Die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation
Von Springer
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Über dieses E-Book
Das erste Praxisbuch der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation wendet sich an alle Mitglieder des therapeutischen Teams: Ärzte, Therapeuten und Pflegende. Neben der Vermittlung von sozialmedizinischem und neurorehabilitativem Grundlagenwissen bietet es als Nachschlagewerk konkretes Praxiswissen für die häufigsten medizinischen Probleme auf einer Frührehabilitationsstation
Die Morbidität der Frührehabilitanden und der Verlegungsdruck aus den Akuthäusern nehmen stetig zu, so dass ein Rehabilitationsmediziner heute in erster Linie ein akutmedizinisch versierter „Allrounder“ sein muss. Dabei beschränken sich die Anforderungen keineswegs nur auf das neurologische und neurochirurgische Fachgebiet, auch internistische, intensivmedizinische, chirurgische, ophthalmologische, HNO-ärztliche und viele andere Bereiche sind zu berücksichtigen. In diesem „Dschungel“ der Anforderungen eine Orientierungshilfe zu geben, ist das Ziel dieses Buchs.
Die einzelnen Kapitel (z.B. orthopädisch-chirurgische Probleme) sind von Fachautoren so abgefasst, dass die Inhalte für fachfremde Kollegen im therapeutischen Team gut zu verstehen sind. Dies wird durch Konzentration auf praxisrelevante Inhalte, verständliche Beschreibung der Untersuchungs- und Behandlungsstrategien, Visualisierung der Inhalte in Übersichten und Abbildungen usw. erreicht. Wichtige praktische Vorgehensweisen werden „schrittweise“ in Fotoserien verdeutlicht, z.B. das oft komplizierte Atemwegsmanagement in der Frührehabilitation.
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Die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation - Springer
Jens Dieter RollnikDie neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation110.1007/978-3-642-24886-3_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
1. Grundlagen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation
Jens Dieter Rollnik¹
(1)
Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover, Institut für neurorehabilitative Forschung (InFo), BDH-Klinik Hessisch Oldendorf, Greitstraße 18–28, 31840 Hessisch Oldendorf, Deutschland
1.1 Einleitung und geschichtlicher Überblick
1.2 Frührehabilitation im Kontext des BAR-Phasenmodells
1.3 Strukturen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation in Deutschland
1.4 Beherrschung von Komplikationen in der frührehabilitativen Behandlung
1.5 DRG und Verweildauer in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation
1.6 Frührehabilitation und G-AEP-Kriterien
1.7 Beatmung in der Frührehabilitation
1.8 Teamorientierung in der Frührehabilitation
1.9 Zusammenfassung
Literatur Kap. 1
Zusammenfassung
Durch die moderne medizinische Notfall- und Akutversorgung von Schädel-Hirn-Verletzten und anderen neurochirurgischen bzw. neurologischen Patienten sind die Überlebenschancen der Betroffenen erheblich gestiegen. Dies stellte schon Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts neue Herausforderungen an die Neurorehabilitation, mit denen sich auch Dr. med. Wolfgang Gobiet an der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf (◘ Abb. 1.1) konfrontiert sah. Während seiner Tätigkeit als Neurochirurg hatte er viele Patienten gesehen, die so schwer krank waren, dass man sie nicht in eine „normale" Rehabilitationseinrichtung hätte verlegen können, so dass diese Patienten von rehabilitativen Leistungen abgeschnitten waren. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte Gobiet wohl als einer der Ersten in Deutschland die Idee, Intensivmedizin und Rehabilitation zusammenzubringen, die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation war geboren.
1.1 Einleitung und geschichtlicher Überblick
Durch die moderne medizinische Notfall- und Akutversorgung von Schädel-Hirn-Verletzten und anderen neurochirurgischen bzw. neurologischen Patienten sind die Überlebenschancen der Betroffenen erheblich gestiegen. Dies stellte schon Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts neue Herausforderungen an die Neurorehabilitation, mit denen sich auch Dr. med. Wolfgang Gobiet an der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf (◘ Abb. 1.1) konfrontiert sah. Während seiner Tätigkeit als Neurochirurg hatte er viele Patienten gesehen, die so schwer krank waren, dass man sie nicht in eine „normale" Rehabilitationseinrichtung hätte verlegen können, so dass diese Patienten von rehabilitativen Leistungen abgeschnitten waren. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte Gobiet wohl als einer der Ersten in Deutschland die Idee, Intensivmedizin und Rehabilitation zusammenzubringen, die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation war geboren.
A978-3-642-24886-3_1_Fig1_HTML.jpgAbb. 1.1.
Dr. med. Wolfgang Gobiet, Ärztlicher Direktor der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf (bis 2003)
Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts publizierte dann die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ihre „Empfehlungen zur neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C" (BAR 1995), mit denen eine erste bundesweit einheitliche Definition der frührehabilitativen Behandlung und ihre Einordnung in das Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation erfolgte. Die hier getroffenen Aussagen, auf die im Weiteren noch detailliert eingegangen wird, sind auch heute noch – z. B. in der Diskussion mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) – eine verbindliche Verständigungsgrundlage.
Dass nach allgemeinem Verständnis, insbesondere auch durch Festlegung der BAR, die neurologische Frührehabilitation dem Krankenhausbereich zugeordnet ist, führte 2006 zwangsläufig zur Einführung von Diagnosis Related Groups (DRG) in diesem Bereich (Rollnik u. Janosch 2010; Wallesch 2009). Seitdem werden mit dem Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS 8-552 (▶ Übersicht 1.1) nicht nur frührehabilitative Leistungen kodiert, sondern auch Strukturvorgaben gemacht, die einen Mindeststandard in der Behandlung (z. B. 300 min tägliche Therapie) sichern sollen.
Die grundsätzlich intendierte Zwitterstellung der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation,
einerseits Krankenhaus,
andererseits Rehabilitationsbehandlung,
führt zu Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern. Die Argumentationsstränge des MDK gleichen sich dabei immer wieder: Entweder der Patient ist „zu krank, so dass jegliche Rehabilitationsfähigkeit abgesprochen und eine Frührehabilitation negiert wird, oder aber der Patient ist „nicht krank genug
, so dass die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit infrage gestellt wird.
Dabei kann die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation beides bieten,
sowohl eine basale Rehabilitationsfähigkeit überhaupt erst herstellen
als auch nicht mehr akut krankenhausbehandlungsbedürftigen – gleichwohl aber immer noch schwer kranken und von lebensbedrohlichen Komplikationen bedrohten – Menschen zu größtmöglicher Teilhabe verhelfen.
Für beide Gruppen von Betroffenen muss die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation die besonderen Mittel des Krankenhauses vorhalten.
Übersicht 1.1. OPS 8-552 (neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation) in der Version 2011
Mindestmerkmale:
Frührehateam unter Leitung eines Facharztes für Neurologie, Neurochirurgie, Physikalische und rehabilitative Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin mit der Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie, der über eine mindestens 3-jährige Erfahrung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation verfügt. Im Frührehateam muss der neurologische oder neurochirurgische Sachverstand kontinuierlich eingebunden sein.
Standardisiertes Frührehabilitationsassessment zur Erfassung und Wertung der funktionellen Defizite in mindestens 5 Bereichen (Bewusstseinslage, Kommunikation, Kognition, Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Verhalten, Emotion) zu Beginn der Behandlung. Der Patient hat einen Frühreha-Barthel-Index nach Schönle bis maximal 30 Punkte zu Beginn der Behandlung.
Wöchentliche Teambesprechung mit wochenbezogener Dokumentation bisheriger Behandlungsergebnisse und weiterer Behandlungsziele.
Aktivierend-therapeutische Pflege durch besonders geschultes Pflegepersonal auf dem Gebiet der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation.
Vorhandensein und Einsatz von folgenden Therapiebereichen: Physiotherapie/Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/facio-orale Therapie und/oder therapeutische Pflege (Waschtraining, Anziehtraining, Esstraining, Kontinenztraining, Orientierungstraining, Schlucktraining, Tracheostomamanagement, isolierungspflichtige Maßnahmen u. a.) in patientenbezogenen unterschiedlichen Kombinationen von mindestens 300 Minuten täglich (bei simultanem Einsatz von zwei oder mehr Mitarbeitern dürfen die Mitarbeiterminuten aufsummiert werden) im Durchschnitt der Behandlungsdauer der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation.
1.2 Frührehabilitation im Kontext des BAR-Phasenmodells
Das Phasenmodell der BAR (1995) beschreibt eine durchgängige Behandlungskette neurologischer und neurochirurgischer Patienten/Rehabilitanden von
der Akutbehandlung (Phase A) über
die Frührehabilitation (Phase B),
nachfolgende Rehabilitation (Phasen C, D und E) bis hin zu
einer funktionserhaltenden Dauerpflege (Phase F).
In ◘ Abb. 1.2 ist das Phasenmodell in übersichtlicher Form dargestellt, und in ◘ Tab. 1.1 sind die Hauptcharakteristika der BAR-Phasen zusammengefasst. Selbstverständlich muss ein Patient/Rehabilitand nicht alle Phasen und schon gar nicht in der durch die alphabetische Sortierung suggerierten Reihenfolge durchlaufen.
A978-3-642-24886-3_1_Fig2_HTML.gifAbb. 1.2.
Phasenmodell der BAR (1995)
Tab. 1.1.
Kennzeichen der einzelnen Behandlungsphasen nach dem Modell der BAR (1995)
Nach der BAR wird die Phase B als „Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen" definiert (BAR 1995).
Die Betonung liegt auf der Formulierung „vorgehalten, d. h., diese Möglichkeiten müssen nicht zwingend eingesetzt werden, um eine Behandlung in der Phase B zu begründen. Weiterhin solle in Phase B eine „Fortführung der in Phase A begonnenen kurativmedizinischen Maßnahmen inklusive ggf. erforderlicher intensivmedizinischer Behandlung
erfolgen. Folgende kurative Aufgaben werden von der BAR für die Behandlung in Phase B genannt:
„medizinische Diagnostik der ZNS-/PNS-Schädigungen und ihrer Ursachen sowie der Grund-/Begleiterkrankungen und weiterer Verletzungen (ätiologische und Funktionsdiagnostik),
kurativmedizinische Behandlung der neurologischen Schädigung sowie der Grund-/Begleiterkrankungen und weiterer Verletzungen (die Beherrschung lebensbedrohlicher und evtl. bei der Mobilisation möglicher Komplikationen muss möglich sein),
permanente Überwachung des Krankheitsverlaufs, insbesondere Neuro-Monitoring und Intensivpflege" (BAR 1995).
1.3 Strukturen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation in Deutschland
Obwohl die Phase-B-Frührehabilitation von den Kostenträgern leistungsrechtlich zumeist als Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V) angesehen wird, sind die Regelungen von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Dies spiegelt sich beispielsweise in einer divergierenden Berücksichtigung der Frührehabilitation in den Krankenhausplänen wider (◘ Tab. 1.2, aktuelle Erhebung der Deutschen Krankenhausgesellschaft [DKG] für September 2010). Die Berücksichtigung im Krankenhausplan bedeutet, dass sich das jeweilige Bundesland grundsätzlich an den investiven Kosten der Einrichtung beteiligt. Dessen ungeachtet wird in einigen Bundesländern, in denen sogar einzelne Einrichtungen in den Plan aufgenommen wurden (z. B. Sachsen, Nordrhein-Westfalen), die frührehabilitative Behandlung der Phase B regelhaft als Rehabilitationsbehandlung (§ 40 SGB V) angesehen.
Tab. 1.2.
Die Frührehabilitation Phase B in den Krankenhausplänen der Länder
Erbracht werden die Leistungen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation zumeist in neurologischen Fachkliniken, seltener in der Abteilung eines (Akut-)Krankenhauses (Stier-Jarmer et al. 2002). Dabei haben die im OPS 8-552 genannten Strukturmerkmale auch eine gewisse Schutzwirkung, die dazu führt, dass diese Leistung nur von spezialisierten Anbietern erbracht und unseriöse Angebote abgewehrt werden.
Dass Einrichtungen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation i. d. R. Krankenhausstatus haben, hat auch eine ganz praktische Konsequenz.
In Phase B sind Krankenhausdirektverlegungen vom Akutversorger in die Rehabilitationseinrichtung möglich, ohne Steuerungsmöglichkeit durch die Krankenversicherung und ohne vorherigen Kostenübernahmeantrag.
Während ansonsten Rehabilitationsmaßnahmen grundsätzlich vor Beginn genehmigt werden müssen und auch die Krankenversicherung „Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen (…) sowie die Rehabilitationseinrichtung" (§ 40 SGB V) bestimmt, entfällt dies bei der Phase B.
1.4 Beherrschung von Komplikationen in der frührehabilitativen Behandlung
Zu den kurativmedizinischen Aufgaben der Phase B gehört in erster Linie auch die Beherrschung von Komplikationen, so dass das Vorhalten der besonderen Mittel des Krankenhauses obligat ist. Hierdurch sollen – den weiteren rehabilitativen Verlauf beeinträchtigende – Rückverlegungen in Akutkrankenhäuser vermieden werden.
Wie bereits weiter oben ausgeführt, muss eine Einrichtung der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation in der Lage sein, auftretende Komplikationen (akut-)medizinisch zu beherrschen. Nur so sind ein möglichst rascher Beginn der Frührehabilitation (mit einem damit assoziierten besseren Outcome) und ein ununterbrochener Rehabilitationsverlauf zu gewährleisten.
Dabei ist die Morbidität der Frührehabilitanden erheblich: In der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf waren in den Jahren 2005 bis 2008 ca. 93 % (1914/2060) aller untersuchten Frührehabilitationsfälle dem Patient Clinical Complexity Level (PCCL) von 3 und 4 zuzuordnen (Rollnik u. Janosch 2010). Im Jahre 2008 wurden zudem im Mittel 15 Nebendiagnosen kodiert. In den Jahren 2006 bis 2008 hatten 59,5 % der Frührehabilitanden einen Frühreha-Barthel-Index von –75 bis 30 und 36,9 % einen Index von –200 bis –76 (Rollnik u. Janosch 2010). In einer multizentrischen Studie zur neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation waren 49,1 % der Patienten intensivmedizinisch überwachungspflichtig, 40,2 % hatten ein absaugpflichtiges Tracheostoma, 15,2 % waren beatmet, eine beaufsichtigungspflichtige Orientierungsstörung lag bei 59,8 %, eine Verhaltensstörung bei 41,5 % der Fälle vor, 70 % der Frührehabilitanden litten unter einer Dysphagie (Pohl et al. 2011). Die Erkrankungsschwere war auch durch die hohe Zahl von medizinischen Zugängen dokumentiert: 86 % waren mit einem suprapubischen oder transurethralen Dauerkatheter versorgt, 31,8 % mit einer PEG/PEJ (perkutane endoskopische Gastrostomie/Jejunostomie) und 30,9 % mit einem zentralen Venenkatheter (Pohl et al. 2011).
Aus der hohen Morbidität und Immobilität resultieren vitale Bedrohungen, z. B. im Hinblick auf thrombembolische Komplikationen (Lang et al. 2011). Aufgrund der oft längeren intensivmedizinischen Vorbehandlung liegt die Rate der mit dem Problemkeim MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) besiedelten Frührehabilitanden in unserem Patientengut bei 6,6 % (Rollnik 2009). Dass die besonderen Mittel des Krankenhauses in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation obligat vorgehalten werden müssen, zeigt sich auch an folgenden häufigen Komplikationen: vegetative Entgleisungen, tachykarde Rhythmusstörungen, hypertensive Krisen, Aspirationspneumonien, Harnwegsinfekte, gastrointestinale Blutungen, tracheotomieassoziierte Komplikationen (Kanülenobstruktion, Granulationen, Trachealstenose) und Elektrolytstörungen (v. a. Hyponatriämien) (Bertram u. Brandt 2007; Haase et al. 2011). Bei septischen Krankheitsgeschehen (z. B. bei Aspirationspneumonie) müssen neben einer adäquaten Diagnostik (Labor, Röntgendiagnostik, Sonographie, Bronchoskopie) immer auch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten bereitstehen.
1.5 DRG und Verweildauer in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation
Wie in allen anderen Fachdisziplinen auch haben die Diagnosis Related Groups (DRG) zu einer deutlichen Verweildauerreduzierung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation geführt (Rollnik u. Janosch 2010). Wichtigste DRG ist die B43Z (Frührehabilitation bei Krankheiten und Störungen des Nervensystems, mehr als 27 Tage). In ◘ Tab. 1.3 sind die häufigsten DRGs einer eigenen Stichprobe wiedergegeben. Nach Überschreiten einer Verweildauer von 27 Tagen erfolgt – wie auch vor Einführung des DRG-Systems – eine Vergütung nach tagesgleichen Pflegesätzen. Neben dem DRG-System kommt im Krankenhausbereich als weiteres Vergütungsmodell das Konstrukt der „besonderen Einrichtung" (§ 17b Abs. 1 Satz 15 KHG) infrage, welches zeitlich befristet Ausnahmen vom DRG-System und der tagesbezogenen Vergütung ermöglicht.
Tab. 1.3.
Sich aus den Frührehabilitationsfällen ergebende DRG, angeordnet nach absteigender Häufigkeit
Das gemäß BAR vorzusehende Mindestbehandlungsintervall von 8 Wochen in Phase B („zur Beurteilung des Rehabilitationspotenzials") wird heute im Mittel deutlich unterschritten und liegt in unserer Einrichtung bei 5–6 Wochen (Rollnik u. Janosch 2010). In einer eigenen Untersuchung konnten immerhin 76 % der Frührehabilitationsfälle im Zeitintervall von 8 Wochen abgeschlossen werden (Rollnik u. Janosch 2010). Die Daten belegen aber auch eine erhebliche interindividuelle Streuung der Verweildauer, so dass Pauschalaussagen über eine einheitliche Verweildauer medizinisch nicht begründbar sind.
1.6 Frührehabilitation und G-AEP-Kriterien
Die Kenntnis der G-AEP-Kriterien (German Appropriateness Evaluation Protocol [DKV-Spitzenverband u. DKG 2004]) ist für den in der Frührehabilitation tätigen Arzt wichtig, weil diese in der Beurteilung durch den MDK regelhaft herangezogen werden, um Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung zu beurteilen. Unproblematisch stellt sich die Situation dar, wenn die Kriterien des Frühreha-Indexes erfüllt sind (Pohl et al. 2010). In ◘ Tab. 1.4 sind den Frühreha-Items die korrespondierenden G-AEP-Kriterien gegenüberübergestellt (Rollnik et al. 2011).
Tab. 1.4.
Vergleich der Items des Frühreha-Indexes mit den G-AEP-Kriterien
Krankenhausbehandlung bei Phase-B-Patienten wird aber insbesondere dann in Zweifel gezogen, wenn die Frühreha-Index-Kriterien wie z. B. ein intensivmedizinisch überwachungspflichtiger Zustand nicht erfüllt sind. Inhaltlich kann in einem solchen Fall oft nur mit aufgetretenen Komplikationen (z. B. Infekten) argumentiert werden. Für eine formale Argumentation kann jedoch das G-AEP-Kriterium Nr. C1 (Operation/Prozedur, die unstrittig nicht ambulant erbracht werden kann) hilfreich sein (Rollnik et al. 2011). Da ein Frührehabilitand i. d. R. einen Frühreha-Barthel-Index von ≤30 Punkten (vgl. Prozedurendefinition des OPS 8-552) aufweist und unstrittig nicht über die notwendige Selbständigkeit für eine ambulante Behandlung verfügt, ist das G-AEP-Kriterium C1 und damit die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit implizit nachgewiesen (Rollnik et al. 2011).
1.7 Beatmung in der Frührehabilitation
In den ursprünglichen BAR-Empfehlungen wurde als ein Eingangskriterium in die Phase B gefordert, dass der Patient „nicht mehr (kontrolliert) beatmungspflichtig sein dürfe. Ausnahmen hiervon sah man lediglich „bei Patienten, die mental nicht eingeschränkt sind, deren Atemantrieb aber gestört ist
(BAR 1995). Hiervon abweichend wurde jedoch bei der Konzeption des heute allgemein anerkannten Frühreha-Barthel-Indexes (Pohl et al. 2010) neben dem „intensivmedizinisch überwachungspflichtigen Zustand auch das Item der „intermittierenden Beatmung
als Frührehabilitationskriterium berücksichtigt. Nach Expertenkonsens ist die Vergabe des Items „intermittierende Beatmung" unabhängig davon, ob diese Beatmung kontinuierlich oder intermittierend erfolgt (Pohl et al. 2010).
Eine wichtige Aufgabe der Frührehabilitationseinrichtung stellt heute die Beatmungsentwöhnung (Weaning) dar. In einer eigenen Untersuchung war das Weaning in zwei Dritteln der Fälle nach einem Zeitraum von etwa 2 Wochen erfolgreich (Rollnik et al. 2010). In ◘ Tab. 1.5 sind die Daten für die einzelnen Diagnosegruppen dargestellt. Im Mittel waren die Frührehabilitanden bereits vom Akutversorger für etwa 2 Wochen beatmet worden, so dass sich eine mittlere Gesamtbeatmungsdauer von 4 Wochen ergab (Rollnik et al. 2010). Neurologisch-neurochirurgische Patienten haben auch vor dem Hintergrund von Vergleichszahlen aus der Literatur keine schlechtere Weaningprognose als andere intensivmedizinisch behandelte Patientengruppen (Rollnik et al. 2010).
Tab. 1.5.
Diagnosenverteilung bei den Beatmungsfällen in der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf
Dass Frührehabilitationseinrichtungen in der Lage sein müssen, ein adäquates Weaning durchzuführen, erklärt sich in erster Linie aus der Forderung, dass neurologisch-neurochirurgisch Erkrankte so rasch wie möglich in eine geeignete Rehabilitation verlegt werden sollten, um die Chancen auf ein bestmögliches Outcome zu sichern (Musicco 2003). Außerdem nimmt auch der Verlegungsdruck durch die Akutversorger zu und damit die Morbidität der Frührehabilitanden. Daher müssen zumindest einige spezialisierte Zentren der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation Beatmungskapazitäten vorhalten.
1.8 Teamorientierung in der Frührehabilitation
Wie in allen anderen Bereichen der Rehabilitation spielt in der Frührehabilitation die Teamorientierung eine ganz entscheidende Rolle. Aufbau und formale Arbeitsweise des Teams sind in der Frührehabilitationsprozedur OPS 8-552 festgelegt (OPS-Version 2011). Ein Arzt ist obligatorisch Leiter des therapeutischen Teams, der „Facharzt für Neurologie, Neurochirurgie, Physikalische und rehabilitative Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin mit der Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie ist, und der „über eine mindestens 3-jährige Erfahrung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation verfügt
. In dem multidisziplinären Team müssen neben Arzt und Pflegedienst folgende Professionen vertreten sein: „Physiotherapie/Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/facio-orale Therapie" (OPS-Version 2011). Des Weiteren müssen wöchentliche Teambesprechungen durchgeführt werden, über die auch ein geeignetes Protokoll zu führen ist, aus dem bisheriges Behandlungsergebnis und Ziele hervorgehen.
1.9 Zusammenfassung
Die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation der Phase B wird in Deutschland leistungsrechtlich überwiegend als Krankenhausbehandlung erbracht und ist im DRG-System abgebildet. Mit der Frührehabilitationsprozedur OPS 8-552 werden inhaltliche und strukturelle Vorgaben gemacht, die einen Mindeststandard für die zu erbringenden Leistungen (z. B. 300 min Therapie pro Tag im Durchschnitt der Behandlung) festlegen. Durch die Zwitterstellung der Frührehabilitation der Phase B zwischen Krankenhaus und Rehabilitation kommt es fast zwangsläufig zu Konflikten mit dem Medizinischen Dienst im Hinblick auf Notwendigkeit und Dauer der stationären Behandlung. So stellt sich regelhaft die Frage, ob die Zuordnung von Frührehabilitanden zur Phase B und damit Krankenhausbehandlung auch bei fehlenden Frühreha-Items bzw. G-AEP-Kriterien gegeben ist. Nach Ansicht des Verfassers ist dies der Fall, weil in der Phase-B-Frührehabilitation jederzeit die besonderen Mittel des Krankenhauses vorgehalten werden müssen, um Komplikationen verantwortlich begegnen und Rückverlegungen zu den Akutversorgern vermeiden zu können. Nur durch diese besondere Krankenhauskompetenz von Frührehabilitationseinrichtungen kann ein ungestörter Rehabilitationsverlauf gewährleistet werden (Rollnik et al. 2011).
An Einrichtungen der neurologischen Frührehabilitation werden im Hinblick auf die intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten zunehmend höhere Anforderungen gestellt. Diese beziehen sich auf die Möglichkeit der Beatmungsentwöhnung. Zwar sind Frührehabilitationseinrichtungen nicht in erster Linie Weaning-Zentren, jedoch muss im Interesse des Patienten ein möglichst zügiger Beginn der Frührehabilitation gefordert werden. In der Frührehabilitationseinrichtung kann parallel zur eigentlichen multimodalen Rehabilitationsbehandlung auch die Beatmungsentwöhnung sehr erfolgreich durchgeführt werden.
Literatur Kap. 1
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Jens Dieter RollnikDie neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation110.1007/978-3-642-24886-3_2© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
2. Grundlagen der Rehabilitation und Sozialmedizin
Jens Dieter Rollnik¹
(1)
Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover, Institut für neurorehabilitative Forschung (InFo), BDH-Klinik Hessisch Oldendorf, Greitstraße 18–28, 31840 Hessisch Oldendorf, Deutschland
2.1 Einleitung
2.2 Grundlagen der Sozialmedizin
2.2.1 Definition von Sozialmedizin
2.2.2 Gesundheit, funktionale Gesundheit, Krankheit und Behinderung
2.2.3 Epidemiologische Grundbegriffe
2.2.4 Prävention
2.2.5 System der sozialen Sicherung
2.2.6 Pflegebedürftigkeit
2.2.7 Sozialmedizinische Beurteilung und Begutachtung
2.2.8 Betreuungsrecht
2.3 Grundlagen der Rehabilitation
2.3.1 Begriffsbestimmung: Rehabilitation
2.3.2 Rechtliche Grundlagen der Rehabilitation
2.3.3 Indikationsstellung zur Rehabilitation
2.4 Zusammenfassung
Literatur Kap. 2
Zusammenfassung
Jeder in der neurologischen Frührehabilitation Tätige muss über ein Grundlagenwissen in den Bereichen Rehabilitation und Sozialmedizin verfügen, um Patienten und Angehörige bestmöglich beraten und vertreten zu können. In den Literaturangaben wird auf einige exemplarische Lehrbücher verwiesen, mit denen noch eine Wissensvertiefung erfolgen kann. Ärzten ist grundsätzlich der Erwerb der Zusatzbezeichnungen „Sozialmedizin und „Rehabilitationswesen
zu empfehlen, um dauerhaft erfolgreich auf dem Gebiet der Neurorehabilitation arbeiten zu können.
2.1 Einleitung
Jeder in der neurologischen Frührehabilitation Tätige muss über ein Grundlagenwissen in den Bereichen Rehabilitation und Sozialmedizin verfügen, um Patienten und Angehörige bestmöglich beraten und vertreten zu können. In den Literaturangaben wird auf einige exemplarische Lehrbücher verwiesen, mit denen noch eine Wissensvertiefung erfolgen kann. Ärzten ist grundsätzlich der Erwerb der Zusatzbezeichnungen „Sozialmedizin und „Rehabilitationswesen
zu empfehlen, um dauerhaft erfolgreich auf dem Gebiet der Neurorehabilitation arbeiten zu können.
2.2 Grundlagen der Sozialmedizin
2.2.1 Definition von Sozialmedizin
Die ärztliche Weiterbildungsordnung definiert Sozialmedizin wie folgt:
Sozialmedizin beschäftigt sich mit der Bewertung von Art und Umfang gesundheitlicher Störungen und deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im beruflichen und sozialen Umfeld unter Einbeziehung der Klassifikationen von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [d. h. ICF], deren Einordnung in die Rahmenbedingungen der sozialen Sicherungssysteme und die Beratung der Sozialleistungsträger in Fragen der medizinischen Versorgung. (Ärztekammer Niedersachsen 2011) «
Aus dieser Definition wird klar, dass die Sozialmedizin in besonderer Weise auf das bio-psycho-soziale Modell der funktionalen Gesundheit (ICF) Bezug nimmt (▶ Kap. 3).
2.2.2 Gesundheit, funktionale Gesundheit, Krankheit und Behinderung
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als einen „Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und ist nicht nur Abwesenheit von Krankheit".
Funktionale Gesundheit („functional health") im Zusammenhang mit dem ICF-Modell der WHO bedeutet, dass eine Person normale Körperfunktionen bzw. -strukturen aufweist und keine Beeinträchtigungen in den Aktivitäten und der Teilhabe an allen Lebensbereichen hat (Schuntermann 2009).
Im Vergleich zu dem sehr dezidierten Gesundheitsbegriff der WHO sind die Definitionen von Krankheit und Behinderung im deutschen Sozialrecht zwar anachronistisch anmutend, aber dennoch sozialmedizinisch höchst relevant.
Das Bundessozialgericht definiert Krankheit als einen „regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat".
Behinderung ist wie folgt definiert:
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. (§ 2 SGB IX) «
Behinderung bedeutet also nach deutschem Recht, dass Beeinträchtigungen der Teilhabe über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vorliegen müssen. Wichtig ist, dass auch von Behinderung bedrohte Menschen i.S. des SGB IX Anspruch auf Rehabilitationsleistungen haben.
2.2.3 Epidemiologische Grundbegriffe
In ◘ Tab. 2.1 werden die wesentlichen epidemiologischen Grundbegriffe zusammengefasst (Niehoff 2006; Walter 2002; Harms 1998). Die Kenntnis dieser statistischen Größen ist essenziell, um epidemiologische Studien verstehen und bewerten zu können.
Tab. 2.1.
Wichtige epidemiologische und statistische Grundbegriffe
2.2.4 Prävention
Der Prävention wird in unserem Gesundheitswesen eine immer größere Bedeutung beigemessen, so z. B. im erweiterten Präventionsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 20 SGB V), mit dem die primäre Prävention gefördert werden soll. Man unterscheidet – je nach Zeitpunkt einer Intervention – drei Ebenen der Prävention, nämlich Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. In ◘ Tab. 2.2 werden diese Ebenen in übersichtlicher Form mit Beispielen aufgeführt (Niehoff 2006; Walter 2002; Harms 1998).
Tab. 2.2.
Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention
2.2.5 System der sozialen Sicherung
Neben den fünf Säulen der sozialen Sicherung,
der Rentenversicherung (SGB VI),
der Unfallversicherung (SGB VII),
der Arbeitslosenversicherung (SGB III),
der Kranken- (SGB V) und Pflegeversicherung (SGB XI),
existieren noch Leistungen für Personengruppen, die durch die Sozialversicherung unzureichend abgesichert sind. Diese werden geregelt durch
das Bundesversorgungs- und Opferentschädigungsgesetz (Beamte, Wehrdienstleistende, Opfer von Gewaltverbrechen),
das Bundessozialhilfegesetz (Sicherung eines Existenzminimums) und
das Schwerbehindertengesetz.
Die Sozialversicherungen folgen zum größten Teil dem Solidaritätsprinzip, d. h., die Beitragsbemessung erfolgt unter Berücksichtigung des Einkommens, und die Versichertengemeinschaft trägt dafür Leistungen im Bedarfsfall. Insbesondere bei der Sozialhilfe greift aber noch das Subsidiaritätsprinzip, d. h., bevor die Solidargemeinschaft eintritt, muss zunächst geprüft werden, ob der Betroffene bzw. seine Familie nicht selbst für die Existenzsicherung aufkommen können.
2.2.6 Pflegebedürftigkeit
Die gesetzliche Pflegeversicherung ist rechtlich eigenständig, aber in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) integriert („unter einem Dach"). Wie die GKV hat sie einen Sicherstellungsauftrag, d. h., sie muss für eine bedarfsgerechte Versorgung eintreten. Bei der Entlassung von Frührehabilitanden entsteht die Frage nach der Pflegebedürftigkeit i.R. des Entlassungs- bzw. Überleitungsmanagements.
Pflegebedürftigkeit liegt dann vor, wenn Personen wegen einer Krankheit oder Behinderung in den Aktivitäten des täglichen Lebens auf Dauer (mindestens für 6 Monate) in erheblichem Maß auf Hilfe angewiesen sind (nach § 14 SGB XI).
In der Regel stellt der Sozialdienst der Frührehabilitationseinrichtung einen Antrag auf Pflegeleistungen bei der jeweiligen Pflegekasse. Diese wiederum beauftragt den MDK, eine Prüfung der Pflegebedürftigkeit vorzunehmen, entweder per Aktenlage oder durch persönliche Begutachtung. Bei Entlassung aus einer Klinik besteht auch die Möglichkeit der Schnelleinstufung, wobei zunächst vorläufig die Pflegestufe I festgelegt wird. Die Pflegestufen sind in ◘ Tab. 2.3 dargestellt. Sozialrechtlich wichtig ist, dass
Tab. 2.3.
Pflegestufen
die Pflegeversicherung für die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung zuständig ist und
die GKV für die Maßnahmen der Behandlungspflege (z. B. Injektionen oder Verbandswechsel).
Eine Erläuterung der Begriffe „Grund- und Behandlungspflege" findet sich in ▶ Kap. 5.
2.2.7 Sozialmedizinische Beurteilung und Begutachtung
Auch bei Frührehabilitanden kann eine Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die gesetzliche Unfallversicherung erforderlich werden oder eine Einschätzung der Erwerbsminderung für die Rentenversicherung. Daher soll in ◘ Tab. 2.4 kurz auf diese Grundbegriffe eingegangen werden. Bei der Beurteilung der MdE spielt die Kausalität (Kausalitätsprinzip) eine entscheidende Rolle. Die gesetzliche Unfallversicherung würde z. B. eintreten, wenn eine intrakranielle Blutung i.R. eines Unfalls aufgetreten ist, nicht jedoch, wenn die intrakranielle Blutung spontan war und es dadurch zu einem Unfall kam (Entstehung aus „innerer Ursache"). Im Gegensatz dazu gilt in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung das Finalitätsprinzip, d. h., der eingetretene Gesundheitsschaden und dessen Folgen werden unabhängig von der Ursache betrachtet.
Tab. 2.4.
Grundbegriffe in der sozialmedizinischen Begutachtung
2.2.8 Betreuungsrecht
Bei dem 1992 in Deutschland eingeführten Betreuungsrecht handelt es sich um subsidiäres Recht, d. h., ein Betreuer darf erst dann eingesetzt werden, wenn alle anderen Möglichkeiten („vorrangige andere Hilfen") ausgeschöpft sind. Wann eine Betreuung eingerichtet wird, ist gesetzlich geregelt:
Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht (…...) für ihn einen Betreuer. (§ 1896 BGB) «
Rechtsgrundsatz ist, dass jemand, der seinen Willen frei bestimmen kann, nicht gegen seinen Willen unter Betreuung gestellt werden darf. Wenn ausschließlich eine körperliche Behinderung vorliegt, kann eine Betreuung nur auf Antrag des Betroffenen eingerichtet werden, es sei denn, es ist überhaupt keine Verständigung möglich, z. B. beim Locked-in-Syndrom.
Der Antrag auf Einrichtung einer Betreuung ist beim zuständigen Amtsgericht (Betreuungsgericht) zu stellen. Die Betreuung kann verschiedene Aufgabengebiete beinhalten (z. B. Gesundheit, Aufenthalt, Vermögen, Behördenangelegenheiten). Maßnahmen gegen den Willen des Betreuten sind grundsätzlich nicht durch die Betreuung legitimiert, daher dürfen z. B. Fixierungsmaßnahmen, die den Straftatbestand der Freiheitsberaubung erfüllen würden, nur nach richterlicher Anordnung durchgeführt werden.
Durch die Einrichtung einer Betreuung ist die Geschäftsfähigkeit grundsätzlich nicht aufgehoben. Das Betreuungsgericht darf aber z. B. einen sog. Einwilligungsvorbehalt durch den Betreuer gesondert anordnen (§ 1903 BGB), was zur Einschränkung der Geschäftsfähigkeit führt.
Zum Thema „Patientenverfügung und „Vorsorgevollmacht
siehe ▶ Kap. 23.
2.3 Grundlagen der Rehabilitation
2.3.1 Begriffsbestimmung: Rehabilitation
Der Begriff „Rehabilitation leitet sich aus dem lateinischen Wort „rehabilitatio
(= Wiederherstellung) ab.
Unter Einbeziehung des ICF-Konzepts lässt sich Rehabilitation definieren als das multi- und interdisziplinäre Management der funktionalen Gesundheit einer Person (Ewert et al. 2002).
Ziel der Rehabilitation ist daher, die bestmögliche soziale und berufliche Teilhabe des Rehabilitanden zu erreichen. Dazu bedient sie sich dreier Strategien (Ewert et al. 2002):
Rehabilitative Strategie: Überwindung und/oder Kompensation von Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe.
Kurative Strategie: Behandlung der geschädigten Körperfunktionen und -strukturen. Dieser Strategie kommt v. a. in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation eine Bedeutung zu.
Präventive Strategie: Verhinderung weiterer Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe (Tertiärprävention).
2.3.2 Rechtliche Grundlagen der Rehabilitation
Es steht außer Frage, dass der Hauptkostenträger der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation die GKV ist. Weitere mögliche Träger von Rehabilitationsleistungen sind in ◘ Tab. 2.5 zusammengefasst (BAR 2006). Neben den hier genannten öffentlichen Trägern können auch weitere Kostenträger infrage kommen, z. B. die private Krankenversicherung, die Beihilfe (bei Beamten) oder berufsständische Versorgungswerke (z. B. Ärzteversorgung).
Tab. 2.5.
Träger von Rehabilitationsleistungen
2.3.3 Indikationsstellung zur Rehabilitation
Für den Bereich der GKV hat sich der Gemeinsame Bundesausschuss über Richtlinien geeinigt, die zur Indikationsstellung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme durch den niedergelassenen Arzt angewendet werden müssen (GBA 2004). Da es sich bei der Frührehabilitation i. d. R. um eine Krankenhausbehandlung handelt und eine Direktverlegung von Krankenhaus zu Krankenhaus erfolgt, haben diese Rehabilitationsrichtlinien keine unmittelbare Relevanz. Dennoch werden sie bisweilen vom MDK herangezogen, um die Indikation oder Fortführung einer Frührehabilitationsbehandlung zu beurteilen. Es dürfen nur dann Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erteilt werden, wenn folgende Kritierien vorliegen:
Rehabilitationsbedürftigkeit,
Rehabilitationsfähigkeit und
positive Rehabilitationsprognose.
Diese Begriffe werden in ◘ Tab. 2.6 erklärt (GBA 2004). Immerhin stellen die Rehabilitationsrichtlinien sicher, dass auch ein pflegebedürftiger Mensch Anspruch auf Rehabilitation hat. Nicht selten wird nämlich Versicherten, denen schon eine Pflegestufe zugeordnet wurde, Rehabilitationsbedürftigkeit abgesprochen.
Tab. 2.6.
Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und positive Rehabilitationsprognose
Bei Frührehabilitanden werden vor allem bei der Rehabilitationsfähigkeit und der Rehabilitationsprognose vonseiten des MDK bisweilen Zweifel angemeldet. Dem können argumentativ aber die geltenden BAR-Empfehlungen entgegengehalten werden. In diesen wird klar ausgeführt, dass Phase B überhaupt erst dem „Herstellen der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit wie auch der „Klärung des Rehabilitationspotenzials
dient (BAR 1995). Der Begriff „Rehabilitationspotenzial" taucht in den genannten Richtlinien explizit nicht auf, ist aber bei der Beurteilung der Behandlungsdauer in der Frührehabilitation ebenfalls von großer Bedeutung.
Rehabilitationspotenzial beschreibt das theoretisch erreichbare Ergebnis des Rehabilitanden auf den Ebenen von Schaden, Aktivität und Partizipation (Bochdansky et al. 2002).
Prägnant formuliert bezeichnet das Rehabilitationspotenzial das Delta zwischen Ist-Zustand und bestmöglichem Rehabilitationsergebnis. Es versteht sich von selbst, dass i.R. der (mindestens wöchentlich) stattfindenden Teambesprechungen auch das Rehabilitationspotenzial einer kritischen Würdigung unterzogen werden muss.
2.4 Zusammenfassung
Sowohl in der Sozialmedizin wie auch der Rehabilitation spielt das ICF-Modell der WHO eine wichtige Rolle. Rehabilitative Maßnahmen müssen sich heute an diesem teilhabeorientierten Ansatz messen lassen und fokussieren auf die funktionale Gesundheit einer Person.
Auch in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation müssen Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose in Verbindung mit dem Rehabilitationspotenzial beachtet werden. Leider können Rehabilitationsprognose und Rehabilitationspotenzial zu Beginn der Behandlung oft noch nicht abgeschätzt werden. Hier dient die Phase-B-Rehabilitation dazu, das Rehabilitationspotenzial überhaupt erst zu ermitteln. Aufgrund der erheblichen Morbidität von Frührehabilitanden wird die Rehabilitationsfähigkeit vonseiten des MDK immer wieder negiert. Dabei ist ja gerade das Wesen von Phase B, eine basale Rehabilitationsfähigkeit herzustellen.
Wenngleich der bedeutendste Kostenträger in der Frührehabilitation die GKV ist, ist die Kenntnis der Grundzüge des Systems der sozialen Sicherung notwendig, um allen Rehabilitanden gerecht werden zu können und alternative Träger für Rehabilitationsmaßnahmen ausfindig zu machen.
Im Rahmen des Entlassungs- und Übergangsmanagements sind die Besonderheiten der gesetzlichen Pflegeversicherung und der Pflegeeinstufung zu beachten.
Literatur Kap. 2
[1]
Ärztekammer Niedersachsen (2011) Weiterbildungsordnung vom 01.05.05 in der Fassung vom 01.02.11. http://www.aekn.de. Abgerufen am 29.02.2012
[2]
Bochdansky T, Prager C, Ammer K (2002) Allgemeine Rehabilitation. Grundlagen und Prinzipien. Österr Z Phys Med Rehabil 12:47-53
[3]
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (1995) Empfehlungen zur Neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C. BAR Publikation, Frankfurt/M.
[4]
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (2006) ICF-Praxisleitfaden. BAR-Publikation, Frankfurt/M.
[5]
Ewert T, Cieza A, Stucki G (2002) Die ICF in der Rehabilitation. Phys Med Rehab Kuror 12:157-162CrossRef
[6]
Gemeinsamer Bundesausschuss (2004) Rehabilitationsrichtlinie vom 16. März 2004. http://www.g-ba.de. Abgerufen am 29.02.2012
[7]
Harms V (1998) Biomathematik, Statistik und Dokumentation. Harms, Kiel
[8]
Niehoff JU (2006) Sozialmedizin systematisch. Uni-Med-Verlag, Bremen
[9]
Rauschelbach HH (2000) Das neurologische Gutachten. Thieme, Stuttgart
[10]
Schuntermann MF (2009) Einführung in die ICF. ecomed, München
[11]
Walter H (2002) Sozialmedizin. Grundlagen und Praxis. Kohlhammer, Stuttgart
Jens Dieter RollnikDie neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation110.1007/978-3-642-24886-3_3© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
3. Die ICF – Grundlagen und Anwendung in der neurologischen Frührehabilitation
Christian Müller¹ und Sindy Lautenschläger¹
(1)
Ergotherapie, BDH-Klinik Elzach, Am Tannwald 1, 79215 Elzach, Deutschland
3.1 Einleitung
3.2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
3.2.1 Die ICF als bio-psycho-soziales Modell
3.2.2 Aufbau der ICF
3.2.3 Klassifikationssystem der ICF
3.3 ICF als Grundlage der Steuerung von Behandlungsprozessen
3.4 Assessmentverfahren in der neurologischen Rehabilitation
3.4.1 Die ICF im Kontext neurologischer Assessments
3.4.2 Beispiel für ein ICF-basiertes Instrument in der Praxis
3.5 Therapieziele auf Basis der ICF in der neurologischen Frührehabilitation
3.5.1 Methodisches Vorgehen
3.5.2 Praktische Umsetzung: Formulieren und Überprüfen von Therapiezielen
3.6 Behandlungsplanung und Therapiekonzepterstellung
3.6.1 Planung und Durchführung neurologischer Frührehabilitationsmaßnahmen
3.7 Entscheidungsprozess: Beendigung oder Fortsetzung der Rehaleistung
3.7.1 Bedeutung von Prognosefaktoren
3.7.2 Entscheidung: Fortsetzung oder Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme
3.8 Entlassplanung
Literatur Kap. 3
Zusammenfassung
Mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) steht ein Rahmenmodell für die Rehabilitation insgesamt und damit auch für die tägliche klinische Praxis zur Verfügung. Im vorliegenden Beitrag wird die ICF als Bezugsrahmen für die neurologische Frührehabilitation eingeführt. Im Anschluss werden der Ablauf der Rehabilitation in Form eines Rehabilitationsprozesses skizziert und einzelne Kernprozesse daraus erörtert. Die rehabilitative Diagnostik, die Rehabilitationsplanung einschließlich der Festlegung von Zielen und der Therapiekonzepterstellung wie auch Entscheidungsprozesse zur Fortführung oder Beendigung der Rehabilitationsleistungen werden im Kontext des bio-psycho-sozialen Modells betrachtet. Es werden klinisch praktikable Instrumente vorgestellt und der Fokus auf die praktische Umsetzung der ICF in den einzelnen Phasen gerichtet. Um die theoretisch dargestellten Aspekte mit der Praxis zu verknüpfen, wird einleitend ein fiktives ▶ Fallbeispiel „Patient Herr Meyer" eingeführt, auf das jeweils am Ende der einzelnen Kapitel Bezug genommen wird.
3.1 Einleitung
Herr Meyer: Anamnese
Herr Meyer, 68 Jahre alt, hat einen Mediainfarkt links hochparietal (ICD-10: I634) erlitten und wurde auf einer Stroke Unit versorgt. Am 7. Tag wurde Herr Meyer in die neurologische Frührehabilitationseinrichtung verlegt. Aus dem ärztlichen Entlassungsbrief der Vorklinik gehen die nachfolgend aufgeführten Diagnosen hervor. Aus dem pflegerischen und therapeutischen Verlegungsbericht des Akutkrankenhauses zeigt sich das klinische Bild des Patienten (▶ Fallbeispiel Herr Meyer: Klinisches Bild).
Angaben zur Person:
Rentner, verwitwet, übergewichtig (123,6 kg bei 186 cm), lebt in der 1. Etage (2×12 Treppen) in einem Zweifamilienhaus. Sohn und Schwiegertochter wohnen im Erdgeschoss, sind jedoch ganztags berufstätig.
Herr Meyer hat sich bis zu seinem Schlaganfall komplett selbst versorgt, hat gerne im Garten gearbeitet und hat jeden Freitag am Dorfstammtisch teilgnommen.
Diagnosen/ICD-10:
Vorhofflimmern, paroxysmal (ICD-10: I4810),
Hyperlipidämie (ICD-10: E785),
beaufsichtigungspflichtige Dysphagie (ICD-10: R130),
Stuhl-/Harninkontinenz (ICD-10 :R15, R32),
respiratorische Insuffizienz, Typ II nach kryptogener organ. Pneumonie (ICD-10: J969),
akute Pneumokokkensepsis im rechten Oberlappen (ICD-10: J189).
Die Angehörigen wollen wissen, wie es weitergeht. Sie erkundigen sich, was Herr Meyer für Behandlungsmaßnahmen erhält, wer ihn betreut, möchten wissen, wie die Behandlungsprognose aussieht, und ob er wieder in sein häusliches Umfeld entlassen werden kann.
Welche Aufgaben stellen sich vor diesem Hintergrund nun für den Arzt und das Behandlungsteam?
Im Folgenden werden einzelne Bereiche des Rehabilitationsprozesses im Fall des Herrn Meyer dargestellt.
Mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) steht ein Rahmenmodell für die Rehabilitation insgesamt und damit auch für die tägliche klinische Praxis zur Verfügung. Im vorliegenden Beitrag wird die ICF als Bezugsrahmen für die neurologische Frührehabilitation eingeführt. Im Anschluss werden der Ablauf der Rehabilitation in Form eines Rehabilitationsprozesses skizziert und einzelne Kernprozesse daraus erörtert. Die rehabilitative Diagnostik, die Rehabilitationsplanung einschließlich der Festlegung von Zielen und der Therapiekonzepterstellung wie auch Entscheidungsprozesse zur Fortführung oder Beendigung der Rehabilitationsleistungen werden im Kontext des bio-psycho-sozialen Modells betrachtet. Es werden klinisch praktikable Instrumente vorgestellt und der Fokus auf die praktische Umsetzung der ICF in den einzelnen Phasen gerichtet. Um die theoretisch dargestellten Aspekte mit der Praxis zu verknüpfen, wird einleitend ein fiktives ▶ Fallbeispiel „Patient Herr Meyer" eingeführt, auf das jeweils am Ende der einzelnen Kapitel Bezug genommen wird.
3.2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt und im Jahr 2001 von der Vollversammlung verabschiedet (WHO 2001). Sie gehört zu einer Reihe von internationalen Klassifikationssystemen der WHO und steht mit der bekannten International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) in Beziehung:
Bei der ICD geht es darum, für ein Gesundheitsproblem nach einem medizinischen Modell eine Diagnose zu stellen. Deren Ziel ist es, eine Therapie für das Problem zu finden (Meyer 2004).
Bei der ICF geht es hingegen um die systematische Erfassung der Folgen von Gesundheitsproblemen.
3.2.1 Die ICF als bio-psycho-soziales Modell
Der ICF liegt ein bio-psycho-soziales Modell zugrunde, das den verschiedenen gesundheitlichen Versorgungssystemen (Kuration, Rehabilitation, Prävention und Pflege) einen theoretischen Bezugsrahmen mit einer multidimensionalen Betrachtungsweise des Rehabilitanden (Tempest u. Intyre 2006; Ewert et al. 2002; Jette 2006) und eine einheitliche Terminologie (Körner 2005) zur Verfügung stellt. Das multidimensionale Modell versucht, die Blickrichtung vom Individuum auf seine sozialen Zusammenhänge zu lenken, und berücksichtigt dabei den gesamten Lebenshintergrund einer Person. Es unterscheidet drei Ebenen:
1.
die biomedizinische Ebene des Organismus (Schädigungen von Körperfunktionen und -strukturen),
2.
die Ebene des handelnden Menschen mit seinen Aktivitäten (Handlungsebene), die durch Krankheit und Kontextfaktoren wie z. B. Umweltbedingungen beeinträchtigt sein können,
3.
die Ebene des Subjekts in Gesellschaft und Umwelt (Kontextfaktoren) mit Barrieren und Förderfaktoren, die das Ausmaß der Teilhabe und damit die Beeinträchtigungen bestimmen können (Schliehe 2006).
3.2.2 Aufbau der ICF
Die ICF ist in zwei Teile gegliedert, die jeweils aus zwei Komponenten bestehen:
Der erste Teil befasst sich mit Funktionsfähigkeit und Behinderung und besteht aus den Komponenten Körperfunktionen und -strukturen sowie aus den Komponenten Aktivitäten und Partizipation.
Der zweite Teil setzt sich aus den Kontextfaktoren – den umwelt- und personenbezogenen Faktoren zusammen (Garnier et al. 2006).
3.2.2.1 Konzepte der Körperfunktionen und Körperstrukturen
Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (▶ Übersicht 3.1), Körperstrukturen hingegen sind die anatomischen Teile des Körpers (▶ Übersicht 3.2; Schuntermann 2005).
Übersicht 3.1. Klassifikation der Körperfunktionen (b = „body functions")
Kapitel 1: Mentale Funktionen
Kapitel 2: Sinnesfunktionen und Schmerz
Kapitel 3: Stimm- und Sprechfunktionen
Kapitel 4: Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen, Immun- und Atmungssystems
Kapitel 5: Funktionen des Verdauungs-, des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems
Kapitel 6: Funktionen des Urogenital- und reproduktiven Systems
Kapitel 7: Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen
Kapitel 8: Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde
(Abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Deutsche Version 2005. Alle Rechte liegen bei der WHO)
Übersicht 3.2. Klassifikation der Körperstrukturen (s = „body structures")
Kapitel 1: Strukturen des Nervensystems
Kapitel 2: Das Auge, das Ohr und mit diesen