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Jule und Luca - Der Schwarze Fürst
Jule und Luca - Der Schwarze Fürst
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Jule und Luca - Der Schwarze Fürst

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About this ebook

Die Geschichte der Geschwister Jule und Luca geht weiter. Kaum haben die Kinder ihren Vater von einer fernen Insel gerettet, versucht der Schwarze Fürst sie zu seinen Werkzeugen zu machen. Wem können die Kinder vertrauen? Auf jeden Fall der riesigen Dänischen Dogge, dem Blutigen Hektor.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJun 10, 2019
ISBN9783748596936
Jule und Luca - Der Schwarze Fürst

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    Jule und Luca - Der Schwarze Fürst - Jens O. Löcher

    Eine Uhr mit messerscharfen Zeigern

    Jule und Luca

    Der Schwarze Fürst

    Jens O. Löcher

    Es war gerade ein Tag vergangen, seitdem Jule und Luca Simson von der Insel zurückgekehrt waren, die in ferner Vergangenheit durch den Traum eines Fremden geboren und die für ihren Vater und Herrn Dr. Maiwald über Jahre hinweg Gefängnis gewesen war. Die Kinder hatten erlebt, wie eine Kanonenkugel sie nur knapp verfehlte und wenige Meter hinter ihnen im weißen Strand der Südseeinsel einschlug, hatten in nächster Nähe Piraten kämpfen und sterben sehen. Blut, Schweiß und Tod lösten sich unmittelbar darauf von einem Moment zum anderen in Luft auf und der gerade noch blutdurchtränkte Sand lag plötzlich unberührt und von den Piraten und ihrem Kapitän unbetreten unter der heißen Sonne der Südsee.

    Wenige Minuten darauf hatte sich dasselbe Segelschiff erneut dem Strand genähert und dieselben Piraten und derselbe Kapitän stürzten sich in dieselbe Schlacht, die dasselbe Ende nahm. Eine unendliche, scheinbar nicht zu durchbrechende Wiederholung, denn sie hatten den Weg in einen Traum gefunden, dessen Inhalt sich wie ein Kreisel drehte. Kaum war er am Endpunkt angelangt, folgte schon der Neubeginn.

    Frau Buglett, Herrn Fleischmann und natürlich der riesigen Dänischen Dogge Hektor hatten sie es zu verdanken, dass sie ihren Vater und auch Herrn Dr. Maiwald retten konnten.

    Und nun saßen die Geschwister bei Herrn Fleischmann und hatten ihm spontan Hilfe versprochen. Sie waren gespannt zu erfahren, wobei er, der riesige, bärtige Mann, der unzählige Geheimnisse kannte, von zwei Kindern, die sich allerdings nach ihren letzten Abenteuern überhaupt nicht mehr als Kinder fühlten, Hilfe benötigen könnte.

    „Ich glaube, Ihr habt bereits am eigenen Leib bemerkt, dass Adamek Träume beeinflussen kann. Erinnert Ihr Euch nicht, dass er auf der Veranda seines Hauses stand und sagte, er wollte Euch davon abhalten, Euren Vater zu finden? Ich bin mir sicher, dass er versucht hat, Euch durch Albträume davon abzuhalten, weiterhin Euren Vater zu suchen."

    Herr Fleischmann blickte die Kinder an, als erwarte er eine Antwort. Jule nickte und schaute zu ihrem Bruder.

    „Das stimmt. Weißt Du noch, als Du wegen Deines Traums aufgewacht bist und mich geweckt hast, weil ich im Schlaf so laut gestöhnt habe? Ich hatte doch diesen schrecklichen Traum mit dem Skelett".

    „Ja, natürlich, mir ging es in dieser Nacht ja auch nicht besser."

    Herr Fleischmann schaute bedrückt aus.

    „Ich hatte es ja befürchtet. Das ist schlimm. Ich kenne ihn mein halbes Leben und hätte nie gedacht, dass er mich so hintergeht."

    „Wie meinen Sie das", fragte Jule.

    „Tja, begann Herr Fleischmann und senkte seinen Kopf, „um Träume beeinflussen zu können, muss man einiges vom dem wissen, was ein Hüter der Träume weiß. Adamek ist aber kein Hüter der Träume. Niemand hat ihm bisher so vertraut, dass er ihn hat teilhaben lassen an den wirklich wichtigen Geheimnissen.

    „Aber wieso kann er das dann trotzdem?", drängte sich Luca dazwischen, bevor Herr Fleischmann fortfahren konnte.

    „Ich befürchte, dass das meine Schuld ist, seufzte Herr Fleischmann und atmete tief ein. „Ich habe Euch doch einmal erzählt, dass ich als Kind durch einen alten Apotheker in viele Geheimnisse des Traumhütens eingeweiht wurde, dass er mir aber nicht alles erzählen konnte, weil er vorher gestorben ist.

    Die Kinder nickten.

    „Ich wollte verhindern, dass mir dasselbe passiert, bevor ich einen Nachfolger, Herr Fleischmann schaute zu Jule, bevor er den Satz zu Ende sprach „oder eine Nachfolgerin gefunden habe. Also habe ich angefangen, alles, was ich weiß, in ein dickes, altes, leeres Buch zu schreiben. Irgendwann war das Buch dann weg, einfach verschwunden. Ich habe das ganze Haus abgesucht, es blieb verschwunden. Ich habe immer gerätselt, wer es genommen haben könnte, im Grunde genommen konnten es aber nur Adamek oder Frau Buglett gewesen sein, denn ansonsten hatte ich ja während der letzten Jahre hier in Federnheim keine Kontakte. Das ist ja erst durch Euch anders geworden.

    Jule fühlte sich geschmeichelt. Ihrem Bruder kam es so vor, als wären ihre Wangen ein wenig roter geworden.

    „Natürlich hätte es auch irgendein Dieb gewesen sein können, aber der hätte doch wahrscheinlich irgendetwas Wertvolles mitgenommen, mein Silberbesteck zum Beispiel, und nicht ein altes Buch mit handgeschriebenen Eintragungen. Der oder die es an sich genommen hatte, musste wissen, was es damit auf sich hat. Und deshalb konnten es eigentlich nur Adamek oder Frau Buglett gewesen sein. Aber keinem von beiden hätte ich das zugetraut, ich habe ihnen mehr als einmal mein Leben anvertraut und umgekehrt war es nicht anders. Aber seit dem Tag, als er sagte, er wollte Euch davon abhalten, Euren Vater zu finden, hatte ich den Verdacht, dass er es gewesen ist. Und das habt Ihr mir gerade leider bestätigt."

    „Und wozu brauchen Sie uns dann? Wir können doch nicht bei ihm einbrechen und das Buch zurückstehlen?", fragte Luca.

    „Nein, das braucht Ihr nicht. Es ist viel einfacher. Aber trotzdem gefährlich. Ich habe inzwischen herausgefunden, wo das Buch ist. Er hat es in einer Traumblase versteckt. Und zwar so geschickt, dass ich es auf keinen Fall herausholen kann."

    Herr Fleischmann stand auf und hinkte langsam in den Raum, der zur alten römischen Therme führte, nahm den Schlüsselbund vom Nagel und öffnete mit den Schlüsseln, die daran hingen, alle Schlösser. Nun öffnete er die schwere Türe, schaltete das Licht ein und ging langsam zur Treppe.

    „Kommt mit, Kinder", hörten sie ihn rufen, und seine Stimme hallte von der Treppe bis in das Esszimmer.

    Als die Kinder die Therme erreichten, saß Herr Fleischmann in der Mitte des Sudatoriums auf dem Gartenstuhl und streckte sein verletztes Bein nach vorne aus. Er schaute auf seine Armbanduhr, die er an seinem linken Handgelenk trug.

    „Ich habe wirklich sehr, sehr lange gesucht, bis ich den richtigen Traum gefunden hatte. Ich dachte zuerst auch an sein Haus, habe es heimlich durchsucht, habe Hektor sogar im Garten die Beete aufwühlen lassen, weil ich dachte, er habe es dort vergraben. Zuletzt habe ich das unwahrscheinlichste Versteck untersucht, mein eigenes Haus. Und in einer der Traumblasen hier im Sudatorium habe ich es dann tatsächlich gefunden. Als ich mich auf das Buch konzentrierte, hatte ich die passende Traumblase auch schon in der Hand. Ein wirklich geniales Versteck. Wer denkt schon daran, dass der Dieb das, was er stiehlt, im Haus des Bestohlenen versteckt? Wohl niemand."

    „Aber dann brauchen Sie uns doch nicht", warf Jule ein und klang dabei erleichtert.

    „Doch, doch, antwortete Herr Fleischmann, „gerade Ihr könnt mir helfen. Ich selbst würde es niemals schaffen, an das Buch zu kommen. Ich habe es versucht.

    Herr Fleischmann zeigte auf sein verletztes Bein.

    „In der Mitte des Traumes befindet sich ein großes Uhrwerk, das in eine Wiese eingelassen ist. Die Zeiger der Uhr sind aus Metall und ähneln rasierklingenscharfen Degen. Sie drehen sich, aber nicht so langsam wie bei einer wirklichen Uhr, sondern sehr viel schneller. Herr Adamek hat das Buch auf das Ziffernblatt geworfen, so dass sich die Zeiger über ihm drehen und es dadurch beschützen. Ich habe mehrfach versucht hineinzuspringen, um es zu holen, aber die Zeiger haben mich jedes Mal erwischt. Das erste Mal, als das Märchen vom blutigen Hektor entstanden ist. Ich wäre damals fast gestorben. Anschließend bin ich vorsichtiger geworden, habe es mit langen Stangen aus Holz oder Metall herauszuheben versucht, aber die sind vom Metall einfach zerschnitten oder zersägt worden, bevor ich auch nur in Griffweite des Buches gekommen bin. Vor ein paar Tagen bin ich das letzte Mal erwischt worden, es war wieder dasselbe Bein."

    Herr Fleischmann zeigte auf sein ausgestrecktes Bein. Jetzt verstanden die Kinder, warum sie bei ihrem ersten Besuch den Eindruck hatten, das Humpeln habe sich verschlimmert. Er war erneut verletzt worden.

    „Gut, lassen Sie uns darüber nachdenken und mit unseren Eltern sprechen", sagte Jule.

    „Das ist eine vernünftige Idee, erwiderte Herr Fleischmann. „Leider ist dafür aber keine Zeit mehr. Ich habe mir vorhin einmal die Traumhülle angeschaut. Sie ist blass und fade geworden, sie steht kurz vor dem Erlöschen. Wenn wir uns nicht beeilen, ist es zu spät.

    „Aber das ist doch furchtbar gefährlich. Selbst Sie sind verletzt worden. Wir sollten vorher eine Strategie, einen Plan ausdenken."

    „Oh, das habe ich schon getan. Ich habe tausendmal nachgedacht und einen Weg gefunden. Allerdings bin ich zu langsam und zu dick, um ihn auszuführen."

    Zur Bekräftigung streichelte er über seinen gut sichtbaren Bauch.

    „Einer von Euch könnte es leicht. Ihr seid schlank genug."

    „Und wie soll das gehen?", fragte Luca.

    „Es ist ganz einfach. Einer von Euch muss nur hineinspringen und sich sofort auf den Boden werfen. Ihr seid so schmal, dass die Klinge Euch nicht treffen kann, wenn ihr platt wie eine Flunder auf dem Ziffernblatt liegt. Und schon habt Ihr das Buch und könnt es herauswerfen. Und dann denkt Ihr an Euren eigenen Lebenstraum, wie gestern auf der Insel, und schon seid Ihr heraus aus der Traumblase."

    Luca hatte Angst, aber er dachte kurz daran, dass er seinen Vater ohne Herrn Fleischmann in seinem ganzen Leben nicht wiedergesehen hätte. Er war ihm mehr schuldig, als er ihm jemals geben könnte.

    „Also gut, ich mache es.", sagte er leise.

    „Und ich komme mit", bekräftigte seine Schwester.

    „Das ist gut. Ich bin so stolz auf Euch".

    Eine traurige alte Frau

    Herr Fleischmann schloss die Augen und zog die Stirn in Falten, als ob er überlegte. Im nächsten Moment flogen einige Traumhüllen auf ihn zu und umkreisten ihn. Er öffnete die Augen, schaute sich kurz um und griff zielsicher eine recht große Blase, die sich in Höhe seines ausgestreckten Beines befand und tatsächlich blasser aussah als die anderen. Ein solches Traumgebilde hatten sie noch nie gesehen. Die Kinder blickten angestrengt in die Blase und erkannten eine Holzhütte, die auf einer kleinen Lichtung inmitten eines grünen Tannenwaldes stand. Aus dem aus groben Ziegelsteinen gemauerten Schornstein kringelte grauer Qualm in die Höhe. Vor der Hütte war ein kleiner Gemüsegarten angelegt, man konnte Möhren und Petersilie erkennen, daneben blühten einige Blumen.

    Als die Kinder die Kugel ein Stückchen drehten, sahen sie, dass hinter dem Wald eine Wiese begann, in deren Mitte man ein Ziffernblatt erkennen konnte. Herr Fleischmann erklärte den Kindern hastig, welchen Schlüssel sie benötigten, um in den Traum hineinzukommen und drängte darauf, dass sie sich sofort auf den Weg machten. Dabei schaute er wieder auf seine Armbanduhr.

    Und schon ging es los. Der Schlüssel war ein Reim: Heute bist Du ein Kind, doch die Zeit verrinnt. Dabei sollten die Kinder möglichst traurige Gedanken haben.

    „Niemand hat behauptet, dass Träume weiser sind als die, die sie träumen", sagte Jule, als sie den Satz hörte.

    Die Kinder hielten sich an einander fest und im nächsten Augenblick standen sie vor der Holzhütte und rochen den würzigen Rauch, der um sie herum die Luft füllte. Irgendwo im Wald rief ein Kuckuck, über ihnen saß eine Amsel in einem Baum und sang so verzweifelt schön, dass Jule annahm, die Amsel sei der einzige Vogel hier und rufe schon seit hundert Jahren vergeblich nach einer Partnerin.

    Luca hatte vergessen, dass er von den Figuren des Traums nicht gesehen werden konnte, und schlich sich leise und geduckt zum Fenster der Hütte. Die Läden standen offen, das Fensterkreuz hielt eine dünne, milchige Scheibe. Genau hinter dem Glas saß eine alte Frau in einem mit Schnitzereien verzierten, braunen Schaukelstuhl und wippte gemächlich von vorne nach hinten. Sie blickte dem Jungen genau in die Augen. Luca sprang vor Schreck zur Seite."

    „Warum versteckst Du Dich?, ulkte seine Schwester, „außer mir kann Dich hier doch ohnehin niemand sehen.

    Luca ging zwei Schritte zur Seite und blickte erneut, nun aber seitlich versetzt, in den Raum, der karg und ärmlich eingerichtet war und nur ein paar abgenutzte Holzmöbel enthielt. Er erkannte ein Bett, eine Truhe, einen Tisch mit zwei Stühlen, den Schaukelstuhl und einen Ofen, der zum Kochen und Heizen diente, und an dem eine Pfanne, zwei Töpfe und eine Holztasse angehängt waren. Nein, die Augen der alten Frau waren ihm nicht gefolgt, sondern starrten weiterhin in die Richtung des Waldes. Durch die Scheibe hörte er das Knistern des Holzes im Ofen. Das Feuer schien nicht zu wärmen, denn die Frau trug mehrere Kleidungsstücke übereinander. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß, darunter lag der Anfang eines grauen Strickwerkes. Was es werden sollte, konnte Luca nicht erkennen, bisher war es nur ein kleiner, grauer Lappen.

    Wer mag nur einen so traurigen Traum geträumt haben, vielleicht die alte Frau selbst? Aber vielleicht würde ja gleich auch etwas Schönes passieren, vielleicht kam Mann von der Jagd herein oder ihre Tochter vom Feld und dann würde sie ihr sicher eine Tasse heißen Tee kochen und ihr von ihrem Tag berichten, davon, was sie fern der Hütte erlebt hatte und sie somit so am Leben außerhalb der Hütte teilhaben lassen, als ob sie dabei gewesen wäre.

    „Nun komm´ schon", rief Jule ihm zu.

    „Warte, lass´ mich noch ein wenig zuschauen, antwortete er. „Ich habe diese Schnitzereien auf dem Stuhl schon einmal gesehen, aber ich komme nicht mehr darauf, wo es war. Wildschweine, Hirsche, ein Jäger, seltsam.

    „Ich gehe voraus, hier geradeaus durch den Wald. Du weißt, wir haben keine Zeit. Lasse mich nicht so lange alleine, sonst hole ich das Buch ohne Dich."

    Der Wald war nicht sehr tief, denn Jule konnte durch ihn hindurch auf die dahinter liegende Wiese schauen und erkannte dort kleine rote und weiße Blumen. Nach wenigen Minuten hatte sie die Wiese erreicht. Schmetterlinge schwirrten um sie herum, sogar ein kleiner Admiral war dabei. Und dort war auch schon die Uhr. Das kreisrunde Gehäuse war in den Boden eingelassen, so dass das Ziffernblatt unterhalb der umgebenden Wiese lag. Etwa auf der Höhe der Grasspitzen kreisten die beiden gezahnten Metallklingen, die die Zeiger der Uhr darstellten. „Smm", machte der größere der Zeiger, während er sich einmal um die Achse drehte. Darunter drehte sich der Stundenzeiger weitaus langsamer. Und dort, gleich unter dem Stundenzeiger, lag ein großes, braunes Buch. Das musste es sein.

    „Man muss zwischen zwei Smms in die Uhr springen und sich sofort flach auf den Boden legen. Dann schafft man es", dachte Jule.

    „Niemand ist gekommen, die alte Frau ist immer noch alleine", rief Luca laut, als er neben ihr stand.

    Jule stockte der Atem.

    „Musst Du mich so erschrecken. Ich wäre ja fast gestorben, Du Blödmann."

    „´tschuldige, wollte ich nicht", säuselte Luca, aber seine Schwester glaubte ihm nicht.

    „Ich weiß, woher ich die Schnitzereien kenne. Die sind auch auf dem Krückstock von Herrn Fleischmann. Ganz sicher. Vor allem an das Wildschwein kann ich mich erinnern, aber auch an den Jäger. Das ist kein Zufall."

    „Lass´ uns später darüber nachdenken oder einfach Herrn Fleischmann fragen. Hier musst Du hinein. Zwischen zwei Smms. Aber Du darfst nicht einfach nach dem ersten Smm hineinspringen, sonst bist Du noch in der Luft, wenn das nächste Smm kommt."

    „Am besten springe ich kurz vor dem Smm, oder?"

    „Springe mal so weit, wie es von hier ins Gehäuse ist."

    Luca hüpfte an eine andere Stelle der Wiese, während Jule im Gleichklang zum Zeiger smm, smm, smm machte. Es stellte sich heraus, dass er etwas früher als angenommen hinter den Minutenzeiger springen musste, wenn er nicht von dessen nächster Umdrehung getroffen werden wollte. Gut, dass er den Sprung zuvor in der Wiese probiert hatte.

    „Bereit?"

    „Wenn das Abenteuer ruft, verschließe niemals Deine Ohren", ahmte Luca seinen Lieblingshelden Agent Cucumber nach, konzentrierte sich kurz auf das Smm, hüpfte mit gestreckten Beinen in das Gehäuse und rutschte auf den Rücken. Smm machte es über seinem Kopf. Er hatte es geschafft und streckte seine Arme nach dem Buch aus, das rechts neben ihm lag. Es war ein großer, mit Leder eingebundener Foliant aus einem früheren Jahrhundert, den er nahe an sich heranzog. Merkwürdig, dachte Luca. Warum hat Herr Fleischmann nicht einen leeren Block benutzt, sondern ein uraltes Buch? Und wo in aller Welt findet man ein uraltes Buch mit leeren Seiten?

    „Boah, ist das schwer, rief er zu seiner Schwester, als er das Buch auf seinen Bauch gezogen hatte. „Werfen kann ich es nicht, ich nehme es einfach so mit zurück, wenn ich an meinen Traum denke. Hoffentlich ist es nicht zu schwer und ich bleibe irgendwo stecken. Ich versuche es jetzt, in Ordnung?

    „Ja, ok, ich komme gleich nach. Mache Dir keine Sorgen, es dauert höchstens fünf Minuten."

    „Was machst Du denn noch?"

    „Ich möchte mir die Hütte einmal genauer ansehen".

    Als Luca kurz darauf aus dem Uhrengehäuse verschwunden war, ging Jule zurück zur Hütte und blickte durch das Fenster. Noch immer saß dort die alte Frau und wippte mit ihrem Schaukelstuhl. Sie war weiterhin alleine und hatte still zu weinen begonnen. Ab und zu griff sie sich nach dem grauen Wollknäuel, aus dem sie gerade etwas strickte, und wischte sich damit die Augen trocken.

    Jule konzentrierte sich auf den größten Wunsch, den sie hatte und von dem nicht einmal ihre Mutter etwas wusste, und im nächsten Augenblick war die alte Frau in der Traumblase wieder alleine.

    Das Buch der Träume

    Als Jule wieder zurück in der Therme war, hielt Herr Fleischmann das braune Buch auf seinem Schoß und blätterte es aufgeregt durch. Er schlug so schnell die jeweils nächste Seite auf, dass er nicht mehr als die Überschrift der einzelnen Seiten lesen konnte. Er lächelte.

    „Warum kommst Du erst jetzt? Ist etwas dazwischengekommen?"

    „Es ist Ihre Mutter, oder? Es ist Ihr eigener Traum und es ein Traum über Ihre Mutter."

    Herr Fleischmann wurde blass und nickte.

    „Wie hast Du das herausgefunden?"

    „Der Schaukelstuhl. Er trägt dieselben Schnitzereien wie Ihr Krückstock. Er musste von Ihnen stammen."

    „Du kombinierst gut, das muss ich wirklich sagen. Ich habe bereits in meiner Kindheit geschnitzt. Ich war immer recht geschickt mit dem Messer."

    Er schaute lange auf einen Punkt an der Wand, bevor er fortfuhr.

    „Nun, jedenfalls seht Ihr daran, zu welch perfiden Gemeinheiten Herr Adamek imstande ist. Er hat einen Zugang zu einem Traum gesucht, in dem ich nicht einfach losgehen und nach dem Buch suchen konnte. Ich habe hundertmal am Fenster der Hütte gestanden und habe tausendmal die Türe aufgemacht und mich neben meine Mutter gesetzt. Ich habe mit ihr gesprochen und habe versucht, sie zu trösten. Aber sie weinte immer weiter. Und immer bin ich darüber verzweifelt und wieder zurück hier in mein Haus gegangen, anstatt das Buch zu suchen. Irgendwann war ich stark genug, an der Hütte vorbeizugehen und in das Uhrengehäuse zu springen. Aber ich war unkonzentriert, weil ich an meine Mutter dachte. Ihr müsst wissen, dass sie schon lange nicht mehr lebt. Und wie es dann für mich mit der Uhr ausgegangen ist, wisst Ihr ja. Genau das hatte Adamek vorhergesehen und so blieb das Buch dort, wo er es hingeworfen hatte."

    „Oh, wie gemein, sagte Luca betroffen. Luca wusste so genau, wie es war, wenn man ein Elternteil vermisste. „Aber warum haben Sie uns das nicht gesagt?

    „Es war für Eure Mission nicht wichtig. Und außerdem: Hättest Du es mir erzählt, wenn es Deine Geschichte gewesen wäre?"

    Nein, Luca hätte es sicher niemandem auf der Welt erzählt und schwieg verlegen. Herr Fleischmann schaute erneut auf seine Uhr.

    „Lasst uns wieder nach oben gehen, es ist schon spät."

    Die Kinder folgten ihm, als er Schritt für Schritt, das verletzte Bein hinter sich herschleppend, die Treppe hinaufstieg. Als sie gerade die schwere Türe durchschritten hatten, hörten sie aus der Therme ein Geräusch. Zuerst ein Brausen, als ob ein starker Wind durch die Hallen wehte, dann ein Schlurfen. Herr Fleischmann schlug die Türe mit Gewalt zu und suchte hastig nach dem Schlüsselbund.

    „Hektor, hierhin", rief er und der große Hund, der sich gerade im Esszimmer auf den Boden gelegt hatte, richtete sich auf und trottete in den Vorraum.

    „Was war das für ein Geräusch?", fragte Jule, während Herr Fleischmann hektisch die Schlüssel ausprobierte. Endlich fand er den ersten passenden Schlüssel, das Schloss klackte und verriegelte die Türe.

    „Welches Geräusch? Ich habe nichts gehört."

    „Ich habe das auch gehört. Zuerst Wind und dann schlurfte etwas über den Boden."

    „Ach Kinder, das habt Ihr Euch eingebildet. Vielleicht ist ja auch einer der hinteren Räume der Therme weiter eingebrochen. Geht wieder. Ich habe keine Zeit mehr, ich muss mich jetzt um Herrn Adamek kümmern. Am besten geht Ihr jetzt."

    Die Kinder waren irritiert, als sie so unvermittelt vor die Tür gesetzt wurden.

    „Was sollte das denn?, fragte Jule ihren Bruder, als sie durch den Garten zur Straße gingen. „Zuerst ist er wahnsinnig nett und überredet uns dazu, ihm das Buch zu holen. Und jetzt schmeißt er uns raus.

    „Es hat etwas mit dem Geräusch im Keller zu tun. Erst, als wir gefragt haben, was das ist, hat er sich so seltsam verhalten. Und hast Du bemerkt, dass er Angst hatte? Er hat ja fast den Schlüssel nicht gefunden und Hektor gerufen, als ob er Schutz bräuchte. Außerdem hat er ständig auf die Uhr geschaut."

    In diesem Moment öffnete sich eines der Fenster des benachbarten Hauses. Frau Buglett hatte die Kinder gesehen und rief nach ihnen.

    „Guten Morgen, Kinder. Na, wieder unterwegs in Sachen der Gerechtigkeit? Wartet mal, ich komme herunter."

    „Es hat sich nichts verändert, oder?", raunte Luca zu seiner Schwester, „sie weiß immer

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