle: F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra.

    Cäcilie hatte sich auf den reservierten Sitz im Eisenbahnabteil sinken lassen, die Fahrkarte in der Hand. Samstag, 8. März 1913, Wagen neun, Coupé fünf, Platz 6, Paris – Gare de l’Est.

    Ihr Herz jubelte. Sie sah auf den Bahnsteig, auf dem ihre Mutter Maria und die Schwestern Genofeva und Agnes warteten. Alle drei winkten, obwohl der Zug noch nicht fuhr.

    Sie stand auf und zog mit einem kräftigen Ruck das Fenster herunter. Sogleich drängelten alle Geräusche der Bahnhofshalle rücksichtslos ins Kompartiment. Ein einziges Hallen, Pfeifen, summendes Stimmgewirr, schrille Töne, begleitet vom Fauchen und Schnauben, der gewaltigen Maschinen. Eilige Tauben gurrten den Perron entlang. Ihre Köpfe wackelten geschäftig, so schritten sie eilfertig pickend zwischen abgestellten Koffern, Schachteln und Taschen, im Gedränge der vielen Reisenden, einher. Türen schlugen, Stimmen riefen, Schaffner, Passagiere, Bahnbedienstete, Kofferträger eilten mit gewichtiger Miene in bedeutsamen Angelegenheiten.

    Cäcilie genoss es, trotz der Tatsache, dass sie zum Erzfeind Frankreich reiste. Eine frisch gebackene Gesellin, eine Dame mit Berufsausbildung und Abschluss. Frau Maxreiter hatte ihr eine Festanstellung im Salon angeboten. Sie träumte von mehr. Sie wollte sich einem Platz im Leben erkämpfen, die Welt entdecken und erorbern. Cäcilie Baier - eine führende Couture Schneiderin, wohlgemerkt eine Haute Couture Schneiderin. In Paris. Sie strebte danach, in einem der Spitzenhäuser, zu ihrer soliden, deutschen Ausbildung, die Raffinesse des Handwerks zu verfeinern.

    Sie hatte monatelang Französisch gebüffelt, nach der Arbeit, in Mutters Frauenbildungsverein. Maria schwankte zwischen Begeisterung und Besorgnis. Eine ihrer Töchter suchte ihr Glück

    im Ausland. Unzählige Male hatte sie mit belegter Stimme zu Cäcilie gesagt ‚Lass dich ja mit keinem Mann ein, du weißt ja, was die Franzosen für einen Ruf haben‘. ‚Schau auf dich, Kind, koch dir was Gesundes zu essen jeden Abend‘. ‚Ich hoffe, du lernst da die Dinge, die du dir erträumst‘. Jedesmal schloss sich ein >Du-darfst-jederzeit-wieder-heimkommen< an, wenn es dir nicht gefällt. Cäcilie hatte mit dem Kopf genickt, die Ratschläge und Mahnungen über sich ergehen lassen und  schnippisch kommentiert. Ein bisschen bange schlug ihr das Herz, bei allem Optimismus. Für Maria, als ältere Frau mit fast vierzig Jahren war es kaum vorstellbar, dass ihre Tochter in einem fremden Land leben würde. Zu Marias Jugendzeit hätte eine unverheiratete Frau nicht unbeaufsichtigt das Haus verlassen können, geschweige denn alleine ins Ausland umziehen. Niemals. Maria, als Suffragette, hatte sich genau das auf die Fahnen geschrieben. Freiheit zu erkämpfen. Dafür hatte sie sich stets eingesetzt. Dafür, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer. Über die Worte ihrer besorgten Mutter, wegen des Aufbruchs nach Paris, hatte Cäcilie gelacht und die Bedenken im Handumdrehen zerstreut. Das Telefon sei erfunden und die drahtlose Telegrafie ebenso. Notfalls schickte sie Briefe mit der guten, alten Post. Schreiben könne sie schließlich! Cäcilie versprach, wöchentlich ausführlichen Bericht zu erstatten.

    102 Jahre später hielt Pia von Althaus die Briefe ihrer Großmutter in den Händen.  Las zusammengekauert auf einer Kiste sitzend, leicht fröstelnd, gebannt Blatt für Blatt. Seite um Seite in fein säuberlicher Schrift. Buchstaben wie gedruckt, jeder ein Kunstwerk in schwarzer Tinte. In einer mittlerweile nicht mehr üblichen Typografie. Sütterlin hieß die Schriftart, hatte Pia herausgefunden. Nachdem sie sich aus dem Internet das Alphabet heruntergeladen hatte, konnte sie es, nach anfänglichen Entzifferungsschwierigkeiten, inzwischen fließend lesen. Sie las zunehmend fasziniert über das Leben in Paris um die vorige Jahrhundertwende, das Ende der Belle Epoque und die Welt am Vorabend eines Weltkriegs. Pia

    suchte nach Erklärungen, nach Antworten auf Fragen. Beinahe wäre es zu spät gewesen, sie zu stellen. Erklärungen für ihre eigene Biografie, den Verlauf ihres Lebens. Eine vage Ahnung stieg in ihr auf, sollte das Leben ihrer Vorfahren Einfluss darauf gehabt haben? Die eigene Biografie geprägt im Zeitenlauf und der Zeitenlauf geprägt von Abermillionen Biografien. Sie ein winziger Mosaikstein, ein Farbtupfer im Mosaik, aber ohne den einzelnen Stein kein gesamtes Bild? Pia, geborgen im Großen und Ganzen des Zeitenlaufs, behütet im Heute, das es ohne ein Gestern nicht gegeben hätte? Im Laufe ihrer Suche hatte sie zwei wahre Schatzkisten auf dem Speicher gefunden. Kisten gefüllt mit vielen Dokumenten, Tagebüchern, Briefumschlägen und vereinzelten Fotos der Familie mütterlicherseits.

    Pia wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Papieren zu. In diesem Tagebuch stand in einer akkuraten Handschrift, die Gedanken einer jungen Frau, auf dem Weg nach Paris. In jedem Wort, jedem Satz steckte die Vorfreude.

    Cäcilie gehörte die Welt. Achtzehn Jahre jung, im Jahr 1913. ‚Und wer weiß, vielleicht kann ich in ein paar Jahren heimfliegen, wenn es mit den technologischen Neuerungen in dem Tempo weitergeht. So, wie ich heute mit der Eisenbahn oder dem Auto heimfahren kann‘. Da verdrehte die liebe Mama nur die Augen.

    Mit dem Beginn des Zeitalters der Erfindungen änderte sich vieles. Es entstanden neuartige Berufe. Mit dem Kaufhaus kam der Beruf der Verkäuferin auf. Ihre Schwester Genofeva, genannt Feverl, hatte diesen ehrenwerten, neuen Beruf der Verkäuferin erlernt, in einem der ersten Warenhäuser Nürnbergs. Das Kaufhaus Tietz am Weißen Turm existierte seit 1886. Genofeva, die Älteste, der drei Schwestern, hatte als erste der drei Töchter einen sehr guten Schulabschluss an der höheren Töchterschule erworben. Diese lag am Frauentorgraben. 1906 hatte sie dann ihre Ausbildung zur Fachverkäuferin begonnen und sie arbeitete im Kaufhaus nach wie vor in Festanstellung mit 21 Jahren. Im Jahr darauf trat ihre Schwester Agnes in ihre Fußstapfen. Agnes lernte

    Modistin, also Putzmacherin, ein traditioneller Beruf, der von etlichen technischen Neuerungen profitierte. Agnes durchlief eine mehrjährige Ausbildung und  beendete sie mit >sehr gut<.  Jetzt zählte sie zwanzig Lenze. Sie entwarf und fertigte phantastische Hutkreationen.

    Cäcilie, die Jüngste, hatte sich für eine Schneiderlehre entschieden. Nach deren erfolgreichen Beendigung zog es sie jetzt in die Ferne.

    Alle vier Frauen lebten in einem Haushalt ohne Mann. Maria, die Mutter, nach wie vor verheiratet mit Xaver Baier, lebte getrennt von ihrem Ehegatten. Maria hatte sich vor der Jahrhundertwende – als Mutter dreier Kinder –  der Frauenrechtsbewegung als Aktivistin angeschlossen. Dies führte zu starken Spannungen in der Ehe. Xaver bestand auf seinem Züchtigungsrecht, auf seinem Recht, die Ehe regelmäßig zu vollziehen oder, für Maria fast genauso schlimm, auf seinem Recht, alleine über das Vermögen zu verfügen. Er investierte in sämtliche Formen von Alkohol. Er drohte wiederholt, ihr zu verbieten, als Krenweiberl zu arbeiten. Dafür brauchte sie seine Erlaubnis. Seine Rechte, die er regelmäßig durchzusetzen wusste, darum kümmerte er sich. Sonst kümmerte er sich um nichts. Sein Fuhrgeschäft lief mehr recht als schlecht, er trank und poussierte mit anderen Frauen. Solange er die nicht dauerhaft mit nach Hause brächte, wäre eine schuldhafte Scheidung von ihm nicht möglich gewesen. Maria schäumte regelmäßig: „Frauen unterdrücken, ist das oberste Ziel - da halten alle Männer zusammen!".

    In diesen Punkten zeigte sich Maria geradezu radikal, eine Emanze, eine Suffragette. Maria hatte die Konsequenzen gezogen. In einer Nacht- und Nebelaktion packte sie ihre Sachen und ihre drei Mädchen und siedelte in eine Frauenwohngemeinschaft um. Sie zog in ein anderes Stadtviertel in Nürnberg. In diesem Haus wohnten  mehrere Frauen mit insgesamt elf unmündigen Kindern. Maria lebte seither von Xaver getrennt. Sie achtete peinlich darauf, dass er nicht herausfand, wo sie residierte, damit er keinen Zugriff auf ihren ohnehin nicht üppigen Verdienst bekäme. Geschieden wurde die Ehe nicht.

    Unterhalt forderte Maria keinen, denn ihre Freundin aus dem Frauenverein, Berta, setzte ihr die Rechtslage auseinander. Die Aussicht auf Scheidung bewertete sie gering, die Aussicht auf die Durchsetzung eines Unterhaltsanspruchs schier aussichtslos. Während eines laufenden Scheidungverfahrens hätte Maria ihr regelmäßiges, bescheidenes und hart erarbeitetes Einkommen gefährdet. Denn darüber hätte alleinig der Ehegatte verfügen dürfen, bis einer Scheidung überhaupt stattgegeben worden wäre! Darüber hinaus wog viel schwerer - sie hatte ihren Mann böslich verlassen! Das wäre ihr im Falle einer Scheidung negativ ausgelegt worden, denn alles, was zwischen Eheleuten jemals vorfiel, wurde durch den CMBC, den Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, gedeckt. Besser bekannt als >Geschlechtervormundschaft<. Das riskierte Maria nicht. Sie tauchte lieber mit den Kindern unter. Die Kinder hatten den Vater seither nicht mehr gesehen. Maria vermutete, dass Xaver niemals ernsthaft nach ihnen gesucht hatte.

    Darüber dachte Cäcilie nach, während sie hier im Zug saß. Sie liebte ihre Mutter, die ihren drei Mädchen alles ermöglichte, was sie irgendwie bewerkstelligen konnte. Die Mutter arbeitete hart, solange Cäcilie sich zu erinnern vermochte. Im Sommer frühmorgens bei Sonnenaufgang stand sie auf, fuhr mit dem Zug nach Fürth oder ging zu Fuß ins Knoblauchsland. Dort kaufte sie frisch die Kräuter, das Obst, das Gemüse, den Kren und alles, was die Kundschaft außerdem an anderen Lebensmitteln wünschte, bei den Bauern. Maria fuhr dann zurück nach Nürnberg, wusch sich und kleidete sich adrett, sie achtete stets auf saubere Hände und Fingernägel. So gerüstet verkaufte sie die Ware mit Aufschlag an den Haustüren und bei ihren regelmäßigen Lieferkunden. In diesem Aufschlag bestand ihr Verdienst. Cäcilie wusste, dass die riesige, kunstvoll aus Weidenruten geflochtene Kraxe, in der sie sich als zehnjähriges Mädchen gut verstecken konnte, gefüllt, ein ungeheures Gewicht hatte. Tag für Tag balancierte die Mutter sie auf ihrem Rücken. Im Winter verkaufte sie in einer ähnlichen Kraxe Kleinholzbündel, Brennholz, Eierbrikett und normale Brikett. An manchen Tagen Eier von den wenigen eigenen

    Hühnern oder vor Weihnachten Hasenbraten. Nach dem Heimkommen besorgte sie den Haushalt, egal ob kochen, waschen, putzen, nähen oder was sonst so alles anstand. Aber trotz der vielen Arbeit, ging die Mutter mindestens drei Mal die Woche in ihre Bildungsvereine. Entweder in einen Verein namens >Frauenwohl< oder in die Ortsgruppe des >Allgemeinen deutschen Frauenvereins<. Ihre Töchter nahm sie mit. Ihr oberstes Ziel bestand darin, ihren Töchtern eine solide Ausbildung zu ermöglichen. >Freiheit< und >Unabhängigkeit<, waren weit mehr als nur romantische Wörter für Maria. Unzählige Male bläute sie ihren Mädchen ein ‚Macht euch nie von einem Mann abhängig!‘ und ‚Bildung ist eure beste Versicherung‘. Der Gedanke an eine romantische Liebe oder an eine Liebesheirat lag Maria mehr als fern.

    Der Zug ruckte an. Cäcilie schluckte, sie winkte und rief ihren Lieben zu: „Ich schreibe, wenn ich angekommen bin! Ihrer behandschuhten Hand verfiel in einen hektischen Rhythmus: „Ich hab euch lieb! Und nach einer kurzen Pause halblaut, im Geräusch der zuschlagenden Türen und der anfahrenden Lokomotive untergehend und mehr zu sich selbst: „Ich vermisse euch jetzt schon."

    Agnes und Genofeva gingen ein paar Schritte mit dem schwerfällig anrollenden Zug einher, laufen geziemte sich nicht. Sie riefen Ähnliches zurück, ihre genauen Worte gingen im Schnauben der schweren Lokomotive unter. Zwischen Bangen und Vorfreude auf das, was kommen würde, fand eine einsame Träne verstohlen ihren Weg über Cäcilies rosige Wange. Dieser Moment dauerte aber nur kurz, die Lieben verschwanden sogleich in den Rauchschwaden der Maschine. Behäbig, wie ein großes Tier, schnaubend, kam der Zug in Gang und dann in Fahrt. Die Maschine stieß einen gewaltigen Pfeifton aus, als der Zug die stählernen Gewölbe des Bahnhofsgebäudes hinter sich ließ. Sie fuhr jetzt nach Paris. Cäcilie sank in die roten, samtenen Polster, betrachtete die hölzernen Ablagen aus hellem Holz. Sie saß alleine im Abteil. Ihr Koffer und ihre Reisetasche aus Brokat oben verstaut im Gepäckfach. Der gehäkelte Beutel baumelte am

    Handgelenk. Während Cäcilie aus dem Fenster blickte, die Häuser und später die Landschaft vorbeifliegen sah, freute sie sich auf Paris, auf die Mode, auf alles was die Zukunft versprach.

    Sie würde Paul Poiret, den derzeit bekanntesten Modeschöpfer Europas, kennen lernen. Sie würde Haute Couture schneidern. Sie würde die filigransten, elegantesten Stoffe, ausgefallensten Accessoires, Knöpfe, Pailletten, Federn, Perlen verarbeiten. Seit ihrer frühesten Kindheit faszinierten sie Stoffe. Sie erinnerte sich genau daran, wie die noblen Damen sonntags in der Kirche an ihr vorbei paradiert waren, zur heiligen Kommunion. Das  Rascheln, wenn seidiger Stoff über Baumwolle glitt oder Spitze über Seide schleierte. Den gesamten Gottesdienst hindurch stellte sie Betrachtungen über die unzähligen Stoffe an, die sie in der Kirche versammelt sah. Diese unglaubliche Vielfalt! Glänzende Seidenstoffe in allen Farben und Mustern, gewebter Brokat mit Goldfäden durchwirkt neben dem gröberen Leinen, den Wollstoffen oder der einfachen Baumwolle der niederen Stände. Die traditionellen Stoffe des Bauernstands, überlieferte Ornamentik, jahrhundertealte Muster, festlich, warm, wollig.

    In ihrer Lehre begleitete Cäcilie Frau Maxreiter zum Stoffhändler. Ein Festtag, besser als Weihnachten. Stundenlang schwelgten sie in diesen Schätzen. Sie begutachteten, befühlten die elegante, kühle Glätte eines Seidenstoffs zwischen den Fingern, wollene Flauschigkeit wechselte mit pompöser Schwere eines Brokatstoffes. Sie rieben vorsichtig die zart schimmernde Atlasseide an ihren Wangen. Sie bauschten Falten, drapierten Kombinationen, beurteilten den Faltenwurf, den Fadenverlauf oder das Spiel des Musters. Sie legten bunte Kollagen mit Spitzen und Litzen. Zwei Expertinnen auf Entdeckungsreise. Zwei begeisterte Modedesignerinnen im kreativen Schöpfungsprozess. Zwei Schneiderinnen im siebten Stoffhimmel. Sie hatten sich gefühlt, wie Buben, die mit der elektrischen Eisenbahn spielen durften.

    Mode bestand aus dem liebevollen Detail, dem raffiniert gesetzten Kontrapunkt. Die alles entscheidende Grundlage bildete der Schnitt. Das A und O. Die Raffung an einer delikaten Position,

    eine raffinierte Linienführung der Naht, eine Betonung oder Kaschierung an der richtigen Stelle. Es spielte eine gestalterische Rolle, ob zum Beispiel ein Knopf quasi verschwand, weil er, mit dem gleichen Stoff überzogen, sich unauffällig ins Ensemble einfügte, um dort seine Funktion bescheiden auszuüben oder ob ein Knopf eine Linienführung unterbrach um sich triumphierend zu zeigen. Ein edler Perlmuttknopf - ein Blickfang! Viele, kleine weiße Knöpfe – ein Hingucker, verspielt und neckisch. Die Erscheinung sportlich, elegant oder wertvoll zu gestalten, hing neben den Stoffen von exakt diesen Details ab. Es machte einen gewaltigen Unterschied, ob eine gehäkelte Spitze oder eine viel feinere, geklöppelte Spitze den Blick des Betrachters fesselte. Eine glatte Litze, schmal gegen breit? Weiß gegen eierschalenfarben? Ton in Ton? Lieber einen Kontrapunkte setzen? Betonung statt dezenter Kaschierung? Liebevolle, raffinierte, versteckte, gekonnte Details bestimmten das Design. Cäcilie liebte diese Details. Litzen, Spitzen, Bordüren, Pailletten, Perlen, Stickereien und Knöpfe.  Alles konnte sie einsetzen, um einen ausgeklügelten Schnitt noch raffinierter aussehen zu lassen, einem schönen Stoff einen bühnenreifen Auftritt zu geben. Die Kombination von Stoffen und deren unterschiedlichen Texturen und Mustern ließen es zu, gezielt Kontraste zu setzen oder wunderbare Harmonien zu bilden. Modedesign schien einfach unerschöpflich. Farbige Garne konnten, richtig eingesetzt, Nähte zum Leuchten bringen, Reverslinien betonen und so dem Ganzen eine sportliche Dynamik geben. Sport. Etwas völlig Neues zum Beginn dieses Jahrhunderts, körperliche Ertüchtigung, Turnvater Jahn. Tausend Ideen wirbelten nur so durch ihren Kopf.

    Ihr Herz jubelte, sie würde die schönsten Designs entwerfen, elegante Roben schneidern. Maßschneidern, für exklusive Kundinnen, mondäne Kundinnen mit unendlich viel Geld. Nicht wie in Nürnberg, wo die reichen Kaufmannsfrauen, Anwaltsgattinnen oder Arztehefrauen, alle vierzig Jahre oder älter, fränkischen Dialekt sprachen und ihre erheblichen Bauchumfänge ins Korsett quetschten. So viel konnte man mit geschickten Schnitten gar nicht wegmogeln. Cäcilie fand das so

    mondän, wie „Bluuudwääärrschd mit Kraud". 

    Über all diese Überlegungen und Gedanken lief der Zug schon in Würzburg ein. Kurzer Aufenthalt, Türen schlugen, einsteigen, aussteigen, hektische Betriebsamkeit, dann ruckte der Zug wieder an. Es sah aus, als ob sich der Bahnsteig von Würzburg langsam in Bewegung setzte. Damen trippelten unter gigantischen Hüten im Humpelrock, dann kamen die Häuser der Stadt, der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus und weiter ging die Reise.

    Cäcilie fiel ein, dass eben jener Paul Poiret die im Volksmund >Humpelröcke< genannte Mode erfunden hatte. Und dies mit dem Ausspruch kommentierte ‚Ich habe die Büste befreit, aber das Bein in Fesseln gelegt‘ Cäcilie schmunzelte. Lachte, als sie daran dachte, wie sich ihre Mutter darüber aufgeregt hatte, sie hielt überhaupt nichts von diesem Poiret.

    Frau Maxreiter hingegen, fand alles was aus ‚Pari‘ kam, einfach wundervoll, auch dieser Gedanke zauberte ein Lächeln in Cäcilies Gesicht. Frau Maxreiter meinte, dass sie mit Weglassen eines Buchstaben und dem singenden Hauchen eines Wortes bereits Französisch parlieren würde. Cäcilie korrigierte sie nie, davon hielten sie taktgefühl und klugheit ab. 

    Die Eisenbahn dröhnte über die Gleise, der Zug eilte nun seinem Ziel mit Reisegeschwindigkeit entgegen und Cäcilie versank wieder in ihre Gedanken.

    Frau Maxreiter platzte fast vor Stolz, dass eines ihrer Lehrmädchen nach Paris gehen und im Le Bon Marché im Maßatelier arbeiten würde. Sofort besprachen sie sich, welche Garderobe Cäcilie da benötigen würde. Schließlich repräsentierte Cäcilie einen Modesalon aus Nürnberg in Paris. Da wollte Frau Maxreiter sich nichts nachsagen lassen. Wer wusste schon, wen Cäcilie alles kennen lernen würde. Frau Maxreiter schenkte ihr eine Reihe von schönen, teuren Stoffen und Cäcilie entwarf und nähte sich daraus verschiedene, elegante Stücke im zeitgemäßen Stil. So trug sie bei ihrem Aufbruch einen langen, schmalen Mantel, der eine hohe Taille besaß, direkt unter der Brust geknöpft mit schmalen Revers, die insgesamt die schmale Linie unterstrichen und die Cäcilies schlanke Figur betonten. Ein

    elegantes, gewagt knöchelkurzes Reisekostüm darunter, das ebenfalls eine hohe Taille zeigte, aber im Empirestil leicht glockig auffächerte. Das entsprach der zweiten tonangebenden Modelinie, die sich >en vogue< neben den Humpelröcken behauptete. Für eine Reise weitaus bequemer und praktischer. Passend dazu trug Cäcilie einen von Agnes eleganten Reisehütchen, aus feingeschnittenem, leichtem, hellem Stroh geflochten. Ein breit umlaufendes Band, in einer passenden Farbe des Kostüms, fasste ihn ein, im Nacken schloss eine Seidenschleife in Form eines Schmetterlings das Ensemble ab. Die Krempe schwang sich symmetrisch in Glockenform dem Nacken zu. Cäcilie sah aus, wie einem Modemagazin entstiegen. Zeitungen, Magazine ebenfalls eine Neuheit, dem Zeitgeist entsprungen. Cäcilie genoss den Vorteil, da sie sich selber >beschneidern< konnte, stets exzellent angezogen zu sein. Ihre Schneiderpuppe musste zu Hause zurückbleiben, was Cäcilie bedauerte. Seit Neuestem zeigten >Vorführdamen< die aktuellen Trends, so stand es in einem der Magazine.  Allen voran, zeigten die berühmten Salons in Paris jedes Jahr aufwändige Modeschauen.

    Cäcilie nahm sich fest vor, dass sie an einer solchen Schau teilnehmen würde und dazu wollte sie auf dem aktuellsten Stand sein, wollte wissen, was in der Welt der Mode geschah. Sie nahm aus ihrer Reisetasche ein Modejournal mit dem Titel >Wiener Mode<, das hatte sie für viel Geld am Nürnberger Hauptbahnhof in einem Kiosk erworben. Sie blätterte in dieser Zeitschrift. Die Abbildungen wurden teilweise als Fotografien wiedergegeben, aber viele Kleider fand sie abgebildet als Aquarell, Federzeichnung oder Ähnlichem, da dies eine günstige Alternative zur teuren Fotografie darstellte. Sie las eine Anzeige für die Weltausstellung 1913 in Gent in Belgien. ‚24 ausstellende Nationen präsentieren auf einer Fläche von 9,5 Hektar die neuesten Erfindungen und Technologien‘.

    Cäcilie fand, dass sie in einer aufregenden Zeit lebte, im Zeitalter der Technologie! Dekaden mit bahnbrechenden Entdeckungen. Die Ära der Mode, des Aufbruchs, der Moderne. Die Jugend auf dem Vormarsch, egal ob Architektur, Kunst, Musik. Überall

    zeigten sich

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