Lehrbuch der Multifamilientherapie: Grundlagen, Methoden und Anwendungsfelder
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Lehrbuch der Multifamilientherapie - Ulrike Behme-Matthiessen
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020
U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.)Lehrbuch der Multifamilientherapiehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_1
1. Multifamilientherapie – eine Einführung
Ulrike Behme-Matthiessen¹ und Thomas Pletsch²
(1)
Psychologische Psychotherapeutin, Kinder-und Jugendlichen Psychotherapeutin, Ausbilderin MFT (DGSF), Osterby, Deutschland
(2)
Arbeitspädagoge, Transaktionsanalytiker (CTA), Psychotherapie (HeilPrG), Lehrender Multifamilientherapie (BAG-MFT), Loit, Deutschland
Ulrike Behme-Matthiessen (Korrespondenzautor)
Email: ulrike.behme@iwes-online.info
Thomas Pletsch
Email: thomas.pletsch@iwes-online.info
1.1 Von der Einzeltherapie über die Familientherapie zur systemischen Therapie
1.2 Gruppentherapie und Selbsthilfe
1.3 Geschichte der Multifamilientherapie – wie alles anfing
1.4 Die multifamilientherapeutische Gruppe – ein Beispiel
Literatur
Multifamilientherapie ist ein Therapie- und Beratungsansatz, bei dem mehrere Familien gemeinsam behandelt bzw. beraten werden. Sie gründet auf der systemischen Therapie und verbindet diese mit Elementen aus Gruppentherapie und Selbsthilfeansatz. Ziel ist es, die Eltern-Kind-Interaktion zu verbessern, die Handlungsfähigkeit der Eltern zu stärken und die Familie zu neuen Verhaltensweisen zu ermutigen. Entscheidend für Veränderungen ist der Prozess in der Familiengruppe.
1.1 Von der Einzeltherapie über die Familientherapie zur systemischen Therapie
1.1.1 Einzeltherapie
Viele Vorreiter der Familientherapie waren Psychoanalytiker*innen: Sie beschäftigten sich mit dem Verstehen und der Aufdeckung innerer, häufig unbewusster Prozesse. Dabei sollten mithilfe von Deutungen der (zumeist männlichen) Therapeuten Konflikte zwischen inneren Bedürfnissen („Es) und Normen und Werten („Über-Ich
) aufgedeckt und gelöst werden und das „Ich" gestärkt werden,
Von linearen Ursache-Wirkungs-Modellen zur Homöostase
Wenn Familie überhaupt in die Betrachtung mit einbezogen wurde, dann in einem der Mechanik entlehnten einfachen linearen Ursache-Wirkungs-Modell
Das lineare Ursache-Wirkungs-Modell besagt, dass Wirkungen auf klar definierte Ursachen zurückgeführt werden können. So wie Scharlach (Wirkung) auf eine Infektion mit Streptokokken (Verursacher) zurückzuführen ist. Dieses Modell berücksichtigt keine Wechselwirkungen.
In Analogie wurde dieses Kausaldenken auf Familiensituationen angewandt, die Familie wurde als Verursacher einer psychischen Störung/Erkrankung gewertet, Gesundungspotenziale wurden in der Familie nicht gesehen. Besonders die Mütter, die die Hauptlast der Erziehung trugen, wurden mit Begriffen wie „schizophrenogene Mutter belegt, häufig wurde eine Trennung von dem „pathogenen Familienmilieu
als die einzige Möglichkeit der Heilung betrachtet.
1.1.2 Familientherapie
Das lineare Ursache-Wirkungs-Modell erwies sich zunehmend als unzureichend, um die komplexe Familienrealität abzubilden. Das aus der Kybernetik entlehnte Homöostasemodell brachte dann einen Wandel in die Betrachtung. Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander und die wechselseitige Kommunikation kamen in den Fokus.
Unter Homöostase versteht man ein Fließgleichgewicht. Häufig wurde das Bild des Mobiles benutzt: Jede Veränderung eines Teils führt zu Ausgleichsbewegungen anderer Teile, bis der ursprüngliche Zustand eingekehrt, das Gleichgewicht wieder hergestellt ist.
Wertschätzende Grundhaltung, Ressourcenorientierung als wesentliche Elemente des Wachstumsmodells
Virginia Satir (1960–1988) wird häufig als Mutter der Familientherapie betrachtet. Eine annehmende Haltung allen Familienmitgliedern gegenüber war für sie die Grundlage für jede Veränderung. Wichtig war für sie das Akzeptieren von Unterschieden und die Überzeugung, dass jeder in der Familie das Potenzial besitzt, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Wertschätzende Grundhaltung und Ressourcenorientierung waren wesentliche Arbeitsprinzipien in dem Wachstumsmodell von Virginia Satir.
Wertschätzende Grundhaltung beschreibt eine Haltung, seinen Gegenüber zu respektieren, es ernst zu nehmen und in seiner oder ihrer ganz spezifischen Eigenart anzunehmen.
Bei der Ressourcenorientierung stehen die Stärken im Mittelpunkt der Behandlung. Es geht darum, diese Stärken zu identifizieren, sie bewusst zu machen und weiter auszubauen. Diese erlebten Stärken können dann zur Bewältigung von Problemen genutzt werden.
Mit der Methode der Familienskulptur machte Virginia Satir darüber hinaus innere Prozesse sichtbar und erlebbar, wodurch Veränderungen angestoßen werden.
Fallbeispiel
Familienskulptur
Sichtbarmachen innerer Prozesse durch Skulpturen
Herr und Frau M. kommen mit ihren Söhnen Max, 13 Jahre, und Till, 9 Jahre, in die Behandlung. Till geht schon seit Wochen nicht mehr zur Schule, jeden Morgen klagt er über Bauchschmerzen. Max wird gebeten, ein Standbild seiner Familie aufzubauen und dazu die Familienmitglieder zu nutzen, als seien sie Biegepuppen. Max stellt den Vater abseits, das Gesicht von der Familie abgewandt. Till stellt er ganz eng an die Mutter, sein Blick ist auf die Mutter gerichtet. Sich selber platziert er etwas abseits, aber so, dass er alle sehen kann.
Alle Mitglieder werden befragt, wie sie sich in ihren Positionen fühlen und in einem zweiten Schritt aufgefordert, ihre Position so zu verändern, dass es sich für sie besser anfühlt.
Grenzen, Koalitionen und Hierarchien in der strukturellen Familientherapie
Mit der strukturellen Familientherapie legte Salvador Minuchin (1921–2017) den Fokus auf die Betrachtung des „Systems Familie", auf Grenzen zwischen Subsystemen (z. B. Eltern-Kind-System), Hierarchien, Koalitionen und Kommunikationsmuster. Minuchin betont die Bedeutung klarer Grenzen zwischen Eltern und Kindern: unklare, diffuse Grenzen mit wechselnden Koalitionen zwischen einem Elternteil und den Kindern führen zu Verunsicherung und Überforderung bei den Kindern.
Bei der Parentifizierung übernehmen Kinder Elternfunktionen, die Grenzen zwischen Eltern und Kindern verwischen, es entstehen wechselnde Koalitionen. Häufig kommt es zu Schwierigkeiten, wenn die Eltern wieder ihre Rolle als Erzieher einnehmen wollen.
Fallbeispiel
Parentifizierung
Hans, der häufig Elternaufgaben übernimmt, seinen jüngeren Geschwistern das Frühstück bereitet und sie schulfertig macht, weigert sich, sich an die Vorgaben von Mutter oder Vater zu halten , wenn es um Bettgehzeiten und Medienkonsum geht.
In diesem Zusammenhang prägte Minuchin den Begriff der Triangulation : Eine Dyade wird durch eine dritte Person (häufig ein Kind, aber auch Verwandte oder Freunde) erweitert. Dies kann für alle bereichernd sein, kann aber auch bei Konflikten gezielt eingesetzt werden. Das Kind wird z. B. zur Entschärfung von Paarkonflikten in die Paardyade einbezogen, wird Schiedsrichter, aber auch Sündenbock.
Fallbeispiel
Triangulation
Beim gemeinsamen Abendbrot der Familie fragt die Mutter Hans: „Hans, findest du nicht auch, dass Papa etwas mehr zu Hause sein könnte?" Hier wird Hans einbezogen in einen Konflikt der Eltern: Die Mutter ist unzufrieden mit der häufigen Abwesenheit des Vaters und versucht, Hans zu ihrem Bündnispartner zu machen.
Unausgesprochene Konflikte und Familiengeheimnisse in der Mehrgenerationentherapie
Eine Erweiterung erfolgte mit der Einbeziehung der Großeltern. Die Mehrgenerationentherapie wurde besonders von Boszormeny-Nagy (1920–2017) und Helm Stierlin (geb. 1926) entwickelt. Hierbei geht es um unausgesprochene Konflikte und Familiengeheimnisse, die über die Generationsgrenzen hinweg wirken. So kann z. B. ein nicht besprochener Suizid in der Großelterngeneration im Zusammenhang stehen mit einer ängstlich-überfürsorglichen Haltung des Vaters oder der Mutter.
Oder es geht um Delegationen von Eltern an ihre Kinder. Der ehrgeizige Gesangsunterricht eines Jungen, dessen Vater von einer großen Karriere als Tenor geträumt hat, wird verständlich, wenn die Bedeutung des Verhaltens im Mehrgenerationenkontext betrachtet wird.
Diskutiert wird zurzeit die Weitergabe von Vermächtnissen, von Sühnebedürfnis und auch von Traumata als Auswirkungen der Kriegszeit auf die Kinder- und auch auf die Enkelgeneration (s. Bode 2013).
Die Mehrgenerationentherapie bezieht Konflikte und Belastungen, die über Generationen wirken, mit in die Behandlung ein, mit dem Ziel, sie besprechbar zu machen.
1.1.3 Systemische Therapie
Von gezielten therapeutischen Interventionen zur Unterstützung von Selbstorganisationsprozessen in der systemischen Therapie
Alle auf dem Homöostasemodell basierenden Ansätze gehen davon aus, dass gezielte therapeutische Interventionen planbare Effekte erzielen und Familiensysteme von einem dysfunktionalen in einen funktionalen Zustand bringen können. Es stellte sich aber zunehmend die Frage, was funktional und was dysfunktional ist und wer darüber letztendlich zu entscheiden hat.
Die weitere Entwicklung wurde geprägt vom Modell der Autopoiese (Humberto Maturana, Francisco Varela).
Autopoiese bezeichnet die Fähigkeit von Systemen zur Selbstorganisation. Autopoiese bedeutet, dass ein lebendes System sich aus sich selbst erhalten, verändern und erneuern kann. Entscheidend für alle Prozesse sind die systemimmanenten Eigenschaften. So können kleine Ereignisse große Wirkungen haben, abhängig von internen Prozessen und Strukturen des Systems. Das klassische Beispiel für eine nichtlineare Wirkungsweise ist der sog. Schmetterlingseffekt. Er beschäftigte sich mit der Frage, ob bei bestimmten Wetterlagen der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann.
Autopoiese (aus dem Griechischen ,Selbsterzeugung‘) bedeutet, dass ein lebendes System sich aus sich selbst erhalten, verändern und erneuern kann.
Diese Ideen wurden auch auf soziale und psychische Systeme angewandt (Luhmann). Entscheidend für Veränderungen sind auch bei Familien die systemimmanenten Eigenschaften. Die Familie entscheidet, welche Intervention wie aufgenommen, verarbeitet und umgesetzt wird. Häufig ist man überrascht, welche Impulse in der Therapie besonders wichtig waren: kleine Erlebnisse am Rande, eine Geste der Tochter, ein Satz der Ehefrau, die im Gedächtnis geblieben sind und Prozesse in Gang gesetzt haben.
Ein weiterer wichtiger Anstoß für die systemische Therapie war der Konstruktivismus : Meine Sicht der Welt kann sich sehr von der Wahrnehmung meines Gegenübers unterscheiden. Wir haben es also mit Wirklichkeitskonstruktionen zu tun, die sehr unterschiedlich sein können.
Wir kennen das alle: Wenn mehrere Personen eine Situation beschreiben, fragt man sich zuweilen, ob alle zur selben Zeit am selben Ort gewesen sind. So erleben auch Familienmitglieder das familiäre Zusammenleben völlig unterschiedlich und ich habe es als Therapeut*in mit völlig unterschiedlichen Geschichten zu tun.
Der Konstruktivismus geht davon aus, dass ein Gegenstand erst vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung"(von Förster, in Schlippe und Schweitzer 2012, S. 121).
Beim Konstruktivismus wird der Betrachter selbst in den Prozess mit einbezogen, er konstruiert Realität durch den Vorgang des Beobachtens
Der Einfluss von Autopoiesemodell und Konstruktivismus hat in der systemischen Therapie zu einer Neuorientierung der Therapeutenrolle geführt. Es geht nicht mehr um die Planung von von außen induzierten Veränderungsimpulsen, sondern um die Erfassung von Prozessen. Wichtig ist die Schaffung eines Rahmens, der es ermöglicht, Unterschiede zu akzeptieren und dabei zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Dabei spielt die Anschlussfähigkeit eine große Rolle: die Interventionen der Therapeut*in sollen „angemessen ungewöhnlich" (Ludewig 1997) sein. Extreme Interventionen stoßen schnell auf Ablehnung, zu vertraute regen nicht an und lösen keine internen Suchprozesse aus.
Wichtig ist weiterhin die Transparenz ,: eigene Überlegungen und Fragen bezüglich des Vorgehens werden mit den Klient*innen geteilt („Ich bin mir unsicher, ob ich Ihnen mit dieser Frage zu viel zumute, „Ich bin mir unsicher, wie diese Frage, diese Idee bei Ihnen angekommen ist
). Zum Schluss eine zusammenfassende Definition, die Kurt Ludewig 2002 in seinem Buch „Leitmotive systemischer Therapie" formuliert hat.
Die systemische Therapie hat sich aus der Familientherapie entwickelt aus dem Bemühen, der Komplexität des menschlichen Zusammenlebens besser gerecht zu werden. Sie bietet einen Denkrahmen, Menschen und deren Interaktion zu betrachten, zwischenmenschliche Probleme einzuordnen und gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Kennzeichnend sind Kontextbezogenheit statt Individualisierung, Wechselwirkungen statt einfache Ursache-Wirkung-Betrachtung, Kooperation, Transparenz, Lösungs- und Ressourcenorientierung (◘ Abb. 1.1).
../images/479968_1_De_1_Chapter/479968_1_De_1_Fig1a_HTML.png../images/479968_1_De_1_Chapter/479968_1_De_1_Fig1b_HTML.pngAbb. 1.1
Familientherapie – Multifamilientherapie
1.2 Gruppentherapie und Selbsthilfe
Angeleitete Gruppentherapien und Selbsthilfegruppen nutzen die Gruppe als Erfahrungsfeld und zur gegenseitigen Unterstützung
Gruppentherapie nutzt die Gruppe, um psychotherapeutisch Einfluss zu nehmen auf Verhalten und Erleben. Je nach Therapieschule werden Gruppenprozesse unterschiedlich strukturiert. In der Gruppenanalyse geht es eher um Verstehen durch freies Assoziieren und Deuten, in verhaltenstherapeutischen Gruppen wird die Gruppe als Erfahrungsfeld für Verhaltensänderung genutzt. Bei der Gruppentherapie kommen spezifische Faktoren zum Tragen wie Rückmeldung geben und empfangen sowie Modelllernen. Auch können die Gruppenmitglieder verschiedene Kommunikationsstrategien direkt ausprobieren. Sie erleben sich selber als Ratsuchende, aber auch als Ratgebende, was das Selbstvertrauen stärkt. Man unterscheidet offene Gruppen, in denen die Zusammensetzung der Gruppe wechselt, von geschlossenen Gruppen, die über einen bestimmten Zeitraum fest zusammenbleiben. Unterschieden werden auch indikationsbezogene Gruppen (z. B. bei Essstörungen oder Elterngruppen mit Kindern mit ADHS) von zieloffenen Gruppen. Entscheidend für den therapeutischen Prozess ist ein Gruppenklima aus Offenheit und Vertrauen.
Selbsthilfegruppen treffen sich ohne Gruppenleiter, sie nutzen das Wissen und die Erfahrung der Gruppenmitglieder und unterstützen sich gegenseitig im Umgang mit ihren Schwierigkeiten. In der Regel haben die Gruppenmitglieder ein gleiches Problem oder Anliegen und treffen sich, um sich auszutauschen und sich gegenseitig (auch praktisch) zu unterstützen. Typische Probleme sind etwa der Umgang mit Krankheiten, mit Lebenskrisen oder belastenden sozialen Situationen.
1.3 Geschichte der Multifamilientherapie – wie alles anfing
Multifamilientherapie als Behandlungsmodul in Erwachsenpsychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Geschichte der Multifamilientherapie (MFT) begann in den 1940er und 1950er-Jahren in den USA. Mehrere Teams, die mit chronisch psychotischen Patient*innen arbeiteten, luden diese gemeinsam mit ihren Familien ein, damit sie Erfahrungen austauschen konnten und sich nicht mehr so allein in ihrer Situation fühlten. Systematisch entwickelt wurde diese Arbeit dann von Dr. Peter Laqueur (Asen 2009), Leiter einer Abteilung für Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter in den 1970er-Jahren. Er stellte fest, dass Mitglieder unterschiedlicher Familien sich aufgrund ähnlicher Erfahrungen gut ineinander hineinversetzen konnten. In Fällen von Kommunikationsschwierigkeiten konnten Angehörige anderer Familien Botschaften übersetzen. Auch fühlten sich die Therapeut*innen durch die Einbindung der Familien in eine Gruppe weniger belastet, die Familien wurden unabhängiger. Sie übernahmen stärker Verantwortung für die Gruppe, fühlten sich weniger isoliert und wurden gestärkt in dem eigenen Kompetenzerleben.
Erstaunlicherweise wurde Multifamilientherapie also zuerst in der Erwachsenpsychiatrie angewandt, heute gilt sie als flankierende Maßnahme in der Betreuung psychotischer Erwachsener als evidenzbasiert (Klappstein 2017).
Es dauerte noch einige Zeit, bis Multifamilientherapie auch in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen Fuß fasste, wo sie heute am weitesten verbreitet ist. Als Pionier ist hier Dr. Eia Asen zu nennen, der die Multifamilientherapie zu einer anerkannten Methode entwickelt hat. Inspiriert durch die Arbeiten von Salvador Minuchin mit unterprivilegierten Familien in den USA wurde in den 1970er-Jahren in England begonnen, Familien tagesklinisch mit Multifamilientherapie zu behandeln.
1976 eröffnete dann der Malborough Family Service eine Tagesklinik für Multiproblemfamilien. Neben Familien mit kinderpsychiatrischen Störungsbildern waren es Familien, deren Kinder wegen Verwahrlosung oder Misshandlung fremduntergebracht waren und die sich um die Rückführung ihrer Kinder bemühten. Auch Familien, bei denen unklar war, ob die Eltern in der Lage waren, ihren Kindern einen angemessenen pädagogischen Rahmen zu bieten, wurden in die Behandlung aufgenommen. Häufig hatten Familien auch eine Therapieauflage vom Jugendamt oder vom Gericht.
Die erste Familientagesklinik für Kinder mit emotionalen und sozialen Auffälligkeiten in Deutschland wurde 1998 in Dresden unter der Leitung von Prof. Michael Scholz eröffnet, der die entscheidenden Impulse für die Entwicklung der Multifamilientherapie in Deutschland gab. Im Verlauf wurde das Angebot auf Patient*innen mit Anorexie erweitert und ein spezielles Konzept der Anorexiebehandlung (► Kap. 8) entwickelt.
Und heute?
Inspiriert durch die Arbeit in Dresden nehmen immer mehr Kliniken multifamilientherapeutische Angebote in ihr multimodales Therapieprogramm auf, Familien- und Eltern-Kind-Behandlungen werden vermehrt von Kliniken angeboten.
Nach einer Studie (Anja Born 2012) wurden 2012 über 4000 Familien pro Jahr multifamilientherapeutisch behandelt und fünf Programme systematisch evaluiert.
Neben der Ausbreitung im klinischen Bereich wird mit Familiengruppen zunehmend auch in der Jugendhilfe (Asen und Scholz 2017) und im schulischen Rahmen (Familienklasse, FiSch – Familie in Schule) gearbeitet (► Kap. 11).