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DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE: DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT: Ein Kriminal-Roman
DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE: DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT: Ein Kriminal-Roman
DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE: DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT: Ein Kriminal-Roman
eBook327 Seiten4 Stunden

DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE: DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT: Ein Kriminal-Roman

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Über dieses E-Book

London, im Spätsommer 1965.
Henry Gilder, ein erblindeter Ex-Soldat, gerät eines Nachts ins Fadenkreuz ausländischer Geheimagenten, die bereits mehrere Morde in London und Portsmouth auf dem Gewissen haben. Nur mit knapper Not kann Gilder sich deren tödlichem Zugriff entziehen.
Chefinspektor Dick Alford von Scotland Yard erhält von Lord Fossaway, dem Leiter des Britischen Militärgeheimdienstes, den Auftrag, die Agenten aufzuspüren und weitere Morde zu verhindern...
 
 Mit dem Roman  Die Schritte in der Dunkelheit  veröffentlicht Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien  Ein Fall für Remigius Jungblut  und  Friesland , den sechsten Band seiner Roman-Reihe, die sich als Hommage an die Kriminal-Romane von Edgar Wallace (* 1. April 1875; † 10. Februar 1932), des Meisters der Hochspannung, sowie an die legendären Rialto-Filme der 1960er Jahre versteht. 
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum17. Apr. 2022
ISBN9783755412045
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    Buchvorschau

    DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE - Christian Dörge

    Das Buch

    London, im Spätsommer 1965.

    Henry Gilder, ein erblindeter Ex-Soldat, gerät eines Nachts ins Fadenkreuz ausländischer Geheimagenten, die bereits mehrere Morde in London und Portsmouth auf dem Gewissen haben. Nur mit knapper Not kann Gilder sich deren tödlichem Zugriff entziehen.

    Chefinspektor Dick Alford von Scotland Yard erhält von Lord Fossaway, dem Leiter des Britischen Militärgeheimdienstes, den Auftrag, die Agenten aufzuspüren und weitere Morde zu verhindern...

    Mit dem Roman Die Schritte in der Dunkelheit veröffentlicht Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland, den sechsten Band seiner Roman-Reihe, die sich als Hommage an die Kriminal-Romane von Edgar Wallace (* 1. April 1875; † 10. Februar 1932), des Meisters der Hochspannung, sowie an die legendären Rialto-Filme der 1960er Jahre versteht.

    Der Autor

    Christian Dörge, Jahrgang 1969.

    Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

    Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).

    Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung

    eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).

    1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

    Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).

    Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).

    Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.

    2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 2022 folgt eine neue Noir-Krimi-Serie um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck.

    DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT

    Die Hauptpersonen dieses Romans:

    Richard – genannt Dick – Alford: Chefinspektor bei Scotland Yard, der bekannteste Ermittler seiner Zeit. Wohlbeleibt, den Genüssen des Lebens zugeneigt (und mit einer tiefen Abneigung gegen das Treppensteigen gesegnet), ein kultivierter Mann in den 50ern von freundlichem Wesen und scharfem Verstand (und mit einem beachtlichen Schnurrbart).

    John Higgins: Sergeant bei Scotland Yard und Assistent von Dick Alford. 35 Jahre alt, passionierter Pfeifen-Raucher, ehrgeizig und mitunter impulsiv, aktiver Boxer und höchst kompetenter Kriminalist.

    Bryan Wesby: Sergeant bei Scotland Yard, zweiter Assistent von Dick Alford. 40 Jahre alt, hochgewachsen und hager. Ein pedantischer und ausgesprochen effektiver Ermittler, verschlossen und nicht eben gesellig (was auch an seiner Vorliebe für Zigarren liegen mag).

    Sir Archibald Morton: Chef von Scotland Yard und Vorgesetzter von Dick Alford. Durchaus kein hervorragender Kriminalist, pflegt er jedoch Kontakte in allerhöchste gesellschaftliche Kreise und hält große Stücke auf den Chefinspektor und dessen Fähigkeiten. Liebhaber der schönen Künste.

    Mark Bannister: Constable bei Scotland Yard, Spezialist für Tatort-Ermittlungen und Spurensicherung.

    Henry Gilder: ein blinder Ex-Soldat.

    Shirley Clyde: eine verführerisch schöne Schauspielerin.

    Julio Serra: ein ausländischer Geheimagent.

    Greg Westlake: Lieutenant bei der Britischen Marine.

    Raymond Milbourgh: ein Marine-Offizier.

    Layla Milbourgh: seine Frau.

    Jerome Milbourgh: sein Bruder.

    Terrence Beauregard: ein Artillerie-Offizier.

    Dieser Roman spielt im London des Jahres 1965.

      Erstes Kapitel

    Henry Gilder streckte den Arm aus, und seine Hand fand ohne weiteres den weißen Stock in dem Schirmständer. Er tastete seine Taschen ab, um sich zu vergewissern, dass er den Hausschlüssel eingesteckt hatte. Dann ging er durch den Flur auf die Etagentür zu.

    Seine Haushälterin kam aus der Küche. Ihr dickes, gutmütiges Gesicht war voll Sorge.

    »Wollen Sie wirklich noch ausgehen?«, fragte sie. »So spät abends? In einem Viertel, das Ihnen ganz fremd ist?«

    Er wandte ihr sein Gesicht mit den blinden Augen zu und lächelte, als belustige ihn ihre Besorgtheit.

    »Großer Gott, wir sind zwar aus einem Viertel in ein anderes gezogen, aber wir befinden uns immer noch in London. Und nicht irgendwo in Afrika. In Cricklewood gibt es keine wilden Tiere.«

    »Vielleicht doch.« Mechanisch wischte sie sich mit dem feuchten Lappen, den sie aus der Küche mitgebracht hafte, über die Hände.

    »Aber Francine! Seit mehr als zwanzig Jahren gehe ich nach dem Essen noch ein wenig aus und trinke ein Glas in einem Café. Ein Glas, vielleicht auch zwei, rauche ein wenig, schwatze ein wenig – soll ich darauf jetzt verzichten?«

    »Bisher wurden Sie von Ihren Freunden begleitet, und in Camden kannten Sie jeden Pflasterstein. Aber hier ist es etwas anderes. Vielleicht nicht...? Sie sollten sich lieber erst mal etwas eingewöhnen... mit dem abendlichen Spaziergang warten, bis Sie die mit der neuen Umgebung einigermaßen vertraut sind...«

    Er lachte und strich sich über den gepflegten Bart und Schnurrbart.

    »Großartig! Ausgezeichnet! Ich soll das neue Viertel kennenlernen und dabei zu Hause hocken! Wie habe ich Camden so genau kennengelernt? Sie sind köstlich, Francine!«

    Die Frau errötete. »Davon ist nicht die Rede. Sie hatten zuverlässige Freunde, wenigstens zu Anfang. Und dann gingen Sie auch bei Tage und nicht erst spät abends aus. Warten Sie einen Augenblick, bis ich mit dem Aufwaschen fertig bin, dann begleite ich Sie...«

    Er beugte sich jetzt vor, ließ den weißen Stock über den Teppich schleifen, streckte die linke Hand aus und streichelte ihre runzligen Wangen.

    »Liebe Francine! Ob Tag oder Nacht, das spielt für mich doch keine Rolle. Sie erwähnen meine Freunde. Tragen diese Freunde nicht auch den weißen Stock? Sie halten uns für hilflos. Habe ich Ihnen nicht längst das Gegenteil bewiesen? Zehn Jahre ist alles gutgegangen. Weshalb sollte es gerade heute schiefgehen?«

    Jetzt musste seine gute alte Haushälterin, wenn auch noch immer besorgt, lächeln. »Trotzdem«, sagte sie. »Bleiben Sie vor allem in der Nähe. Gehen Sie ins nächstgelegene anständige Café. Und trinken Sie nicht zu viel!«

    »Schon gut, alter Drachen.«

    Er drehte sich um und öffnete die Etagentür, bevor sie ihm behilflich sein konnte. Während der vierundzwanzig Stunden, die sie in der neuen Wohnung wohnten, hatte er die Tür kaum zwei- oder dreimal geöffnet, und doch stellte er sich jetzt so geschickt an, als wäre sie ihm längst vertraut.

    »Alter Drachen! Als wären wir verheiratet. Sie wollen mir nur wieder mal zeigen, wer der Herr im Hause ist.«

    Sie lächelte, wartete, bis er das Treppengeländer gefunden hatte und über die mit Läufern belegte Treppe nach unten ging.

    »Nicht mehr als zwei Glas«, flüsterte sie. »Und bitte gegen halb zwölf wieder zu Hause sein!«

    »Gönnen Sie mir doch mal ein bisschen Freiheit!«

    Er ahmte ihr Flüstern nach, dessen sie sich bediente, damit die Nachbarn ihre Ermahnungen nicht hörten. Er lachte. Als er dann lauter sprach, klang etwas wie Zuneigung in seiner Stimme.

    »Keine Sorge, Francine. Mir passiert schon nichts.«

    Er stieg die Treppe hinab und war bald Francines Blicken entschwunden.

    Francine schloss die Etagentür, kehrte in die Küche zurück, nahm ihre Arbeit wieder auf und summte dabei mit seltsam monotoner Stimme vor sich hin. Dann und wann unterbrach sie ihre Arbeit. Ihr Gesicht war wieder sehr ernst. Sie dachte nicht nur an die neue Umgebung und die damit verbundenen Gefahren für den Blinden. Noch vieles andere beschäftigte sie. Henry Gilder hatte die neue Wohnung von seinem kürzlich verstorbenen Vater geerbt. Mit dem Ableben des alten Herrn war schon lange zu rechnen gewesen, trotzdem hatte dieser Schlag den Sohn, der seinem Vater sehr zugetan war, schwer getroffen. Außerdem war dieser Juni-Tag besonders bedeutungsvoll: Vor vielen Jahren hatte Henry Gilder am gleichen Tage erfahren, dass seine Verwundung aus dem Zweiten Weltkrieg zur vollständigen Erblindung führen würde. Der jetzt fünfzigjährige Gilder hatte sich im Lauf der Zeit in sein Schicksal ergeben und andere Freuden gefunden, die ihm über den furchtbaren Verlust hinweghalfen. Aber sein Wesen war nicht ausgeglichen, und er musste seine fröhlichen Stunden mit Tagen tiefer Niedergeschlagenheit bezahlen. Sobald ihn die Depression überfiel, wuchs die Zahl der Getränke, die er im Café zu sich nahm. Dann huschten Geisterschatten toter Hoffnungen über sein blindes Gesicht, in das Sorge manche Furche gegraben hatte. Altes Leid wurde zusammen mit der Erinnerung an unerfüllt gebliebene Jugendträume wieder lebendig, und nur das schwere bernsteinfarbene Getränk bedeutete Trost für den, der sein Augenlicht verloren hat und der so sehr auf seine Mitmenschen angewiesen war.

    Eine Stunde später saß Henry Gilder auf der Terrasse eines Cafés. Vor ihm stand auf einem Untersatz ein Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Neben dem Glas häuften sich bereits mehrere derartige Untersätze, auf denen die Preise des Getränkes angeschrieben standen.

    Es war ein schöner, lauer Abend, einer jener Abende, an denen man mehr hört als sonst, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass kaltes Wetter den Schall besser leitet als warmes. Gern verbringt der Mensch solche Sommernächte im Freien, achtet dabei auf manches, das er üblicherweise nicht wahrnimmt. Seine Entspannung macht ihn aufnahmefähiger, und gern erinnert er sich später dessen, was er auf diese Weise erlebte. In dieser geistigen Bereitschaft befand sich der blinde Henry Gilder.

    Ein Omnibus kam um die Straßenecke und hielt, nach Henrys Berechnung, etwa fünfzig Meter entfernt. Es roch nach Benzin, eine Klingel schrillte, und der Omnibus fuhr geräuschvoll ab. Irgendwo, in einem Haus in der Nähe, übte jemand eine Chopin-Étude. In der schwachen Abendbrise raschelte es im Gezweig der Bäume. In der Nähe des Blinden plauderten und lachten Männer und Frauen. Jetzt wurden dem Kellner Bestellungen zugerufen, die er an der Theke drinnen im Café laut weitergab. Dann und wann kam ein verspäteter Zeitungsjunge ins Lokal, zwängte sich durch die Tischreihen und rief »Kaufen Sie die Abendausgabe der Times!« und wies mit heiserer Stimme auf irgendein absatzbelebendes politisches Ereignis hin. Ein Verkäufer von Erdnüssen legte eine Probe seiner Ware auf Henrys Tisch. Die weißen Finger des Blinden fanden die Nüsse und öffneten ihre dünne Schale. Ein Kellner spritzte Wasser aus einer Siphonflasche, um den angefeuchteten Staub an den Fußboden zu kleistern, und beschwerte sich dabei stöhnend über die Hitze.

    »Ich mag Hitze gern«, erwiderte lächelnd Henry. »Die Getränke schmecken dann besser. Was habe ich zu zahlen?«

    Der Kellner rechnete die Zahlen auf den Untersätzen zusammen und nannte respektvoll die Endsumme.

    »Bringen Sie mir noch eine Zwanzigerpackung Gold Leafs«, sagte Henry Gilder.

    Aber das war leider nicht möglich. Die Stimme des Kellners klang bedauernd, als er sagte, das Café verkaufe keine Tabakwaren. Aber nur vier Minuten weiter sei eine Café-Bar, die auch Zigaretten führe und bis spät nachts geöffnet sei. »Zweite Straße rechts und dann die erste Straße links...« Aber vielleicht wären die Schwierigkeiten für den Herrn zu groß. »Leider hat unser Café niemanden angestellt, der Sie begleiten könnte, aber ich will fragen, ob nicht jemand...«

    Henry stand auf und klopfte dem Kellner auf die Schulter. »Ich bin schon mit größeren Schwierigkeiten fertig geworden! Zweite rechts, erste links. Das ist weiter nicht schwer.«

    Er legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch und brach dann auf. Der Kellner bedankte sich überschwänglich.

    »Ich komme bald wieder«, sagte Henry zu ihm. »Ich wohne erst seit kurzem in diesem Teil der Stadt.«

    Munter schritt Henry Gilder los. Er hielt sich rechts, in der Nähe der Hauswände. Leute saßen noch vor den Haustüren, und die Fenster der Portiers-Logen waren weit geöffnet. In solchen Nächten denkt der Londoner nur ungern an sein Bett. Die Stadt erlebte ihre schönste Zeit, und nach einem etwas trostlosen Frühling wurde das beständige, warme Wetter mit Freude begrüßt.

    Während Henry durch die Straßen ging, summte er ein Lied vor sich hin, und es schien eigentlich unglaublich, dass er blind war. Der weiße Stock glitt an den Hauswänden entlang, tastete nach dem Bordstein, und fand die Metallknöpfe, die den Straßenübergang für Fußgänger markierten.

    »Zweite rechts«, sagte Henry vor sich hin. Er befand sich jetzt in einer stillen Straße, in der es keine Cafés zu geben schien. Auch aus den Häusern drang kein Laut. Henry roch Blütenduft, vernahm das Rauschen von Bäumen: Platanen und Kastanien. Er kannte das Rascheln der Platanen genau, die als die einzigen Bäume den Benzindünsten der Stadt zu widerstehen vermögen. Er fühlte, wie sein Fuß eine frühe Kastanie zertrat.

    Henry pfiff ein Lied, das er im Zweiten Weltkrieg gelernt hatte. Dann sang er leise den Text des Liedes: Es handelte von der Liebsten eines Soldaten, und seine Worte erinnerten ihn an die kleine Theresa, die ihn nicht nur das Lied, sondern auch manches andere gelehrt hatte.

    Wie nun weiter? Hatte der Kellner gesagt: erste oder zweite Straße links? Henry lächelte vor sich hin. Er hatte zu viel Scotch getrunken. Wahrscheinlich war es schon spät, und Francine würde ihn mit Vorwürfen empfangen. Einerlei. Nur ganz selten versetzte er sie wirklich in Sorge. Und Francine würde auch diesmal wieder Verständnis für ihn haben.

    Henry lächelte wieder. Irgendwo in der Nähe unter den Bäumen hörte er Liebesgeflüster. Gern hätte er nach dem Weg gefragt, denn er fühlte, dass er die Orientierung verloren hatte. Aber er wollte das Pärchen nicht stören. Sie sollten sich liebhaben – Unheil kommt ohnehin bald genug –, sich ewige Treue schwören und Herzen, die ein Pfeil durchbohrte, in die Baumrinden schneiden, die sich dann eines Tages lösten und verfielen.

    Henry seufzte. Auch er hatte einmal geliebt. Als Soldat hatte er...

    Er stolperte leicht. Der glatte Asphalt wurde von Kopfpflaster unterbrochen. Vielleicht war es die Auffahrt zu einem Haus. Einem großen Haus mit weitem Garten. Denn eine ganze Strecke lang fühlte sein weißer Stock kein Tor, sondern nur glatte Mauer, über die blühende Baumzweige hingen, deren Duft ihm der leichte Wind zutrug.

    Es war ein herrlicher Nachtspaziergang... Der Kellner hatte von vier Minuten Wegs gesprochen, aber Henry kam es vor, als sei er schon mindestens eine Viertelstunde durch eine gewundene Allee gegangen. Ja, er hatte die Orientierung verloren, und das ärgerte ihn. Francine würde sicher ihre Scherze machen. Natürlich hatte der Scotch schuld daran. Aber was das angeht...

    Henry blieb stehen und lauschte. Tiefe Stille, keine Schritte. Der Lärm des Londoner Verkehrs, der in Wirklichkeit niemals verstummt, schien auf ein Minimum reduziert. Alles ein wenig gespenstisch. Ganz anders als in Camden mit seinen belebten Straßen. Francine war mit dem Wohnungswechsel sehr einverstanden gewesen. In der Nähe des Gladstone Parks! Waldluft und wie auf dem Land. Das hatte sie sich schon immer gewünscht; so genossen sie die Vorteile von Stadt und Land.

    Henrys Gesicht wurde ernst. Vielleicht waren die zentralen, dicht bewohnten Viertel für einen Blinden doch sicherer. Seltsam, wie still und leer die Straße war, in der er sich befand. Der Wind wehte stärker, das Rauschen der Bäume nahm zu, und die Nachtluft wurde kühler.

    Zweifellos war die Straße breit, mit prächtigen Gebäuden in großen Gärten, die für eine Stadt wie London einen unerhörten Luxus darstellten.

    Henry ging weiter. Früher oder später würde er schon jemandem begegnen. Einem Diener aus einem der Häuser, der noch schnell einen Brief in den Kasten brachte. Einem Café-Kellner, der von seiner Arbeit nach Hause ging; oder einem Polizisten, der seine nächtliche Runde machte. Vielleicht war es doch sicherer, ein Taxi zu nehmen, wenn eine derartige Heimkehr für ihn auch etwas Demütigendes hatte. Aber er konnte ja vorher aussteigen, so dass Francine nichts merkte. Der Fahrer konnte ihm dann auch die Zigaretten besorgen. Henry lächelte wieder. Ja, es war genauso, als wäre er verheiratet, ein Ehemann, der unter dem Pantoffel steht. Er wusste, dass Francine manch scharfes Wort finden würde – aus lauter Sorge um ihn.

    Es musste längst Mitternacht, wenn nicht noch später sein. Und dabei hatte er Francine versprochen, um halb zwölf wieder zu Hause zu sein. Geradezu schamlos, dass er sich derart verspätete. Seine Überlegungen sprachen dafür, dass er inzwischen wieder nüchtern geworden war. – Ja, es war höchste Zeit, dass er ins Bett kam.

    Während Henry zu diesem etwas sarkastischen, aber durchaus vernünftigen Schluss kam, vernahm er in seiner Nähe ein Geräusch, das sich deutlich von dem Rauschen der Bäume und Büsche und dem fernen Stadtlärm unterschied. Ein Flüstern oder Murmeln, das aber mit heimlichem Liebesgeflüster nichts gemein hatte. Dann metallisches Klirren und das Knarren eines Tores, das sich rechts von Henry befand.

    Der Blinde blieb stehen. Sein Gesicht zeigte die Freude eines Menschen, der das Ende einer Situation vor sich sieht, die schon mehr als unangenehm zu werden droht. Sicher kam der Diener eines der großen Häuser durch die Gartentür. Erleichtert ging er auf das Geräusch zu. Aber schon im nächsten Augenblick blieb er wieder stehen, als er den keuchenden Atem des Mannes am Tor vernahm. Der Mann schien erschrocken, schien plötzlich Angst zu haben. Weshalb sollte aber ein Diener vor einem harmlosen Spaziergänger Angst haben? Vielleicht nur als Folge der unerwarteten Begegnung in der dunklen stillen Straße. Henry schmunzelte: Vielleicht schaffte der Mann heimlich allerlei aus dem Haus seiner reichen Herrschaft. Etwa der Koch, der bedenkenlos diverse Lebensmittel verschwinden lassen wollte.

    Aber schon im nächsten Augenblick erkannte Henry, dass seine Vermutungen falsch waren, denn die Angst des Mannes am Tor schien plötzlich geschwunden. Dem keuchenden Atem folgte ein italienischer Fluch. Henry, der die italienische Sprache gut beherrschte, bezweifelte, einen herrschaftlichen Diener vor sich zu haben. Eine Sekunde später pachte eine Hand hart seinen linken Arm und riss ihn vorwärts, so dass er beinahe gestürzt wäre. Sein Gesicht streifte dabei die Zweige eines Lorbeerbusches. Er hörte, wie hinter ihm die Gartentür ins Schloss fiel.

    »Du verfluchter Spion«, sagte der Mann auf Italienisch. »Keinen Laut! Lass dich mal näher anschauen.«

    Etwas Kaltes und Hartes wurde Henry gegen den Magen gepresst. Er wusste, dass es eine Pistole war.

    Henry Gilder rührte sich nicht. Er war von Natur aus klug, geschickt und von schneller Auffassungsgabe. Seine Erblindung hatte diese Gaben nicht vermindert, sondern in den vergangenen zehn Jahren derart gesteigert, dass seine geistige Konzentration und seine Beweglichkeit Sehenden geradezu übernatürlich erschienen. Des Augenlichts beraubt, war Henry ganz auf seine anderen Sinne und sein Vorstellungsvermögen angewiesen, die ihn das ihm Unsichtbare sehen ließen. Anstatt Bücher zu lesen, Filme zu sehen und so das Erleben anderer in sich aufzunehmen, war Henry im Lauf der Zeit ein leidenschaftlicher Hörer geworden. Hätte er Shakespeares König Lear lesen können, wäre das Sieh mit deinen Ohren! sein Lieblingszitat geworden. Im Besitz jenes inneren Auges, das die Wonne der Einsamkeit ist, wurde Henry ein besonders scharfer Beobachter, dem auch nicht das geringste verborgen blieb: nicht die geringste Spur von Unaufrichtigkeit, Prahlerei, Unbehagen, Ungläubigkeit, Selbstgefälligkeit oder eines anderen Seelenzustandes, den man beim Sprechen so gern verheimlichen möchte. Mancher von Henrys Bekannten wäre erstaunt gewesen, hätte er gewusst, welch ein vorzüglicher Beobachter dieser Blinde war.

    Obwohl er die Mündung der Pistole an seinem Bauch fühlte, verlor Henry nicht die Fassung, und er hatte bereits eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Mann, in dessen Gewalt er sich befand: ein gemeiner, brutaler Kerl, der Ausdrücke gebrauchte, wie sie nur dem Abschaum der Menschheit geläufig waren. Vielleicht ein Verrückter und, wie die meisten Verrückten, zweifellos gefährlich. Jedenfalls klang seine Stimme gemein, und der Revolver sagte mehr als alle Worte. Der Kerl gehörte sicher zu jenen Menschen, die Probleme lieber mit dem Revolver als mit Worten lösen. Der linken Hand, die Henrys Arm umklammerte, fehlte der kleine Finger. Der Mann sprach von Spionieren. Er sprach Italienisch. Es war also vernünftig, dass Henry seine italienischen Sprachkenntnisse, die den anderen in seinem Verdacht des Nachspionierens bestärkt hätten, für sich behielt.

    »Was wollen Sie von mir?«, fragte er daher auf Englisch, mit vor Angst bebender Stimme. In Wirklichkeit hatte Henry keine Angst. Erstens war ihm dieses Gefühl von Natur aus fremd, und zweitens war für ihn das Leben nicht so wertvoll, dass er besonders an ihm gehangen hätte. Dennoch spielte er den Ängstlichen. Die Plötzlichkeit des Geschehens, die Mündung der Pistole an seinem Bauch, der keuchende Atem des anderen, der ihm ins Gesicht wehte, der harte Griff um seinen Arm erleichterten ihm sein Verhalten.

    »Bist du Engländer? Für wen arbeitest du? Die Regierung? Antworte, solange du noch kannst.« Der Mann sprach immer noch Italienisch.

    Henry befürchtete jetzt, er könnte getötet werden, ehe er sich noch gegen die absurde Beschuldigung des anderen gewehrt hatte. Hatte man hier mit einem Spion, mit irgendwem gerechnet, der dieses Haus heimlich beobachtete? Henry hätte am liebsten Italienisch erwidert: Ich bin blind. Können Blinde spionieren? Aber irgendetwas sagte ihm, seine italienischen Sprachkenntnisse könnten ihm gefährlich werden. Er hob also nur, als er wieder sprach, den weißen Stock, und seine Worte klangen wie die eines Menschen, der vor Angst nicht aus noch ein weiß.

    »Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie bitte Englisch. Ich verstehe kein Wort. Ich bin blind.«

    Wieder fluchte der andere, und der Druck der Pistole gegen Henrys Bauch wurde stärker.

    »Halt die Schnauze! Lass dich mal näher betrachten«, erwiderte der Mann in gebrochenem Englisch.

    Die Hand ließ Henrys Arm los. Der Italiener griff in die Tasche. Henry hörte ein leichtes Klicken. Für einen kurzen Augenblick fiel das Licht einer Taschenlampe auf sein Gesicht und glitt an seinem Körper entlang. Dann erlosch das Licht wieder.

    »Ich bin blind«, wiederholte Henry. »Was wollen Sie von mir?« »Warte ab. Vielleicht bist du nicht blind. Einen weißen Stock kann jeder haben. Komm mit zum Chef.«

    Die Pistole immer noch gegen den Bauch seines Gefangenen drückend, drehte der Italiener sich um und führte Henry über einen Kiesweg, den Lorbeerbüsche einfassten, deren Zweige Henrys Gesicht streiften. Der Blinde war inzwischen vollständig nüchtern geworden, und seine Sinne waren aufs höchste angespannt. Die Bewohner des Hauses waren ohne Zweifel Verbrecher. Harmlose, unbescholtene Bürger

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