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Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3: Psychologische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Jugendalter
Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3: Psychologische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Jugendalter
Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3: Psychologische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Jugendalter
eBook4.159 Seiten38 Stunden

Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3: Psychologische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Jugendalter

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Über dieses E-Book

In dieser komplett überarbeiteten Neuauflage werden Störungen im Kindes- und Jugendalter praxisrelevant und übersichtlich dargestellt. Der stringente Aufbau der einzelnen Kapitel dient der schnellen Orientierung im Text. Im Mittelpunkt stehen die allgemeine Darstellung der Störungen, Modelle zu Ätiologie und Verlauf, Diagnostik, therapeutisches Vorgehen, Fallbeispiele, empirische Belege und weiterführende Literatur. Das Lehrbuch richtet sich vor allem an Studierende, Ausbildungskandidaten, Praktiker und Forscher aus den Bereichen Klinische Psychologie, Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie sowie deren Nachbardisziplinen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum1. Nov. 2018
ISBN9783662573693
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    Buchvorschau

    Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3 - Springer

    1I Spezifische Grundlagen für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019

    S. Schneider, J. Margraf (Hrsg.)Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3https://doi.org/10.1007/978-3-662-57369-3_1

    1. Entwicklungspsychologische Grundlagen

    S. Pauen¹   und E. Vonderlin²  

    (1)

    Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland

    (2)

    Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland

    S. Pauen (Korrespondenzautor)

    Email: sabina.pauen@psychologie.uni-heidelberg.de

    E. Vonderlin (Korrespondenzautor)

    Email: eva.vonderlin@psychologie.uni-heidelberg.de

    1.1 Einleitung

    Wer sich mit den Grundlagen der Verhaltenstherapie beschäftigt, mag sich fragen, warum es eigentlich notwendig sein soll, Kinder als etwas Besonderes zu betrachten. Gelten die allgemeinen Lerngesetze nicht genauso für Neugeborene wie für Erwachsene? Das vorliegende Kapitel wird diese These bestätigen und gleichzeitig deutlich machen, warum eine differenzierte Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Kenntnissen zu einem besseren Verständnis der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen führt.

    Ein kurzer Rückblick auf das psychologische Bild vom Kind im historischen Wandel soll dies zunächst an Beispielen illustrieren. Anschließend wird systematisch begründet, inwiefern entwicklungspsychologische Kenntnisse für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen wichtig sind. Die nachfolgenden Abschnitte beziehen sich auf verschiedene Lernformen und bieten dem Leser Einblick in empirische Erkenntnisse zur Entwicklung dieser Lernformen über das Lebensalter. Am Ende des Kapitels folgt eine Beschreibung der wichtigsten entwicklungspsychologischen Veränderungen für ausgewählte Verhaltensbereiche, die in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle spielen.

    1.2 Was ist an Kindern so besonders?

    1.2.1 Das Bild vom Kind im historischen Wandel

    Noch bis ins 19. Jahrhundert betrachtete man Kinder als kleine Erwachsene. Man zog sie so an, man verlangte ihnen Ähnliches ab, und man dachte, dass sie im Prinzip genauso funktionieren würden wie die Großen – nur eben ein bisschen langsamer und auf niedrigerem Leistungsniveau. Auch die ersten Behavioristen und Lerntheoretiker machten zunächst keinen grundlegenden Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Alle Menschen lernen demnach in allen Altersstufen nach den gleichen Prinzipien und in vergleichbarer Weise. Allerdings konstatierte Watson, einer der berühmtesten Vertreter der klassischen Lerntheorie, dass Kinder noch keine lange Lerngeschichte hinter sich haben und man sie daher durch gezielten Einsatz von Belohnung und Bestrafung zu beliebigen Persönlichkeiten machen könne. Auch wenn diese Aussage heute wohl niemand mehr unterschreiben würde, weil wir inzwischen auch viel darüber gelernt haben, dass Kinder nicht als unbeschriebene Blätter geboren werden, bleibt es wahr, dass Kinder offen sind für unterschiedlichste Arten von Erfahrungen und dass das frühe Lernen für das spätere Leben eine zentrale Rolle spielt.

    Was hat sich seit den Anfängen des Behaviorismus noch geändert an unserem Bild vom Kind? Zunächst erfuhr die Welt von Jean Piaget, dem Begründer der kognitiven Entwicklungspsychologie, dass schon Kinder „Konstrukteure ihrer Wirklichkeit seien – Wesen also, die nicht blind auf Belohnung und Bestrafung reagieren, sondern Erfahrungen stets interpretieren und einordnen, um ihnen dadurch Bedeutung zu verleihen. In den 1970er Jahren vollzog sich auch innerhalb der Verhaltenstherapie ein Perspektivwandel: Die „kognitive Wende führte dazu, dass man zunehmend nach den Gedanken von Menschen fragte, um ihr Verhalten zu verstehen. Ferner machte Piaget deutlich, dass die Formen der Auseinandersetzung mit der Umwelt (in der Terminologie seiner Theorie ist von „Schemata oder „Denkstrukturen die Rede) sich in systematischer Weise mit dem Alter verändern. Damit war klar: Wer das Verhalten von Kindern richtig deuten oder ihre Lerngeschichte nachhaltig beeinflussen will, muss über Kenntnisse ihrer altersspezifischen Denkstrukturen verfügen.

    Diese Überzeugung wurde im Informationsverarbeitungsansatz, der sich kritisch mit Piagets Theorie auseinandersetzte, weitergeführt. Hier stellte man die genaue Analyse der Anforderungen einer Aufgabe an das handelnde Kind in Beziehung zu dem, was man über seine geistigen Ressourcen wusste. Neu an diesem Ansatz war, dass nun auch die Frage, wie sich basale mentale Prozesse mit dem Alter verändern, Eingang in die Forschung fand. Es begann eine Phase der verstärkten Untersuchung solcher Prozesse, wie etwa der Veränderung von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, die schließlich die Grundlage von höheren Denkprozessen bilden.

    1.2.2 Einbeziehung der emotionalen Entwicklung

    Auch wenn dieser veränderte Blick auf Kinder zweifellos einen großen Gewinn bringt, besteht ein Nachteil aller bislang genannten Ansätze immer noch darin, dass sie die emotionale Seite der Kindesentwicklung weitgehend unbeachtet lassen. Kinder haben aber nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle, und der Umgang mit Gefühlen verändert sich mit dem Alter. Meistens sind es gerade Probleme mit der Gefühlswelt, die Eltern dazu veranlassen, professionelle psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Ausführungen zur Dynamik, die hinter dieser emotionalen Entwicklung steht, finden sich bis heute vor allem in psychoanalytisch geprägten Entwicklungstheorien. Neuerdings gibt es jedoch eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die versuchen, die Gefühls- und Kognitionsentwicklung direkt aufeinander zu beziehen. Einige Beispiele mögen den engen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen verdeutlichen.

    Sprachentwicklung

    Die Sprachentwicklung macht bekanntlich im Altern zwischen 2 und 6 Jahren entscheidende Fortschritte. Diese Fortschritte tragen ganz wesentlich mit dazu bei, dass Kinder ihre Gefühle auf sozial akzeptierte Weise zum Ausdruck bringen können. Sie können schimpfen anstatt zu schlagen, wenn sie wütend sind; sie können sich beschweren anstatt zu heulen, wenn ihnen Unrecht angetan wird, und sie können ihre Bedürfnisse differenziert mit Worten mitteilen. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten hat Konsequenzen für das Verhalten. So weiß man etwa, dass insbesondere Kinder, die eine Sprache nicht beherrschen, eher zu aggressivem Verhalten neigen und soziale Schwierigkeiten haben. Die Sprache ist also eine kognitive Leistung mit wichtigen Implikationen für den Gefühlsausdruck und die Möglichkeit, in einen befriedigenden Austausch mit anderen Menschen zu kommen. Wir werden uns wesentliche Meilensteine der Sprachentwicklung aus diesem Grund später noch genauer vor Augen führen.

    Theory of Mind

    Ein zweites Beispiel ist die Entwicklung einer „Theory of Mind: gemeint ist die Fähigkeit, mentale Zustände anderer Personen zu repräsentieren. Dazu gehört etwa, dass man nachvollziehen kann, was eine andere Person weiß und was nicht oder welche Motive sie dazu bringen, etwas Bestimmtes zu tun. Auch diese Errungenschaft, die an ganz spezifische geistige Leistungen geknüpft ist, hat große Bedeutung für den Umgang mit eigenen Gefühlen: In Auseinandersetzungen sind die Chancen, befriedigende Lösungen für beide Seiten zu finden, wesentlich größer, wenn man sich in die Lage des Gegenübers versetzen kann. Außerdem hilft einem diese Form der „sozialen Intelligenz ganz allgemein, befriedigende Beziehungen mit anderen Menschen zu haben. Sie macht Mitgefühl und gegenseitiges Verständnis überhaupt erst möglich. Auch hier zeigt sich folglich der enge Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen, der für therapeutische Prozesse von Relevanz ist. Obwohl die Entwicklung einer Theory of Mind ihrerseits systematische Bezüge zur Sprachentwicklung aufweist, stellt sie dennoch einen eigenen Forschungsbereich dar, der in der modernen Entwicklungspsychologie zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auf entsprechende Befunde werden wir daher später noch eingehen.

    Neurobiologie

    Ein drittes Beispiel weist auf einen ganz neuen Trend innerhalb der entwicklungspsychologischen Forschung hin: Heute interessieren wir uns verstärkt für die neurobiologischen Grundlagen, die Verhalten erklären: So ist die Fähigkeit zur exekutiven Kontrolle (zur Kontrolle darüber, welches Verhalten wann wie gezeigt wird) für planvolles Handeln genauso unabdingbar wie für die Kontrolle von Gefühlsäußerungen. Die Entwicklung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten hängt also auch hier eng miteinander zusammen. Das ist kein Zufall, sondern lässt sich damit erklären, dass im Gehirn in beiden Fällen ein evolutionär besonders junger Bereich, das Frontalhirn, zur Steuerung dieser Funktion wichtig ist. Wie wir inzwischen wissen, reift das Frontalhirn vergleichsweise spät. Das gilt sowohl für die Verschaltung der Nervenzellen untereinander als auch für die Myelinisierung (die Isolierung einzelner Neurone). Außerdem verändert sich die Hormonproduktion noch einmal ganz wesentlich während der Pubertät, und das hat ebenfalls Konsequenzen für den Umgang mit Gefühlen und die Verhaltensplanung. Indem wir heute nach hirnphysiologischen Korrelaten für beobachtbares Verhalten fragen, wird uns deutlich, wie eng verschränkt die kognitive und emotionale Entwicklung sind. Gleichzeitig wird damit klar, wie wichtig es ist, die biologische Perspektive mit im Blick zu behalten, wenn wir entwicklungspsychologische Voraussetzungen der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen diskutieren. In diesem Zusammenhang mag es interessant sein zu erfahren, dass auch die Sprachproduktion und die Entwicklung einer Theory of Mind mit Frontalhirnfunktionen in Verbindung gebracht werden.

    Fazit

    Unsere Sicht auf Kinder hat sich seit Beginn der psychologischen Forschung entscheidend verändert. Heute ist uns bewusst, dass das Verhalten von Kindern und Jugendlichen nicht in jeder Hinsicht auf gleichen Voraussetzungen basiert wie das von Erwachsenen. Ein Grund dafür ist die biologische Reifung des Gehirns. Ein weiterer Grund sind noch fehlende Kompetenzen in einzelnen Bereichen des Denkens und Fühlens, die als Grundlage für höhere mentale Leistungen dienen und die erst ganz allmählich aufgebaut werden. Wer das Verhalten von Kindern in seiner Veränderung mit dem Lebensalter richtig verstehen will, muss behaviorale, mentalistische und biologische Aspekte von Entwicklung gleichermaßen beachten.

    Ausgehend von diesen Grundannahmen soll im nächsten Abschnitt ausgeführt werden, in welcher Hinsicht eine differenzierte Auseinandersetzung mit altersbedingten Veränderungen für Verhaltenstherapeuten nützlich sein kann.

    1.3 Wie nützen entwicklungspsychologische Kenntnisse Kinder- und Jugendtherapeuten?

    Die Relevanz entwicklungspsychologischer Forschung als Grundlage der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen lässt sich an drei Kernthemen verdeutlichen:

    Entwicklungsnormen,

    Entwicklungsaufgaben und

    altersabhängige Kompetenzen.

    1.3.1 Entwicklungsnormen

    Kinder und Jugendliche verhalten sich in vielen Situationen anders als Erwachsene und können daher nur bedingt an den Normen für Erwachsene gemessen werden. So ist es zwar nicht unbedingt wünschenswert, aber durchaus im Bereich des Normalen, wenn ein Grundschüler sich im Streit mit anderen rauft – im Erwachsenenalter wäre ein vergleichbares Verhalten dagegen von der Norm abweichend.

    Die Entwicklungspsychologie bietet Definitionen des Normalen und Abweichenden, die altersspezifisch sind. Eine detaillierte Kenntnis solcher Normen ist wichtig für Störungskonzeptionen und die Beurteilung der Therapiebedürftigkeit im Einzelfall.

    1.3.2 Entwicklungsaufgaben

    Im Laufe seines Lebens muss der Mensch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Entwicklungsaufgaben meistern. Beispielsweise muss ein Kleinkind lernen, seine Körperfunktionen allmählich selbst zu kontrollieren, ein Kindergartenkind muss lernen, sich in größeren sozialen Gruppen auch ohne Anwesenheit primärer Bezugspersonen zurechtzufinden, von einem Grundschüler wird erwartet, dass er sich an die Regeln des Schulalltags hält und Leistungsbereitschaft zeigt, und ein Jugendlicher steht vor der Herausforderung, seinen Umgang mit dem anderen Geschlecht neu zu bestimmen. Die Gesellschaft beurteilt Kinder danach, wie gut sie diese Entwicklungsaufgaben zur rechten Zeit erfüllen. Gelingt ihnen dies nicht, so kann das ein wichtiges Motiv für eine Verhaltenstherapie sein.

    Entwicklungspsychologische Theorien geben Aufschluss darüber, welche Entwicklungsaufgaben in welchem Alter relevant sind. Daraus ergeben sich insbesondere die Therapieziele (z. B. Autonomie, Selbststeuerung, Identitätsentwicklung).

    1.3.3 Altersabhängige Kompetenzen

    Auch wenn es für alle Altersstufen allgemeine Prinzipien des Lernens und der Verhaltensmodifikation gibt, ist es doch nicht das Gleiche, wenn man einem Zweijährigen helfen möchte, sein Verhalten zu ändern, als wenn man das mit einem Jugendlichen versucht. Je jünger ein Kind ist, desto wichtiger sind Eltern für den Therapieerfolg. Je älter die Kinder werden, desto bedeutsamer sind Gespräche und eigene Einsichten. Zudem durchläuft das Gehirn in bestimmten Phasen der Entwicklung wesentliche Reifungsschritte, die für die Verhaltenssteuerung, das Denken und Fühlen des Kindes und damit für die Auswahl geeigneter Interventionsmöglichkeiten durch den Therapeuten von Bedeutung sind.

    Die Entwicklungspsychologie bietet Anhaltspunkte dafür zu beurteilen, welche Interventionsformen für welche Altersstufen besonders erfolgversprechend sind. Sie klärt, ob wichtige soziale, emotionale und kognitive Voraussetzungen für die Durchführung von Interventionsprogrammen in einem gegebenen Alter erfüllt sind.

    Bereits vorliegende Beiträge zu entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für die Therapie von Kindern und Jugendlichen beziehen sich vorzugsweise auf Entwicklungsnormen oder Entwicklungsaufgaben (Borg-Laufs und Trautner 1999). In Ergänzung und Erweiterung solcher Beiträge wollen wir das Hauptaugenmerk auf altersabhängige kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen richten, da diese als Voraussetzung für die Umsetzung von verhaltenstherapeutischen Konzepten von herausragender Bedeutung sind. Diese Orientierung scheint vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen besonders nützlich, da sich gerade in den letzten Jahren verhaltenstherapeutische Konzepte etabliert haben, die auf komplexen Lernprinzipien basieren und höhere kognitive Leistungen und Selbststeuerungsprozesse vom Klienten erwarten. Während Interventionsansätze früher sehr stark lerntheoretisch orientiert waren (klassisches und operantes Konditionieren) führte die kognitive Wende in der Verhaltenstherapie dazu, dass heute neben der Veränderung der funktionellen Bedingungszusammenhänge die Veränderung von vermittelnden Gedanken, Situationswahrnehmungen, Überzeugungen und Einstellungen im Mittelpunkt der Therapie stehen (Lauth et al. 2001). Das therapeutische Arbeiten an und mit den Kognitionen erfordert aber sprachliche Interventionsstrategien, wie beispielsweise Selbstexploration oder Selbstinstruktion. In der Folge entstand eine Reihe von Therapiemanualen mit vielfältigen Übungen insbesondere zur sozialen Wahrnehmung sowie zum Aufbau geeigneter Selbstanweisungen, die vom Patienten in der Therapie geübt und in den Alltag übertragen werden sollen (Reduzierung aggressiven Verhaltens, Abbau von Impulsivität). Diese Erweiterung des Methodenspektrums stellt höhere Anforderungen an den Patienten. Das gilt etwa für seine Ausdrucksmöglichkeiten, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Wahrnehmung eigener Gefühle oder die Einsicht in das Verständnis in die Situation anderer sowie das planvolle Handeln.

    Neben der Betonung der altersspezifischen Voraussetzungen für den Therapieprozess verfolgt das vorliegende Kapitel noch ein weiteres Ziel: Es will den Bereich der frühen Kindheit, der von der Verhaltenstherapie bislang nicht explizit aufgegriffen wurde, stärker beleuchten. Dieser neue Fokus scheint gleich aus mehreren Gründen sinnvoll: Zunächst wird eine Analyse der Kompetenzen von Säuglingen und Kleinkindern dokumentieren, dass verhaltenstherapeutische Interventionen auch schon für diese Altersgruppe interessant sind. So werden wir zeigen, dass die Basislernformen, auf denen Verhaltensprogramme für ältere Kinder aufbauen, bereits Neugeborenen zur Verfügung stehen. Bedenkt man zudem, dass eine Vielzahl von Verhaltensstörungen ihre Wurzeln in Erfahrungen der frühen Kindheit haben, dann scheint es naheliegend, rechtzeitig einzuschreiten, bevor sich Teufelskreisläufe und schlecht angepasste Verhaltensmuster fest etablieren. Während es für die frühe Säuglingszeit überwiegend therapeutische Konzepte auf systemischer und tiefenpsychologischer Grundlage gibt (Reck et al. 2001), sind verhaltenstherapeutische Interventionen für diese Altersgruppe noch im Entstehen und müssen weiter etabliert werden (Papousek et al. 2001).

    Ausgehend von dieser Überlegung wollen wir im nächsten Schritt zunächst verschiedene Lernformen besprechen, die für die Verhaltenstherapie relevant sind. Dabei werden wir jeweils aufzeigen, welche Anforderungen ein solches Lernen an das Kind stellt, welche Voraussetzungen zur Umsetzung das Kind von Beginn an mitbringt und welche Fähigkeiten es erst im Verlauf seiner Entwicklung erwirbt. Anschließend werden für eine Auswahl von kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen, die im Rahmen von Therapieprozessen eine entscheidende Rolle spielen, wichtige Meilensteine der Entwicklung näher erläutert. Wir analysieren entwicklungspsychologische Voraussetzungen für verhaltenstherapeutische Interventionen damit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: zunächst aus der Perspektive der Lerntheorie und dann aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie.

    Da die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten bei Kindern erst in Entwicklung befindlich sind, bedarf es differenzierter Kenntnisse seitens des Therapeuten bezüglich des Leistungsniveaus von Kindern eines gegebenen Alters, um geeignete Interventionen auswählen zu können.

    1.4 Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung

    In der Verhaltenstherapie spielen neben der klassischen und operanten Konditionierung auch das Beobachtungslernen sowie das Lernen durch Problemeinsicht eine wichtige Rolle. Auf jede dieser Lernformen und ihre Entwicklung wird nachfolgend ausführlicher eingegangen (vgl. hierzu auch Bd. I/Kap. 5).

    1.4.1 Klassische Konditionierung

    Die klassische Konditionierung ist eine der elementarsten Lernformen. Sie setzt voraus, dass es eine unbedingte, natürliche Reaktion auf eine gegebene Reizart gibt. Beim Pawlow’schen Hund erzeugt der Anblick von Futter (unkonditionierter Stimulus, UCS) eine Speichelreaktion (unkonditionierte Reaktion, UCR). Auch beim Neugeborenen gibt es unbedingte Reaktionen auf bestimmte Reize. So fängt ein hungriges Baby sofort an, nach der Mutterbrust zu suchen (UCR), sobald es Kontakt mit menschlicher Haut hat (UCS). Tritt nun kurz vorher immer ein konditionierter Reiz auf – ein Reiz also, der allein keine Reaktion auslöst (z. B. ein Glockenton), so lernt der Pawlow’sche Hund, ihn als Hinweis zu interpretieren und zeigt die Speichelsekretion auch dann, wenn der Glockenton nicht vom Futter gefolgt wird (konditionierte Reaktion, CR). In ähnlicher Weise kann man beobachten, dass hungrige Neugeborene bevorzugt immer dann nach der Brust suchen (CR), wenn sie auf dem Arm ihrer Mutter sind. Sie haben offensichtlich innerhalb kürzester Zeit gelernt, den spezifischen Körpergeruch und die Stimme der eigenen Mutter als Hinweis auf eine baldige Nahrungszufuhr zu interpretieren (CS). Auch wenn solche klassischen Lernleistungen beeindruckend erscheinen mögen, wurden sie doch lange in ihrer Bedeutung überschätzt. Wie Tierversuche eindrucksvoll belegen, wird Mutterliebe nicht nur durch die Suche nach Nahrung geprägt: Erhielten junge Äffchen, die man von ihrer Mutter getrennt aufzog, immer nur bei einer Drahtgestell-Mutter Milch, nicht aber bei einer Fellmutter, dann hielten sie sich trotzdem nur zur Nahrungsaufnahme bei der Drahtgestell-Mutter auf und suchten ansonsten die Nähe zur Fellmutter. Wenn Babys sich allein bewegen könnten, würden sie sich sicher ähnlich verhalten (Harlow und Zimmerman 1959).

    Klassische Konditionierung bereits in der Schwangerschaft

    An einem anderen Beispiel für frühe Lernleistungen konnte man zeigen, dass Neugeborene beim Erklingen einer Melodie, zu der sich ihre Mutter in der Schwangerschaft regelmäßig entspannt hat, postnatal ebenfalls mit Entspannung reagieren. Offensichtlich hörte der Fötus den unkonditionierten Reiz (hier: die Melodie), und weil das Hören der Melodie physiologisch mit Entspannung gekoppelt war – zunächst, indem es den Körper der Mutter entspannte und auf diese Weise auch beim Kind Wohlbehagen auslöste –, wurde die Melodie zu einem Hinweisreiz auf Entspannung, der postnatal zu entsprechenden Reaktionen beim Kind führte (DeCaspar und Spence 1986).

    Allerdings besteht ein großer Teil früher Lernerfahrungen auch aus der Koppelung von Reizen und negativen Erlebenszuständen, wie Schmerz. Das Pieksen in den Fuß zwecks Blutentnahme ist ein typisches Beispiel für einen schmerzhaften unkonditionierten Stimulus. Diese Erfahrung löst beim Neugeborenen mit einiger zeitlicher Verzögerung den Rückzug des Fußes aus (UCR). Geht dem Pieksen (UCS) regelmäßig ein neutraler Reiz voraus (z. B. die Desinfektion der Einstichfläche, CS durch einen Arzt), dann löst diese an sich harmlose Pflegemaßnahme schon nach wenigen Wiederholungen beim Kind Rückzugsverhalten aus (CR). Konditionierungsprozesse können die Desinfektion zu einem Hinweisreiz (CS) auf eine nahende Bedrohung machen und schließlich zu Abwehrverhalten beim Anblick des Arztes führen. Dieses Problem lässt sich häufig bei Frühgeborenen beobachten, die im Rahmen medizinischer Maßnahmen vergleichsweise oft Schmerz auslösenden Situationen ausgesetzt sind.

    Blickvermeidung im Kontext früher Lernerfahrungen

    Auch im sozialen Bereich gibt es Belege für frühe Konditionierungsprozesse auf negative Reize: So hat man etwa festgestellt, dass Kinder von depressiven Müttern, denen es oft schwerfällt, in direkten Interaktionen mit ihrem Kind einen gelungenen Austausch von positiven Gefühlen zu etablieren, schon mit 3–4 Monaten aktives Blickvermeidungsverhalten zeigen, wenn sie mit ihren Müttern (aber nicht unbedingt mit anderen Personen) kommunizieren (Reck et al. 2001). Sie assoziieren einen bestimmten emotionalen Gesichtsausdruck der Mutter (CS) mit Stress oder Aversion (UCS) und reagieren mit Abwendung und Unbehagen (CR).

    Die genannten Beispiele sollen Folgendes verdeutlichen:

    Die Voraussetzungen für klassische Konditionierungsprozesse sind bereits ab dem Säuglingsalter gegeben. Sie führen dazu, dass an sich neutrale Reize eine positive oder negative Bedeutung erlangen und als Hinweisreize für bestimmte Reaktionen des Kindes dienen.

    Prinzipiell ist es von Geburt an möglich, klassische Konditionierungsprozesse einzusetzen, um das Verhalten von Kindern zu steuern. Dies geschieht im Alltag ganz automatisch und ungeplant. Es kann aber auch bewusst eingesetzt werden, um das Verhalten des Kindes zu beeinflussen. Petermann (2003) benennt verschiedene Methoden der Kinderverhaltenstherapie, die auf klassischer Konditionierung beruhen:

    die Aversionsbehandlung,

    das Entspannungstraining und

    die systematische Desensibilisierung.

    Für ältere Kinder spielen andere Lernformen, wie etwa die operante Konditionierung oder das Beobachtungslernen insgesamt eine größere Rolle.

    1.4.2 Operante Konditionierung

    Im Unterschied zur klassischen Konditionierung gilt für die operante Konditionierung, dass ein spontan auftretendes Verhalten durch Belohnung oder Bestrafung, die der Reaktion nachfolgt (Konsequenz), in seiner Auftretenshäufigkeit beeinflusst wird. Auch diese Lernform ist sehr früh nachweisbar, wie Säuglingsstudien belegen. Ganz allgemein scheint es bemerkenswert, dass gerade zu Beginn des Lebens die Auswahl an materiellen Verstärkern vergleichsweise gering ist (z. B. Milch), während eine ganze Palette unterschiedlicher sozialer Verstärker, die einen positiven zwischenmenschlichen Kontakt ermöglichen (z. B. Lächeln, Ammensprache, Streicheln) zur Verfügung stehen. Wie das Beispiel zur Saugpräferenz (s. unten) anschaulich dokumentiert, können auch in der frühkindlichen Entwicklung Handlungsverstärker (hier: vertraute Geschichte hören) zum Einsatz kommen.

    Das Saugpräferenzparadigma (DeCaspar und Fifer 1980)

    Um nachzuweisen, dass sich Föten an während der Schwangerschaft vorgelesene Geschichten erinnern können, setzte man wenige Tage alten Babys einen Kopfhörer auf und erfasste zunächst, wie häufig sie spontan saugten. Dann spielte man ihnen entweder eine Geschichte ein, die sie noch nicht kannten, oder die bereits vertraute Geschichte (beide von einer fremden Person vorgelesen). Welche Geschichte zu hören war, hing von ihrer Saugrate ab: Die Hälfte der Kinder musste schneller saugen, um die vertraute Geschichte zu hören, und die andere Hälfte der Kinder musste langsamer saugen. Die Kinder lernten sehr schnell, ihr Nuckelverhalten so anzupassen, dass sie die vertraute Geschichte zu hören bekamen. Hieran sieht man, dass neben primären Verstärkern, wie etwa Nahrung, auch sekundäre Verstärker, wie etwa ein vertrautes Lautmuster, zur Verhaltenssteuerung (hier: der Steuerung des Nuckelverhaltens) eingesetzt werden können.

    Neues Wissen über die Gehirnentwicklung passt zur Beobachtung früher Lern- und Gedächtnisprozesse: Demnach scheint der Hippocampus, eine Struktur im Temporallappen, die beim Lernen und Erinnern sowie bei der Zuordnung von unterschiedlichen Gedächtnisinhalten eine zentrale Rolle spielt, bereits zum Zeitpunkt der Geburt weit entwickelt zu sein. Der Hippocampus ist eng verschaltet mit dem limbischen System, das als Gefühls- und Bewertungszentrum des Menschen diskutiert wird. Man kann also zunächst einmal davon ausgehen, dass Babys prinzipiell als lern- und erinnerungsfähige Wesen im umfassenden Sinne zur Welt kommen. Ferner ist es möglich, ihr Verhalten sowohl über klassische als auch operante Konditionierung zu steuern. Dabei sind neben primären auch sekundäre Verstärker unterschiedlicher Art wirksam.

    Bis heute ist noch sehr wenig darüber bekannt, ob unterschiedliche Verstärkerpläne bei Säuglingen und Kleinkindern eine vergleichbare Wirkung haben wie bei älteren Kindern und Erwachsenen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Prinzipien der Kontingenz (enge zeitlich Koppelung von auftretendem Verhalten und folgender Verstärkung), der Reihenfolge (erst Zielverhalten, dann Verstärkung) sowie Wiederholung (kontinuierliche oder zumindest intermittierende Verstärkung) für alle Altersgruppen gleichermaßen wichtig sind. Beobachtungen aus Interaktionsstudien legen den Schluss nahe, dass bei jüngeren Kindern ein hohes Maß an Kontingenz für den Aufbau neuer Reaktionsweisen sehr wichtig sein dürfte. Das zeigt sich besonders anschaulich am Lernen von kommunikativem Verhalten: Mütter/Väter, die mit ihren Säuglingen so umgehen, dass sie in aller Regel prompt und angemessen auf die Kommunikationssignale ihres Kindes reagieren, schaffen damit die Basis für ein sicheres Bindungsverhalten und fördern die Tendenz ihrer Kinder, sich mitzuteilen (Papousek et al. 2001). Dabei sollten die Reaktionen der Eltern in der Regel zeitlich eng an die Äußerungen des Kindes gekoppelt sein. Außerdem muss es sich um ein stabiles Antwortmuster handeln. Mütter/Väter, die sich wenig kontingent verhalten und widersprüchliche Signale aussenden, erzeugen unsicheres Bindungsverhalten. Bereits wenige Monate alte Säuglinge quittieren dies durch Blickabwendung und geringe Kommunikationsbereitschaft gegenüber den betreffenden Personen.

    Konditionierungsprozesse sind von Geburt an möglich. Ob die Anzahl von Wiederholungen zum Aufbau einer konditionierten Reaktion in jüngeren Jahren kleiner oder größer ist als bei älteren Kindern, wissen wir noch nicht sicher. Die Beantwortung dieser Frage dürfte stark mit der Art des zu lernenden Inhalts variieren. Die Eltern werden umso eher Einfluss auf das Verhalten des Kindes haben, je eindeutiger sie bestimmte Hinweisreize setzen, je besser sie darauf achten, dass das Kind in einem lernbereiten Zustand (aufmerksam) ist, wenn der Hinweisreiz gegeben wird und je zuverlässiger auf den unbedingten Reiz bzw. auf die spontane Verhaltensweise bedeutsame Konsequenzen folgen. Zu beachten gilt es ferner, dass sozialen Verstärkern, wie Zuwendung und Ansprache, von Geburt an ein großer Stellenwert beizumessen ist. Was sich mit dem Alter verändert, ist vor allem, wie unmittelbar die Belohnung auf das erwünschte Verhalten folgen muss. Während eine prompte Reaktion, die in Mimik und Sprachmelodie eindeutig erkennbar sein sollte, für Säuglinge extrem wichtig ist, können Dritt- oder Viertklässler durchaus auch sehr indirekte Formen der Anerkennung, wie etwa eine gute Schulnote, die erst eine Woche nach der gezeigten Leistung als Belohnung zum Tragen kommt, mit dem gewünschten Verhalten (hier: für die Schule üben) in Verbindung bringen. Kindergartenkinder und jüngere Grundschüler befinden sich in einem Zwischenstadium. Sie profitieren stärker von direkt spürbaren Konsequenzen ihres Verhaltens, sind z. T. aber auch schon in begrenztem Umfang zu Belohnungsaufschub in der Lage. Wichtig ist es in diesen Fällen, den Zusammenhang zwischen Verhalten und Konsequenz verbal zu verdeutlichen, da diese Verdeutlichung gleichzeitig als Gedächtnisstütze dient und die Reflexion über das eigene Handeln und seine Folgen fördert. Wachsende Gedächtnis- und Sprachkompetenzen sind also ganz wesentlich für die Fähigkeit von Kindern, Belohnungsaufschub akzeptieren zu können.

    Die Verwendung von Token-Systemen, die bei der operanten Konditionierung im Rahmen der Kindertherapie eine herausragende Rolle spielt (Lauth et. al. 2001, Kap. 13 in diesem Band), setzt Symbolverständnis voraus, denn das Kind muss verstehen, dass die erworbenen Tokens (Punkte, Sternchen, Smileys etc.) für konkrete Belohnungen stehen, die zu einem späteren Zeitpunkt in materielle oder soziale Verstärker umgetauscht werden können. Grundschulkinder lernen, sich auf etwas zu freuen. Zusätzlich finden in der Schule Lernprozesse statt (wie etwa das Grundrechnen auch mit Geld), die ihnen die Bedeutung von Tokens nahebringen. Der Umgang mit solchen Systemen macht ihnen auch aus diesem Grund häufig Spaß. Folglich gibt es verschiedene entwicklungspsychologische Gründe, warum Token-Systeme im Rahmen der operanten Konditionierung ab dem Grundschulalter besonders gut anwendbar sind.

    Eine Verhaltensformung im Sinne von klassischer und operanter Konditionierung findet von Geburt an statt, die primären Bezugspersonen spielen dabei eine zentrale Rolle.

    1.4.3 Beobachtungslernen

    Wie die beiden vorangegangen Lernformen, so kann auch das Beobachtungslernen von früh an nachgewiesen werden. Sieht man einmal von der Neugeborenenimitation ab, die sich auf einfache mimische Gesten beschränkt, kann man ab dem 3.–4. Lebensmonat auch die gezielte Nachahmung von einfachen Handlungen beim Kind beobachten, die vor allem in direkter Interaktion von Angesicht zu Angesicht zum Tragen kommt. Babys werden in der Folge zu aufmerksamen Betrachtern ihrer Umgebung. Sie lieben es, Erwachsenen bei Haushaltstätigkeiten zuzusehen, und sobald es ihre motorischen Kompetenzen erlauben, ahmen sie dieses Verhalten nach. Das zeigt sich z. B. am Werkzeuggebrauch: Spielzeugmodelle realer Objekte werden bereits gegen Ende des 1. Lebensjahres in ihrer funktionsspezifischen Weise gehandhabt: Die Bürste wandert zum Kopf, das Handy ans Ohr, das Puppentässchen zum Mund, und das Auto wird über den Tisch geschoben. Die Mimik und der Tonfall der Eltern oder von Geschwisterkindern werden ebenfalls imitiert. Auffällig ist dabei, dass Kinder zu Beginn des 2. Lebensjahres vor allem an den Zielen einer Handlung interessiert sind. Das bedeutet, dass sie unter Umständen nicht das exakte Verhalten eines Erwachsenen nachahmen, aber das Verhaltensziel übernehmen. Es interessiert sie also weniger das Wie als das Was. Erst etwas später, ab Mitte des 2. Lebensjahres, bemühen sie sich, eine beobachtete Verhaltensweise in möglichst ähnlicher Weise auszuführen wie das Vorbild (Hurley und Chater 2006). Wichtig erscheint an dieser Stelle der Hinweis, dass auch der Umgang mit Auseinandersetzungen, die für Kinder emotional bedeutsam sind, aufmerksam verfolgt wird. Die Bedeutung von Lernen durch Beobachtung verstärkt sich im Verlauf der Kleinkind- und Kindergartenzeit noch weiter. Imitiert werden bevorzugt Modelle, die für das Kind wichtig sind. Das können Erwachsene, aber auch Altersgenossen sein. Die Imitation erfolgt nicht immer unmittelbar, sondern kann unter Umständen auch erst Tage später zum Tragen kommen. Im Alltag lässt sich diese Vorliebe zum Imitieren u. a. am Spielverhalten der Kinder beobachten: Das Rollenspiel, in dem Kinder in unterschiedliche Persönlichkeiten schlüpfen, ist im Kindergartenalter besonders verbreitet – nicht zuletzt deshalb, weil Kinder in dieser Spielform üben können, in die Haut anderer zu schlüpfen und deren Verhaltensrepertoire aktiv zu spiegeln.

    Während in früher Kindheit vor allem Eltern und Geschwister für Imitationshandlungen als Vorbild dienen, nimmt ab dem Kindergartenalter die Bedeutung von Peers immer weiter zu. Kinder imitieren mit höherer Wahrscheinlichkeit Modelle, die ihnen ähnlich sind, und bevorzugen solche Verhaltensweisen, für die das Modell vor ihren Augen belohnt wird. Dabei kann die Interpretation dessen, was als Belohnung wahrgenommen wird, durchaus variieren: Ein jüngeres Kind, das Zuwendung und Aufmerksamkeit vermisst, und beobachtet, wie sich die Erzieherin länger mit einem anderen Kind unterhält, welches zuvor jemanden geschlagen hat, wird diese Form der Zuwendung möglicherweise als Belohnung für das aggressive Verhalten deuten und mag demnächst versuchen, auf ähnliche Weise Zuwendung zu erhalten. Ein anderes Kind, das Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht in gleicher Weise vermisst, muss nicht den gleichen Effekt zeigen. In ähnlicher Weise mag ein Jugendlicher, der beobachtet, wie ein anderer Jugendlicher für riskantes Verhalten Achtung und Respekt durch seine Peers erfährt, sich geneigt fühlen, selber auch riskantes Verhalten zu zeigen, um Anerkennung zu erlangen – und zwar mit umso größerer Wahrscheinlichkeit, je abhängiger er von der Wertschätzung seiner Peers ist.

    Was sich hier mit dem Alter verändert, ist vor allem der Bezugsrahmen für die Interpretation von Belohnung: Bei jüngeren Kinder spielt das Verhalten und die Bewertung durch Erwachsene eine zentrale Rolle, aber mit zunehmendem Alter steigt die Relevanz der Bewertung durch Gleichaltrige immer weiter an.

    Soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit durch andere bleiben konstante Motive, die Beobachtungslernen wahrscheinlich machen. Es können immer nur solche Handlungen imitiert werden, die im Verhaltensrepertoire des betreffenden Kindes oder Jugendlichen liegen. Naturgemäß erweitert sich damit das Spektrum der potenziell nachahmbaren Handlungen mit dem Alter – schon allein, weil die motorischen Kompetenzen zunehmen.

    In den meisten verhaltenstherapeutischen Therapiekonzepten wird das Lernen am Modell als wichtiger Wirkfaktor angesehen. Zum einen vermittelt der Therapeut selbst als Modell, wie eine bestimmte Anforderung bewältigt werden könnte („teilnehmendes Modelllernen). So beinhaltet z. B. das „Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern nach Lauth und Schlottke (2002) wiederholte Demonstrationen des Therapeuten zum Problemlösen:

    [Er] löst eine Aufgabe und demonstriert, wie er vorgeht. Er verdeutlicht sein Vorgehen, um die Regeln und Strategien zu veranschaulichen, denen er folgt (Lauth und Schlottke 2002, S. 127).

    Zum anderen stehen Therapiematerialien zur Verfügung, die zeigen, wie sich andere Personen/Kinder in einer bestimmten Situation verhalten bzw. mit welchen Strategien sie bestimmte Konflikte lösen (symbolisches/medienvermitteltes Modelllernen; z. B. „Wackelpeter & Trotzkopf" aus Döpfner et al. 2002). Damit Kinder von solchen therapeutischen Maßnahmen profitieren können, müssen sie aber bereits in der Lage sein, Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem Modell herzustellen und das Verhalten der anderen Person auf ihre eigene Situation übertragen können. Wie bereits dargelegt, entwickeln sich die entsprechenden Kompetenzen im Verlauf der Grundschulzeit.

    Im Rahmen der Behandlung von Verhaltensstörungen ist es wichtig zu explorieren, welche Personen für das Kind besonders wichtig sind und wem es nacheifern möchte. Dabei gilt zu beachten, dass unerwünschte Verhaltensweisen unter Umständen durch Lernen am Modell zustande gekommen sein können.

    1.4.4 Lernen durch Einsicht

    Einsicht setzt die Fähigkeit zur Reflexion voraus. Mit Reflexion ist nichts anderes gemeint, als dass man über ein gegebenes Problem, über eine Situation oder ein Verhalten bewusst nachdenkt. Doch nicht nur ein Nachdenken über externe Situationen spielt für die psychische Gesundheit und Therapie eine große Rolle, sondern ebenso die Fähigkeit zur Reflexion über die eigene Person und das eigene kognitive und emotionale Erleben. Dieses bewusste Nachdenken ist nicht notwendigerweise an Sprache gebunden. So konnten wir in eigenen Studien dokumentieren, dass selbst 7 Monate alte Babys über Ursache und Wirkung nachdenken und komplex unterschiedliche Arten von Erfahrungen integrieren, um eine gegebene Situation zu interpretieren. Doch trotz solcher eindrucksvoller Denkleistungen im vorsprachlichen Alter darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Sprache sehr wichtig für die Vermittlung von Einsichten durch Dritte ist, wie dies vor allem im Rahmen von therapeutischen Prozessen der Fall ist. Im vorliegenden Fall interessieren dabei insbesondere Einsichten in Verhaltensnormen, die nachfolgend näher beleuchtet werden.

    Jüngeren Kindern bis zum Eintritt in das Schulalter gelingt es nur schwer, eigene Fehler einzusehen; im Allgemeinen verinnerlichen sie Verhaltensregeln, die ihnen von Erwachsenen oder Gleichaltrigen vermittelt werden, weitgehend unreflektiert und stellen Abweichungen von dieser Regel fest, ohne die Regeln selbst zu begründen oder zu hinterfragen. Dennoch macht es einen großen Unterschied, ob man Kindergartenkinder einfach nur für richtiges Verhalten belohnt und für falsches Verhalten bestraft oder ob man ihnen eine Begründung dafür gibt. Insbesondere müssen sie erst lernen zu verstehen, warum bestimmte zwischenmenschliche Regeln (z. B. sich nicht gegenseitig zu belügen, zu bestehlen, zu beleidigen oder zu schlagen; höflich zueinander zu sein, sich gegenseitig zuzuhören) wichtig für das Zusammenleben sind. Man kann dieses Verständnis fördern, indem man ihnen die Erklärung in konkreten Situationen liefert. Hört das Kind die Begründung solcher Regeln wiederholt, so erlangen diese allmählich an Bedeutung. Ein konkretes Beispiel mag die Wichtigkeit von Lernen durch Einsicht auch bei kleinen Kindern verdeutlichen:

    Lernen durch Einsicht schrittweise fördern

    Wenn ein fünfjähriger Junge ein anderes Kind auf der Straße schlägt und seine Mutter reagiert darauf konsequent und prompt mit der Aussage: „Das macht man nicht! Du gehst jetzt sofort rein auf dein Zimmer!", dann hat sie gute Chancen zu erreichen, dass ihr Sohn seine Spielkameraden schon bald nicht mehr in ihrer Gegenwart schlägt, um zu vermeiden, dass er auf sein Zimmer gehen muss. Hier greift das Prinzip der operanten Konditionierung. Schaut die Mutter beim nächsten Mal aber gerade weg, dann gibt es aus der Sicht ihres Sohnes keinen Grund, das Hauen zu unterlassen, denn er hat noch nicht verstanden, warum er nicht schlagen soll. Die negativen Konsequenzen sind vor allem daran gebunden, dass die Mutter sieht, was geschieht. Ist sie abwesend, besteht keine entsprechende Gefahr.

    Stellen wir uns im Gegensatz dazu eine Mutter vor, die ihrem fünfjährigen Sohn erklärt, dass er andere Kinder nicht schlagen darf, weil das weh tut. Um Lernen durch Einsicht zu fördern, bittet die Mutter ihren Sohn sich vorzustellen, selbst geschlagen worden zu sein. Gelingt diese Vorstellung, dann sind die Voraussetzungen dafür gegeben, einzusehen, warum man nicht schlagen soll. Auch wenn der Sohn vielleicht noch nicht in der Lage ist, sich wirklich in sein Opfer hineinzuversetzen, macht die Mutter auf diese Weise doch deutlich, dass es eine Erklärung gibt und regt an, nach Gründen für Verhalten oder Verhaltensregeln zu fragen. Diese Grundhaltung ist nicht selbstverständlich und muss Kindern erst durch Lernen am Modell vermittelt werden.

    In der Grundschulzeit konsolidieren Kinder ihr bisher gelerntes Wissen über den richtigen Umgang miteinander. Außerdem werden ihnen eine ganze Reihe neuer Regeln zusätzlich vermittelt. Nicht umsonst dominieren in dieser Zeit auch auf dem Schulhof oder zuhause Regelspiele – seien es Brettspiele, Sportspiele oder Kartenspiele. Kinder ermahnen sich gegenseitig zur Einhaltung der Regeln und stellen fest, was passiert, wenn man Regeln überschreitet, trickst oder sich unfair verhält. Kinder üben den „korrekten" Umgang miteinander – auch ohne Aufsicht von Eltern.

    Spätestens mit Beginn der Pubertät werden viele Regeln noch einmal neu hinterfragt. Der Jugendliche setzt sich nun aktiver als bisher mit den Erwartungen von Erwachsenen auseinander und kontrastiert sie mit Erwartungen von Gleichaltrigen und seinen eigenen Vorstellungen. Jetzt wird das Lernen durch Einsicht besonders wichtig, gleichzeitig aber auch schwieriger, weil es Pubertierenden im Allgemeinen nicht leichtfällt, sich Einsichten durch Erwachsene vermitteln zu lassen. Häufig sehen sich Eltern deshalb entweder mit verschlossenen Jugendlichen konfrontiert, die zuhause nicht über ihre Werte diskutieren wollen, oder mit solchen, die endlos diskutieren, um ihre Eltern von eigenen Vorstellungen zu überzeugen.

    Zunehmende Fähigkeiten, über kognitives und emotionales Erleben nachzudenken und sprachlich zu kommunizieren, ermöglichen eine bewusste Auseinandersetzung mit sozialen Regeln und Normen. Dies schafft die Voraussetzung für eine Verhaltensmodifikation durch Einsicht.

    Fazit

    Alle wichtigen Lernformen sind von Geburt an im Repertoire von Kindern vorhanden. Das gilt sowohl für die klassische und operante Konditionierung als auch für das Beobachtungslernen und das Lernen durch Einsicht. Dennoch verändert sich ihre Umsetzung auf verschiedenen Ebenen. Dazu trägt einerseits die Verschiebung der potenziellen Verstärkermechanismen bei. In jedem Alter sind andere Verstärker wirksam, wobei soziale Anerkennung immer einen hohen Stellenwert einnimmt. Unmittelbare positive Gefühlsreaktionen von emotional bedeutsamen Personen sind von Geburt an wirksam; mit zunehmendem Sprachverständnis spielt Lob eine immer wichtigere Rolle, und ab dem Kindergarten- bzw. Grundschulalter, wenn Kinder das Prinzip des Belohnungsaufschubs verstehen, können Token-Systeme zum Einsatz kommen. Weiterhin verändert sich die Reflexionsfähigkeit über das eigene Tun, die vor allem sprachgebunden ist. Sie beeinflusst insbesondere höhere Lernformen wie etwa das Beobachtungslernen und das Lernen durch Einsicht.

    1.5 Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie

    Im nächsten Schritt werden ausgewählte Bereiche der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die für die Umsetzung verhaltenstherapeutischer Konzepte von besonderer Bedeutung sind, näher beleuchtet. Dazu zählen die Bereiche

    kognitive Grundfunktionen:

    Aufmerksamkeit,

    Lernen und Gedächtnis;

    emotionale Grundfunktionen:

    emotionale Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit sowie

    Selbstregulation;

    soziale Grundfunktionen:

    Sprache und Kommunikation sowie

    Sozialverhalten und soziale Fertigkeiten.

    1.5.1 Entwicklung kognitiver Grundfunktionen

    Das Ziel von Verhaltenstherapie ist Verhaltensänderung. Verhaltensänderung setzt ihrerseits Aufmerksamkeits-, Lern- und Gedächtnisprozesse beim Kind voraus. Wenn wir Verhaltensänderungen gezielt induzieren wollen, müssen wir folglich über die Entwicklung solcher basaler kognitiver Funktionen Bescheid wissen.

    Aufmerksamkeit

    Der Mensch verfügt grundsätzlich über limitierte geistige Ressourcen. Das fängt schon damit an, dass wir unsere Augen auf einen ganz bestimmten Bereich der Außenwelt lenken und auch nur einen eng umgrenzten Teil des Raumes scharf sehen. Innerhalb dieses Bereiches können wir unsere Aufmerksamkeit wiederum auf ganz bestimmte Teilaspekte richten und die fokussierten Teile besonders intensiv verarbeiten. Es ist also der Normalfall, dass ein Großteil der prinzipiell zur Verfügung stehenden Information nicht verarbeitet wird. Damit stellt sich die Frage, wie Kinder lernen, sich auf Teilaspekte zu konzentrieren. Solche Kenntnisse sind für Verhaltenstherapeuten gleich aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen muss sichergestellt sein, dass Trainingsprogramme für Kinder ihren altersbezogenen Fähigkeiten entsprechen. Zum anderen sind Probleme mit der Aufmerksamkeitssteuerung häufig Anlass für therapeutische Interventionen. Auf die eher praktisch orientierten Aspekte wird später noch genauer eingegangen (Abschn. 1.5.2, „Selbstregulation"). An dieser Stelle sollen zunächst die Grundlagen der Aufmerksamkeitsentwicklung näher erläutert werden.

    Visuelle Aufmerksamkeit

    Im Kontext der Wahrnehmung nimmt der Sehsinn eine zentrale Stellung ein: Beim Neugeborenen ist das Sehen noch vergleichsweise schlecht entwickelt, und es dauert bis ca. Mitte des 1. Lebensjahres, bevor ein Kind annähernd so gut sehen kann wie ein Erwachsener. Auch das Zusammenspiel der beiden Augen, das für die Tiefenwahrnehmung bedeutsam ist, entwickelt sich im Verlauf des 1. Lebensjahres. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass für die Steuerung des Blickverhaltens zunächst nur subkortikale Regionen im Gehirn (die im Stammhirn gelegenen Colliculi superiores) verantwortlich sind. Sie ermöglichen es dem Baby, von Geburt an auf bewegte Reize mit Blickzuwendung zu reagieren. Aber auch wenn das Kind ein plötzliches Geräusch hört, dreht es seinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Etwas später, mit ca. 3–4 Monaten folgt eine Phase, die man „obligatory looking nennt. Hat das Kind jetzt einmal einen Gegenstand fixiert, so „klebt es förmlich daran und kann seinen Blick nicht ohne Weiteres wieder auf etwas anderes richten. Dieses Verhalten wird dann abgelöst durch willentlich gesteuerte visuelle Aufmerksamkeit, die das Kind in der Folge zunehmend schult. Diese willentlich gesteuerte Aufmerksamkeit ist gebunden an Hirnprozesse, die den Thalamus, das anteriore Cingulum sowie die frontalen Augenfelder einschließen (einen guten Überblick zur visuellen Aufmerksamkeitsentwicklung aus neurologischer Sicht gibt Johnson 2006). Man kann nun feststellen, dass der Aufmerksamkeitszustand eines Kindes variiert, während es einen Gegenstand fixiert. So unterscheidet man zwischen einfachem „looking (Anschauen) und „examining (Examinieren, Untersuchen), wobei der letztgenannte Zustand mit einer Verlangsamung des Herzschlags zusammenfällt, was seinerseits als Hinweis auf eine kortikale Beteiligung gewertet wird (Elsner et al. 2006). Kortikal vermittelte Prozesse ermöglichen es dem Kind auch, antizipatorisch fließende Blickbewegungen auszuführen: Wenn ein Objekt hinter einem Wandschirm verschwindet, eilt der Blick des Kindes dem Gegenstand nun voraus und erwartet ihn am anderen Ende des Wandschirmes. In Babyversuchen spielt die visuelle Aufmerksamkeit und die Blickpräferenz (als Maß des Interesses an einem Gegenstand) eine zentrale Rolle. Sie wird als Indikator für höhere Denkprozesse unter Beteiligung des Großhirns gewertet.

    Aufmerksamkeitsspanne

    Auch im weiteren Leben eines Kindes ist sein Aufmerksamkeitsverhalten für das Lernen und Denken von entscheidender Bedeutung. Dabei gilt es zu beachten, dass die Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes im Normalfall mit zunehmendem Alter anwächst. Während ein Baby im Durchschnitt nur wenige Sekunden bis Minuten mit einem interessanten Gegenstand beschäftigt ist, fällt diese Spanne beim Kindergartenkind schon deutlich länger aus und beträgt etwa eine halbe Stunde. Im Grundschulalter sind Kinder unter Umständen auch mal eine ganze Stunde mit einem Objekt beschäftigt. Jugendliche oder Erwachsene bleiben schließlich bis zu mehreren Stunden konzentriert und aufmerksam bei der Sache. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Möglichkeiten, den Gegenstand aktiv zu explorieren, also auch mit den Händen zu manipulieren, ebenfalls wachsen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Kind sein Interesse an aktiver Auseinandersetzung mit Objekten länger erhält.

    Aufmerksamkeitssteuerung

    Wie bereits erwähnt, ist es für den therapeutischen Prozess von großer Bedeutung, die Aufmerksamkeitskapazitäten eines Kindes zu berücksichtigen – vor allem, wenn es um die Anregung neuer Lernprozesse geht. Aber noch ein zweiter Aspekt scheint an dieser Stelle wichtig zu sein. Aufmerksamkeitsprobleme können nämlich in zwei unterschiedlichen Richtungen bestehen: Entweder wird nicht genug Aufmerksamkeit/Konzentration aufgebracht, um einen gegebenen Reiz zu verarbeiten, oder die Aufmerksamkeit konzentriert sich zu stark auf ganz spezifische Aspekte und kann nicht von ihnen gelöst werden. Gerade bei jüngeren Kindern ist das Aufmerksamkeitssystem noch sehr stark außengesteuert. Eine ablenkende Umgebung macht es vielen von ihnen schwer, sich zu konzentrieren. Sie haben also vor allem Probleme der ersten Art. Die einseitige Fokussierung auf ganz spezifische Reize bei gleichzeitiger Ausblendung anderer Aspekte findet sich dagegen vermehrt im Jugendalter. Diese Veränderungen auf der Verhaltensebene haben u. a. mit physiologischen Reifungsprozessen zu tun. In einem späteren Abschnitt zum Thema Selbstregulation (Abschn. 1.5.2) wird die Aufmerksamkeitssteuerung nochmals aufgegriffen und aus einer etwas anderen Perspektive beleuchtet.

    Nur in einem aufmerksamen Zustand ist das Kind wirklich aufnahmebereit. Gezielte Interventionen sollten nur dann erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass das Kind diese auch bewusst wahrnimmt.

    Lernen und Gedächtnis

    Verhaltenstherapeutische Maßnahmen wollen Verhalten ändern. Dies setzt Lern- und Gedächtnisprozesse voraus. Sämtliche bereits besprochenen Lernformen gründen sich auf die Fähigkeit von Kindern, Kontingenzen zu erkennen, Wissen zu vernetzen und Erfahrungen zu konsolidieren. Wie aber entwickeln sich diese Fähigkeiten? Bereits im Mutterleib beginnen Kinder, Erfahrungen dauerhaft zu speichern. Das konnte für unterschiedliche Sinnesmodalitäten, wie etwa das Riechen, Schmecken oder das Hören nachgewiesen werden. In Bezug auf die akustische Wahrnehmung belegen empirisch gut kontrollierte Studien, dass Babys die Stimme ihrer Mutter unmittelbar nach der Geburt wiedererkennen. Ebenso können sie sich offensichtlich an eine Geschichte erinnern, die ihnen in den letzten Wochen vor der Geburt einmal pro Tag laut vorgelesen wurde. Diese Befunde waren bereits im Zusammenhang mit klassischer und operanter Konditionierung besprochen worden.

    Implizites Lernen

    Ein Lernmechanismus, der Kindern von Geburt an zur Verfügung steht, aber noch nicht besprochen wurde, ist das implizite Lernen. Darunter versteht man nichtbewusstes Lernen, das mehr oder weniger automatisch erfolgt. Auf der Seite des Gedächtnisses differenziert man zwischen

    prozeduralem Gedächtnis, das sich vor allem auf motorische Abläufe bezieht, und

    Priming, einer Art Bahnung zum Abruf von Gedächtnisinhalten durch die Wahrnehmung.

    Während im erstgenannten Fall das Kleinhirn und die Basalganglien beteiligt sind, spielt im zweiten Fall das Großhirn mit seinen für die Wahrnehmung zuständigen sensorischen Arealen eine entscheidende Rolle.

    Habituation und Dishabituation

    Einen Lernmechanismus, der z. T. mit Priming in Verbindung gebracht wird, stellt die Habituation dar: Präsentiert man immer wieder den gleichen Reiz, dann wird ein Kind sich daran gewöhnen und mit der Zeit weniger stark darauf reagieren. Habituationsvorgänge lassen sich schon vor der Geburt beobachten, wenn Föten zunächst Schreckreaktionen (Blinzeln, Zucken) und eine Beschleunigung ihrer Herzrate zeigen, sobald man einen vibratorisch-akustischen Reiz durch die Bauchdecke der Mutter sendet. Diese Reaktion nimmt bei wiederholter Darbietung ab. Interessant scheint dabei, dass der gleiche Reiz auch nach 24 Stunden zu einer schwächeren Reaktion führt als bei seiner ersten Präsentation. Der Fötus hat sich also durchaus etwas gemerkt. Mit zunehmendem Alter wird das Behaltensintervall größer. Die Habituation/Gewöhnung an angstauslösende Situationen ist für die Verhaltenstherapie mit älteren Kindern und Erwachsenen wichtig. Konkret geht es um das Verfahren der Desensibilisierung. Wie wir aus Studien mit Föten schließen können, scheint Desensibilisierung, ähnlich wie Konditionierung, eine Lernform zu sein, der man sich von Anfang an bedienen kann, um Verhalten zu formen.

    Habituationsprozesse sind für Studien, die das frühe Lernen und Gedächtnis untersuchen wollen, ein überaus wichtiges Phänomen – vor allem in Kombination mit Dishabituationsprozessen, die immer dann auftreten, wenn nach Gewöhnung an einen Reiz ein anderer Reiz präsentiert wird, den das Kind als neu wahrnimmt und der deshalb eine Orientierungsreaktion (verstärkte Aufmerksamkeit) auslöst. Präsentiert man etwa ein bestimmtes Gesicht auf einem Foto, bis das Baby daran gewöhnt ist, und gibt ihm dann zwei Gesichter zur Auswahl – noch einmal das bereits bekannte und ein anderes –, so wird das Baby bevorzugt das neue Gesicht anschauen.

    Diskriminationslernen

    Damit eine solche Orientierungsreaktion entstehen kann, muss das Kind in der Lage sein, Reize zu unterscheiden. Es geht im vorliegenden Zusammenhang also vor allem um die Möglichkeiten eines Kindes, Dinge als vertraut wahrzunehmen. Man spricht daher auch von „recognition" oder Wiedererkennung. Das Diskriminationslernen ist im Rahmen von verhaltenstherapeutischen Verfahren von größter Relevanz, wenn es um die Angemessenheit von Reaktionen geht. Nur wenn ein Kind Reize sicher unterscheiden kann, kann es auch lernen, unterschiedlich auf sie zu reagieren. Wie Abb. 1.1 deutlich macht, spielen bei Habituations- und Dishabituationsprozessen eine ganze Reihe latenter kognitiver Operationen eine zentrale Rolle, von denen einige auch für das das Diskriminationslernen von großer Bedeutung sind.

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    Abb. 1.1

    Modell von Habituations- und Dishabituationsleistungen. (Adaptiert nach Kavsek 2000, mit freundlicher Genehmigung)

    Recall

    Bislang war ausschließlich von Verhaltensweisen die Rede, die in Reaktion auf einen gegebenen Reiz deutlich werden. In vielen Fällen ist es aber auch wichtig, dass Kinder in einer gegebenen Situation von sich aus bestimmte Aktivitäten zeigen oder sich etwas in Erinnerung rufen. Dazu müssen sie sich aktiv an die passende Verhaltensweise erinnern. Man spricht auch von Recall. Ein berühmtes Beispiel für frühe Recall-Leistungen liefert das Mobile-Paradigma (s. unten). Recall ist u. a. für die verzögerte Imitation im Rahmen des Beobachtungslernens (s. oben) von Bedeutung. Einen Überblick über die Lern- und Denkentwicklung in den ersten Lebensjahren gibt Pauen (2006). Entwicklungspsychologische Veränderungen der Gedächtnisleistung bei älteren Kindern (z. B. Metagedächtnis) werden in anderen Zusammenhängen später noch besprochen.

    Das Mobile-Paradigma zur Untersuchung von Recall im Säuglingsalter (Rovée-Collier und Hayne 1987)

    Zunächst wird das spontane Strampelverhalten eines Babys in einem Bettchen unter einem Mobile beobachtet (Basisphase). Anschließend folgt eine Lernphase, in der Bein und Mobile verknüpft werden. In einer dritten Phase wird dann nochmals unter Basisbedingungen gemessen, wie sich die Strampelaktivitäten gegenüber der ersten Phase verändern. Wie sich zeigte, stellen bereits Babys einen systematischen Zusammenhang zwischen den Bewegungen des Mobiles und denen ihrer Beine her. Dass sie ihr implizites Wissen über diesen Zusammenhang aktiv erinnern, zeigt sich daran, dass sie selbst Tage bzw. Wochen später mehr strampeln, wenn man das gleiche Mobile wieder über ihr Bettchen hängt. Indem man systematisch die Zeitabstände zwischen Lern- und Testphase variierte und außerdem die Kontextbedingungen (anderes Bettchen, anderes Mobile) veränderte, konnte man untersuchen, wie sich die Lern- und Erinnerungsleistungen mit dem Alter verändern. Dabei sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:

    Die Zeitabstände, nach denen Erinnerungsleistungen festgestellt wurden, vergrößerten sich systematisch über das 1. Lebensjahr hinweg von einem Tag auf bis zu 2 Wochen.

    Während die Kinder am Anfang nur dann in der Lage waren, die Erinnerung wachzurufen, wenn die Kontextbedingungen identisch mit den Lernbedingungen waren, generalisierte diese Leistung mit dem Alter auch auf andere Kontextbedingungen.

    1.5.2 Entwicklung emotionaler Grundfunktionen

    Emotionale Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit

    Eine ganze Reihe von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten, die zu therapeutischen Interventionen führen, betrifft die emotionale Wahrnehmung und den emotionalen Ausdruck. Kinder müssen erst lernen, Gefühlszustände bei anderen Personen zu erkennen und eigene Gefühle angemessen auszudrücken (Petermann und Wiedebusch 2003). Abhängig von Temperamentsunterschieden und Beziehungserfahrungen fällt ihnen dies unterschiedlich leicht.

    Da die therapeutische Arbeit mit den Gefühlen der Patienten auch in der Verhaltenstherapie zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist es wichtig zu beachten, welche emotionalen Kompetenzen das Kind bereits erworben hat. Es muss geklärt sein, ob das Kind in der Lage ist, relevante Gefühle bei Interaktionspartnern zu registrieren und sein Verhalten darauf abzustimmen. Folgende drei Bereiche emotionaler Kompetenzen lassen sich zusammenfassen, deren Entwicklung die sozialen Interaktionen des Kindes maßgeblich beeinflusst:

    der Emotionsausdruck,

    das Emotionsverständnis und

    die Emotionsregulation (Saarni 1999).

    Betrachtet man die Entwicklung dieser drei Kernkompetenzen, ergeben sich viele Überschneidungen mit anderen Bereichen, insbesondere der sozialen Wahrnehmung bzw. sozialen Kognition und der Selbstregulation, von denen später noch die Rede sein wird. An dieser Stelle soll jedoch zunächst über die Differenzierung von Emotionen und das Emotionserkennen im Entwicklungsverlauf berichtet werden.

    Emotionsausdruck

    Das menschliche Gesicht nimmt in der Kommunikation und Interaktion eine zentrale Stellung ein. Schon Säuglinge zeigen eine deutliche Präferenz für menschliche Gesichter gegenüber anderen Reizmustern und beginnen, auf das Ausdrucksverhalten ihrer Bezugsperson zu reagieren. Tiefenpsychologisch orientierte Säuglingsforscher betrachten diesen frühen emotionalen Austausch zwischen Mutter und Kind im 1. Lebensjahr als zentral für den Aufbau eines „präsymbolisch organisierten Selbst und sprechen von der Entwicklung eines „affektiven Kerns durch die „Internalisierung emotionaler Interaktionsmuster" (Reck et al. 2001). Andere Forschungstraditionen betonen ebenfalls die Bedeutung emotionaler Wahrnehmungsfähigkeiten und untersuchen z. B. auf der Grundlage evolutionär orientierter Theorien, in welchem Alter Kinder in der Lage sind, universelle, kulturübergreifende Basisemotionen im mimischen Gesichtsausdruck zu erkennen. Diese Basisemotionen spielen eine wichtige Rolle sowohl für den Beziehungsaufbau zu den Bezugspersonen (interpsychische Funktion) als auch zur Eigenregulation (intrapsychische Funktion). Wie zahlreiche Studien zeigen konnten, das Erkennen und Beachten emotionaler Signale im Gesichtsausdruck von Interaktionspartnern Voraussetzungen für sozial angepasstes und erfolgreiches Verhalten (Saarni 1999). In Bezug auf die eigene Person schützt z. B. Ekel vor schädlichen Substanzen, Freude und Erregung erhöhen die Aufnahmebereitschaft für Informationen und Angst dient der Vermeidung von Gefahren.

    Sowohl im Emotionsausdruck als auch beim Erkennen der Gestimmtheit anderer Personen scheinen zunächst globale, an der Valenz der Gefühle (positiv vs. negativ) orientierte Unterscheidungen im Vordergrund zu stehen, die sich in den folgenden Monaten zunehmend ausdifferenzieren. Während das Neugeborene noch ein eher unspezifisches „Distress-Schreien zeigt, kann man beim 2 Monate alten Kind schon klar zwischen Hunger- und Schmerzschreien unterscheiden. Ebenso differenziert sich das zunächst zufällig auftretende Neugeborenenlächeln weiter aus und ist mit etwa 4 Monaten immer dann zuverlässig zu sehen, wenn das Kind „Freude an der Interaktion bzw. Kommunikation erlebt. Aus diesen zunächst ungerichteten Ausdruckszeichen (wie Schreien oder Lächeln) entstehen also im Verlauf der ersten Monate zunehmend gerichtete Ausdruckszeichen (z. B. Hungerschrei, soziales Lachen), die an einen bestimmten Anlass gekoppelt sind (Hunger, Interesse) und auf eine bestimmte Reaktion bei der Bezugsperson zielen (Füttern, Spiel). Tab. 1.1 zeigt im Überblick, in welchem Alter welche emotionalen Kompetenzen zu beobachten sind. Dabei zeigt sich, dass der Grundstein für die Entwicklung der wichtigsten Emotionen bereits in der frühen Kindheit gelegt wird.

    Tab. 1.1

    Regulationsfunktionen der „Basisemotionen". (Nach Holodynski und Oerter 2012, in: Schneider/Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. © 1982, 2012 Programm PVU Psychologie Verlags Union in der Verlagsgruppe Beltz ∙ Weinheim Basel; mit freundlicher Genehmigung)

    Emotionsverständnis

    Parallel zum Emotionsausdruck entwickelt sich auch die emotionale Eindrucksfähigkeit, d. h. der Säugling lässt sich in seinem Erleben vom emotionalen Ausdruck einer anderen Person beeindrucken. Zunächst handelt es sich dabei um Gefühlsansteckung: Wenn ein anderes Baby schreit, reagiert das Kind ebenfalls mit Geschrei. Aber schon mit wenigen Monaten gelingt es Säuglingen, die Mimik anderer Personen zu deuten, und sie erwarten, dass zu einem fröhlichen Gesicht auch eine freundliche Stimme gehört bzw. zu einem ärgerlichen Gesicht eine ärgerliche Stimme. Präsentiert man zueinander passende Bild-Ton-Paare, dann reagiert ihr Gehirn in anderer Weise, als wenn Gesicht und Stimme im Emotionsausdruck nicht zusammenpassen (Grossmann et al. 2006). Ab etwa 9 Monaten nehmen die Kinder dann den Ausdruck der Bezugsperson als deren innere Befindlichkeit wahr und beobachten sehr genau, wie die Mutter auf eine neue Situation oder ein neues Objekt reagiert (s. oben). Das „emotional referencing" wird also erst dann möglich, wenn die Kinder eine Beziehung zwischen dem Emotionsausdruck der Mutter und dem Situationsanlass hierfür herstellen.

    Mit fortschreitender Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten lernen die Kinder im 2. und 3. Lebensjahr Gefühle zu benennen und stellen Überlegungen über deren Anlass an, z. B. warum sich eine Person auf einem Bild freut. Die reine Gefühlsansteckung wird also abgelöst durch ein Hineinversetzen in andere Personen und deren Emotionen und Motive, was als wichtiger Schritt für die Entwicklung von Empathie zu sehen ist. Für das Kindergartenalter liegt daher eine Vielzahl von Untersuchungen vor, in denen man Kindern Bilder von Personen mit unterschiedlichen Emotionen zeigte und sie sowohl die Emotionen benennen ließ als auch nach entsprechenden Anlässen für die abgebildeten Gefühle fragte. Dabei zeigte sich übereinstimmend, dass Freude am schnellsten und eindeutigsten erkannt wird, während die Wahrnehmung von Ärger oder Überraschung noch 4- bis 5-jährigen Kindern Probleme bereitet. Das Erkennen und Benennen von Emotionen entwickelt sich vor allem im Vorschulalter weiter, bei 7- bis 10-jährigen Kindern scheint bereits ein hohes Maß an Sicherheit im Umgang mit Emotionsausdrücken erreicht zu sein. Hier ist vor allem eine deutliche Steigerung im Tempo der Erkennungsleistung von Bedeutung.

    Im therapeutischen Setting finden sich ebenfalls viele Übungen und Arbeitsmaterialien, die prüfen, wie sicher die Kinder im Erkennen und Benennen von Emotionen bereits sind und welchen Situationen sie welche Emotionen zuordnen. Dies ist insbesondere relevant bei Patienten, die Probleme im Sozialverhalten zeigen, und bei Kindern mit Angststörungen. Während in der ersten Gruppe ein gehäuftes Wahrnehmen von Ärger beim Interaktionspartner nachgewiesen wurde, ist in der zweiten Gruppe eine besondere Unsicherheit im Umgang mit Angst/Furcht zu vermuten, in der Hinsicht, dass eine breitere Anzahl von Emotionsausdrücken als Angst wahrgenommen und interpretiert wird oder der Emotion Angst eine größere Anzahl von Auslösersituationen zugeordnet wird (Schneider 2004). Eine Reihe von verhaltenstherapeutischen Techniken wurde deshalb in Therapiemanualen für Kinder aufgenommen, mit dem Ziel, die emotionale Kompetenz der Kinder zu erhöhen und deren Wahrnehmungsprozesse zu differenzieren. Einen guten Überblick zur emotionalen Entwicklung geben u. a. Holodynski und Friedlmeier (2006).

    Selbstregulation

    Die selbstständige Regulation von Aufmerksamkeit und Affekten gehört zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Menschen in jedem Alter. Es handelt sich um Fähigkeiten, die einerseits von hoher Relevanz für die eigene psychische Gesundheit sind, die andererseits aber auch die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen prägen. Eine bedeutsame Rolle spielen dabei die Handlungsplanung, die Handlungssteuerung sowie die Antizipation von Konsequenzen. Diese Kompetenzen werden unter dem Begriff der exekutiven Funktionen zusammengefasst. Neuropsychologische Untersuchungen belegen, dass diese primär durch das Frontalhirn kontrolliert werden, welches im Verlauf der Kindheit und Jugend besonders langsam reift. Man kann also erst relativ spät davon ausgehen, dass dem Jugendlichen vergleichbare Regulations- und Steuerungsmechanismen zur Verfügung stehen wie Erwachsenen. Zudem gibt es viele Erwachsene, die nur in begrenztem Maße über entsprechende Fähigkeiten verfügen.

    Eine mangelnde Handlungs- und Impulssteuerung ist das Hauptsymptom bei sog. externalen Störungen. Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) oder Störungen des Sozialverhaltens haben z. B. Schwierigkeiten, ihr Verhalten so zu steuern, dass es an die Anforderungen im schulischen Kontext angepasst ist, oder können ihr Arbeits- und Lernverhalten schwer strukturieren und vorausplanen (Döpfner et al. 2002; Lauth und Schlottke 2002, Kap. 26 in diesem Band). Für diese Gruppe von Kindern wird die kognitive Verhaltenstherapie besonders empfohlen, weil sie geeignete Interventionen bereitstellt, um die Entwicklung der Selbststeuerung und Selbstregulation zu unterstützen und zu fördern.

    Effortful Control

    Eine wichtige Voraussetzung für die Selbstregulation wird bereits im Säuglingsalter erworben: Das Kind muss zunächst erfahren, dass es mit seinem Verhalten und seinen Reaktionen in seiner Umwelt etwas erreichen kann. Es ist dabei auf die Reaktionen seiner Bezugspersonen, insbesondere der Mutter, angewiesen. Wie die Forschungen zur frühen Eltern-Kind-Interaktion zeigen, benötigt der Säugling eine auf seine Signale abgestimmte (feinfühlige), zeitnahe (kontingente) und voraussehbare Reaktion der Mutter, um seine inneren Erregungszustände zu regulieren, seine Bedürfnisse zu befriedigen und sich selbst als aktiv an der Kommunikation beteiligte Person zu erleben (Papousek et al. 2001; Reck et al. 2001). Während also zunächst die Bezugsperson das Verhalten und das Erregungsniveau des Neugeborenen reguliert, übernimmt der Säugling zunehmend eigene Anteile in der interpsychischen Regulation. Mit dem Konzept der „Effortful Control" wird die Entwicklung dieser kindlichen Kontrollfunktionen beschrieben. Darunter versteht man die Fähigkeit, Aufmerksamkeit und Verhalten aktiv zu initiieren, zu modulieren und zu hemmen (Kochanska et al. 2000).

    In den ersten Lebensmonaten sind die Säuglinge durch Umgebungsreize noch schnell überlastet und reagieren häufig mit Stress; sie müssen lernen, ihre eigenen Verhaltenszustände zu steuern und sind dabei auf Beruhigungshilfen der Eltern angewiesen. Zwischen 3 und 6 Monaten gewinnt dabei die Lenkung der Aufmerksamkeit eine große Bedeutung, die Babys können jetzt ihre Aufmerksamkeit aktiv von den überfordernden Reizen weglenken oder unangenehme innere Zustände (z. B. Schmerz) durch die Beschäftigung mit interessantem Spielzeug abbauen. Die neurologische Grundlage der Effortful Control wird in der Entwicklung und Reifung des anterioren cingulären Gyrus in der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres gesehen. Hierfür gibt es Markeraufgaben – Aufgaben also, die eine Feststellung des Reifungsgrades des anterioren Aufmerksamkeitssystems erlauben: Diamond (1991) konnte bei einer Untersuchung mit einem Versteck- und Suchparadigma zeigen, dass es Kindern mit etwa 12 Monate gelingt, eine dominante Verhaltensantwort, nämlich das Greifen nach einem Gegenstand direkt entlang der Sichtlinie, zu unterdrücken und das Objekt auch außerhalb des direkten Sichtfeldes zu greifen, wenn eine Glasscheibe zwischen Kind und Gegenstand stand. Weitere in diesem Zusammenhang häufig eingesetzte Untersuchungsverfahren sind an Kinder angepasste Versionen des Stroop-Tests (s. unten).

    Adaptierte Version des Stroop-Tests (Eisenberg et al. 2004)

    Die Kinder bekommen z. B. Karten mit Abbildungen von „Tag (Sonne) und „Nacht (Mond und Sterne), sollen diese aber in gegenteiliger Weise benennen. Mit etwa 30 Monaten erreichen die Kinder deutliche Verbesserungen in diesen adaptierten Stroop-Tests, da sie nun in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf einen von zwei konkurrierenden Hinweisreizen zu lenken und die jeweils dominante Verhaltensreaktion zu unterdrücken.

    Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt liegt in der Fähigkeit, Verhalten auf Verlangen einer anderen Person zu hemmen. In einer von Kochanska entwickelten Testbatterie konnte bei Kindern zwischen 22 und 33 Monaten in diesem Bereich eine deutliche Verbesserung beobachtet werden (Kochanska et al. 2000). Dies ist die Grundlage für die weitere Entwicklung der Selbstwirksamkeit im Kleinkind- und Vorschulalter, in der das Kind zunächst immer mehr gleichwertige Regulationsanteile übernimmt, um sich dann zunehmend mehr unter Anleitung der Bezugsperson zu steuern.

    Strategien zum Belohnungsaufschub und zur Ablenkung

    Bis zum Schulalter ist im Normfall eine Entwicklungsstufe erreicht, in der das Kind in der Lage ist, sich selbst unter eigener Anleitung zu steuern und zu regulieren. Dies wird in Situationen untersucht, in denen Kinder gefordert sind, eine dominante Verhaltensweise zu unterdrücken und stattdessen eine subdominante Verhaltensantwort zu zeigen.

    Aufmerksamkeitslenkung als Regulationsstrategie

    Ein klassisches Untersuchungsparadigma hierzu ist der Belohnungsaufschub: Kindern werden im Untersuchungsraum Süßigkeiten auf einen Tisch gelegt, die sie aber noch nicht essen dürfen, oder ihnen wird ein verpacktes Geschenk übergeben, das sie erst zu einem späteren Zeitpunkt öffnen dürfen. In diesem Zusammenhang konnte beobachtet werden, dass die willkürliche Lenkung der Aufmerksamkeit den Kindern beim Abwarten hilft und Kinder ab etwa 4 Jahren aktiv Ablenkungsstrategien einsetzten, um ihre negativen Emotionen abzuschwächen („ich habe einfach nicht hingeguckt"; Eisenberg et al. 2004).

    Solche Maßnahmen zur Selbststeuerung bezeichnet man auch als Metakognition. Das Kind setzt bewusst eine Strategie ein, um sich selbst zu steuern und kann diese Strategie auch verbal benennen.

    Weitere Strategien, die der Emotionskontrolle dienen, schließen die aktive Beschäftigung mit einer anderen Aktivität ein, um Anspannung zu reduzieren. Im Vorschulalter setzen Kinder auch Strategien ein, in dem sie sich die Belohnung in der Zukunft vorstellen oder sich bewusst auf die weniger interessanten Aspekte der Belohnung konzentrieren (auf die „cold cues, d. h. nur an das Aussehen, aber nicht an den Geschmack der Schokolade denken). Beim Belohnungsaufschub wird zunehmend auch die Sprache zur eigenen „Anleitung genutzt, in dem sich das Kind die Anweisungen zunächst laut und später innerlich vorspricht (z. B. „nicht hinschauen). Darüber hinaus sind in diesem Alter bei den Kindern auch erste kognitive Strategien, wie die Umdeutung des Anlasses („reappraisal), zur Emotionsregulation zu beobachten.

    Generell scheint ein hohes Maß an Verhaltenskontrolle mit besserer Anpassung und höherer sozialer Kompetenz verbunden zu sein. Vorschulkinder, die mehr Ablenkungsstrategien einsetzten, wurden von ihren Lehrern als sozial kompetenter und von ihren Mitschülern als beliebter beschrieben. Außerdem sagte die von Lehrern und Eltern berichtete Aufmerksamkeitskontrolle im Vorschulalter die spätere soziale Kompetenz in der Schule voraus. In Längsschnittstudien korrelierte ein Mangel an Verhaltenskontrolle im Alter von 3 oder 5 Jahren positiv mit externalisierenden (Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit) und internalisierenden (Ängstlichkeit) Problemen in der Adoleszenz (Eisenberg et al. 2004).

    Der Aufbau von Strategien zum Belohnungsaufschub sowie Ablenkungsstrategien bei Frustration scheint also gerade im Vorschulalter therapeutisch sinnvoll und hilfreich zu sein, indem er der Prävention späterer sozialer Störungen dient.

    Therapeutische Methoden

    Vom Vorschul- bis ins Grundschulalter hinein sind therapeutische Interventionen besonders erfolgversprechend, die den Übergang von der Fremd- zur Eigensteuerung unterstützen. Hierzu zählen Techniken wie der Reaktionsstopp oder Hinweisreize, die an das Zielverhalten erinnern. Weitere Techniken beziehen sich auf den Einsatz von handlungsbegleitendem inneren Sprechen, Selbstinstruktionen und Selbstverstärkungen (Lauth und Schlottke 2002).

    Die Abstimmung dieser therapeutischen Methoden auf die bereits vorhandenen Fähigkeiten zur Selbststeuerung des Kindes könnte auch

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