Telefonische Beratung in Krisensituationen: Hintergründe und Interventionen für Psychologen, Berater und Ehrenamtliche
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Telefonische Beratung in Krisensituationen - Christian H. Sötemann
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Christian H. SötemannTelefonische Beratung in Krisensituationenessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-24566-5_1
1. Einleitung
Christian H. Sötemann¹
(1)
Systemischer Therapeut und Berater (SG), Berlin, Deutschland
Christian H. Sötemann
Email: chsoetemann@googlemail.com
Psychologische Beratung in Krisensituationen ist ein Prozess, in dem bei Entscheidungshoheit der Klientinnen und Klienten ihre Probleme vor einem psychologisch-theoretischen Hintergrund erörtert und mögliche Lösungsszenarien entworfen werden können (vgl. auch Steinebach 2006, S. 13). Neben dem direkten persönlichen Gespräch vor Ort kann der Austausch auch über E-Mails, über Chats von Messenger-Plattformen und auf telefonische Weise stattfinden. Die letztgenannte Form von Beratung soll hier vertieft besprochen werden. Viele Menschen kennen das Angebot der Telefonseelsorge – doch auch andere Institutionen und Träger bieten telefonische Beratung an, oft genug zu spezifischen Themenfeldern (etwa zu verschiedenen Formen von Gewalt) oder an spezifische Bevölkerungsgruppen gerichtet (beispielsweise für Eltern oder Kinder und Jugendliche).
Beratung in Krisensituationen bedarf meist einer methodischen Flexibilität und Offenheit (vgl. z. B. Sonneck 2000, S. 20). Daher fließen sowohl philosophische Gedanken wie auch Elemente aus systemischer Therapie und Beratung, Tiefenpsychologie, humanistischer Psychologie und existenzieller Psychotherapie in die folgende Darstellung ein. Die zentrale Rolle kommt entsprechend dem Primat des Anliegens zu, also denjenigen Inhalten, die von den Anrufenden vorgebracht werden.
Im Folgenden wird in der Regel vom häufigen Szenario der anonymen telefonischen Beratung ausgegangen. Je nachdem, ob die Rahmenbedingungen eines telefonischen Beratungsangebotes hiervon abweichen, sind entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Darüber hinaus können die Ausführungen in diesem essential natürlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit haben. Psychologische Beratung ist potenziell unendlich komplex, und telefonische Krisenberatung macht da keine Ausnahme – eine vollständige Vorgabe einer Art von Manual für eine psychologische Beratung am Telefon kann dieser nicht gerecht werden und ein solcher Versuch wird daher auch nicht unternommen. Es ist aber möglich, wichtige Grundlageninformationen und Hinweise zu besprechen, die Beratende als Unterstützung nutzen können, um ihre eigenen spezifischen Herangehensweisen zu finden.
Im Text wechsle ich zwischen weiblichen und männlichen Formen – selbstverständlich gelten alle Darstellungen für jede geschlechtliche Zuordnung.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Christian H. SötemannTelefonische Beratung in Krisensituationenessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-24566-5_2
2. Besonderheiten telefonischer Beratung
Christian H. Sötemann¹
(1)
Systemischer Therapeut und Berater (SG), Berlin, Deutschland
Christian H. Sötemann
Email: chsoetemann@googlemail.com
2.1 Erkenntnistheoretische Überlegungen zur Beratung am Telefon
Zunächst bietet es sich an, die Besonderheiten der Kommunikationssituation am Telefon mit Blick auf ihre erkenntnistheoretische Basis zu betrachten. Ein solches Verständnis, das an dieser Stelle nur in gebotener Knappheit skizziert werden kann, lässt sich exemplarisch über vier Schritte aufzeigen, indem wir von der direkten Gewissheitssphäre zum Erkennen der Außenwelt, von dort zum Erkennen des Fremdpsychischen überhaupt und schlussendlich zum Erfassen des Fremdpsychischen in der telefonischen Kommunikation übergehen. Wir können so hervorheben, wie sich das am Telefon Mitgeteilte von anderen Erlebnissphären unterscheidet.
Sucht man also zunächst nach einer Gewissheit im Erkennen, so lässt sich sagen:
Mein unmittelbares Erleben ist etwas, das mir unzweifelhaft gegeben ist. Es gehört zu dem, was für mich evident ist, wie zum Beispiel Aussagen, die jedem Zweifel widerstehen: „Etwas ist, „A = A
usw.
Was sich mir in direkter „Anschauung (vgl. Kant 1974, S. 69 und Schopenhauer 1988, S. 70 f.), in „schlichter Wahrnehmung
(vgl. Becher 2017, S. 24) zeigt, ist in meinem persönlichen Erleben vorhanden. Auch eine optische Täuschung oder ein Verhörer sind ja etwas, das ich unmittelbar erlebe (vgl. Schopenhauer 1988, S. 58). Das gilt unabhängig davon, ob die Welt jenseits meines Erlebens genau so ist, wie ich es annehme.
In dem Moment allerdings, in dem ich meinem Erleben äußere Realität zuspreche und allgemeine Gültigkeit für meine Wahrnehmungen und Urteile beanspruche, tritt bereits ein Maß an Erkenntnisunsicherheit auf, weil ich behaupte: X ist ein wahres Urteil über die Außenwelt, nicht nur etwas aus meinem rein persönlichen Erleben. Ein solches empirisches Urteil hat nicht mehr die Gewissheit des unmittelbar Gegebenen, sondern höchstens große Wahrscheinlichkeit, weil die Möglichkeiten der Täuschung, unvollständiger