Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Didaktik und Situationen (E-Book): Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung
Didaktik und Situationen (E-Book): Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung
Didaktik und Situationen (E-Book): Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung
Ebook566 pages5 hours

Didaktik und Situationen (E-Book): Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.

50 Jahre Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB:

Eine lange Zeit, in der die Didaktik der Berufsbildung in der Schweiz gereift ist – und Anlass für einen Jubiläumsband. Erstmals werden die aus den Erfahrungen hervorgegangenen Ansätze und Modelle versammelt, in theoretischer Hinsicht begründet und aus der Perspektive verschiedener Lernkontexte diskutiert. Dabei werden die pädagogisch-didaktischen Traditionen aller Landesteile und Sprachregionen der Schweiz gewürdigt.
LanguageDeutsch
Publisherhep verlag
Release dateMay 1, 2022
ISBN9783035520187
Didaktik und Situationen (E-Book): Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung

Related to Didaktik und Situationen (E-Book)

Related ebooks

Teaching Methods & Materials For You

View More

Related articles

Reviews for Didaktik und Situationen (E-Book)

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Didaktik und Situationen (E-Book) - Gianni Ghisla

    Vorwort

    Neue Horizonte für den Dialog zwischen Schule und Betrieb

    Ihre beinahe 150-jährige Geschichte zeugt vom bemerkenswerten Erfolg unserer dualen Berufsbildung. Das Sprichwort «Aller guten Dinge sind drei» zeigt sich dabei in bester Manier: Die drei Lernorte Betrieb, Schule und überbetriebliche Kurse sind die Eckpfeiler unserer Berufsbildung. Das einzigartige Dreigespann in Form der Verbundpartnerschaft zwischen Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt bietet zudem seit je Gewähr für eine qualitativ hochstehende und bedürfnisgerechte Ausbildung.

    Auch in Zeiten einer weltweiten Pandemie hat sich unser Berufsbildungssystem als äusserst resilient erwiesen. Aber dieser Erfolg, der auch im Ausland auf Resonanz stösst, ist nicht in Stein gemeisselt. Er bedarf der kritischen Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, unsere Berufsbildung immer wieder neu anzupassen. Das vorliegende Buch zur Didaktik erscheint anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB – vormals Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP – und steht beispielhaft dafür.

    Es vermag neue Horizonte für den so wichtigen Dialog zwischen Schule und Betrieb zu zeigen. Nur mit einer fundierten und gegenseitig akzeptierten Zusammenarbeit zwischen Schulen und Ausbildungsbetrieben kann der Erfolg der dualen Berufsbildung weiterhin gesichert werden. Das Buch vereint erstmals Beiträge und Erfahrungen aus der italienischen, der französischen und der deutschsprachigen Schweiz. Aus dem Dialog der Kulturen geht ein unersetzliches Kapital für unser Land hervor, das in Zukunft noch intensiver genutzt werden sollte. Das ist ein Wunsch, den ich gerne an alle Akteurinnen und Akteure in der Berufsbildung weitergebe.

    Bundesrat Guy Parmelin

    Vorsteher Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF

    Ein Beitrag zu einem lebendigen Berufsbildungsdiskurs

    Als im Jahr 1972 die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung als Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP gegründet wurde, herrschte eine Zeit des kulturellen und bildungspolitischen Umbruchs, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der schweizerischen Schullandschaft geführt hat. 1973 scheiterte zwar ein Verfassungsartikel für eine stärker national geprägte Bildung äusserst knapp am Ständemehr, die Berufsbildung konnte sich jedoch mit ihrer nationalen Identität in den darauffolgenden Jahrzehnten auf Kurs halten. Auch als gegen Ende des Jahrhunderts politische Stimmen laut wurden, die ihre Kantonalisierung forderten.

    Heute, in einer Zeit mit noch radikaleren, ja epochalen Umbrüchen, bewährt sich die duale Berufsbildung mit ihren ursprünglichen Stärken. Sie ist geprägt von den Eigenheiten unseres viersprachigen Landes und dem Engagement vieler Berufsleute. Weit davon entfernt, grundsätzlich in Frage gestellt zu werden, gilt die Berufsbildung als Garantin für eine qualitativ hochstehende Ausbildung der jungen Generationen und trägt zugleich auch zur sozialen Stabilität und zu einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes bei.

    Voraussetzung dafür ist jedoch die Fähigkeit, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, in der Aus- und Fortbildung der Berufsbildungsverantwortlichen ebenso wie in der Berufsbildungsforschung. Mit dem vorliegenden Band, der sich umfassend mit aktuellen Fragen der Didaktik beschäftigt, bestätigt die EHB ihre diesbezügliche Rolle, die sie seit nunmehr 50 Jahren wahrnimmt. Der Band zeugt von jener intellektuellen und praktischen Lebendigkeit, die für den Diskurs über die Zukunft der Berufsbildung in der Schweiz von zentraler Bedeutung ist.

    Adrian Wüthrich

    Präsident EHB-Rat

    Ein starkes Modell für eine situationsorientierte Vernetzung

    50 Jahre Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB stehen für die Vielfalt, wie sie für die Schweiz typisch und identitätsstiftend ist. Es ist die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Traditionen, die sich auch in der Bildung zeigt. Das Bewusstsein, dass diese Vielfalt der sorgsamen Pflege bedarf, um sich entfalten und Früchte tragen zu können, gehört seit Anbeginn zum Selbstverständnis der EHB, die vor 50 Jahren als Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP entstanden ist.

    Angesprochen sind dabei nicht nur die konstruktiven Diskussionen zwischen den Mitarbeitenden unserer drei Standorte in Lugano, Lausanne und Zollikofen, sondern auch der Dialog zwischen Forschung, Lehre und Praxis der Berufsbildung, den die EHB fördert. Daraus können neue, für die Berufsbildung vielversprechende Lösungen erwartet werden, sowohl was die Verbindung der Lernorte als auch was den Ausgleich unterschiedlicher Interessen betrifft.

    Der vorliegende Sammelband widerspiegelt diese Haltung. Er stellt eine Didaktik vor, die aus der Perspektive der drei pädagogischen Kulturen des Landes konzipiert wurde und ein starkes Modell für eine situationsorientierte Vernetzung zwischen Schule und Arbeitswelt bietet. Dass sich diese Didaktik gegenüber den Ansprüchen der Praxis und der Erfahrung öffnet, ohne dabei die zentrale Bedeutung des tradierten, wissenschaftlich fundierten und sich stetig weiterentwickelnden Fachwissens zu vernachlässigen, erweist sich als entscheidender Vorteil. So profitieren die Berufsbildungsverantwortlichen, die wir an der EHB aus- und weiterbilden, seit vielen Jahren von diesem in unseren Ausbildungskonzepten integrierten situationsdidaktischen Ansatz.

    «Didaktik und Situationen»: Dieser Titel steht sinnbildlich für eine konzeptionelle Vernetzung zwischen Hochschule und Praxis der Berufsbildung. Ein starkes Modell für eine Zukunft, die sich nur gemeinsam gestalten lässt.

    Dr. Barbara Fontanellaz

    Direktorin EHB

    Hinweise

    Dank

    Dieser Sammelband erscheint aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB), die 1972 als Schweizerischer Institut für Berufspädagogik (SIBP) gegründet wurde. Die darin vereinigten Beiträge sind Ausdruck einer Tradition und einer individuellen und kollektiven Schaffenskraft, die sich der Berufsbildung in allen Landesteilen verpflichtet fühlt. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die verantwortungsvoll, mit kreativem Geist und in Zusammenarbeit mit den angehenden Lehrkräften während fünf Jahrzehnten ihren Beitrag geleistet und so, direkt oder indirekt, die Grundlage für die Texte dieses Buches geschaffen haben, sind die Herausgeber zu tiefem Dank verpflichtet. Aber ohne den grossen Effort der Autorinnen und Autoren wäre die Publikation nicht möglich gewesen. Ihnen gebührt eine besondere Anerkennung.

    Respektvolle Sprache

    Bei der Verfassung der Texte dieses Sammelbandes haben wir uns um eine Sprache bemüht, die klar, verständlich, gut lesbar und zugleich ausdrücklich respektvoll und geschlechtergerecht ist. Die Autorinnen und Autoren haben dabei frei und eigenverantwortlich die als angemessen betrachteten Sprachformen verwendet.

    Bildernachweis

    Die Illustrationen in diesem Buch stammen aus Grafik- und Fotowettbewerben für das EHB-Magazin «skilled». Sie wurden von angehenden Grafikern/Grafikerinnen und Fotografen/Fotografinnen im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Walliser Schule für Gestaltung ECAV in Siders («skilled» 2/18), der Schule für Gestaltung Zürich (1/19), des Centre d’enseignement professionnel in Vevey (2/20) und der Schule für Gestaltung Basel (1/21) erstellt. Das nachbearbeitete Umschlagbild ist von Farin Woelfert («skilled» 1/21 Zukunft).

    Ergänzende Online-Publikation

    Zur Ergänzung des vorliegenden Bandes sind einige zusätzliche, thematisch einschlägige Beiträge in einer Online-Publikation enthalten und unter folgendem Link verfügbar: www.ehb.swiss/didaktik-und-situationen.

    Einführung

    Gianni Ghisla, Elena Boldrini, Christophe Gremion, Fabio Merlini & Emanuel Wüthrich

    Zum Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik

    1

    Grundgedanken

    Die Didaktik der Berufsbildung – in der Schweiz wie auf internationaler Ebene – zeichnet sich durch eine besondere Mannigfaltigkeit aus, ob man sie aus der Perspektive der Unterrichtspraxis oder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung betrachtet. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben mit strukturell-systemischen Faktoren genauso zu tun, wie mit den sich schnell verändernden Anforderungen der Gesellschaft, mit den innovativen Bestrebungen der berufspädagogischen Diskussion der letzten Jahre und, spezifisch für die Schweiz, mit der Diversität der regionalen und institutionellen Bedingungen.

    Die moderne Berufsbildung in Europa entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert in zwei Hauptrichtungen: Im deutschsprachigen Raum und teilweise in den nördlichen Ländern vertraute man auf die Aufgabenteilung zwischen schulischer und betrieblicher Ausbildung, während sich in Ländern wie Frankreich oder Italien, die das Zunftwesen radikaler abgeschafft haben, institutionalisierte Ausbildungsformen etablierten, insbesondere an Technikschulen. Innerhalb dieser zwei Hauptsysteme entfalteten sich jedoch verschiedene, landesspezifische Traditionen, so auch in der Schweiz, wo man noch in den 1970er-Jahren mit der Einführung der sogenannten «überbetrieblichen Kurse» das duale zu einem trialen System erweiterte. Mit der Gründung der Europäischen Union wurden jedoch dem freien Lauf beruflicher Bildungsvielfalt zunehmend Grenzen gesetzt. So versuchte man in den letzten Jahrzehnten z.B. mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), zumindest gemeinsame Rahmenbedingungen zu schaffen, um damit die Mobilität und Durchlässigkeit auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu verbessern.

    Die Heterogenität der Systeme geht einher mit der zunehmenden Varietät beruflicher Tätigkeiten und ihrer spezifischen Anforderungen. Parallel dazu, aber auch als unmittelbarer Ausdruck davon, haben sich die gesellschaftlichen Ansprüche rasant ausgeweitet: Die abnehmende Halbwertszeit des tradierten Wissens stellt auch die Berufsbildung vor grosse Herausforderungen, ebenso die zunehmende Mobilität und das damit verbundene Bedürfnis nach lebenslangem Lernen. Darüber hinaus haben die alles erfassende Digitalisierung und der dringende Ruf nach ökologisch verantwortungsvollen Lebensformen zusätzliche Spannungen erzeugt, was, neben der Bewältigung der vielen sozialen Probleme, die Vorbereitung der jungen Generationen auf eine Zukunft anmahnt, die neue Horizonte eröffnet und sozusagen neu zu erfinden ist.

    Zur Vielfalt der schweizerischen Berufsbildungslandschaft tragen, wie angedeutet, die föderalistische Struktur der Institutionen und der Verwaltung sowie die Multikulturalität bei. Im Gegensatz zu allen anderen Bildungsbereichen wird die Berufsbildung unter der Federführung des Staatssekretariats für Bildung Forschung und Innovation (SBFI) vom Bund gesteuert. Da dies im Rahmen einer Partnerschaft mit den Kantonen und der Arbeitswelt erfolgt, verfügen die wichtigsten Player über bedeutsame Freiräume in der konkreten Umsetzung der normativen Vorgaben. Auch die Impulse zur Forschung und Entwicklung gehen hauptsächlich vom SBFI aus, doch beanspruchen Universitäten, pädagogische Hochschulen und Kantone aufgrund einer langen Tradition einen Teil der Initiative und der Entscheidungshoheit, u.a. hinsichtlich der didaktischen Ausbildung der Berufsbildungsverantwortlichen. Nicht zu unterschätzen ist schliesslich der Einfluss der jeweiligen Bezugskulturen der drei sprachlichen Hauptregionen. So konkurrenziert in der italienischen und französischen Schweiz die vollschulische Berufsbildung seit je das duale Modell, und in allen drei Regionen hinterlassen das spezifische kulturelle und pädagogische Erbe sowie die Schultradition in der beruflichen Bildung deutliche Spuren.

    Diese national wie international von den objektiven Systembedingungen abhängige Wirklichkeitsvielfalt mit ihren neuen Anforderungen hat die Pädagogik und Didaktik beruflicher Bildung in den letzten Jahrzehnten nicht untätig gelassen. Der breitgefächerte Gegenstandsbereich und die sich ausdifferenzierenden Wirkungsfelder wurden mit neuen Ideen und einem neuen Begriffsinstrumentarium angegangen. Solche Erneuerungen hängen auch mit dem wachsenden Interesse für die Berufsbildung zusammen, das sich, im Vergleich zu den Reformbestrebungen der Volks- und allgemeinbildenden Schule, erst ab den 1980er-Jahren zeigte.

    Wie Ghisla in seinem Beitrag in diesem Band kontextualisierend darstellt, führte diese Entwicklung zu einer Art Revival der Pädagogik und Didaktik der beruflichen Bildung, besonders auffallend im deutschsprachigen Raum und in Frankreich – weniger in Italien. Kaum zu unterschätzen ist aber auch das im angelsächsischen Raum aufkeimende Interesse, das von Leumann und Scharnhorst mit Bezug auf die deutschsprachige Diskussion dokumentiert wird. Vor diesem Hintergrund hat sich die pädagogisch-didaktische Diskussion anfangs der 1990er-Jahre in der Schweiz stärker zurückgemeldet. Dazu beigetragen hat auch der Umstand, dass die Option einer Kantonalisierung der Berufsbildung auf dem politischen Parkett abgewendet wurde und der Bund seine Initiative u.a. auf der Basis des neuen Berufsbildungsgesetzes stark intensivierte. Frühere, die Pragmatik des Unterrichts privilegierende Ansätze wurden zwar fortgeführt, aber man hat sich nachdrücklich in die Erneuerung des berufspädagogischen und -didaktischen Gedankenguts eingebracht und Ideen und Tendenzen aus der internationalen Diskussion aufgenommen (vgl. Ghisla sowie Maubant & Gremion). So wurden auch hierzulande Antworten auf die aktuellen Anforderungen gesucht, was sich relativ rasch auf der curricularen Makrobene der Steuerungsinstrumente zeigte, vorab der Berufsbildungsverordnungen und der Bildungspläne. Im Anschluss daran wurde aber auch die Mikroebene der didaktischen Gestaltung der Unterrichtsaktivitäten tangiert.

    Die Rolle der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) in diesem Prozess war, neben anderen Playern, massgebend. Einerseits haben dabei die Denk- und Handlungsmuster der deutschsprachigen Tradition das Wirken der EHB (und des SBFI) entscheidend geprägt. Andererseits wurde die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik auch durch die Identität der EHB als nationale Institution von den italienischen und französischen Kulturkomponenten beeinflusst.

    Zum Selbstverständnis der Didaktik der Berufsbildung

    Die Vielfalt der Berufsbildungswelt führt zur berechtigten Frage, «ob sich überhaupt eine Didaktik beruflicher Bildung bestimmen lässt oder ob dies nur noch aus dem Kontext der Berufsbildungstheorie vertretbar wäre» (Tramm et al. 2018, 5). Offensichtlich strebt die Berufsbildungsdidaktik aber nach einem neuen Selbstverständnis, sowohl in Bezug auf ihre disparaten Wirkungsfelder als auch auf ihre Positionierung im wissenschaftlich-akademischen Kontext. Die verschiedenen Orientierungen und Ansätze, die in den letzten Jahrzehnten die Auseinandersetzung belebten, zeugen von einer kreativen Dynamik, machen aber die Suche nach einem gemeinsamen Kern des didaktischen Denkens und Handelns weder leichter noch zielstrebiger. Auf jeden Fall muss das erneuerte Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik an den «Perspektiven und Grundpositionen einer zukunftsfähigen berufsdidaktischen Forschung und Praxis» (ibid.) gemessen werden. Die Texte in diesem Band verstehen sich auch als Beitrag in diese Richtung, obwohl sie eher spontan aus einem doppelten Erfahrungshintergrund hervorgegangen sind: Zum einen die intensive Arbeit, die sowohl konzeptionell als auch operativ in der Begleitung von zahlreichen Projekten zur Revision der Bildungspläne und der Bildungsverordnungen geleistet wurde; zum anderen die Neugestaltung der Ausbildung von Lehrkräften und Berufsbildner/innen, wofür die EHB schweizweit die Hauptverantwortung trägt. [1]

    Dank – oder vielleicht auch trotz – diesen Bedingungen gehen die Texte des Sammelbandes auf die Vielfalt der didaktischen Kontexte in der Berufsbildung ein und profilieren sich zugleich durch kohärente Grundmuster und Zielsetzungen des berufsbildnerischen Denkens und Handelns. Um ihre Einordnung zu ermöglichen, ist es sinnvoll, vorerst die grundlegende Unterscheidung zwischen der pädagogischen, der curricularen und der didaktischen Ebene in Erinnerung zu rufen, wobei letztere auch als Makro- und Mikrodidaktik bezeichnet werden.

    Auf den pädagogischen Diskurs sei hier nur deshalb hingewiesen, weil er im deutschsprachigen Raum den eigentlichen Hintergrund mit den Prinzipien, Werten und Orientierungen bildet, worauf sich Curricula und Didaktik beziehen (vgl. Ghisla), während er in der französischsprachigen Tradition direkt in die didaktische Ebene hineinreicht.

    Die Hauptfunktion der curricularen Ebene ist die Steuerung des Systems. Somit gehört sie zum Zuständigkeitsbereich politisch-institutioneller und administrativer Entscheidungen. Auch dank den Impulsen aus diesem Bereich waren Berufsbildungscurricula ab den 1990er-Jahren einem eindrücklichen Paradigmenwechsel unterworfen: Die tradierten fachorientierten Lehrpläne, die in Europa einen Teil der typischen Input-Steuerung der Schule ausmachten, wurden zugunsten von kompetenz- und handlungsfeldorientierten Bildungsplänen aufgegeben, die eine stärkere Ouput-Logik favorisierten. Die damit verbundene Zielsetzung, die Lernenden möglichst vom sogenannten trägen Wissen zu befreien, um sie mit praxisnahen und verwertbaren Kompetenzen auszustatten, wird in verschiedenen Beiträgen diskutiert (Boldrini & Cattaneo; Ghisla; Schmuki). Der Paradigmenwechsel ist aber auch deshalb besonders wichtig, weil damit die Herausforderung verbunden ist, die Unterschätzung der zentralen Bedeutung des tradierten Fachwissens zu vermeiden. Denn nur die funktionale und flexible Integration des wissenschaftlich fundierten Wissens in das situativ, auf die Bedürfnisse der Praxis ausgerichtete Wissen ermöglicht eine umfassende und erfolgreiche Berufsbildung.

    Es ist unmittelbar einsichtig, dass sich diese curriculare Herausforderung auch stark auf die didaktische Mikroebene auswirkt, zumal ein verbreiteter Konsens darüber besteht, das curriculare Instrumentarium – v. a. Bildungsverordnungen und Bildungspläne – als einen Brückenpfeiler zwischen der betrieblichen Praxis und der schulischen Ausbildung zu betrachten. Die Fähigkeit, die Grenzen zwischen der Schule und dem Arbeitsplatz zu überwinden, ist daher eine wesentliche Komponente der Identität der Berufsbildungsdidaktik.

    Die zwei Begriffe Kompetenz und Handlung haben als kontinuierlich präsente Trendsetzer zum geschilderten Paradigmenwechsel beigetragen.

    Zur Kompetenz- und Handlungsorientierung

    Unabhängig von der Vielfalt der Berufsbildung sind beide Begriffe Zeugen eines Zeitgeistes, der sich spätestens in den 1990er-Jahren in der beruflichen Bildung durchzusetzen begann. Sie standen von Anfang an für jene gesellschaftliche Entwicklungen, die sich im Vorwurf gegenüber der tradierten (Berufs-)Bildung verdichteten, sie sei in der Vermittlung von trägem Wissen gefangen und nicht imstande, die duale Spaltung zwischen Schule und Arbeitswelt (Lebenswelt) zu überwinden. Auf diesem fruchtbaren Boden entstanden pragmatische Reformvorstellungen, wonach die Berufsbildung klar auf die Unterweisung unmittelbar verwertbarer Kompetenzen auszurichten sei. Mit anderen Worten: Es müsse eine neue Art der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis angestrebt werden, die den Akzent auf die Praxis und die Output-Orientierung lege. Zwar wurde versucht, die individuellen und allgemeinen gesellschaftlichen Ansprüche nicht aufzugeben, in Deutschland etwa mit der Betonung der Persönlichkeitsentwicklung gemäss der humanistischen Bildungstradition oder in der Schweiz mit der Erneuerung der sogenannten Allgemeinbildung, aber die Grundausrichtung wurde so gesetzt und von den bildungspolitischen und administrativen Instanzen übernommen.

    Während sich in Deutschland das sogenannte Lernfeldkonzept aufgrund eines administrativen Aktes der Kultusministerkonferenz etablieren konnte, richtete sich der Trend in der Schweiz auf die curricular massgebende Handlungskompetenzorientierung (HKO). Die theoretische und empirische Kritik an der Kompetenz- und Handlungsorientierung als Grundpfeiler des Lernfeldkonzepts und der HKO liess zwar nicht auf sich warten und hat zahlreiche Mängel offengelegt bzw. zu zwiespältigen Befunden geführt (Leumann & Scharnhorst; Ghisla). Diese mussten allerding in der praktischen Umsetzung der Macht des Faktischen weichen und harren weitgehend ihrer Entkräftung.

    Zum Situationsbegriff in der Didaktik

    Der Begriff der Situation vermochte das Selbstverständnis einer sich international neu konstituierenden Berufsbildungsdidaktik (im französischsprachigen Kontext auch der Berufspädagogik) auf der Makro- und der Mikroebene zu prägen. Zwar reicht der Karriereanfang des Begriffs einige Jahrzehnte zurück (vgl. Ghisla), dank kreativer und erfahrungsgeleiteter Schritte wurde er aber theoretisch und praktisch zu didaktischer Reife gebracht. So ist aus den Erfahrungen und Erprobungen an der EHB das Modell der Situationsdidaktik (SiD) hervorgegangen, das explizit grundlegende Begriffe aus der internationalen Diskussion aufnimmt und zu integrieren sucht. Das Modell wird ausführlich dargestellt (Boldrini & Wüthrich), kontextualisiert und theoretisch begründet (Ghisla). Die Beschreibung der konkreten Anwendung der SiD erfolgt für verschiedene Kontexte: Etwa für die Entwicklung von Lehrplänen an den Berufsfachschulen (Schuler & Vogt), für internationale Berufsbildungsprojekte (Wüthrich), für das neue Ausbildungskonzept der Lehrkräfte an der EHB (Boldrini & Cattaneo), für die Weiterbildung (Burch & Petrini), für die Berufsmaturität (Piccini) und den allgemeinbildenden Unterricht (Schmuki) aber auch für zahlreiche konkrete Praxisbeispiele, in denen die Verarbeitung von Lernerfahrungen eine zentrale Rolle spielt (Jöhr, Kammermann & Meier; Le Bolloc’h). Aufschlussreich und interessant sind auch weitere Modelle und methodenspezifische Applikationen, die den Situationsbegriff ins Zentrum des didaktischen und pädagogischen Handelns stellen. Für den Ansatz Duale Situationsbasierte BerufsbildungsDidaktik (DSBD) bilden Situationen u.a. die Basis für eine Pädagogik des Staunens und der Entwicklung eines persönlich grundierten Berufsstils (Gremion & Maubant; Maubant & Gremion) sowie für die Praxisanalyse. Der Ansatz wird auch in praktischen Beispielen illustriert (Gagnebin-de Bons; Sello & Gremion). Das Konzept des Erfahrraums stützt sich auf die neuen technologischen Kommunikationsmittel und versucht dies in Anlehnung an die SiD didaktisch und pädagogisch konsistent zu machen (Cattaneo & Boldrini). Die Idee der pädagogischen Begeisterung verweist schliesslich darauf, dass Lebenssituationen motivational und kognitiv genutzt werden können (Matter).

    Der Sammelband zeigt auf, dass der Begriff bzw. das Konzept der Situation auf der Modellebene zu einem gemeinsamen Nenner der didaktischen und pädagogischen Auseinandersetzung werden kann. Zudem erweist sich das Konzept als nützlich, um die Vielfalt in der Berufsbildung theoretisch zu fassen und der Suche nach einem epistemologischen Selbstverständnis der Didaktik als Disziplin neuen Schub zu verleihen. Möglich ist dies dank einiger Eigenschaften, die in verschiedenen Beiträgen, sowohl bei der didaktischen Modellierung als auch in den konkreten Umsetzungen, vertieft werden. Dazu gehören die Konsistenz des Begriffs, sein Beitrag zu einer Grammatik des didaktischen Handelns, seine Flexibilität in der Anwendung und die Akzentuierung der reflexiven Verarbeitung der Erfahrung.

    2

    Herausforderungen

    Das Buch ist in drei Hauptkapitel eingeteilt: Im ersten werden die didaktischen bzw. pädagogischen Modelle vorgestellt, kontextualisiert und theoretisch begründet, im zweiten werden spezifische Fragestellungen aufgegriffen, und im dritten wird aus der Praxis berichtet. In den Texten kommen die zahlreichen Herausforderungen zum Ausdruck, mit denen die Berufsbildung und spezifisch die situationsorientierte Didaktik konfrontiert sind. Diese haben v.a. mit vier Fragekomplexen zu tun: Die Rolle des Wissens und dessen Systematisierung, die Ausbildung der Berufsbildungsverantwortlichen, die Prozesse der Digitalisierung und die Evaluation der laufenden Erfahrungen.

    Die Lehrkräfte, die sich mit der situationsorientierten Didaktik vertraut gemacht und erste Erfahrungen damit gesammelt haben, weisen häufig auf die Schwierigkeit hin, dass sie das Fachwissen als Grundlage des Unterrichts vermissen und mit der Systematisierung des situativen Erfahrungswissens überfordert sind (Schuler & Vogt; Burch & Petrini). Das bringt wohl eine der grössten Herausforderungen des neuen Berufsbildungsparadigmas und der Situationsdidaktik auf den Punkt: Das Kind soll nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden! Ohne Fachwissen wäre Berufsbildung anämisch, weshalb die verallgemeinerte Form des Wissens zu stärken ist, und zwar so, dass es zu einer konstruktiven, transferorientierten Verschränkung mit dem situativen, erfahrungsbezogenen und spontanen Wissen kommen kann. Dazu bietet die Situationsdidaktik mit dem virtuosen Kreislauf der Didaktik, der eine doppelte, sich wiederholende Verbindung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Schule und Arbeitsplatz vorsieht, einen praktikablen Weg (Boldrini & Wüthrich). Diese Idee wird aufgenommen, wenn es darum geht, Situationen aus unterschiedlichen Fachperspektiven, also projektmässig und interdisziplinär, anzugehen (Rebord, Murat & Hefhaf). Spannend ist auch die Diskussion von Erfahrungen im Kontext der Berufsmaturität, wo der Bezug zu realen Arbeitssituationen gegenüber dem Fachwissen in den Hintergrund tritt: Wie dabei mit Situationen, insbesondere mit sogenannten Entwicklungssituationen, umgegangen werden kann, wird aufgrund von zahlreichen Erfahrungen diskutiert (Piccini).

    Auch bei der Leistungsbeurteilung geht es um Wissen. Die gesonderte Betrachtung der Ressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen), welche kompetentem Handeln zugrunde liegen, ist für die Schule sehr nützlich, um spezifisches Wissen unabhängig von den Kompetenzen beurteilen zu können, zumal die Evaluation der letzteren einer äusserst komplexen Aufgabe gleichkommt (Bausch; Sello & Gremion; Gagnebin-de Bons).

    All diese Aspekte werden in der Ausbildung der Lehrkräfte angesprochen, die sich in ihrem Kern auf die Verarbeitung von didaktisch transponierten Situationen konzentriert. Eine solche Verarbeitung erfordert den bereichernden Beitrag des Fachwissens und stützt sich methodisch grundsätzlich auf die heuristischen Muster der Analyse und der Synthese, die in reflexiver Absicht und unter aktivem Einbezug der Lernenden aktiviert werden. Dazu steht eine relativ offene Palette von Methoden und Techniken zur Verfügung, so etwa der systematische Rekurs auf Videomaterial (Boldrini & Cattaneo; Sappa; Jöhr, Kammermann & Meier), die Verwendung eines ethnografischen Instrumentariums (Fristalon) oder der Einbezug von problemorientierten Strategien (Salini, Piccini & Romanelli-Nicoli). Als besonders wichtig erweist sich auch eine umfassende Begleitung der Lernenden, v.a. im Hinblick auf die Entwicklung einer persönlichen Berufsidentität (Sappa) und einer ausgeprägten, auf Verantwortung gründenden Handlungsautonomie, die zu einem persönlichen Berufsstil führen kann (Gremion & Maubant) und das sogenannte Fähigsein beansprucht (Matter).

    Die Herausforderung der Digitalisierung liegt sozusagen quer zu all diesen Aspekten und deutet auf eine Komplexität und auf Perspektiven hin, die beinahe sämtliche didaktische Prozesse betreffen und über den Status einer blossen Technik der Kommunikation und Informationsverarbeitung hinausgehen. Auf dem Spiel stehen längst neue Formen des Umganges mit einer potenzierten Realität, deren Auswirkungen kaum absehbar sind, jedenfalls aber mit der Vorbereitung der neuen Generationen auf die digitale Gesellschaft zu tun haben. Damit beschäftigen sich Cattaneo & Boldrini, die, in einem Vergleich mit der SiD, die Idee einer Erfassung der Arbeitserfahrungen mit technologischen Mitteln diskutieren. Der Arbeitsplatz wird als Ort der primären Erfahrungen betrachtet, als Erfahrraum, der in digitalisierter, allenfalls potenzierter Form dem didaktischen Prozess und damit den Lernenden zugänglich gemacht werden kann.

    Das bereits umfangreiche Ensemble der Erfahrungen mit einer situationsorientierten Didaktik, auch auf internationaler Ebene, sollte möglichst systematisch und empirisch fundiert evaluiert werden. In zahlreichen Beiträgen wird aufgrund einschlägiger Methoden des Monitorings von Ergebnissen und Problemen aus bereits gemachten und laufenden Erfahrungen berichtet, und zwar in einem durchwegs positiven Ton. Auch die systematische Evaluation, die im Rahmen der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte an der EHB durchgeführt wird, bestätigt diesen Befund, der jedoch vorläufig bleibt (Laupper, Eicher & Balzer). Aus den sehr aufschlussreichen Einführungskursen zur SiD (Burch & Petrini; Vogt & Schuler) wird ersichtlich, dass die Situationsdidaktik für viele Lehrkräfte abstrakt wirken und in der Anwendung Mühe bereiten kann. Deshalb bedarf sie der Vereinfachung und Flexibilisierung, um das ‹Ausprobieren› ausgehend von vertrauten Praktiken zu erleichtern.

    In Zukunft steht nicht nur viel didaktische und curriculare Entwicklungsarbeit an, auch eine möglichst systematische, empirisch fundierte Evaluation von Konzepten und Modellen in ihrer praktischen Umsetzung, unter Einbezug der Adressaten und womöglich in den verschiedenen Wirkungsfeldern ist unabdingbar.

    © EHB / Pierre Daendliker und Loris Theurillat für «skilled» 2/20 Upskilling

    «Menschliche Tätigkeit, im weitesten Sinne als Erfahrung begriffen, umfasst Handlungen und Operationen, die, im Unterricht bewusst und kritisch verarbeitet, zur Aneignung von Wissen und zum Aufbau von praxisbezogenen Kompetenzen führen können.»

    Teil I

    Didaktische Modelle und theoretische Grundlagen

    Elena Boldrini und Emanuel Wüthrich

    Situationsdidaktik – Anwendungsgrundsätze eines vielseitigen Ansatzes

    1

    Die Herausforderung der Kompetenzen in der Bildung

    Das Kompetenzparadigma als Eckpfeiler von Bildungsangeboten hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten etabliert und als Competence-Based Education (CBE) auf globaler Ebene breiten Anklang gefunden (van Griethuijsen, & al. 2020; Boldrini & Ghisla, 2006; Boldrini & Cattaneo 2007; Mulder 2017). Dafür ausschlaggebend war die Idee, die Handlungsfelder der einzelnen Berufe als Grundlage für die Entwicklung der Bildungspläne und der didaktischen Aktivitäten heranzuziehen und so zur Kontinuität zwischen Arbeit und Schule beizutragen. Mit den ersten Umsetzungsversuchen des kompetenzorientierten Ansatzes an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) ging ab 2005 auch eine Reflexion über dessen didaktische Implikationen einher. Daraus entstand nach mehrjähriger Erprobung die Situationsdidaktik (SiD). Seit sie 2014 erstmals als konzeptionell kohärenter und für die Praxis der beruflichen Bildung funktionaler Ansatz vorgestellt wurde [2] , hat die SiD in zahlreichen Bildungsbereichen und in verschiedenen spezifischen Anwendungsformen im Rahmen von kompetenzorientierten Ausbildungsformen weite Verbreitung gefunden [3] .

    Aus didaktischer Sicht besteht die Herausforderung der SiD in der Suche nach einer grundlegenden Entsprechung zwischen der für die Bildungspläne massgebenden Arbeitsanalyse und einer didaktischen Aktivität, die die Aneignung der Ressourcen sichern kann, die für ein kompetentes Handeln in der Arbeit erforderlich sind (Pastré 2011b). Da die theoretischen Grundlagen der SiD in einem anderen Beitrag in diesem Bd. erörtert werden (Ghisla), beschränken wir uns hier auf die Konturierung von wesentlichen Begriffen, um dann deren pädagogisch-didaktischen Merkmale in praktischer Absicht und unter Berücksichtigung wichtiger Anwendungsprinzipien vorzustellen.

    2

    SiD – Einige Grundbegriffe

    Hauptziel der SiD sind Bildungsparcours, die sich ausdrücklich und gezielt auf berufliche Situationen beziehen und so strukturiert sind, dass sie den Erwerb von Ressourcen und den Aufbau von Kompetenzen ermöglichen. Zwar eignet sie sich durchaus zur Anwendung am Arbeitsplatz [4] , aber die SiD konzentriert sich auf die Bedürfnisse der schulischen Ausbildung, die keinen direkten Zugang zur beruflichen Praxis hat, auch wenn sie die Entwicklung von Kompetenzen zum Ziel hat. Während im Betrieb Trainingspraktiken möglich sind, die vom Learning by Doing und vom Modelllernen profitieren, muss die Schule neben prozeduralem vor allem deklaratives Wissen vermitteln, und sie verfügt über nur beschränkte Möglichkeiten einer Unterrichtsgestaltung in realen beruflichen Situationen (in diesem Band Sappa; Cattaneo & Boldrini).

    Der SiD-Ansatz stützt sich auf die folgenden drei Grundkonzepte:

    Situationen als Sinneinheiten von beruflicher Tätigkeit und Ausbildung. Die Situation erscheint als natürlicher Referent beruflicher Kompetenzen, zumal diese von «einem sinnstiftenden Zweck und einer kontextualisierenden Situation geprägt werden» (Jonnahert 2002, 33). Der Situationsbegriff gilt als zentrales Konstrukt sowohl für die moderne Soziologie (Esser 2000) als auch für die Theorien des situierten Lernens (in diesem Band Leumann und Scharnhost; Lave & Wenger 1991). Situationen sind Sinneinheiten, die einem bestimmten Ausschnitt, einem Punkt auf dem Kontinuum reeller menschlicher Praxis entsprechen (Marcel, Tupin & Maubant 2012). Subjekte handeln darin und aktivieren dabei ihre Ressourcen ganzheitlich und entsprechend den Gegebenheiten. Es lassen sich so Situationen identifizieren, die zum Beruf oder aber zum übrigen Alltag gehören, wie z.B. die Teilhabe an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Die SiD bietet einen hinreichend flexiblen Rahmen, um beiden Kategorien solcher bedeutsamen Lebenssituationen didaktisch gerecht zu werden.

    Kompetenz als situatives, übertragbares Wissen. Die zentrale Stellung der Situation im SiD-Ansatz impliziert auch eine situierte und phänomenologische Konzeption der beruflichen Kompetenz (Sarchielli 2002). Diese wird nicht als A-priori-Disposition, sondern als adaptive Reaktion des handelnden Subjekts auf die von ihm jeweils interpretierten Situation betrachtet. So erhält auch das Wissen eine starke Verankerung in der Situation selbst (Le Boterf 1994). Dementsprechend sind bei einer auf die Entwicklung von Kompetenzen ausgerichteten Didaktik drei Aspekte zu beachten:

    Kompetenz impliziert Wissensressourcen, die sie zu einem komplexen Konstrukt machen; es geht nicht nur um Fähigkeit (wissen, wie man etwas tut; Know-how), sondern auch um deklaratives Wissen und um Haltungen (Rychen & Salganik 2003; Cattaneo & Boldrini 2007a, 2007b, 2009; Baartman & de Bruijn 2011; Weinert 2001).

    Kompetenz ergibt sich nicht einfach aus den einzelnen kognitiven Komponenten, namentlich Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen, und auch nicht aus ihrer Summe, sondern aus dem Akt der situationsabhängigen Kombination und Mobilisierung dieser Ressourcen. Daraus entsteht eine kompetente Performance (Le Boterf 2000).

    Eine Kompetenz ist nicht nur auf eine einzelne, spezifische Situation anwendbar, sondern eignet sich für analoge Situationen, sogenannte «Situationsfamilien», die «relativ differenzierte, aber strukturell ähnliche» Aufgaben beinhalten (Maccario 2006, 114).

    Auf der didaktischen Ebene implizieren diese Aspekte, dass sich die Ausbildung auf die Aneignung der einzelnen für die Kompetenz relevanten Wissensressourcen konzentriert, zugleich aber auch deren effektive Mobilisierung anstrebt. Damit lässt sich der Transfer auf ähnliche, komplexere Situationen fördern, die von der Ausgangsituation auch entfernt sein können (Perkins & Salomon 1992) [5] .

    Integration von Fach- und situativem Wissen. Die zentrale Rolle von Situationen und Kompetenzen im Unterricht sollte jedoch nicht zu einer Art didaktischem Absolutismus führen, der den Fokus einseitig auf erfahrungs- und handlungsorientiertes Wissen legt. Vielmehr sollte Kompetenz auf der Ebene der Bildungspläne wie in den didaktischen Entscheidungen für die Integration von praktischem Erfahrungswissen und Fachwissen aus den Referenzdisziplinen stehen. Diese integrative Perspektive lässt sich auf einem «curricularen Kontinuum» (Ghisla 2009) veranschaulichen, das die Notwendigkeit einer variablen und ausgewogenen Beanspruchung der zwei Wissensarten hervorhebt. Eine SiD-orientierte Gestaltung von Bildungsparcours soll deshalb auf eine angemessene, funktionale und flexible Konvergenz der zwei Organisationsprinzipen achten: einerseits des tradierten und in wissenschaftlichen Disziplinen systematisierten Fachwissens und andererseits des situativen, konkret erlebten Erfahrungswissens (in diesem Band Ghisla; Ghisla, Bausch & Boldrini, 2008).

    Im Folgenden geht es um die konkrete Umsetzung dieser konzeptionellen Grundlagen der SiD.

    3

    Situationsdidaktik – Grammatik des didaktischen Handelns

    Die SiD bildet zunächst ein Ensemble von Leitlinien, die sich zu einem für das Lehrerhandeln wegweisenden Schema verdichten. Es geht um eine Art Grammatik des Unterrichts, die relativ offen und anpassungsfähig für die unterschiedlichsten Unterrichtssituationen ist. Die SiD ist also keine spezifische Lehrmethode oder -technik und schon gar nicht ein ‹Unterrichtsrezept›. Vielmehr öffnet sie den Horizont für Unterrichtsstrategien, die sich je nach Inhalt, nach den Eigenschaften der Lernenden und nach gewählten Arbeitsformen einsetzen lassen.

    3.1

    Das Konzept der didaktischen Transposition

    Vom Prinzip der Übertragung von Lebens- auf schulische Situationen als der Grundlage der SiD geht die praktisch relevante Frage aus: Wie lassen sich, ausgehend von beruflichen Referenzsituationen, die naturgemäss adidaktisch sind (Brousseau 1998), didaktische Szenarien entwickeln, die die Aneignung jener Kompetenzen ermöglichen, welche in denselben oder ähnlichen beruflichen Situationen eingesetzt werden können?

    Wir verdanken es der französischen Tradition, die Bedeutung der Transposition von authentischen Situationen in den didaktischen Kontext – v.a. für die Berufsbildung – erkannt und das entsprechende Konzept entwickelt zu haben (in diesem Band Ghisla; Chevallard, 1991; Brousseau 1998; Pastré, Mayen & Vergnaud 2006). Unter Transposition versteht sich die direkte oder indirekte, partielle oder vollständige, möglichst authentische Reproduktion realer (beruflicher) Lebenssituationen in didaktischer Umgebung. Der Übertragungsprozess

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1