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Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter: Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen
Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter: Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen
Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter: Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen
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Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter: Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen

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Dieses Praxis-Manual leistet Hilfestellung, psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter im pädagogischen Alltag von Reifungsphänomenen zu unterscheiden, die eigenen pädagogischen Handlungs- und Beratungsmöglichkeiten zu erkennen, weiteren Hilfebedarf einzuschätzen, diesen gut zu kommunizieren und manifesten Störungen vorzubeugen. Es versteht sich als Handbuch mit wichtigen Schwerpunkten für die Praxis, in dem auch kurzfristig nachgeschlagen werden kann. Es richtet sich in erster Linie an Personen, die Säuglinge und Kleinkinder betreuen, kann jedoch auch für behandelnde Berufsgruppen und interessierte Laien hilfreich sein.
Ihr Wegweiser für den pädagogischen Alltag, der Sie einlädt, Ihr Wissen anzuwenden.
LanguageDeutsch
PublisherSpringer
Release dateNov 20, 2019
ISBN9783658278106
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    Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter - Simon M. Rank

    © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020

    S. M. RankPsychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalterhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_1

    1. Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

    Simon M. Rank¹  

    (1)

    Medizinische Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz, Regensburg, Deutschland

    Simon M. Rank

    Email: simon.rank@kjppt.de

    Die Entwicklung von Kindern ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Erbgut und Erfahrungen. Sie folgt einem relativ einheitlichen „Entwicklungsplan", einzelne Merkmale bilden sich dabei jedoch sowohl zeitlich als auch in ihrer Ausprägung sehr unterschiedlich heraus. Kinder entwickeln sich also verschieden und in ihrer eigenen Geschwindigkeit. An Einzelbeispielen (z. B. eigenen Kindern) oder Ideologien orientierte Ratschläge entsprechen der Individualität eines Kindes deshalb meist nicht. Wenn Erziehung, Betreuung, Förderung und Therapie den individuellen Bedürfnissen eines Kindes gerecht werden wollen, müssen sie seine Begabungen und sein aktuelles Entwicklungsstadium berücksichtigen.

    Damit sich ein Kind gut entwickelt, braucht es neben Nahrung und Pflege auch Zuwendung und das Erleben von Nähe und Geborgenheit. Dazu ist ein „emotionales Band zu Eltern und Bezugspersonen nötig, das Bindung genannt wird. Sie entsteht aus gemeinsamen Erfahrungen – und genügend Zeit, diese zu machen. Sicherheit und Geborgenheit setzen dahin gehend voraus, dass Bezugspersonen in ausreichendem Maße vertraut, verfügbar und verlässlich sind. Alle Maßnahmen in Erziehung, Betreuung, Förderung und Therapie von Kindern sollten auf dieser Grundlage entwicklungs-, kindgerecht und konsequent sein. Loben (positives Verstärken), Ignorieren und Verbieten (negatives Verstärken) sind dabei sinnvolle „Methoden, wenn sie nicht losgelöst von Beziehung und einer emotionalen Aktivierung angewandt werden, also das Kind die durchführende Person als ihm zugewandt erleben und begreifen kann, dass und inwiefern es die betreffende Sache angeht. Dies schützt vor Ansprüchen, die dem Entwicklungsstand eines Kindes nicht gerecht werden, soll aber vor allem dazu anregen, die Wirkung der bei allen Kindern grundlegenden Neugier und Begeisterungsfähigkeit nicht geringer zu bewerten als die der vorgenannten Methoden.

    Soziales Lernen vollzieht sich durch Nachahmung von Verhalten. Werte und Sozialverhalten lassen sich deshalb in erster Linie durch Vorbilder vermitteln. Eigene und Gedanken, Gefühle und Verhalten anderer wahrzunehmen und zu reflektieren sind Fähigkeiten, die soziale Kognition voraussetzt.

    Die motorische Entwicklung erstreckt sich vom zweiten Schwangerschaftsmonat bis in die Adoleszenz und kann als Reifungsprozess gesehen werden, in dem eine Fähigkeit deren Differenzierung bahnt und in Kombination mit anderen Fähigkeiten neue ermöglicht. Wesentlich sind dabei Möglichkeiten, sich ausgiebig und vielfältig zu bewegen. Die Geschwindigkeit der motorischen Entwicklung variiert und ist unabhängig von anderen Entwicklungsbereichen.

    Die sprachliche Entwicklung fußt auf zwischenmenschlichen Erfahrungen und ermöglicht es Menschen, (neben der Körpersprache) differenziert zu kommunizieren. Kinder entwickeln zunächst die Vorstellung von etwas, dann das Wort für diese Vorstellung und schließlich die Fähigkeit, das Wort einzusetzen. Dementsprechend gelingt sprachliche Kommunikation mit einem Kind am besten, wenn sie sich an seinen Vorstellungen und seinem Sprachverständnis orientiert. Der sprachliche Ausdruck ist davon zu unterscheiden.

    Spielen ist für Kinder keine fakultative Freizeitbeschäftigung, sondern entwicklungsnotwendig. Dabei geht es nicht um irgendein Ergebnis oder Ziel, sondern um die Erfahrungen sozialer, kognitiver und sprachlicher Natur, die dabei gemacht werden. Erwachsene haben deshalb keine anleitende, sondern eine abholende Rolle, die sowohl eine Unter- als auch eine Überforderung möglichst vermeidet. Dazu muss sich das Spiel am Entwicklungsstand eines Kindes orientieren. Dieser bildet sich im Spielverhalten ab. Während in den ersten beiden Lebensjahren kaum Geschlechterunterschiede beobachtet werden können, sind diese anschließend deutlich sichtbar. Kinder erfahren im Spiel ihre Umwelt mit allen Sinnen, üben funktionelle Abläufe ein, erfassen räumliche, kategoriale und kausale Zusammenhänge und erweitern ihre sprachlichen und sozialen Fähigkeiten. Erwachsene bestimmen das – jeweils altersgerechte – Angebot an Spielzeug, sind begleitender Partner und soziale Vorbilder, können aber das Spiel mit anderen Kindern nicht ersetzen. Kindgerechtes Spiel bedeutet grundlegend, der Neugier eines Kindes zu folgen.

    Ernährung und Ausscheidung sind relativ dominante Themenbereiche von Eltern mit Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter. Dies beginnt bei der der Ernährung mit den Fragen, ob Muttermilch oder Säuglingsnahrung der Vorzug gegeben werden sollte, Stillen oder der Flasche und schließlich, wie weit Essen und Trinken in der Erziehung eine Rolle spielen. Auch über Zeitpunkt und Intensität der Sauberkeitserziehung bestehen oft Unsicherheiten. Bevor in nachfolgenden Abschnitten für jedes Entwicklungsalter gesondert darauf eingegangen wird, einige allgemeine Bemerkungen:

    Nährstoffe und Energiegehalt von Säuglingsnahrung stehen der Muttermilch in nichts nach, ihr fehlen jedoch wichtige Abwehrstoffe. Sofern das Füttern mit der Flasche nicht mit Beeinträchtigungen der Zuwendung und Fürsorge für das Baby einhergehen, stellt es keine Einschränkung der Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind dar.

    Essen und Trinken haben soziale und emotionale Bedeutung, sind jedoch kein Erziehungsmittel (z. B. als Belohnung oder Bestrafung). Ihr Missbrauch bahnt psychische und Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; Gontard 2010). Tischmanieren entwickeln sich am Vorbild von Bezugspersonen.

    Kinder werden mit und ohne eine sogenannte Sauberkeitserziehung durchschnittlich mit 30 Monaten sauber und trocken, tagsüber etwas früher, nachts etwas später. Den Zeitpunkt der Sauberkeitsentwicklung bestimmen individuelle Reifungsprozesse, die sich nicht durch Sauberkeitstraining beeinflussen bzw. beschleunigen lassen. An einem gewissen Punkt dieses Reifungsprozesses nehmen Kinder Urin- und Stuhldrang bewusst wahr und signalisieren dies. Dann brauchen sie Unterstützung, selbstständig zu reagieren und die Möglichkeit, Bezugspersonen nachzuahmen. Werden auf die kindliche Bereitschaft, trocken und sauber zu werden, nicht reagiert und kein Modelllernen ermöglicht, zeigen Kinder in der Regel keine eigeninitiative Sauberkeitsentwicklung mehr, da sie sich an die Windel gewöhnt haben. Andernfalls sind die meisten Kinder bis zum fünften Lebensjahr überwiegend sauber und trocken.

    Ein unabhängig von der Eigeninitiative des Kindes erfolgendes Auf-den-Topf- oder Auf-die-Toilette-Setzen, „ritualisiertes" nächtliches Wecken, die Kontrolle der Trinkmenge am Abend, Bestrafung für volle Windeln, Hosen oder Betten respektive Belohnungen für trockene Hosen oder trockene Betten beschleunigen die Sauberkeitsentwicklung nicht und können psychische und Verhaltensauffälligkeiten bahnen.

    Wachstum und Gewichtsentwicklung lassen sich am besten mittels Perzentilenkurven erfassen, wobei sich die Kurven in etwa parallel zu den Linien bewegen sollten. Sie gehen auch mit einer Veränderung der Körperproportionen einher, die sich aus einer unterschiedlich schnellen Entwicklung von Organen ergeben. Gehirn, Augen und Ohren entwickeln sich bereits in der Schwangerschaft weit fort, Arme und Beine sind im Mutterleib dagegen nur wenig entwickelt. Letztere haben platzbedingt eine O-Stellung, die bis ins Säuglingsalter fortbesteht und sich bis zum Ende des dritten Lebensjahres in eine leichte X-Stellung wandelt. Bis zum Schulalter normalisiert sich die Beinstellung. Das Längenwachstum erfolgt in Abhängigkeit von der grobmotorischen Entwicklung. Im Jugendalter verändern sich die Körperproportionen zur erwachsenen Gestalt, verbunden mit einem Wachstumsschub und der Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale.

    Ob es einem Kind gut geht, hängt auch davon ab, wie es den Menschen geht, die ihm entwicklungsgerechte Erfahrungen überhaupt ermöglichen können: seinen Eltern und anderen Betreuungspersonen. Sind sie belastet, sind es auch die Entwicklungsbedingungen. Je besser es ihnen geht, desto besser können sie sich um die ihnen anvertrauten Kinder kümmern. Erziehung und Entwicklung sollte deshalb in einem Beziehungsnetz stattfinden, das Eltern hilft und Kinder bereichert. Institutionell kann dies nur gelingen, wenn bestimmte Qualitätsstandards eingehalten und überprüft werden. Eine gute Kinderbetreuung misst sich nicht an der Vermittlung von Sachkompetenzen, sondern an Fürsorglichkeit, Kontinuität und Stabilität der Bezugspersonen.

    1.1 Schwangerschaft

    Im ersten Schwangerschaftsdrittel werden die Organe angelegt und entwickeln im zweiten Drittel ihre Funktion. Im letzten Drittel gewinnt das Ungeborene an Größe und Gewicht und bildet ein wärmendes, energiespeicherndes Fettgewebe für das Leben außerhalb der Gebärmutter.

    Die Ernährung des Kindes in der Schwangerschaft erfolgt über Plazenta und Nabelschnur, sodass sich die Ernährung der Mutter auf das Kind auswirkt. Impfungen (Röteln), die Vermeidung von Kontakten zu Haustieren und der Verzicht auf Rohmilchprodukte und rohes Fleisch (Toxoplasmose) schützen das Ungeborene vor gefährlichen Infektionen. Bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche üben Kinder Saugen und Schlucken. Suchtmittel jeder Art und zahlreiche Medikamente schaden der Kindesentwicklung im Mutterleib und sollten dringend vermieden bzw. ärztlich rückgesprochen werden.

    Bewegungen können nach Vollendung des zweiten Schwangerschaftmonats aufgezeichnet werden, entsprechen um den Übergang vom dritten zum vierten Monat herum denen, die sich auch bei Neugeborenen beobachten lassen und können etwa ab der 18. Schwangerschaftwoche von der Mutter erspürt werden. Das Kind bewegt sich dabei in weitreichender Schwerelosigkeit und muss den Umgang mit der Schwerkraft deshalb erst nach der Geburt üben. Darüber hinaus bahnen die Kindsbewegungen in der Schwangerschaft jedoch Organfunktionen, die Modellierung der Gliedmaßen, lebenswichtige Reflexe (z. B. Saug- und Schluckreflex), Bewegungsmuster und die Passung im Geburtskanal. Die für Säuglinge typischen ungerichteten Bewegungen der Arme und Beine sowie Schreitbewegungen bei Berührung der Fußsohlen sind Relikte vorgeburtlicher Bewegungen.

    Kinder zeigen etwa ab der 20. Schwangerschaftswoche vorgeburtliche Reaktionen auf akustische Reize. Wiederholt dargebotene Reize sind ihnen nach der Geburt wohl vertraut (z. B. Stimme der Mutter). Unklar ist, ob ihnen Bedeutungen zugeschrieben werden. Es ist unwahrscheinlich, dass diese gegebenenfalls allzu weit reichen, da – gemessen an der Aufnahmefähigkeit nach der Geburt – insbesondere Umwelt- und Medieneinflüsse sonst sehr schnell überfordernd wären. Auch sind akustische Reize etwa in der Weise verfälscht, wie wenn Erwachsene ihren Kopf bei laufendem Wasser unter Wasser halten. Und schließlich beträgt die Lautstärke in Form von Darmgeräuschen und Strömungsgeräuschen von Blutgefäßen im Mutterleib etwa der Lautstärke einer Stimme. Ganz erstaunlich, dass sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch etwas „heraushören" lässt. Bei Geburt ist das Gehör voll funktionsfähig.

    Schlaf- und Wachperioden entwickeln sich in der Schwangerschaft erst mit etwa der 36. Schwangerschaftswoche, wobei die beinahe vollkommene Dunkelheit einen Tag-Nacht-Rhythmus verhindert und die Schlafphasen weitgehend gleich verteilt und unabhängig vom mütterlichen Schlaf sind. Bei Frühgeborenen (also vor der 37. Schwangerschaftswoche) lässt sich beobachten, dass sie die Augen meist geschlossen haben und allenfalls kurz wach und empfänglich sind. Dieses „dämmern" entspricht am ehesten dem Bewusstseinszustand ungeborener Kinder.

    Die Eltern-Kind-Beziehung entwickelt sich nicht erst ab Geburt, sondern bereits in der Schwangerschaft. Alle familiären Modelle, Vorstellungen, Erwartungen und gemeinsamen Erfahrungen in der Schwangerschaft prägen die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind, lange bevor es zur Welt kommt. Die etwa 40 Wochen sind zunächst geprägt von Erwartungen und Vorstellungen („Wie wäre es, eine gute Mutter zu sein?), dann von den ersten Lebenszeichen (ca. 18. Woche; „Wie mag es sein, dieses Kind, das mal lebhaft, mal sanft tritt?) und schließlich von den Vorbereitungen auf die Geburt (ein inneres Bild, wie das Kind sein könnte, weicht einem realen; „Was können wir als Eltern konkret tun?). Hoffnungen und Sorgen begleiten einen schrittweisen Prozess, in dem sich Eltern auf ihr ungeborenes Kind einlassen und Zeit und Raum für eine Familie schaffen. Abschließend lässt sich vor der Geburt nicht einschätzen, wie sehr sich das Leben des einzelnen Elternteils und als Paar verändern wird. Deshalb ist es wichtig, bereits in der Schwangerschaft Vorbereitungen zu treffen, um nach der Geburt ausreichend Zeit zu haben, sich an die neue Lebenssituation und einen neuen Menschen zu gewöhnen, der zwar das eigene „Fleisch und Blut, aber doch ein Individuum ist, dessen Wesen und Bedürfnisse kennen gelernt werden müssen. Erst danach sollten – wenn möglich – die Entscheidungen fallen, wann die Mutter wieder arbeiten geht, und wie sehr, auch zeitlich, ein Kind den Vater braucht.

    1.2 Die ersten drei Monate

    Die ersten Stunden nach der Geburt sollte ein Kind mit allen Sinnen bei seinen Eltern sein. Es sollte sie spüren, riechen und hören. Geht es Mutter und Kind gut genug, sollte das Kind unmittelbar nach der Austreibung auf die Brust der Mutter gelegt werden, sodass es ihren – aus dem Mutterleib vertrauten – Herzschlag hören kann. Nach notwendigen Untersuchungen und mit der ersten Windel versorgt, sollten sich Mutter und Kind dann in engem Körperkontakt von den Strapazen der Geburt erholen. Die meisten Neugeborenen sind in den ersten Stunden sehr wach und aufmerksam, viele Eltern trotz Schlafmangel und Anstrengungen ebenso: Sie haben ein starkes Bedürfnis, einander kennenzulernen.

    Die Ernährung von Säuglingen basiert auf Such-, Saug- und Schluckreflex auf Seite des Kindes, Milchbildungs- und Milchausscheidungsreflex auf Seite der Mutter. Das Saugen des Kindes „bestellt" die Milch, weshalb die Häufigkeit des Anlegens die Milchproduktion bestimmt. In den ersten Tagen wird Vormilch (Kolostrum) gebildet, die eine hohe Dosis wichtiger Abwehrstoffe enthält. Binnen vierzehn Tagen bildet sich reife Milch. Die Häufigkeit des Anlegens und die Trinkmengen sind von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Sie hängen nur geringfügig vom Körpergewicht ab. Ob ein Kind ausreichend versorgt ist, lässt sich in absteigender Spezifität mittels Wachstumskurve, Gewichtszunahme, Aktivität und Schreiverhalten feststellen. Wie schon in der Schwangerschaft wirkt sich die Ernährung der Mutter auf das Stillen aus und sollte deshalb ausreichend und vielfältig sein. Die Ernährung von Neugeborenen und Säuglingen ist nicht allein körperlich lebenswichtig, sondern ein wichtiger Bestandteil des Beziehungsaufbaus zwischen Bezugspersonen und Kind.

    Nach der Geburt können Neugeborene bis zu zehn Prozent ihres Geburtsgewichts verlieren, sollten dieses binnen 14 Tagen jedoch wieder erreichen. Insgesamt nehmen Größe, vor allem die des Kopfes, und Gewicht in den ersten drei Monaten enorm zu. Die Kopfform wird zunächst durch den Geburtsvorgang, später durch Schwerkraft und genetische Anlagen bestimmt. Die Schädelnähte schließen sich nach dem ersten halben Lebensjahr bis spätestens zum Ende des zweiten Lebensjahres.

    Nach und nach entwickeln Säuglinge einen zirkadianen bzw. Tag-Nacht-Rhythmus. Ein ritualisierter Tagesablauf mit immer gleichen Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten hilft ihnen dabei. Zunächst schlafen sie nur wenige Stunden (ca. 2–4) am Stück. Mehr als sechs Stunden kämen einem Durchschlafen gleich, das schon durch den periodisch alle zwei bis vier Stunden auftretenden Hunger in den ersten Lebensmonaten kaum ein Kind erreicht. Zu ruhigen Nächten trägt bei, dem Nähe-Bedürfnis von Säuglingen auch nachts zu entsprechen. Dabei sollte das Kind zur Reduktion des Risikos für den plötzlichen Kindstod nicht auf weichen, unebenen Unterlagen, ohne Kissen und Decken in einem 16–18 Grad kühlen Raum schlafen (dafür warm angezogen in einem Schlafsack). Das Kind im Elternschlafzimmer und in unmittelbarer Hör- und Reichweite schlafen zu lassen entlastet Kinder und Eltern meist gleichermaßen. Es gilt zu bedenken, dass ein Kind, das lauter schreien muss, auch wacher wird und entsprechend schwieriger wieder einschläft.

    Bedürfnisse äußern Säuglinge in erster Linie durch Schreien. Es signalisiert Hunger, eine volle Windel oder Kälte, drückt aber auch das Bedürfnis nach Zuwendung und Körperkontakt aus. Besonders in den Abend- und Nachtstunden kann es zu einem unspezifischen Schreien kommen. Von der Geburt bis zur sechsten Lebenswoche nimmt das Schreien charakteristischerweise zu, danach bis zum dritten Lebensmonat wieder ab (bei Frühgeborenen ausgehend vom errechneten Geburtstermin), wobei sich Säuglinge zunehmend durch Vokalisieren ausdrücken. Verkürzt oder abgemildert, nicht jedoch gänzlich vermieden werden können Schreiphasen, wenn Kinder tagsüber regelmäßig getragen und beschäftigt (spielen, „turnen, massieren) werden, ein- bis zweimal täglich an die frische Luft kommen und der Tagesablauf ritualisiert ist (feste Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten). Babylaute folgen im Verlauf der ersten Monate einem universalen, mit der physiologischen Reifung abgestimmten Entwicklungsprogramm und sind damit mehr als eine Bedürfnisäußerung oder gar reine „Alarmsirene (Fuamenya et al. 2015). Untersuchte Neugeborene aus verschiedenen Ländern und Sprachkulturen zeigen im Weinen vier universale melodische Grundkonturtypen, die wahrscheinlich Spuren der Lautäußerungen unserer Vorfahren vor etwa zwei Millionen Jahren darstellen. Die Fähigkeit, bereits in den ersten Lebenstagen Melodiekonturen zu erzeugen, die im Hinblick auf die Intonation Eigenschaften der gehörten Muttersprache aufweisen, scheint dagegen deutlich später in unserer Stammesgeschichte entstanden zu sein (Wermke et al. 2016; Mampe et al. 2009; Wermke und Mende 2006).

    Das Interesse an menschlichen Gesichtern und Stimmen ist angeboren. Säuglinge interessieren sich nicht für die Bedeutung, sondern für den Ausdruck der Stimme. Sie lauschen Melodien und Rhythmen der Musik genauso wie der Sprache. Die Aufteilung in eine eher musische und eher sprachliche Entwicklung geschieht erst nach einigen Monaten (Wermke und Mende 2009). Am Beginn ihres Lebens erzeugen Kinder Melodiebewegungen von anderthalb und mehr Oktaven im Weinen – wie beim Singen. Hierin könnte sich abbilden, dass die Verständigung unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren wohl sehr musikalisch erfolgte. Die Ausdrucksmöglichkeiten von Säuglingen umfassen Mimik, Blicke, Laute, Körperhaltungen und Bewegungen, an die sich Eltern intuitiv anpassen (intuitives Elternverhalten). Sie zeigen einfaches, repetitives Verhalten, das dem Kind das eigene Verhalten und Gefühle widerspiegelt. Dies trägt zur Entwicklung von Bindung und Emotionsregulation bei. Das Anheben der Stimme, Dehnen von Silben und die Ausformung großer Melodiebögen beim Sprechen gegenüber Säuglingen ist vermutlich Relikt unserer Vorfahren, die anfangs wohl eher melodisch lautiert als gesprochen haben. In der Gegenwart unterlegen wir die Melodie unserer Kommunikation mit Säuglingen zusätzlich mit Lautsprache. Auf Weinen mit einer gleitenden Veränderung der Tonhöhe (gewissermaßen ein Heulen) zu reagieren, fasziniert Kinder in den ersten Lebensmonaten nach wie vor und kann das Weinen unterbrechen. Ein Vorsingen mit ausgeprägter Frequenzmodulation hat meist den gleichen Effekt, der durch Sprechen kaum gelingt. Nach drei Monaten verfügen Säuglinge so bereits über ein enormes Repertoire an Melodie und Rhythmik, und können Vokale mit Konsonanten verbinden. Wenig später klingt dies bereits silbenartig und wird kurz darauf halbwegs verständlich. Diese erstaunliche Leistung beruht vermutlich nicht nur auf Imitation, sondern auch auf

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