Vielvölkerstaat Äthiopien: Zu den historischen Ursachen von Krieg und Frieden in Äthiopien
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Vielvölkerstaat Äthiopien - Rainer Tetzlaff
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021
R. TetzlaffVielvölkerstaat Äthiopienessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-35497-8_1
1. Äthiopien als Sehnsuchtsort von Europäern
Rainer Tetzlaff¹
(1)
Hamburg, Deutschland
Rainer Tetzlaff
Email: prof@rainertetzlaff.de
Äthiopien war seit Generationen ein Sehnsuchtsort für viele Europäer*innen. Wir assoziieren mit diesem afrikanischen Kulturland seine tausendjährige christliche Hochkultur von Aksum in Tigray und ihre legendäre Königin von Saba; ferner die in Stein gehauenen unterirdischen Kirchen von Lalibella; die geheimnisvollen Mönchsklöster im Tana-See; die Quellen des Blauen Nils mit dem im Bau befindlichen, umstrittenen großen Renaissance-Staudamm; die anmutige Zeremonie des Kaffee-Kochens in diesem bedeutenden Kaffee-Exportland; oder den Widerstand des letzten Kaisers, des ‚Löwen von Juda‘, Haile Selassie, gegen den italienischen Kolonialismus. Von ca. 150 v. Chr. bis 700 n. Chr. hatte sich hier eine eigenständige afrikanische Zivilisation mit eigener Schriftsprache (dem Geez), einem Münzwesen und mit einer hoch entwickelten Architektur, Kunst und Religion herausgebildet, – „ein antiker Stadtstaat, dessen Zentralgewalt sich auf Handel und Krieg als materielle Basis stützte" (Matthies, 2003, S. 3). Zu den Grundfesten traditionellen Geschichtsbewusstseins unter den Hochländern (Amharen und Tigray) gehört bis heute das christlich-orthodoxe Nationalepos ‚Kebra Nagast‘ (Herrlichkeit der Könige), das die Geschichte der Königin von Saba und ihres mit König Salomon gezeugten Sohnes Menelik erzählt. Kaiser Haile Selassie (1930–1974) hielt sich für den 225. Nachfahren der ‚salomonischen Dynastie‘. Gleichwohl ist das Horn von Afrika die politisch instabilste des Kontinents – mit zwei staatlichen Neugründungen als Resultat von nationalen Befreiungsbewegungen (Eritrea und Südsudan), einem Staatszerfalls-Land (Somalia) und fünf zwischenstaatlichen Kriegen (Markakis et al., 2021; Schlicht, 2021).
In Deutschland und wohl darüber hinaus sind Sympathien mit dem ‚christlichen Kulturvolk‘ Äthiopiens (das heute allerdings mehr als ein Drittel Muslime zählt) weit verbreitet. Desto betroffener machten jüngste politische Entwicklungen am Horn von Afrika über einen Bürgerkrieg, der im November 2020 in Tigray als interethnischer Hegemonialkampf begann und nach fünf Monaten heftigster Kämpfe, großer Zerstörungen in Mekelle und in anderen Städten durch die Bundesarmee und amharische Milizen, nach schweren Menschenrechtsverbrechen (auch von plündernden Soldaten aus Eritrea) und nicht abreißenden Flüchtlingsströmen von Tigrayern in den benachbarten Sudan noch immer nicht beendet ist. Am 19. November 2020 wurde sogar die heilige Stadt Axum angegriffen, – wohl von äthiopischen Regierungstruppen, unterstützt von eritreischen Militärverbänden. Befürchtungen mehren sich daher, dass dieser asymmetrische Krieg zwischen einer militärisch hoch gerüsteten Zentralregierung und einer rebellierenden Provinz, die selbst auch über starke, kampferprobte Armeeverbände mit modernen Waffen verfügt und die nun wohl in den Untergrund, ins nahe Ausland oder ins Exil gegangen ist, eine Staatsimplosion auslösen könnte, zumal der ‚Tigray-Konflikt‘ nicht die einzige regionale Kampfzone mit zentrifugalen Bewegungen in Äthiopien darstellt. Drei Szenarien sind denkbar: Erstens Fortdauer des latent weiterschwelenden Regionalkonflikts in Form einer Destabilisierung des Landes und der Region Horn von Afrika durch Guerilla-Kämpfer im Untergrund; zweitens eine demokratische Verhandlungslösung im Rahmen einer neuen föderalen Verfassung nach freien und fairen Wahlen im Juni 2021; und drittens ein allmählich eintretender Staatszerfall mit mehreren regionalen Sezessionsbewegungen (Tigray, Somalia-Ogaden, Sidama, Oromia etc.) bei einer schwachen Zentralregierung, die wieder nur auf Gewalt, Repression und Exklusion setzt.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021
R. TetzlaffVielvölkerstaat Äthiopienessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-35497-8_2
2. Die fünf Konflikt- und Gewaltdimensionen als geschichtliches Erbe
Rainer Tetzlaff¹
(1)
Hamburg, Deutschland
Rainer Tetzlaff
Email: prof@rainertetzlaff.de
Dieser aktuelle Konflikt, in dem eine angegriffene Zentralregierung um die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols kämpft, hat eine lange kulturell getönte Vorgeschichte mit fünf Konflikt- und Gewaltdimensionen; diese zu erkennen und zu verstehen kann bei der Suche nach Zukunftsszenarien und Friedenslösungen nützlich sein und sollen deshalb hier in die Analyse einbezogen werden. Dazu gehört auch das Verständnis der kulturellen Besonderheiten der handlungsbestimmenden vier Völker bzw. ‚Nationen‘, – der Amharen und Tigrayer, sowie der Eritreer und Oromo. Wer über ‚Kulturelles‘ zu schreiben versucht, begibt sich auf diskursives Glatteis, weil a) Herkunft und praktische Reichweite kultureller Werte von „Wir"-Gruppen (Ethnien) schwerlich genau definiert und von materiellen Interessen abgegrenzt werden können und weil b) sich Werte durch neue Erfahrungen auch ändern, erweitern oder neuen Kontexten anpassen können. Dennoch wäre eine Geschichtsdeutung, die sich um die Offenlegung von Handlungs-Kontinuitäten bemüht, unterkomplex, wenn auf diese wichtige Dimension des Verstehens von ‚Herrschaftskunst‘ ganz verzichtet würde (wenn sich der Autor auch angesichts der knappen Essayform auf einige