Ansturm der Algorithmen: Die Verwechslung von Urteilskraft mit Berechenbarkeit
By Wolf Zimmer
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Book preview
Ansturm der Algorithmen - Wolf Zimmer
Die blaue Stunde der Informatik
Die blaue Stunde – die Zeit am Morgen zwischen Nacht und Tag, die Zeit am Abend ehe die Nacht anbricht. Wenn alles möglich scheint, die Gedanken schweifen, wenn Zeit für anregende Gespräche ist und Neugier auf Zukünftiges wächst, auf alles, was der nächste Tag bringt.
Genau hier setzt diese Buchreihe rund um Themen der Informatik an: Was war, was ist, was wird sein, was könnte sein?
Von lesenswerten Biographien über historische Betrachtungen bis hin zu aktuellen Themen umfasst diese Buchreihe alle Perspektiven der Informatik – und geht noch darüber hinaus. Mal sachlich, mal nachdenklich und mal mit einem Augenzwinkern lädt die Reihe zum Weiter- und Querdenken ein. Für alle, die die bunte Welt der Technik entdecken möchten.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15985
Wolf Zimmer
Ansturm der Algorithmen
Die Verwechslung von Urteilskraft mit Berechenbarkeit
../images/482757_1_De_BookFrontmatter_Figa_HTML.pngWolf Zimmer
Schildow, Brandenburg, Deutschland
Die blaue Stunde der Informatik
ISBN 978-3-662-59770-5e-ISBN 978-3-662-59771-2
https://doi.org/10.1007/978-3-662-59771-2
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Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Am 15. Januar 2015 veröffentlichte die Boston Consulting Group, eine der weltweit größten Unternehmensberatungen, eine Studie mit dem Titel The Mobile Revolution [1], in der sie unter anderem schilderte, wie wichtig Mobiltelefone inzwischen in unserem Alltag geworden sind. Dafür stellte sie Menschen in Deutschland, Südkorea, Brasilien, China, Indien und den Vereinigten Staaten die Frage: Worauf würden Sie lieber ein Jahr lang verzichten als auf Ihr Mobiltelefon? Essen gehen? Mehr als 60 % meinten darauf eher verzichten zu können als auf ihr Handy. Urlaubsreisen? Das war der Hälfte der Befragten weniger wichtig. Persönliche Begegnungen mit Freunden? Darauf wollten immer noch 45 % eher verzichten als auf ihr Mobiltelefon. Ebenso so viele konnten sich vorstellen, 20 % ihres Wohnraums für die Benutzung des Mobiltelefons abzugeben. Selbst auf die Frage, worauf würden Sie lieber ein Jahr lang verzichten, Handy oder Sex, gaben immerhin noch 38 % der Befragten an, lieber ein Jahr lang ohne Sex leben zu wollen, als ohne Mobiltelefon.
Nein, dieses Buches ist kein getarnter Aufruf für „digitale Enthaltsamkeit". Es ist auch keine Aufforderung, unverzüglich alle Social-Media-Accounts zu löschen. Ob wir die zunehmende Digitalisierung unserer Lebenswelten wollen oder nicht, ist auch nicht mehr die Frage. Sie ist längst da, und wir können uns ihren Auswirkungen kaum mehr entziehen. Wer der zunehmenden Digitalisierung unserer Lebenswelt aus dem Weg gehen will, muss damit beginnen, sein Smartphone wegzuwerfen, keine E-Mails mehr zu schreiben, nicht mehr über Google nach Informationen zu suchen, keine Bücher mehr bei Amazon zu bestellen, und auch kein Bankkonto zu führen oder mit Kreditkarte zu bezahlen. Dieses Buch ist kein Aufruf für irgendetwas oder ein Kompendium vermeintlich kluger Ratschläge oder pessimistischer Anti-Utopien. Es handelt von der Utopie, unsere Welt ließe sich im Ergebnishorizont von Nullen und Einsen, mathematischer Symbole und Algorithmen rechnend vervollkommnen.
Die Idee zu diesem Buch entstand nicht zuletzt nach der Lektüre eines Artikels in einer Berliner Tageszeitung im September des Jahres 2016, in dem unter dem Titel Forschen für die Revolution der Chef des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung mit erhobenem Smartphone in der Hand und den Worten zitiert wird: „Hier sehen sie die Arztpraxis der Zukunft!"
Heute gibt es ihn bereits, den virtuellen Hausarzt im Internet unter „ www.zavamed.com/de/ , die Arztvisite „on demand
. In einer Art „Arzt-Callcenter mit Sitz im Londoner Norden behandelt eine Handvoll Mediziner im Turbo-Modus Patienten, die sie nicht sehen, und von denen sie nicht gesehen werden können. „Egal ob Tag oder Nacht: Starten Sie Ihre Behandlung dann, wenn Sie es möchten. Beantworten Sie dafür einfach einen standardisierten medizinischen Online-Fragebogen
, bewirbt „Zava potenzielle Kunden [2]. Für den Gründer David Meinertz ist der Arzt, der sich für jeden Patienten ausreichend Zeit nimmt und ihn gründlich untersucht, zwar immer noch der „Goldstandard
zugleich aber auch ein Auslaufmodell, für gesetzliche Kassen einfach zu teuer. Der Beifall der Krankenkassen für das Votum des deutschen Ärztetages im Mai 2018 in Erfurt, das künftig Online-Behandlung auch in Deutschland möglich machen soll, kann deshalb nicht verwundern. Der semantische Unsinn, den der Chef der Barmer Krankenkasse von sich gibt, wenn er auf dieser Veranstaltung verkündet, „mit der Fernbehandlung rücken Ärzte und ihre Patienten näher zusammen", allerdings schon [3].
Gäbe es den Begriff Scientology noch nicht, man müsste ihn für die Glaubenslehre von Big Data und Silizium-basierter „Intelligenz erfinden. Und so ist vor allem die Verführungskraft der von den Propheten des „homo digitalis
und ihren Jüngern vorgetragenen Zukunftsbilder die Quelle meines Unbehagens für unsere zunehmende Neigung, Verantwortung und Kompetenz an Siliziumschaltkreise und Algorithmen abzugeben, die weder wissen noch sich darum Sorgen machen, was sie berechnen. Algorithmen, die sich ungefragt in unser Leben einmischen und uns unbesehen in eine Abhängigkeit zwingen könnten, die wir nicht mehr verstehen und daher fürchten müssen, dass wir aus ihr nicht mehr herausfinden und ihr konfliktgeladenes Potenzial nicht mehr in den Griff bekommen. „Kann es sein, fragt der Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestages, „dass der Mensch schleichend seine Souveränität an die digitale Technik abgibt, dass sich seine Kontrollmöglichkeiten verflüchtigen und er haltlos abhängig wird, ohne es zu merken?
[4].
Die Verheißung von den Segnungen des digitalen Zeitalters könnte sich denn auch als ein selbstverfasstes digitales Panoptikum entpuppen, wo die Illusion von Selbstbestimmung und Kontrolle ununterscheidbar und die Kluft zwischen Menschen und Technik immer größer wird. Eine Welt selbstverschuldeter Unmündigkeit, in der sich technische Innovationen ungezügelt von gesellschaftlicher Skepsis und Verantwortung entwickeln können. Eine Welt, in der wir im digitalen Gestöber von Daten und Informationen den Überblick verlieren und die Annehmlichkeiten, die uns die neuen Geräte versprechen, für unverzichtbar halten. Wir laufen Gefahr, schreibt der Philosoph Richard David Precht, Autonomie gegen Bequemlichkeit, Freiheit gegen Komfort und Abwägung gegen Glück einzutauschen. „Das Menschenbild der Aufklärung findet in der schönen neuen Digitalwelt der Überwachungssensoren und Digital-Clouds einfach keinen Platz mehr. Wozu Urteilskraft, wenn Algorithmen und diejenigen, denen sie gehören, mich besser kennen als ich mich selbst? [5]. Insbesondere der unsägliche Diskurs über einen bevorstehenden Wettlauf zwischen Mensch und Computer zeigt, dass es ernst zu nehmende Gründe dafür gibt, die Schichten technologischer Verblendung abzutragen, mit denen nicht nur die ungekrönten Häupter aus dem Silicon Valley die öffentliche Wahrnehmung und Debatte über unser „digitales Schicksal
in die Irre führen.
Die Erzählungen, die wir von unserer digitalen Zukunft haben, teilen in vielen Fällen, im Positiven wie im Negativen, eine merkwürdige Eigenschaft: sie sind Zeugnisse mangelhafter Begriffshygiene und nicht zuletzt darum grotesk irreführend oder einfach falsch. Das ist an sich nicht besonders schlimm. Auch mit falschen Vorstellungen oder Überzeugungen kann man zuweilen gut leben. Selbst der Glaube, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei, hat die Menschen nicht daran gehindert, ein absichtsvolles und aus ihrer Perspektive erfülltes Leben zu führen. Doch bei den falschen Informationen und Überzeugungen vom Segen einer Welt aus Nullen und Einsen geht es nicht um harmlose Schummeleien oder Übertreibungen. Der von der Computerindustrie entfesselte digitale Rausch droht, die Vernunft durch den Aberglauben an die Berechenbarkeit der Welt zu ersetzen. Wer aber glaubt, die Probleme einer ungewissen Welt mit technologischen Gewissheiten lösen zu können, hat weder etwas von der Welt noch etwas von Technologie verstanden. Die Annahme, dass die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch ein Mehr an Lebensqualität, Demokratie, Freiheit und Sicherheit erzeugt, ist eine naive Wunschvorstellung.
Ökonomen, IT-Experten und Unternehmer werden freilich nicht müde, von den neuen digitalen Möglichkeiten zu schwärmen. Die Maschinen, sagen sie, können fast alle Arbeiten erledigen. Aber wo bleibt in diesem Traum der Mensch? Dafür haben sie kein Konzept. In der überbordenden Rhetorik von technologischer Zwangsläufigkeit und digitalem Determinismus, von künstlicher Intelligenz als Schlüsseltechnologie für unsere Zukunft, offenbart sich die Macht der Verblendung. Naive Politik beugt sich über die kleinen Wunderwerke aus Silizium und ist kaum mehr imstande, die durch die technologische Entwicklung ausgelösten dramatischen Verwerfungen unserer Lebenswelt auszudeuten und zu bewerten. Im digitalen Sittenbild aus Silizium und Statistik ersetzt Rechnen das Denken, Wahrscheinlichkeit wird für Wahrheit ausgegeben und Korrelation verdrängt Kausalität. Die Frage nach dem Warum erübrigt sich für die Anhänger des „Es-ist-so, beklagt der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han [6]. Die Hohepriester der Digitalisierung fragen darum auch nicht, ob wir das, was sie verkünden für gut und richtig halten. Gut und richtig sind keine Kategorien des Digitalen. Also ist alles, was sich nicht mit 0 oder 1 beantworten lässt, eine schlecht gestellte Frage. In dieser Welt kommt der Mensch als vielschichtiges soziales Wesen dann auch gar nicht mehr vor, es sei denn als Datenschatten mit einem Preisschild in der „Umgebungsintelligenz
des „Internets der Dinge" und auf den Serverfarmen von Google, Facebook oder Amazon. Wie brüchig die distanzlose Abhängigkeit von Computermodellen sein kann, konnte man in beeindruckender Weise am 6. Mai 2010 an der Wall Street besichtigen. Innerhalb weniger Minuten wurden fast eine Billion Dollar Marktkapital durch außer Rand und Band geratene Verkaufsalgorithmen des elektronischen Hochfrequenzhandels vernichtet [7].
Natürlich hilft es in der Debatte um unsere digitale Zukunft nicht weiter, den digitalen Erlösungsfantasien apokalyptische Befürchtungen entgegen zu stellen. „Wir müssen, schreibt der Philosoph Markus Gabriel, „unsere technischen Gadgets entzaubern und den Glauben an ihre Allmacht ablegen, wenn wir nicht zum Opfer der Digitalisierung, zu hoffnungslosen Info-Junkies oder Technozombies werden wollen.
[8] Dieses Buch bemüht sich daher um Sachlichkeit und Aufklärung bei der Beantwortung der Frage, wie unsere Welt in den Computer kommt und was wir von einer maschinellen Intelligenz erwarten können. Wer davon eine umfassende populärwissenschaftliche Beschreibung der Grundlagen und Methoden künstlicher Intelligenz erwartet, den muss ich enttäuschen. Das Ziel ist der Versuch, eine auch für Nicht-Informatiker verständliche Beschreibung politischer und technischer Konzepte der binären algorithmischen Verrechnung unserer Welt zu skizzieren. Skizzen sind natürlich immer eine mit groben Strichen vereinfachte Darstellung und zwangsläufig der Perspektive des Zeichners verbunden. Dafür bitte ich meine Leser um Nachsicht.
Der Verweis auf Quellen und Hinweise, die den Autor in seinen Überzeugungen bestärken, ist nicht zu umgehen. Normalerweise sollte man auf ausführliche Referenzen und Anmerkungen verzichten. Auch der Autor weiß, dass sie den Lesefluss und damit vielleicht auch den Spaß am Lesen eher verhindern. In unserem Thema haben wir es jedoch mit einem hochpolitischen Gegenstand zu tun, insofern er die Gesellschaft und ihre Zukunft als Ganzes angeht, wenn sich unser Blick auf das Leben nur mehr im Korridor mathematischer Berechenbarkeit abspielt. Die Anzeichen dafür, dass die Ideologie des Silicon Valley außer Kontrolle zu geraten droht, und zunehmend Politik, Ökonomie und unsere Art zu denken und zu leben, beeinflusst, sind längst nicht mehr zu übersehen.
Mittlerweile geben zahlreiche Einzelbefunde bereits für sich genommen ausreichend Anlass zur Besorgnis. Aber erst die Zusammenschau vermag die Risiken und möglichen Kollateralschäden für unsere Lebenswirklichkeiten und die Verführungskraft undurchschaubarer Algorithmen zu verdeutlichen. Ich habe darum die umfangreichen Anmerkungen und Quellen nicht eingefügt, um zu beweisen, dass ich recht habe, sondern um detailliert zu zeigen, woher die Fakten und Einsichten kommen, die meine Schlussfolgerungen begründen.
Literatur
1.
The Mobile Revolution: How Mobile Technologies Drive a Trillion Dollar Impact; https://www.bcg.com/publications/2015/telecommunications-technology-industries-the-mobile-revolution.aspx . Zuletzt abgerufen: 01.03.2019
2.
https://www.zavamed.com/de/ . Zuletzt abgerufen: 28.02.2019
3.
Reine Online-Behandlung soll erlaubt werden, Der Tagesspiegel vom 11.05.2018, S. 4
4.
Grunwald A (2019) Der Unterlegene Mensch. riva Verlag, München, S. 27
5.
Precht R D (2018) Jäger, Hirten, Kritiker. Goldmann Verlag, München, S. 69
6.
Byung-Chul Han (2015) Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Matthes & Seitz, Berlin, S. 96
7.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/mysterioeser-kurssturz-im-mai-einzelner-haendler-loeste-wall-street-crash-aus-a-720.838.html . Zuletzt abgerufen: 28.02.2019
8.
Gabriel M (2018) Der Sinn des Denkens. Ullstein Buchverlage, Berlin, S. 16
Wolf Zimmer
im Juni 2019
Danksagung
Dieses Buch verdankt seine Entstehung und Entwicklung der engagierten Unterstützung einer Reihe von Personen. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Monika für ihren unermüdlichen Beistand. Nicht nur, dass sie mich immer wieder bestärkt und mir den nötigen Freiraum geschaffen hat, den ein solches Buch braucht. Sie hat auch die Mühe auf sich genommen, die Texte immer wieder Korrektur zu lesen. Ihr verdanke ich zudem zahlreiche Anregungen, den Text insgesamt lesbarer und verständlicher zu gestalten. Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben.
Dankbar bin ich auch meinen langjährigen Freunden Klaus Schäfer, Marco Korreck und Armin Lunkeit, die mir mit wertvollen Kommentaren und Ratschlägen geholfen haben, meine Gedanken zu ordnen, ihnen Zusammenhalt und die nötige Erzählkraft zu verleihen. Armin, ich danke dir für Deine Geduld und Strenge. Ich hoffe, ich hatte sie verdient.
Dankbar bin ich dem Springer Verlag, insbesondere dem Programmleiter für Informatik, Informations- und Elektrotechnik Herrn Martin Börger und seiner Assistentin Sophia Leonhard, dafür, dass sie dieses Buch ermöglicht haben.
Inhaltsverzeichnis
1 Die Welt ist aus den Fugen 1
Literatur 3
Teil I Geschichten aus dem Digitalen Morgenland
2 Die „Blumenkinder" aus dem Silicon Valley 7
Die kalifornische Ideologie 8
Digitale „Unruhestifter" 9
Der Erfolg füttert sich selbst 11
Der nächste Schritt 12
Literatur 14
3 Ich twittere, also bin ich 15
Im narzisstischen Spiegelkabinett 16
Das Leben als Zahlenreihe 18
Die Welt als Datenbank 19
Fake News und Internet-Hooligans 22
Literatur 23
4 Der Verzicht auf Freistatt 25
Das Privacy Paradox 26
Digitale „Fährtenleser" 30
Das digitale Panoptikum 35
Literatur 37
5 Liquid Democracy 41
Instantdemokratie mit Mausklick 42
Post-Privacy ist Post-Democracy 43
Der Kampf um Aufmerksamkeit 45
Literatur 48
6 Schule 4.0 49
Das Digitale Fitness Programm 50
Informationsriesen und Wissenszwerge 52
Die Ware Bildung 54
Literatur 56
7 Die »intelligente« Fabrik 59
Maschinenbau trifft Big-Data 60
Der neue Kollege heißt „Cobot" 61
Arbeit auf „Abruf" 62
Literatur 65
8 Die digitale »Aufrüstung« 67
Unsichtbare „Helfer" 68
Schnittstellen unserer smarten Zukunft 71
Roboter zum Verlieben 73
Literatur 75
9 Die Legende von der Sharing Economy 77
Teilen wird zur Ware 77
Fired By Algorithm 78
Die „Gig-Ökonomie" 79
Crowd-Sourcing für Big Money 80
Literatur 81
10 Das Imperium der Bits 83
Daten sind das neue „Öl" 84
Die Kaiser von morgen 85
Der Agentic Shift 87
Die Geburt des digitalen „Weltgeistes" 88
Literatur 90
Teil II Die Entdeckung der Information
11 Wie die Information in die Welt kam 95
Die Welt als »Infosphäre« 95
Der Shannon’sche Informationsbegriff 98
Information und Entropie 106
Information braucht ein Subjekt 110
Shannon zählt Zeichen und keine Bedeutung 112
Literatur 116
12 Unser Gehirn hat kein »Betriebssystem« 119
Denken ist Rechnen 119
Die Formalsprache des »Denkens« 121
Die Computertheorie des Geistes 122
Ein Zimmer mit Aussicht 124
Was ist schief gelaufen? 127
Literatur 129
13 Das Atrium des Computers 131
Bits und Codes 132
Was sich berechnen lässt 137
Die »Turing-Maschine« 142
Gute und schlechte Nachrichten 148
Die Von-Neumann-Rechner 150
Literatur 157
14 Welche »Farbe« hat die Zahl Drei? 159
Maschinen schwärmen nicht für Erdbeeren 159
Die Symbolsystemhypothese 163
Das Human Brain Projekt 167
Der Computer mag keine Überraschungen 170
Literatur 171
15 Der Verlust der Bedeutung 173
Von Zeichen und Zeichenprozessen 174
Die Vermischung von Zeichen und Symbol 179
Semiotische Maschinen 182
Literatur 185
16 Die Erben de la Mettries 187
Robotermärchen 187
Die Emanzipation von der Biologie 189
Literatur 191
Teil III Das Zeitalter der Algorithmen
17 Die Kumpel des Textbergbaus 195
Lagerstätten des Wissens 196
Ähnlichkeiten von Dokumenten 200
Überzufällige Wortkombinationen 203
Die Erkennung von Sprachmustern 206
Literatur 212
18 Das große Missverständnis 215
Wissen existiert im Kopf 215
Die Verarbeitung von »Wissen« im Computer 220
Expertensysteme und »unsicheres Wissen« 231
Literatur 238
19 Computer auf der »Schulbank« 241
Google’s PageRank 242
Logisches Schließen aus Stichproben 245
Lernen aus Beispielen 248
Lernen aus Datenhaufen 259
Lernen durch „Belohnung" 262
Die neuen »Elektronengehirne« 263
Literatur 272
20 Anpfiff für die autonomen »Helfer« 275
Algorithmische Handlungsplanung 276
Was Computer „Sehen" 280
Bildstrukturen auffinden 284
Bildobjekte „erkennen" 292
Das Problem der vierten Farbe 302
Literatur 307
21 Epilog 309
Literatur 314
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
W. ZimmerAnsturm der AlgorithmenDie blaue Stunde der Informatikhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-59771-2_1
1. Die Welt ist aus den Fugen
Wolf Zimmer¹
(1)
Schildow, Brandenburg, Deutschland
Wolf Zimmer
Email: wolf.zimmer@udz.biz
Die Welt, in der wir „wohnen und die wir zu kennen glauben, diagnostizierte der Soziologe Ulrich Beck, ist aus den Fugen. Die Erzählung der Moderne vom stetigen gesellschaftlichen Wandel, der grundlegende Konzepte und Gewissheiten nicht infrage stellt, sei so kaum mehr aufrecht zu erhalten. Sie werde immer häufiger unterbrochen durch „Veränderungen, die zunächst unbeachtet und scheinbar jenseits der Domänen von Politik und demokratischer Gesellschaft als Nebenfolgen radikaler Modernisierungen in Technik und Wirtschaft unser In-der-Welt-Sein zunehmend bestimmen
[1].
Kommunikation, Einkaufsverhalten, Bankgeschäfte, Freizeitgestaltung, Reisen, Medien, Fertigungstechniken und Produktionsprozesse, selbst Politik, alles verändert sich auf fundamentale Weise in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. „Wir betrachten das Neue mit alten Augen und unterschätzen, dass diese Entwicklung uns selbst verändert, unsere eigene Sicht und unser Bild von uns selbst." [2] Der israelische Historiker Yuval N. Harari befürchtet, „dass in der kommenden historischen Epoche nicht nur neue technologische und organisatorische Revolutionen anstehen, sondern dass sich auch das menschliche Bewusstsein und die menschliche Identität von Grund auf verändern werden" [3].
Die technischen Werkzeuge, die unsere Welt so anders machen, verdanken wir dem Silicon Valley. Seine Innovationen und Artefakte verwandeln unsere Welt in ein „Davor und ein „Danach
und ebenso unsere Art in dieser Welt zu sein. Nach Evgeny Morozov ist „das Internet" die Silicon-Valley-Version vom Ende der Geschichte [4]. Danach kommt nichts mehr. Denn das Internet, davon ist der spanische Soziologe und Medientheoretiker Manuel Castells überzeugt, „ist das Gewebe auf dem unser Leben beruht [5]. Das Internet bilde die „technologische Basis für die Organisationsform des Informationszeitalters: das Netzwerk
[6]. Darum reicht das Internet auch über unsere Gegenwart hinaus. Für den Blogger und Internetintellektuellen Jeff Jarvis ist es nicht weniger als „die Zukunft [7]. „Die gewaltige Ausweitung des Internets
, versprechen auch Eric Schmitt, ehemaliger Executive Chairman von Google, und Jared Cohen, der Gründungsdirektor von Jigsaw, einem Technologie-Gründerzentrum von Google, „wird zum Motor einer der aufregendsten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Revolutionen der Geschichte… [8]. Das Internet bietet, glaubt Jeremy Rifkin, Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends in Washington, zu wissen, die „Aussicht auf umfassende Umwälzungen in der Welt in der Art, in der die Menschheit ihren Planeten bewohnt und stellt damit die Weichen in eine nachhaltige Zukunft im Überfluss
[9].
Die geradezu religiöse Inbrunst mit dem „das Internet von Technik-Enthusiasten und den Wortführern aus dem Silicon Valley als Quelle von weltumspannender Vernunft und politischem Aufbruch, als geschichtlicher Ausnahmezustand gefeiert wird, verwandelt die ansonsten eher etwas nüchterne technische Welt der Bits und Bytes zusehends in eine Ideologie des Post-Kapitalismus. Für ihre Anhänger ist das Internet eine geistige Blaupause für den überfälligen Umbau der Gesellschaft. Es sei zwar kein Allheilmittel, auch nicht die Lösung des Problems, „jedoch eine Art und Weise über das Problem nachzudenken
[10]. Darum könne man „das Internet unmittelbar nutzen, um das Leben der Menschen zu verbessern, man könne aber auch von der Art, wie das Internet gestaltet wurde, lernen und diese Prinzipien anwenden, um zu helfen, die Arbeitsweise von Stadtverwaltungen zu verbessern, oder das Schulsystem in dem Schüler unterrichtet werden" [11].
Das Orakel von Delphi feiert so seine Wiederauferstehung im Internet. Statt der seherischen Pythia aus Delphi antwortet heute Google. Folgt man Jeremy Rifkin in seinem Buch über die Null Grenzkosten Gesellschaft, dann hat überdies mit „dem Internet der Dinge eine Zeit begonnen, die uns vom Diktat des Eigentums befreit und aus der sich der Kapitalismus zurückzieht. Amazon, Cisco, IBM und Google, um nur einige der führenden Unternehmen von Internettechnologien zu nennen, mutieren so zu „Totengräbern
, die den Kapitalismus zu Tode hetzen. Die Popkultur des Internets wird endgültig zur „Befreiungstheologie". Was wir dabei häufig vergessen: schon in Delphi wusste das geschäftstüchtige Personal das Orakel für die Einflussnahme auf politische und soziale Entscheidungen einzusetzen.
Es gibt, stellt der Wissenschafts- und Technikhistoriker George Dyson in seinem Buch Turings Kathedrale fest, „zwei Arten von Schöpfungsmythen: solche, in denen das Leben aus Lehm entsteht, und solche, in denen es vom Himmel fällt. In diesem Schöpfungsmythos entstanden die Computer aus Lehm, und der Code fiel vom Himmel" [12]. Es ist dieser Mythos, der verdrängt, dass als Geburtshelfer des Internets, das Militär und das Big Business, von Anfang an dabei waren. Viele der Schlüsseltechnologien im Hard- und Softwarebereich wurden während des Kalten Krieges im Auftrag oder mit tatkräftiger Unterstützung des US-Militärs entwickelt. Der First Draft of a Report on the EDVAC (Electronic Discrete Variable Automatic Computer) [13], mit dem der aus Ungarn stammende Mathematiker John von Neumann die bis heute gültige Architektur des Computers definierte, war eine Auftragsarbeit für die US-Armee [14].
Die überwältigende Ironie der Geschichte ist, konstatiert Dyson: Das digitale Universum und die Wasserstoffbombe erblickten gleichzeitig das Licht der Welt. „Ohne den Elektronenrechner hätte es keine Wasserstoffbombe gegeben, schreibt Dyson, „und umgekehrt beschleunigte der Rüstungswettlauf den Bau des Von-Neumann-Computers.
[15] Unsere heutigen Computer, das Internet, Expertensysteme und künstliche Intelligenz, Spracherkennung, Augmented und Virtual Reality, Robotik und das selbstfahrende Auto haben ihre Wurzeln in der militärischen Forschung. Umgekehrt nutzen staatliche Organisationen wie die National Security Agency (NSA) das Hadoop File System, ein hochverfügbares Dateisystem zur Speicherung sehr großer Datenmengen auf den Datensystemen mehrerer Rechner, das CloudBase-Datenbanksystem und MapReduce, ein von Google entwickeltes Verfahren, mit dem sich große strukturierte oder unstrukturierte Datenmengen mit hoher Geschwindigkeit verarbeiten lassen, für Suchläufe in ihren Datenbeständen. Das Internet, wie wir es kennen und nutzen, ist zu keinem Zeitpunkt unabhängig vom Einfluss von Regierungen und Konzernen gewesen. Vielmehr wurde und wird es noch heute entscheidend von ihnen geformt. Im Ringen um den Cyber-Raum geht es um die Monopolisierung von Macht, um politische und wirtschaftliche Einflussnahme durch die Monopolisierung von Technik. Und so wird der Wohlstand, den die digitale Revolution zu generieren verspricht, wohl zunächst und vor allem den Eigentümern der neuen Technologien zugute kommen.
Die Erzählung über sich selbst, die das Silicon Valley meist verschleiert oder verschweigt, handelt von Dollarzeichen und Waffensystemen. Schon im Jahre 2003 erhielt Google einen mit 2,07 Mio US$ dotierten Auftrag, die National Security Agency mit seiner Suchtechnologie aufzurüsten [16]. Schaut man sich also heute beispielsweise die Produkt- und Themenpalette von Google oder Facebook an, hat man den Eindruck, dass die kalifornischen Unternehmen daran arbeiten, Forschungs- und Entwicklungsziele der Defense Advanced Research Project Agency (DARPA), einer Behörde des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika, in alltagstaugliche Produkte umzusetzen. Da fügt es sich ins Bild, dass David Packard, der Mitgründer der Firma Hewlett-Packard, einem der größten US-amerikanischen Informationstechnikunternehmens, Vize-Verteidigungsminister unter dem Präsidenten Nixon war.
Literatur
1.
Beck U (2017) Die Metamorphose der Welt. Suhrkamp Verlag, Berlin, S. 12
2.
Yogeshwar R (2017) Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel. Kiepenheuer & Witsch, Köln, S. 28
3.
Harari Y N (2015) Eine kurze Geschichte der Menschheit. Pantheon Verlag, München, S. 504
4.
Morozov E (2013) Smarte Neue Welt. Karl Blessing Verlag, München, S. 52
5.
Castells M (2005) Die Internet-Galaxy. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 9
6.
Castells M (2005) Die Internet-Galaxy. ebenda
7.
Jarvis J (2012) Mehr Transparenz wagen! Wie Facebook, Twitter & Co die Welt erneuern. Quadriga Verlag, Berlin
8.
Schmidt E, Cohen J (2013) Die Vernetzung der Welt. Ein Blick in unsere Zukunft. Rowohlt Verlag, Reinbek, S. 14
9.
Rifkin J (2016) Die Null Grenzkosten Gesellschaft. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a. M., S. 29
10.
Johnson S (2013) Future Perfect. The Case for Progress in a Networked Age. Penguin Books, London, S. xxxiii
11.
Johnson S (2013) Future Perfect. The Case for Progress in a Networked Age. S. xxxiii
12.
Dyson G (2014) Turings Kathedrale. Propyläen Verlag, Berlin, S. 9
13.
http://www.wiley.com/legacy/wileychi/wang_archi/supp/appendix_a.pdf. Zugegriffen: 28.02.2019
14.
Dyson G (2014) Turings Kathedrale. S. 123
15.
Dyson G (2014) Turings Kathedrale. S. 10
16.
Zuboff S (2018) Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt a. M., S. 142
Teil IGeschichten aus dem Digitalen Morgenland
Das Silicon Valley ist der Wallfahrtsort der Entrepreneure der Digitalwirtschaft. Hier beginnt die Legendenbildung von den Segnungen des digitalen Fortschritts und der Unausweichlichkeit der Unterwerfung unter die Intelligenz von Maschinen. In den Kirchen und Klöstern der digitalen Revolution berichten die Anhänger von den Wundern siliziumbasierter Denkmaschinen, derweil die selbsternannten Apostel aus dem Ablasshandel mit unseren Daten enorme Profite erzielen. Die begehrten Reliquien, die wir dafür eintauschen sind Dopamin-spendende Geräte und Systeme, mit denen wir unsere Abhängigkeit von algorithmischen Maschinen immer wieder von Neuem bestärken. Bildlich gesprochen wird die Vernetzung von Allem mit Allem zum Opium der Digitalgesellschaft.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
W. ZimmerAnsturm der AlgorithmenDie blaue Stunde der Informatikhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-59771-2_2
2. Die „Blumenkinder" aus dem Silicon Valley
Wolf Zimmer¹
(1)
Schildow, Brandenburg, Deutschland
Wolf Zimmer
Email: wolf.zimmer@udz.biz
Warum der Tech-Guru und Vordenker des Cyber-Raums Jaron Lanier vor der Heilslehre digitaler Maoisten warnt.
Wir können, schreibt Evgeny Morozov, den Machern im Silicon Valley viele Fehler vorwerfen, mangelnder Ehrgeiz gehört nicht dazu [1]. Darum halten sie sich auch nicht mit Bagatellen auf, sondern denken in globalen Kategorien und Dimensionen. Warum also nicht gleich die ganz großen Probleme der Menschheit lösen – Krankheiten, Armut, Ungleichheit und Klimakatastrophe? Mit weniger als der Verbesserung der Welt geben sie sich kaum zufrieden. Vollmundig verkünden zwei der einflussreichsten Denker im Silicon Valley, Peter Diamandis und Steven Kotler: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind unsere Fähigkeiten heute so groß, wie unsere Sehnsüchte und Wünsche. Die Menschheit tritt gegenwärtig in eine Zeit radikalen Wandels ein, in der uns der technische Fortschritt die Möglichkeit bietet, den Lebensstandard jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes auf der Erde deutlich zu verbessern." [2]
Auch der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Max Tegmark glaubt, wenn „wir unsere menschliche Intelligenz verstärken können mittels künstlicher Intelligenz und die größten Probleme von heute und morgen lösen, könnte die Menschheit deshalb erblühen wie noch nie" [3]. Um dafür die intellektuellen Voraussetzungen zu schaffen, wurde im NASA Forschungszentrum mit Google als Gründungspartner die „Singularity University ins Leben gerufen. Die „Singularity University
ist keine wirkliche Universität. Sie ist vor allem eine Bühne für Technikbegeisterte aus aller Welt, die in Kursen und Vorträgen von den Gurus der High-Tech-Welt die Silicon-Valley-Mentalität erlernen wollen. Die Namensgebung spielt auf eine Theorie des Zukunftsforschers und Gründungsmitglieds der Universität Ray Kurzweil an, wonach durch die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz ein Zeitpunkt (die technologische Singularität) erreicht wird, nach dem sich die Maschinen so rasant selbst entwickeln und den technischen Fortschritt derart beschleunigen, dass die Zukunft der Menschheit hinter diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhersehbar ist.
Eric Schmidt, bis zum Jahre 2017 Executive Chairman der Google-Mutter Alphabet, ist fest davon überzeugt, dass die wachsende Vernetzung im Internet eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität mit sich bringen wird [4]. Dass dabei der Austausch von Daten eine zentrale Rolle spielen wird, führt ihn zu dem Schluss, dass es in der Informationstechnologie in Wirklichkeit nicht mehr um Hardware oder Software geht. „Tatsächlich geht es um die Erfassung und Nutzung gewaltiger Datenmengen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen." [5]
Ebenso wird auch Mark Zuckerberg nicht müde, die Verbesserung der Welt durch die Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses als Mission von Facebook auszugeben. Facebook umarmt die Welt, denn die Mission der Firma sei es, „die Welt offener und vernetzter zu machen" [6]. Die Facebook-Galaxie als Begegnungsstätte für Frieden und Völkerverständigung. Würde man die Nutzer von Facebook als dessen Bürger betrachten, hätte Facebook mehr Einwohner als China. Unternehmen wie Google und Facebook oder der chinesische Konkurrent Baidu sind längst private Supermächte im globalen Netz.
Die kalifornische Ideologie
Die Idee einer besseren Welt und der geradezu missionarische Eifer für die Emanzipation des Individuums eint die Technologieführer aus dem Silicon Valley mit den linksalternativen Zielen der Gegenkultur der sechziger Jahre. Die Verweigerung gegenüber bürokratischer und technokratischer Disziplinierung, Konformität und Konsum, die Verneinung der bestehenden Welt, der alles prägende Wunsch nach Selbstverwirklichung, hat viele der späteren „Steuermänner der digitalen Revolution geprägt. Die Botschaft jener Zeit war einfach: Stelle alles infrage, vor allem jede Autorität, experimentiere, ziehe umher, sei furchtlos und arbeite daran, eine bessere Welt zu schaffen. Nicht wenige von ihnen pflegen in dieser Tradition gerne das Bild der unangepassten „digitalen Hippies
. Was die Akteure der Gegenbewegung in den 1960er Jahren von den Unternehmensgründern aus dem Silicon Valley unterscheidet, ist die Auffassung darüber, welcher Weg in diese bessere Welt führt. Auf der einen Seite die Überzeugung von der Notwendigkeit eines radikalen sozialen Aufbruchs, einer politischen und kulturellen Transformation der Gesellschaft, die beim Individuum ansetzt und dessen Veränderung als Voraussetzung für die Geburt einer „anderen Gesellschaft ansieht. Auf der anderen Seite die Mischung von einem fast religiös anmutenden technologischen Fortschrittsglauben mit neoliberalen Marktprinzipien. Die „digitalen Blumenkinder
von heute sind ebenso sehr technophile Utopisten wie zugleich skrupellose Kapitalisten. Die Weltumarmung hat ein Preisschild.
Die Wirtschaftsführer und Finanziers des Silicon Valley sahen freilich noch nie einen Widerspruch zwischen Milliardengewinnen und dem Anspruch die Welt zu retten. Sie inszenieren sich als börsennotierte Technophilantropen und sehen die Machtkonzentration ihrer Unternehmen geradezu als Voraussetzung für den Weltfrieden, den Sieg über den Klimawandel und das Ende der Entfremdung des Menschen. Ihre Technologien sollen uns zu besseren Menschen machen. Das Privatvermögen von Mark Zuckerberg wird auf 44,6 Mrd. US$ geschätzt [7]. Larry Page und Sergey Brin besitzen jeweils 51,4 bzw. 50,4 Mrd. US$ [8].
Das bizarre Konglomerat des freiheitlichen Geistes der Hippies mit dem unternehmerischen Antrieb der Yuppies stützt sich auf den bedingungslosen Glauben an das Befreiungspotenzial der neuen Informationstechnologien. Folgt man Denkern wie Peter Diamandis, machen Technologien diesen Planeten systematisch in fast jeder Hinsicht zu einem besseren Ort. Die englischen Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron von der Westminster University haben für die „seltsame Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien des Silicon Valley bereits Mitte der neunziger Jahre den Begriff der „kalifornischen Ideologie
geprägt. Er gilt ihnen als Ausdruck für eine „widersprüchliche Mischung aus technologischem Determinismus und liberalem Individualismus zur hybriden Orthodoxie des Informationszeitalters" [9]. Von Barbrook und Cameron noch als Kritik und Warnung gedacht, ist die „kalifornische Ideologie" heute längst über das Silicon Valley hinaus zum Synonym für das Hochamt des Individualismus und des freien Marktes geworden, gepaart mit dem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Technologie. Darin sind Erfindergeist und Tüchtigkeit die höchsten Tugenden und ein strikter Laissez-faire-Kapitalismus die einzig legitime Staatsform.
Der US-amerikanische Informatiker Jaron Lanier, ein Guru des Cyberspace, warnte daher in einem SPIEGEL-Interview vor der Heilslehre „digitaler Maoisten, die mit dem Anspruch antritt: „Wir wissen am besten, wie es geht. Technik löst alle Probleme der Welt.
[10] Sie wollen aber, so Jaron Lanier, „eine bessere Welt schaffen, ohne dass sie wissen, wie diese Welt eigentlich aussieht. Eric Schmidt und Jared Cohen geben das auch unumwunden zu: „Das Internet gehört zu den Dingen, die wir Menschen zwar geschaffen haben, die wir aber im Grunde nicht verstehen … Das Internet ist das größte Anarchismusexperiment aller Zeiten.
[11] Der populäre Glaube, dass die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch den Weg in eine bessere Welt bereitet, könnte sich daher auch als ein naiver Trugschluss erweisen.
Digitale „Unruhestifter"
Beunruhigt hat das die Vordenker des Digitalen nie. Sie sind ebenso sehr Überzeugungstäter wie Pragmatiker, und sie sind die Taktgeber des digitalen Wandels der Gesellschaft. Ihre Agenda ist die permanente „disruptive Innovation, ihr „Motor
das Internet und der „Treibstoff, die mit der Digitalisierung der Gesellschaft erzeugten Daten. Das Internet schafft weltweit eine technische Infrastruktur, die alle Bereiche wirtschaftlichen und sozialen Handelns erfasst und verändert. Wer nun imstande ist, die über diese Infrastruktur transportierten Datenströme zu steuern und zu kontrollieren, der wird nahezu zwangsläufig einen erheblichen Einfluss auf unser wirtschaftliches und soziales Leben gewinnen. Internet-Plattformen sind deshalb, stellt Christoph Keese fest, „die Hotspots der Digitalwirtschaft. … Der größte Teil der Wertschöpfung findet auf Plattformen statt. Entsprechend leidenschaftlich wird der Kampf um die Hoheit geführt…Die Plattform bringt Angebot und Nachfrage zusammen. Sie besitzt die Daten beider Marktseiten: alle Parameter des Anbieters und alle Kontakt-, Konsum- und Bezahldaten des Kunden. Auf diese Information hält die Plattform ein Monopol.
[12] Folglich kommt niemand an ihr vorbei. Das ist natürlich ein sehr komfortables und einträgliches Beherrschungsverhältnis für die Besitzer der Plattformen.
Das Stichwort und die Begründung für die Strategie der ununterbrochenen „Disruption" lieferte im Jahre 2011 der Management-Bestseller The Innovators Dilemma von Clayton M. Christensen [13], eine publikumswirksame Beschreibung wirtschaftlicher Umbrüche durch technische Innovationen. Auf den Schultern des österreichischen Nationalökonomen Joseph A. Schumpeter¹ versucht Christensen anhand ausgewählter Beispiele nachzuweisen, dass das Scheitern großer Unternehmen in der Vergangenheit in den meisten Fällen von der Unfähigkeit bestimmt war, aufkommende „disruptive" technische Innovationen als solche zu erkennen und für die radikale Umgestaltung oder gar Neuerfindung von Geschäftsfeldern zu nutzen.
Man kann „disruptiv wörtlich mit „zerstörend
oder „Unruhe stiftend übersetzen. Das Ziel der „Unruhestiftung
ist: Bestehendes aus dem Weg zu räumen, Platz zu schaffen für Neues. Einfach ausgedrückt ist eine disruptive Technologie eine Innovation, die einen neuen Markt schafft (z. B. Cloud-Computing) oder einen bestehenden beseitigt, indem sie ihn beispielsweise radikal digitalisiert: