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Arzneiverordnungs-Report 2020
Arzneiverordnungs-Report 2020
Arzneiverordnungs-Report 2020
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Arzneiverordnungs-Report 2020

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About this ebook

Der Arzneiverordnungs-Report ist seit 1985 eine gemeinsame Publikation von Autoren aus  Pharmakologie, Klinik, Praxis, Gesundheitsökonomie und Krankenversicherung. Basis sind die Verordnungsdaten von Arzneimitteln für ambulante Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Datenbasis des Jahres 2019 sind 820 Millionen Verordnungen von 179.805 Vertragsärzten und 63.360 Vertragszahnärzten für 73,195 Mio. GKV-Versicherte.
Die allgemeine Verordnungs- und Marktentwicklung wird in 5 Kapiteln dargestellt, in denen zusätzlich 31 neue Arzneimittel des Jahres 2019, Biologika und Biosimilars, 10 Jahre AMNOG und europäische Arzneimittelpreise für Biosimilars thematisiert werden. Die speziellen Verordnungsdaten der 3000 meistverordneten Arzneimittel  werden in 39 Kapiteln für die führenden Indikationsgruppen evidenzbasiert analysiert.

LanguageDeutsch
PublisherSpringer
Release dateSep 15, 2020
ISBN9783662621684
Arzneiverordnungs-Report 2020

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    Arzneiverordnungs-Report 2020 - Ulrich Schwabe

    Teil IAllgemeine Verordnungs- und Marktentwicklung

    © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020

    U. Schwabe, W.-D. Ludwig (Hrsg.)Arzneiverordnungs-Report 2020https://doi.org/10.1007/978-3-662-62168-4_1

    1. Arzneiverordnungen 2019 im Überblick

    Ulrich Schwabe¹   und Wolf-Dieter Ludwig²  

    (1)

    Pharmakologisches Institut der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 366, 69120 Heidelberg, Deutschland

    (2)

    Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Herbert-Lewin-Platz 1, 10623 Berlin, Deutschland

    Ulrich Schwabe (Korrespondenzautor)

    Email: ulrich.schwabe@pharma.uni-heidelberg.de

    Wolf-Dieter Ludwig

    Email: wolf-dieter.ludwig@akdae.de

    Auf einen Blick

    Ausgabenprofil Die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Zuzahlungen der Versicherten (V) sind nach der vorjährigen Zunahme auch 2019 erneut um 5,4 % auf 43,363 Mrd. € (+2,210 Mrd. €, Konto 04399V) gegenüber dem Vorjahr angestiegen und liegen damit weiterhin bei 17,2 % der Leistungsausgaben der GKV (Bundesministerium für Gesundheit 2020, KV45). Die GKV-Gesamtausgaben stiegen auf 251,943 Mrd. € (+5,3 %). Den größten Block in den GKV-Ausgaben bilden weiterhin mit großem Abstand die Kosten für Krankenhausbehandlung mit 80,900 Mrd. € (+3,9 %, Konto 04699V). Danach folgen die bereits genannten Arzneimittelausgaben, die Ausgaben für die vertragsärztliche Versorgung mit 41,059 Mrd. € (+4,0 %, Konto 04099P) und die Ausgaben für zahnärztliche Behandlung mit 15,014 Mrd. € (+3,9 %, Konto 04299Z). Die erhöhten GKV-Ausgaben erklären sich zum Teil dadurch, dass sich die Gesamtzahl der GKV-Versicherten von Juli 2018 bis Juli 2019 auf 73,195 Mio. (Vorjahr 72,997 Mio. +2,7 %, Konto 09996) erhöht hat, sodass die Veränderungswerte je Versicherten entsprechend geringere Ausgabenanstiege ergeben. Dem Ausgabenanstieg stehen Einnahmen der Krankenkassen in Höhe von 250,428 Mrd. € gegenüber, woraus ein Defizit von 1,515 Mrd. € resultiert (Bundesministerium für Gesundheit 2020).

    1.1 Segmente des Arzneimittelmarktes

    Die Marktsegmente des GKV-Arzneimittelmarktes gliedern sich in die beiden Hauptbereiche der Patentarzneimittel mit einem Umsatz von 21,641 Mrd. € (46,3 %) und den größeren Bereich der patentfreien Arzneimittel mit 23,968 Mrd. € (51,3 %) (Tab. 1.1). Wesentlich stärker unterscheidet sich die therapeutische Anwendung der beiden Marktbereiche nach Verordnungen und verordneten definierten Tagesdosen (DDD). Auch hier dominieren die patentfreien Arzneimittel, während die Patentarzneimittel nur einen Anteil von 6,4 % am DDD-Gesamtvolumen haben. Dementsprechend liegen die Therapiekosten der Patentarzneimittel im Vergleich zu den patentfreien Arzneimitteln 7-fach höher.

    Tab. 1.1

    Marktsegmente des GKV-Arzneimittelmarktes 2019. Angegeben sind Umsatz (Fertigarzneimittel plus Rezepturarzneimittel), Nettokosten (Umsatz abzüglich gesetzliche Hersteller- und Apothekenabschläge ohne vertragliche Rabatte nach § 130a Abs. 8 SGB V), definierte Tagesdosen (DDD), die jeweiligen Veränderungsraten (in %) und DDD-Kosten

    a Einschließlich weiterer Biologika, die weder Referenzarzneimittel noch Biosimilar sind.

    b Arzneimittel ohne Informationen zu Patent- bzw. Schutzfristen, die weder dem geschützten noch dem generikafähigen Markt zugeordnet werden können. Dazu gehören beispielsweise Mineralstoffe und homöopathische Arzneimittel.

    c Neben den Rezepturen und In-vitro-Diagnostika sind unter anderem Pflaster und Verbandsstoffe oder Hilfsmittel enthalten.

    d Individuell hergestellte parenterale Lösungen, Zytostatikazubereitungen, Auseinzelungen und aus Fertigarzneimitteln entnommene, patientenindividuelle Teilmengen, die in allen Arzneimittelgruppen (Rezepturen und Fertigarzneimittel) enthalten sind.

    Eine weitere wichtige Differenzierung des Arzneimittelmarktes ist die Klassifikation in Nichtbiologika und Biologika, die sich in erster Linie nach dem Herstellungsverfahren unterscheiden. Nichtbiologika sind kleinmolekulare Wirkstoffe, die überwiegend chemisch synthetisiert werden und biologisch relativ stabil sind. Eine spezielle Untergruppe sind komplexe Nichtbiologika, die keine homo-molekulare Struktur aufweisen und aus mehreren Elementen bestehen (liposomale Arzneimittel, Eisen-Zucker-Komplexe, Glatiramoide) (Übersicht bei Schellekens et al. 2014). Biologika sind hochmolekulare Wirkstoffe, die von einem biologischen Organismus hergestellt werden und vorwiegend aus Polypeptiden (Antikörper, Zytokine, Hormone) bestehen (Kap.​ 3, Abschn.​ 3.​1). Biologika sind keine grundsätzlich neue Arzneimittelgruppe, sondern werden als Impfstoffe schon seit mehr als 200 Jahren angewendet (Übersicht bei Freissmuth 2016). Die unterschiedlichen Moleküleigenschaften und Herstellungsverfahren der beiden Arzneimittelgruppen bestimmen auch wesentlich den Status nach Ablauf des Patentschutzes. Patentfreie chemische Arzneimittel werden als Generika oder generikafähige Erstanbieterpräparate bezeichnet und weisen eine identische molekulare Struktur wie der ursprünglich patentgeschützte Wirkstoff auf. Patentfreie biologische Arzneimittel sind entweder biosimilarfähige Erstanbieterpräparate oder Biosimilars, die in Bezug auf Struktur, Funktion, Qualität sowie klinische Wirksamkeit und Sicherheit einem zugelassenen biologischen Originalprodukt sehr ähnlich, aber nicht identisch sind (Ausnahme Bioidenticals) (Declerck et al. 2016; siehe auch Kap.​ 3). Bei den generikafähigen und biosimilarfähigen Erstanbieterpräparaten handelt es sich um ehemals patentgeschützte Arzneimittel, die trotz generischer Alternativen oder Biosimilars weiterhin in Form der teuren Originalpräparate verordnet werden. Änderungen gegenüber den im Vorjahr publizierten Zahlen ergeben sich zum größten Teil daraus, dass bisher unklassifizierte Arzneimittel den einzelnen Marktsegmenten zugeordnet wurden.

    Im Patentmarkt haben die Biologika mit 9,303 Mrd. € inzwischen 43 % des Umsatzes erreicht. Im Nicht-Patentmarkt dominieren dagegen die Nichtbiologika mit 17,682 Mrd. € (74 %), die überwiegend in Form von Generika (13,529 Mrd. €) und zu einem geringeren Anteil als generikafähige Erstanbieterpräparate (4,153 Mrd. €) verordnet werden. Bei den patentfreien Biologika entfällt jedoch weiterhin der größte Teil des Umsatzes auf die biosimilarfähigen Erstanbieterpräparate (71 %) und nur ein kleiner, aber steigender Anteil auf die Gruppe der preisgünstigeren Biosimilars (29 %). Wie im vergangenen Jahr sind wiederum die Rezepturarzneimittel in allen Arzneimittelgruppen enthalten, auf die ein Umsatzvolumen von 4,561 Mrd. € und damit 10 % des gesamten GKV-Arzneimittelmarktes entfallen. Lange Zeit wurde im Arzneiverordnungs-Report ausschließlich der GKV-Fertigarzneimittelmarkt dargestellt, obwohl bekannt war, dass vor allem im Bereich der Onkologie der überwiegende Teil der Verordnungen auf Rezepturarzneimittel in Form von parenteralen Infusionslösungen entfällt, während onkologische Fertigarzneimittel einen kleineren Verordnungsanteil haben. Nach der 2010 eingeführten gesetzlichen Auskunftspflicht für die Herstellung von Rezepturarzneimitteln war es möglich, auch den Bereich der Rezepturarzneimittel zu analysieren, was in erster Linie bei den Onkologika von Bedeutung ist (Kap.​ 34).

    Die pharmakologisch-therapeutischen Analysen werden im Arzneiverordnungs-Report generell auf der Basis der Arzneimittelnettokosten (Bruttoumsatz minus gesetzliche Hersteller- und Apothekenabschläge) durchgeführt. Im Jahre 2019 betrugen sie 43,859 Mrd. € nach Abzug der gesetzlichen Abschläge (2,882 Mrd. €) (Tab. 1.1). Dagegen sind die von den Krankenkassen ausgehandelten Herstellerrabatte (4,882 Mrd. €) nicht öffentlich zugänglich und erscheinen nur als Gesamtsumme in der Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Verordnungsdaten des Jahres 2019 und die Veränderungsraten im Vergleich zum Vorjahr sind nicht direkt mit den im Arzneiverordnungs-Report 2019 publizierten Daten vergleichbar, weil im Arzneiverordnungs-Report 2020 für das Jahr 2019 und 2018 erstmals Arzneimittel für ambulante Patienten aus Krankenhausapotheken zusätzlich zu den in öffentlichen Apotheken abgegebenen Arzneimitteln in die Auswertung einbezogen wurden. Die Krankenhausarzneimittel hatten im Jahre 2018 einen Nettokostenanteil von 1,308 Mrd. € (3,0 %) und einen DDD-Anteil von 1,349 Mrd. DDD (3,1 %). Weiterhin sind die Arzneimittelnettokosten sind nicht direkt mit den GKV-Arzneimittelausgaben nach KV45 vergleichbar, weil weitere Ausgaben berücksichtigt werden, die in der KV45-Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit nicht enthalten sind (siehe Arzneiverordnungs-Report 2019, Kap. 48, Abschn. 48.3).

    Im GKV-Arzneimittelmarkt ist der Umsatz seit 2004 von 21,7 Mrd. € um 115 % auf 46,7 Mrd. € im Jahre 2019 gestiegen, wobei seit 2012 zusätzlich zu den Fertigarzneimitteln auch die Umsätze der Rezepturarzneimittel einbezogen wurden (Abb. 1.1). Seit 2010 werden neben dem Umsatz auch die Nettokosten des GKV-Arzneimittelmarktes (Umsatz abzüglich gesetzlicher Rabatte) dargestellt. In den letzten 15 Jahren gab es drei Gesetze (GKV-Modernisierungsgesetz, GMG 2003; Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung, AVWG 2006; GKV-Änderungsgesetz, GKV-ÄG 2010), um die überproportional steigenden Arzneimittelausgaben zu reduzieren. Die gesetzlichen Maßnahmen haben sichtbare Spuren bei den Arzneimittelkosten hinterlassen, aber die grundsätzlichen Kostenprobleme nie längerfristig in den Griff bekommen. Mit dem GKV-Änderungsgesetz wurde durch die temporäre Erhöhung des gesetzlichen Herstellerabschlages für verschreibungspflichtige Nichtfestbetragsarzneimittel von 6 % auf 16 % in dem Zeitraum von 2011 bis 2013 tatsächlich eine Stabilisierung der Arzneimittelnettokosten erreicht (Abb. 1.1). Zugleich war das GKV-Änderungsgesetz eine flankierende Maßnahme im Vorgriff auf das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG, Inkrafttreten 01.01.2011), mit dem pro Jahr Einsparungen von 2,0 Mrd. € erzielt werden sollten. Der weitere Verlauf der GKV-Arzneimittelkosten zeigt allerdings, dass dieses Ziel erst ab 2018 erreicht wurde. Denn seit 2012 trat leider genau das Gegenteil ein, nämlich ein Anstieg der Arzneimittelnettokosten um insgesamt 16,9 Mrd. €, also etwa 2,4 Mrd. € pro Jahr (Abb. 1.1).

    ../images/498233_1_De_1_Chapter/498233_1_De_1_Fig1_HTML.png

    Abb. 1.1

    Verordnungen und Umsatz 2004 bis 2019 im GKV-Arzneimittelmarkt (seit 2012 Fertigarzneimittel und Rezepturarzneimittel)

    Der scheinbar ungebremste Kostenanstieg hat mehrere Ursachen. Hauptursache war über viele Jahre das überproportionale Umsatzwachstum der Patentarzneimittel (siehe Abschn. 1.4). Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers zielte darauf, mit dem AMNOG nicht nur den Zusatznutzen von neuen patentgeschützten Arzneimitteln, sondern auch von versorgungsrelevanten Patentarzneimitteln des Bestandsmarkts zu bewerten. Obwohl drei Jahre nach Inkrafttreten des AMNOG 2013 statt der angestrebten 2,0 Mrd. € nur 150 Mio. € Einsparungen durch Erstattungsbeträge erreicht werden konnten (Tab. 1.9), wurde die Nutzenbewertung des Bestandsmarkts 2014 mit dem 14. SGB V-Änderungsgesetz durch Streichung des § 35a Absatz 6 SGB V wieder aufgehoben. Der immense Kostenanstieg ist umso erstaunlicher, da sich die Zahl der ärztlichen Verordnungen seit 2004 nie wieder von dem Schock des GMG erholt hat und seitdem bis 2019 insgesamt nur um 21 % auf 690 Mio. Verordnungen angestiegen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in diesem Zeitraum auch die Zahl der GKV-Versicherten von 70,422 Mio. auf 73,195 Mio. im Jahre 2019 zunahm (+3,9 %).

    Ganz anders als die Verordnungen hat sich das DDD-Volumen in den einzelnen Gruppen des GKV-Arzneimittelmarktes entwickelt. Hier stehen Generika (einschließlich generikafähige Erstanbieterpräparate) mit 38,2 Mrd. DDD weit an der Spitze und haben damit einen Verordnungsanteil von 87 % (Tab. 1.1). Den Rest teilen sich Patentarzneimittel, Biosimilarmarkt und unklassifizierte Arzneimittel mit erheblich kleineren DDD-Volumina. Schon seit über 20 Jahren dominieren bei den Verordnungen die Generika, wobei sich aber die derzeitige Ausprägung erst seit 2004 entwickelt hat (Abb. 1.2). Seitdem ist das Verordnungsvolumen der Generika auf mehr als das Doppelte angestiegen und liegt jetzt 14-fach höher als das der patentgeschützten Arzneimittel, das in diesem Zeitraum fast um die Hälfte abnahm. Aus der gegenläufigen Entwicklung der Verordnungsvolumina resultiert 2019 erneut ein enormer Unterschied der mittleren DDD-Nettokosten der patentgeschützten Arzneimittel mit 7,30 € im Vergleich zu den DDD-Kosten der Generika, die unverändert gegenüber dem Vorjahr 0,35 € betragen (Tab. 1.1). Auch die generikafähigen Erstanbieterpräparate sind mit DDD-Kosten von 1,47 € vierfach teurer als Generika, so dass durch eine schnellere Umstellung generikafähiger Erstanbieterpräparate auf Generika ein rechnerisches Einsparpotenzial von 2,914 Mrd. € realisiert werden könnte.

    ../images/498233_1_De_1_Chapter/498233_1_De_1_Fig2_HTML.png

    Abb. 1.2

    Verordnungsvolumen nach definierten Tagesdosen für Gesamtmarkt, den Generikamarkt und patentgeschützte Arzneimittel von 2000 bis 2019

    Der Vergleich der Tagestherapiekosten offenbart zugleich das wesentliche Problem der gesamten Kostenentwicklung der Arzneimittel. Bei den patentgeschützten Arzneimitteln liegen sie inzwischen im Durchschnitt 7-mal so hoch wie bei den Nicht-Patentarzneimitteln. Trotz steigender Kosten nahm das DDD-Volumen der patentgeschützten Arzneimittel auch 2019 nur geringfügig zu (+0,9 %) und hat damit im Verhältnis zu den Generika einen nur noch geringen Anteil an der Arzneimittelversorgung (Tab. 1.1). Generika gewinnen jedes Jahr weitere Marktanteile hinzu und decken in erster Linie den krankheitsbedingten Versorgungsbedarf an Arzneimitteln ab, während patentgeschützte Arzneimittel mit ihren hohen Kosten bis 2015 immer seltener verordnet wurden. Im Generikamarkt scheint der Wettbewerb zumindest teilweise zu funktionieren, während im Patentmarkt die sinkenden Marktanteile früher über Preiserhöhungen kompensiert wurden. Seit dem Inkrafttreten des Preismoratoriums von 2010, das zuletzt im Mai 2017 durch das GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) bis zum 31. Dezember 2022 verlängert wurde, sind Umsatzsteigerungen nur noch durch entsprechend höhere Preise allein bei neu eingeführten Produkten möglich. Allerdings hat sich der Umsatzanstieg der patentgeschützten Arzneimittel im Vergleich zum Vorjahr (+6,4 %) sichtbar verstärkt (Abb. 1.3). Eine Ursache für die höheren Kosten der Patentarzneimittel ist der überproportionale Kostenanstieg bei Onkologika (+13,7 %), Antithrombotika (+10 %) und Dermatika (+13,5 %), der im nächsten Abschnitt über die umsatzstärksten Indikationen erläutert wird (Tab. 1.2).

    ../images/498233_1_De_1_Chapter/498233_1_De_1_Fig3_HTML.png

    Abb. 1.3

    Verordnungen und Umsatz patentgeschützter Arzneimittel 2000 bis 2019 im GKV-Fertigarzneimittelmarkt (ab 2001 mit neuem Warenkorb und ab 2016 ergänzt um Zubereitungen)

    1.2 Verordnungsschwerpunkte nach Indikationen

    Die wichtigsten Entwicklungen in der Verordnung der 40 führenden Arzneimittelgruppen 2019 finden sich in der unten dargestellten Übersicht (Tab. 1.2). Aufgrund der stetig steigenden Kostendynamik der Arzneimitteltherapie werden die therapeutischen Schwerpunkte seit 2016 auf der Basis von Verordnungskosten analysiert. Dadurch sind die Arzneimittelgruppen mit neuen, teuren Patentarzneimitteln und sehr kleinen Verordnungsvolumina besser erkennbar. Die geänderte kostenorientierte Systematik ermöglicht mit den 40 führenden Arzneimittelgruppen eine weitgehende Erfassung des Gesamtmarkts nach Nettokosten (98 %), Verordnungen (92 %) und DDD-Volumen (95 %).

    Tab. 1.2

    Umsatzstärkste Arzneimittelgruppen 2018

    An der Spitze der umsatzstärksten Arzneimittelgruppen stehen mit weitem Abstand die Onkologika, die seit 2017 neben den Fertigarzneimitteln einen größeren Anteil in Form von Rezepturarzneimitteln enthalten (Tab. 1.2). Die Nettokosten sind 2019 erneut um 13,7 % auf 8,206 Mrd. € gestiegen. Damit haben die Onkologika jetzt ihren Kostenanteil am GKV-Arzneimittelmarkt nochmals auf 18,7 % (Vorjahr 17,5 %) erhöht. Der größte Anteil entfällt auf monoklonale Antikörper (3,193 Mrd. €) und Proteinkinaseinhibitoren (2,016 Mrd. €), die beide erneut hohe Zuwachsraten (15,3 bzw. 12,2 %) hatten. Hohe Kosten und eine hohe Kostensteigerungsrate hatten auch wieder spezielle Arzneimittel zur Behandlung des multiplen Myeloms (808 Mio. €, +12,0 %) durch hochpreisige Kombinationstherapien über lange Zeiträume. Das größte DDD-Verordnungsvolumen mit einem Anteil von 65 % entfällt weiterhin auf die Gruppe der Hormonantagonisten, die zur Behandlung des Mammakarzinoms und des Prostatakarzinoms eingesetzt werden (Kap.​ 34, Tab.​ 34.​1).

    Auf dem zweiten Rang stehen die Immunsuppressiva, die ihre Position durch stark erhöhte Nettokosten (+7,59 %) und einen hohen Anstieg des DDD-Volumens (6,1 %) weiter ausgebaut haben (Tab. 1.2). Zu dieser Gruppe gehören gemäß der ATC-Kodierung nicht nur die bekannten zytotoxischen Immunsuppressiva (Azathioprin, Mycophenolsäure) und Calcineurininhibitoren, die in der Transplantationsmedizin unentbehrlich sind (Kap.​ 29, Immunglobuline und Immunsuppressiva), sondern vor allem zahlreiche Biologika aus den Gruppen der TNFα-Inhibitoren, der Interleukin-Inhibitoren und weiterer selektiv wirkender Immunsuppressiva, die in der Rheumatologie (Kap.​ 20, Antirheumatika und Antiphlogistika), Gastroenterologie (Kap.​ 34, Magen-Darmmittel und Lebertherapeutika) und Neurologie (Kap.​ 36, Multiple Sklerose) ihren festen Platz haben.

    Die Antithrombotika sind durch einen erneuten hohen Kostenanstieg (+10,0 %) auf Rang 3 der Indikationsgruppen vorgerückt. Ursache ist die weiter steigende Verordnung der neuen direkten oralen Antikoagulantien (Thrombinantagonisten, Faktor-Xa-Antagonisten), so dass sie nun dreimal so häufig wie die traditionellen Vitamin-K-Antagonisten verordnet werden (Kap.​ 16, Antithrombotika und Antihämorrhagika, Abb.​ 19.​1). Das hat in den letzten zehn Jahren Mehrkosten von 8,2 Mrd. € verursacht, obwohl die neuen direkten oralen Antikoagulantien nur einen geringen Zusatznutzen in einigen Teilindikationen aufweisen und die Vitamin-K-Antagonisten in evidenzbasierten Leitlinien weiterhin einen höheren Evidenzgrad als die neuen oralen Antikoagulantien haben.

    Dicht dahinter folgen jetzt an vierter Stelle die Antidiabetika, die mit einem nur wenig gestiegenen Verordnungsvolumen erneut höhere Nettokosten aufweisen, ein Zeichen für das weitere Vordringen teurer Patentarzneimittel. Zu dem Kostenanstieg haben vor allem die SGLT2-Inhibitoren (Gliflozine) und die GLP-1-Agonisten beigetragen, die in den neuen Leitlinien aufgrund positiver kardiovaskulärer Endpunktstudien als Erstlinientherapie nach Metformin bei Typ-2-Diabetespatienten mit kardiovaskulären Risiken empfohlen werden (Kap.​ 12).

    Die Dermatika hatten den zweitgrößten Kostenanstieg (+13,5 %) nach den Onkologika und sind dadurch auf Rang 5 der führenden Indikationsgruppen aufgestiegen. Das therapeutische Spektrum der Dermatika wurde bisher durch preisgünstige Lokaltherapeutika geprägt. Das hat sich seit 2018 rasant geändert, weil die Dermatikakosten besonders stark angestiegen sind, obwohl das DDD-Volumen in den letzten beiden Jahren nur wenig zugenommen hat (1,0 bzw. 2,3 %). Hauptgrund sind die beträchtlichen Kosten von vier neuen monoklonalen Antikörpern zur systemischen Behandlung der Psoriasis (Ustekinumab, Secukinumab, Guselkumab) und der atopischen Dermatitis (Dupilumab), die 2019 zusammen auf 929 Mio. € gestiegen sind und damit fast die Hälfte aller Dermatikakosten ausmachen (Kap.​ 23, Dermatika, Tab.​ 23.​10 und 23.​14).

    Auch die Antiasthmatika haben weiter steigende Nettokosten (+5,9 %). Das ist vor allem durch häufigere Verordnungen von langwirkenden Muscarinrezeptorantagonisten (LAMA) bedingt, die inzwischen Verordnungskosten von 637 Mio. € erreicht haben. Der größte Teil der Mehrkosten ist durch Neueinführung von weiteren Wirkstoffkombinationen bedingt, wodurch ihre zunehmende Bedeutung für die COPD-Therapie unterstrichen wird (Kap.​ 20, Bronchospasmolytika und Antiasthmatika, Tab.​ 20.​6).

    Psychopharmaka zeigen wieder etwas höhere Verordnungskosten (+3,1 %). Der Kostenanstieg beruht vor allem auf einer weiteren Zunahme des DDD-Volumens der immer noch relativ teuren atypischen Neuroleptika, obwohl für alle wichtigen Wirkstoffe inzwischen Generika verfügbar sind (Kap.​ 38, Psychopharmaka, Tab.​ 38.​8).

    Bei den Analgetika hat sich der Kostenanstieg (+2,8 %) parallel zu einem leicht erhöhten Verordnungsvolumen (+2,4 %) entwickelt. Das beruht vor allem auf einer weiteren kontinuierlichen Zunahme der Verordnung von nichtopioiden Analgetika. Hier sind die Verordnungen von Metamizol in den letzten 10 Jahren um fast das Doppelte angestiegen, obwohl die Indikation wegen des Agranulozytoserisikos und von Schockreaktionen bereits vor vielen Jahren auf starke Schmerzen, Tumorschmerzen und hohes Fieber eingeschränkt wurde (Kap.​ 7, Analgetika). Bei den Opioidanalgetika sind wir glücklicherweise nicht mit dem amerikanischen Problem der Opioidkrise konfrontiert, stellen aber fest, dass die Leitlinien-basierte Schmerztherapie mit Morphin immer mehr durch teurere Präparate ersetzt wird. Das hat allein 2019 zu unnötigen Mehrausgaben von 524 Mio. € geführt (Kap.​ 7, Analgetika, Tab.​ 7.​1).

    Das DDD-Volumen der Angiotensinhemmstoffe ist 2019 erneut stärker als die Nettokosten angestiegen (+5,0 % versus 3,8 %), ein Hinweis auf eine steigende Verordnung kostengünstiger Generika. Sie sind seit vielen Jahren darüber hinaus die verordnungshäufigste Arzneimittelgruppe mit dem höchsten DDD-Volumen, auf das über 20 % aller verordneten Tagesdosen entfällt und gehören zu den erfolgreichsten Arzneimitteln in der Behandlung der Hypertonie sowie von Herz- und Nierenkrankheiten (Kap.​ 6). Als Angiotensinhemmstoffe werden ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorantagonisten und Renininhibitoren zusammengefasst. Die größten Verordnungsanteile haben ACE-Hemmer (60 %) und Angiotensinrezeptorantagonisten (40 %), während Renininhibitoren nur eine sehr geringe Bedeutung haben.

    Bei den Ophthalmika hat sich der massive Kostenzuwachs der letzten Jahre abgeschwächt (+5,4 %). In dieser traditionell preisgünstigen Indikationsgruppe mit vielen Generika konzentrieren sich die Kosten auf zwei Arzneimittel zur Behandlung der altersbedingten neovaskulären Makuladegeneration (Aflibercept, Ranibizumab). Die Verordnungskosten dieser beiden Präparate betrugen 2019 schon 729 Mio. € und kamen damit auf 57 % aller Ophthalmikakosten (Kap.​ 38, Tab.​ 38.​9).

    Die Virostatika sind 2019 nach einem erneuten starken Kostenrückgang (−12,4 %) auf Rang 11 zurückgefallen, was vor allem durch weiter gesunkene Verordnungskosten der Hepatitis-C-Therapeutika auf 254 Mio. € (2018: 345 Mio. €) bedingt ist (Kap.​ 31, Magen-Darmmittel und Lebertherapeutika, Tab.​ 31.​3). Ursache des Kostenrückgangs sind einerseits die niedrigeren Arzneimittelpreise der neuen Präparate, andererseits aber vor allem die weiter gesunkene Verschreibungshäufigkeit, weil die meisten mit Hepatitis C infizierten Patienten erfolgreich kurativ behandelt wurden. Die erfolgreiche Therapie erklärt das erstaunliche Phänomen, das die DDD-Verordnungen seit 2015 um 80 % zurückgegangen sind, so dass die Kosten der Hepatitis-C-Therapeutika seit dem damaligen Maximalwert (1.325 Mio. €) ebenfalls um 81 % gesunken sind. Die zweite Teilgruppe der Virostatika betrifft die antiretroviralen Mittel zur Behandlung der HIV-Infektion, die 2019 trotz gestiegener Verordnungen mit 571 Mio. € etwas geringere Kosten als im Vorjahr (592 Mio. €) verursacht haben, weil die ersten preisgünstigen Generika für die auch von der GKV erstattete Präexpositionsprophylaxe verfügbar waren (Kap.​ 10, Antibiotika und Antiinfektiva, Tab.​ 10.​10).

    Bei den Immunstimulanzien waren die Verordnungskosten ähnlich wie in den letzten fünf Jahren weiter rückläufig (−6,8 %). Zu dieser Gruppe gehören gemäß der ATC-Kodierung koloniestimulierende Faktoren (Filgrastim, Lenograstim), Interferone, Glatirameracetat und BCG-Impfstoff sowie weitere Immunstimulanzien (bakterielle, pflanzliche, homöopathische) ohne spezifische pharmakologische Eigenschaften. Der größte Kostenanteil der Immunstimulanzien entfällt auf Betainterferone (475 Mio. €) und Glatirameracetat (224 Mio. €), die beide als parenterale Präparate zur Behandlung der Multiplen Sklerose eingesetzt werden. Seit 2014 haben ihre Verordnungen kontinuierlich abgenommen, weil in zunehmendem Maße orale Präparate mit alternativen Wirkmechanismen bevorzugt werden (Kap.​ 33, Tab.​ 33.​1).

    Schließlich sind noch die Lipidsenker erwähnenswert, weil sie nach Angiotensinhemmstoffen und Ulkustherapeutika das drittgrößte Verordnungsvolumen (2.742 Mio. DDD) haben. Verordnungen (+5,9 %) und DDD-Volumen (+8,9 %) sind überproportional angestiegen, während die Nettokosten durch die verstärkte Verordnung preisgünstiger Generika nur wenig zugenommen haben (+0,7 %). Dominierende Hauptgruppe sind die Statine zur Senkung des LDL-Cholesterins (Kap.​ 30, Tab.​ 30.​1), mit denen in zahlreichen Studien das Risiko für kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Ereignisse gesenkt wurde. Auffällig ist der erneute starke Verordnungszuwachs der PCSK9-Inhibitoren (+28,8 %) trotz der unzureichenden Evidenz hinsichtlich positiver Beeinflussung kardiovaskulärer Endpunkte und der bestehenden Verordnungseinschränkungen (Tab.​ 30.​3).

    Insgesamt summieren sich die Mehrkosten der 40 führenden Indikationsgruppen mit gestiegenen Kosten auf 2.422 Mio. € (Tab. 1.2). Die höchsten Kostenanstiege verzeichneten Onkologika (989 Mio. €), Immunsuppressiva (413 Mio. €), Antithrombotika (240 Mio. €) und Dermatika (230 Mio. €). Dagegen gibt es nur wenige auffällige Kostenrückgänge. Dazu gehören die erneute Abnahme bei den Virostatika (−170 Mio. €) sowie kleinere Rückgänge bei Immunstimulanzien (−71 Mio. €) und Antibiotika (−32 Mio. €). In einigen Indikationsgruppen beruhen die gesunkenen Arzneimittelkosten aber nicht auf einer Abnahme des Verordnungsvolumens, sondern gehen im Gegenteil sogar mit einem erhöhten DDD-Volumen einher. Diese gegenläufige Entwicklung findet sich bei Virostatika, Antiepileptika und Antiparkinsonmitteln, die aufgrund weiter zunehmender Generikaverordnungen jeweils eine Abnahme der Nettokosten zeigen (Tab. 1.2).

    1.3 Verordnung führender Arzneimittel

    Die aktuelle Entwicklung der 30 nach Nettokosten führenden Arzneimittel verdeutlicht weitere Schwerpunkte der Ausgabendynamik des Arzneimittelmarktes. Die Kosten dieser Arzneimittel sind 2019 wiederum stärker angestiegen (+7,3 %) als die Kosten des Gesamtmarkts (+6,0 %) und haben damit Mehrausgaben von 742 Mio. € verursacht (Tab. 1.3). Das bedeutet, dass 2019 30 % des gesamten Kostenanstiegs des GKV-Arzneimittelmarkts durch die 30 führenden Arzneimittel verursacht wurde. Ausschlaggebend für die gestiegenen Kosten waren 26 patentgeschützte Arzneimittel (+1.124 Mio. €), von denen bisher 16 Präparate das Verfahren der Nutzenbewertung durch den G-BA durchlaufen haben. Dagegen waren die Nettokosten bei den 6 patentfreien Arzneimitteln insgesamt rückläufig (−382 Mio. €), was ausschließlich durch biosimilarfähige Biologika (Humira, Enbrel, Lantus) bedingt war, während umsatzstarke Generika (Novaminsulfon Lichtenstein, Ibuflam) und Biosimilars (Benepali) Zuwächse erzielten.

    Tab. 1.3

    Führende 30 Arzneimittel 2019 nach Nettokosten. Angegeben sind die Nettokosten im Jahr 2019 mit der prozentualen Änderung und der Änderung in Mio. Euro im Vergleich zu 2018

    Die Onkologika sind mit 11 Arzneimitteln und Nettokosten von 4.057 Mio. € die größte Gruppe der 30 führenden Arzneimittel. Neu hinzugekommen sind zwei Onkologika (Perjeta, Darzalex) mit hohen prozentualen Anstiegen. Den größten Kostenzuwachs hatte der PD-1-Rezeptorantikörper Pembrolizumab (Keytruda), der 2019 fast doppelt so viel wie im Vorjahr verordnet wurde und jetzt das umsatzstärkste Onkologikum ist. Wesentliche Ursache dürften fünf neu zugelassene Indikationen in den letzten beiden Jahren sein (siehe Kap.​ 2, Neue Indikationen, Abschn.​ 2.​2.​25). Nach einem weiteren massiven Verordnungsrückgang ist Herceptin nicht mehr in der Spitzengruppe vertreten und wird jetzt überwiegend in Form von Trastuzumab-Biosimilars verordnet (siehe Kap.​ 3, Tab.​ 3.​2; Kap.​ 34, Tab.​ 34.​9).

    Nach weiteren Zuwächsen sind Apixaban (Eliquis) und Rivaroxaban (Xarelto) aus der Gruppe der neuen direkten oralen Antikoagulantien jetzt die beiden führenden Präparate der 30 umsatzstärksten Arzneimittel. Zusammen mit dem dritten Vertreter Edoxaban (Lixiana) kommen sie 2019 auf Nettokosten von 1.902 Mio. € (Vorjahr 1.576 Mio. €) und liegen damit sogar noch über dem Kostenvolumen der führenden TNFα-Inhibitoren.

    Die dritte Gruppe bilden jetzt die TNFα-Inhibitoren mit vier Präparaten, die überwiegend zur Behandlung therapierefraktärer Patienten mit rheumatoider Arthritis, aber zunehmend auch bei weiteren Indikationen (ankylosierende Spondylitis, Psoriasisarthritis, Psoriasis, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) eingesetzt werden. Humira war über viele Jahre das umsatzstärkste Präparat des deutschen Arzneimittelmarktes, ist aber nach der Einführung von zahlreichen Biosimilars im Oktober 2018 jetzt erstmals deutlich zurückgefallen (siehe auch Kap.​ 3, Biologika und Biosimilars). Auch zwei weitere Originalpräparate (Enbrel, Simponi) wurden weniger verordnet. Nur das Etanercept-Biosimilar Benepali zeigte einen kleinen Zuwachs und hat damit das stärker rückläufige Originalpräparat Enbrel bereits überflügelt (Tab. 1.3). Trotz der überwiegend rückläufigen Verordnung haben die vier führenden TNFα-Inhibitoren immer noch Nettokosten von 1.413 Mio. € (Vorjahr 1.750 Mio. €). Alle TNFα-Inhibitoren sind vor Inkrafttreten des AMNOG ohne Nutzenbewertung und Erstattungspreisverhandlungen in Deutschland auf den Markt gekommen, so dass mit der Markteinführung von weiteren Biosimilars deutliche Kostensenkungen zu erwarten sind.

    Zur Behandlung der multiplen Sklerose sind in diesem Sektor weiterhin drei Präparate vertreten, die zusammen auf Nettokosten von 770 Mio. € kommen, sich aber gegenüber dem Vorjahr nur wenig verändert haben (761 Mio. €). Die beiden oralen Präparate (Gilenya, Tecfidera) haben gering zugelegt, während ein parenterales Präparat (Copaxone) weiter rückläufig war. Das entspricht der seit mehreren Jahren eingetretenen Entwicklung, dass die neuen oralen Präparate bevorzugt eingesetzt werden (Kap.​ 33, multiple Sklerose, Tab.​ 33.​1).

    Als nächstes sind zwei monoklonale Antikörper (Ustekinumab, Secukinumab) erwähnenswert, die seit einigen Jahren zur systemischen Behandlung der Psoriasis eingesetzt werden und bereits einen beachtlichen Verordnungsanteil an den überwiegend lokal angewendeten Psoriasismitteln erreicht haben (siehe Kap.​ 23 Dermatika, Tab.​ 23.​14). Die Nettokosten dieser beiden Präparate sind 2019 auf 743 Mio. € gestiegen (Vorjahr 616 Mio. €).

    Weitere teure Arzneimittel sind die beiden VEGF-Antikörper (Lucentis, Eylea) zur Behandlung der neovaskulären altersabhängigen Makuladegeneration, die trotz des weltweiten Off-Label-Einsatzes des erheblich preiswerteren Bevacizumab (Avastin) mit 729 Mio. € weiter steigende Nettokosten aufweisen (Vorjahr 662 Mio. €).

    Schließlich ist zu erwähnen, dass zwei besonders häufig verordnete Generika (Novaminsulfon Lichtenstein, Ibuflam) und ein Biosimilar (Benepali) mit nur geringen Zuwächsen ihren Platz in der Spitzengruppe der 30 kostenstärksten Arzneimittel behauptet haben. Daneben sind unter den 30 führenden Arzneimitteln nur noch drei weitere patentfreie Arzneimittel (Humira, Enbrel, Lantus) vertreten, deren Nettokosten jedoch rückläufig waren. Zwei führende Präparate des Vorjahres (Herceptin, Clexane) sind nach ausgeprägten Verordnungsrückgängen nicht mehr unter den 30 umsatzstärksten Arzneimitteln vertreten, weil sie Verordnungen an neu eingeführte Biosimilars verloren haben (siehe Tab.​ 3.​2, 16.​2 und 34.​9).

    Die Darstellung der führenden Arzneimittel nach Verordnungshäufigkeit ergibt ein komplett anderes Bild. Hier sind die 30 führenden Präparate bis auf eine Ausnahme alles Generika (Tab. 1.4). Über die Hälfte der Präparate werden zur Behandlung von Herzkreislaufkrankheiten eingesetzt, Onkologika sind dagegen nicht vertreten. Aus der Gruppe der Angiotensinhemmstoffe sind die ACE-Hemmer (Ramipril) mit drei Präparaten und die Angiotensinrezeptorantagonisten (Candesartan) mit zwei Präparaten vertreten. Die Betarezeptorenblocker (Metoprolol, Bisoprolol) kommen sogar auf fünf Präparate und die Statine (Simvastatin, Atorvastatin) auf drei Präparate. Dagegen sind Calciumantagonisten (Amlodipin, Lercanidipin) und Diuretika (Torasemid) in dieser Gruppe nur mit einem oder zwei Präparaten vertreten.

    Tab. 1.4

    Führende 30 Arzneimittel 2019 nach Verordnungen. Angegeben sind die Verordnungen und Nettokosten im Jahr 2019 mit der prozentualen Änderung im Vergleich zu 2018

    An der Spitze der verordnungshäufigen Arzneimittel steht bereits seit mehreren Jahren ein Metamizolpräparat (Novaminsulfon Lichtenstein). Es wird inzwischen schon häufiger verordnet als ein Ibuprofengenerikum (Ibuflam), das lange Zeit das am häufigsten verordnete Arzneimittel war. Allerdings ist das nichtsteroidale Antirheumatikum Ibuprofen in den geringeren Dosisstärken (bis 400 mg) nicht rezeptpflichtig und wird daher neben den ärztlichen Verordnungen in großem Umfang von den Patienten selbst gekauft. Metamizol ist dagegen ein rezeptpflichtiges Schmerzmittel aus der Gruppe der nichtopioiden Analgetika, das die anderen bekannten Vertreter dieser Gruppe (Paracetamol, Acetylsalicylsäure) weitgehend verdrängt hat (Tab.​ 7.​5). Wegen tödlicher Agranulozytosen und schwerer Schockreaktionen wurde Metamizol in vielen Ländern verboten oder nie zugelassen. Bei uns kam Metamizol wegen seiner Risiken 1986 unter Rezeptpflicht und wurde in seinen Indikationen stark eingeschränkt. Seitdem sind die Metamizolverordnungen aber nicht zurückgegangen, sondern mehr als 15-fach angestiegen. Eine aktuelle Auswertung von Spontanberichten der europäischen EudraVigilance-Datenbank für die Zeit von 1985 bis 2017 hat 1.448 Metamizol-assoziierte Agranulozytosen mit einer Mortalität von 16 % berichtet, die zum größten Teil aus Deutschland stammten (siehe Kap.​ 7, Abschn.​ 7.​3).

    1.4 Patentgeschützte Arzneimittel

    Patentgeschützte Arzneimittel sind über viele Jahre Hauptursache der steigenden GKV-Arzneimittelausgaben. In den letzten 20 Jahren sind die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 7,5 Mrd. € im Jahre 2000 mit zwei Unterbrechungen auf 21,6 Mrd. € im Jahre 2019 gestiegen und erhöhten damit gleichzeitig ihren Umsatzanteil am Gesamtmarkt von 38,8 % auf 46,3 % (Tab. 1.1, Abb. 1.3). Im letzten Jahr hat sich die Wachstumsdynamik der Patentarzneimittel weiter verstärkt, da sie wieder einen höheren Anteil (1,302 Mio. €) als die Nicht-Patentarzneimittel (1,206 Mio. €) an dem gestiegenen Arzneimittelumsatz im Gesamtmarkt (2,508 Mrd. €) hatten (Tab. 1.1). Die weiter wachsende Bedeutung der teuren Patentarzneimittel für die Kostenentwicklung ist nicht einfach erklärbar, da das DDD-Volumen von Generika (+3,4 %) und Biosimilars (+46,7 %) zunahm (Tab. 1.1). Beide Entwicklungen sollten normalerweise einen kostensenkenden Effekt haben. Die damit verbundene Kostenreduktion ist aber offenbar zu klein, um die Kostensteigerung durch das deutlich erhöhte DDD-Volumen (+8,9 %) der teuren patentgeschützten Biologika mit ihren sehr hohen DDD-Kosten (15,00 €/DDD) zu verhindern (Tab. 1.1).

    1.4.1 Kosten neuer Patentarzneimittel

    Die enorme Kostendynamik der patentgeschützten Arzneimittel zeigt sich nicht nur am gesamten Umsatzvolumen der Gruppe sondern auch an den Jahrestherapiekosten der neueingeführten Arzneimittel. Im Jahre 2019 wurden in Deutschland 31 Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen auf den Markt gebracht, von denen 26 eine G-BA-Nutzenbewertung erhielten (Kap.​ 2, Tab.​ 2.​1). Von den nutzenbewerteten Patentarzneimitteln kosteten 12 Präparate mehr als 100.000 € pro Jahr (Tab. 1.5). Damit belaufen sich die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten der nutzenbewerteten neuen Arzneimittel des Jahres 2019 auf 217.313 €. Auffällig ist weiterhin der hohe Anteil von Orphan-Arzneimitten mit besonders hohen Jahrestherapiekosten. Da die in die Berechnung einbezogenen Jahrestherapiekosten auf den freien Herstellerpreisen zum Zeitpunkt der Markteinführung beruhen, werden die tatsächlichen Kosten nach Abschluss der Verhandlungen über die Erstattungsbeträge niedriger sein. Nach den Vereinbarungen des GKV-Spitzenverbandes für die neuen Arzneimittel des Jahres 2017 betragen die durchschnittlichen Rabatte etwa 20 % (Arzneiverordnungs-Report 2019, Kap. 6, Tab. 6.9). Das ist eine wichtige Kostensenkung, die mit dem Inkrafttreten des AMNOG im Jahre 2011 wirksam wurde.

    Tab. 1.5

    Jahrestherapiekosten neuer Arzneimittel der Jahre 2019 und 2010. Die Jahrestherapiekosten der Wirkstoffe des Jahres 2019 wurden aus den Nutzenbewertungen des G-BA entnommen, bei den gekennzeichneten Wirkstoffen (*) wurde keine G-BA-Nutzenbewertung durchgeführt. Die Jahrestherapiekosten der Wirkstoffe des Jahres 2010 stammen aus den Wirkstoffprofilen neuer Arzneimittel des Jahres 2010 im Arzneiverordnungs-Report 2011 (Kap.​ 2), bei den gekennzeichneten Wirkstoffen des Jahres 2010 (**) handelt es sich um Einmaltherapien, für die keine Jahrestherapiekosten berechnet wurden. Or: Arzneimittel für seltene Leiden (Orphan-Arzneimittel)

    Das AMNOG und die Preisverhandlungen haben allerdings nicht verhindern können, dass die Preise in den letzten 10 Jahren extrem gestiegen sind. Im Jahre 2010 betrugen die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten der neu eingeführten Arzneimittel noch 34.253 €, sind aber bis 2019 sechsfach angestiegen (Tab. 1.5).

    Die hohen Preise neuer Arzneimittel sind kein deutsches Phänomen, sondern werden in vielen Ländern als Belastung für die Patienten und die Gesundheitssysteme angesehen (Schumock und Vermeulen 2017; Ward et al. 2019; Khullar et al. 2020). Auch in den USA waren Ausgaben für neue Produkte, die zuvor nicht verfügbar waren, der wesentliche kostentreibende Faktor für die gestiegenen Arzneimittelausgaben im Jahre 2019 (Tichy et al. 2020). Insbesondere werden die immens gestiegenen Kosten neuer Onkologika kritisiert, weil sie nicht nur teuer sind, sondern oft auch ihr Nutzen unsicher ist, da häufig vor der Zulassung lediglich eine Beeinflussung von Surrogatendpunkten gezeigt werden konnte (Bach 2019; Vokinger et al. 2020). Die Onkologika waren mit 12 Wirkstoffen auch in Deutschland die größte Gruppe der 31 Neuzulassungen des Jahres 2019, hatten aber bei 8 von den 12 Arzneimitteln keinen oder nur einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen (siehe Tab.​ 2.​1). Die Jahrestherapiekosten neueingeführter Arzneimittel sind ein wichtiges Signal für die zukünftige Kostenentwicklung. Wie sich die hohen Jahrestherapiekosten pro Patient auf das reale jährliche Gesamtvolumen der Arzneimittelausgaben auswirken, hängt aber entscheidend von der Anzahl der Patienten ab, die tatsächlich mit einem neuen Arzneimittel behandelt werden.

    1.4.2 Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten

    Im Rahmen der Nutzenbewertung trifft der G-BA auch Feststellungen zur Anzahl der Patienten bzw. Abgrenzung der für die Behandlung in Frage kommenden Patientengruppen aus der Zielpopulation in der GKV. Mit den Jahrestherapiekosten pro Patient und der Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten werden in der Nutzenbewertung die beiden wesentliche Komponenten erfasst, mit denen die jährlichen Gesamtkosten eines neuen Arzneimittels für die GKV berechnet werden können. Die Methode wird in der Gesundheitsökonomie als sogenannte Budget-Impact-Analyse bezeichnet.

    Auf die Bedeutung der Budget-Impact-Analyse hat das IQWiG schon vor Inkrafttreten des AMNOG in einer Publikation über die Methodik für die Kosten-Nutzen-Bewertung im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung hingewiesen (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen 2009). Die Methoden der Kosten-Nutzenbewertung wurden später in die Allgemeinen Methoden des IQWiG übernommen. In der aktuellen Version der Allgemeinen Methoden bewertet eine Ausgaben-Einfluss-Analyse (Budget-Impact-Analyse) die direkten finanziellen Konsequenzen, die mit der Erstattung einer Intervention in einem Gesundheitssystem in Zusammenhang stehen (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen 2019). Danach werden in einem Berechnungsmodell der Anteil der Patienten, die die neue Intervention möglicherweise erhalten werden, sowie die Verbreitung der Intervention im Gesundheitssystem einschließlich ihrer Anwendung bei zuvor unbehandelten Patienten berücksichtigt. Zu den Schlüsselelementen einer Budget-Impact-Analyse gehören die Abschätzung der Größe der infrage kommenden Bevölkerung, der aktuellen Therapiealternativen und des erwarteten Therapiespektrums nach Einführung der neuen Intervention sowie die erwartete Kostenveränderung durch die neue Intervention im Vergleichsszenario (Sullivan et al. 2014). Die Berechnungen sollen mithilfe eines einfachen Kostenrechneransatzes durchgeführt werden, damit sie für Budgetinhaber benutzerfreundlich sind. Wenn die Zahl der mit dem neuen Arzneimittel zu behandelnden Patienten realitätsnah ermittelt wird, sollte die Berechnung des Budget-Impact mit einer einfachen Multiplikation mit den Jahrestherapiekosten des neuen Arzneimittels möglich sein.

    Eine Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln ist im AMNOG zwar gesetzlich vorgesehen (§ 35b SGB V), wurde aber bisher noch nie durchgeführt. Ein Grund könnte sein, dass eine Kosten-Nutzen-Bewertung erst nach einem Schiedsspruch der Schiedsstelle von jeder der beiden Vertragsparteien (GKV-Spitzenverband, pharmazeutischer Unternehmer) beim Gemeinsamen Bundesausschuss beantragt werden kann (§ 130b, Absatz 8, SGB V). Damit steht eine Kostenprognose der finanziellen Auswirkungen erst am Ende des Nutzenbewertungsverfahrens. In Anbetracht der in den letzten Jahren extrem gestiegenen Jahrestherapiekosten neu eingeführter Arzneimittel wäre es jedoch außerordentlich wichtig, wenn eine Gesamtkostenanalyse bereits am Anfang der Nutzenbewertung durchgeführt würde, damit bei der Erstattungsbetragsvereinbarung neben den Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie auch die Gesamtkosten eines neuen Arzneimittels berücksichtigt werden. Mit realistischen Angaben zur Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten sollte schon bei der Nutzenbewertung eine einfach berechenbare Basis für eine zuverlässige Kostenprognose geschaffen werden, um sicher zu stellen, dass die Gesamtkosten eines neu eingeführten Arzneimittels für die Kostenträger bezahlbar bleiben.

    Bisher sind die in der Nutzenbewertung publizierten Patientenzahlen offensichtlich nicht geeignet, um realistische Angaben über die Gesamtkosten neuer Arzneimittel berechnen zu können. Das zeigt das Ergebnis eines ersten Versuchs einer Kostenprognose, die wir im vergangenen Jahr mit den in der Nutzenbewertung publizierten Zahlen der Jahrestherapiekosten pro Patient und der Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten durchgeführt haben. Mit dieser Berechnungsmethode haben wir für die 37 neuen Arzneimittel des Jahres 2018 GKV-Gesamtkosten von 52,9 Mrd. € errechnet (siehe Arzneiverordnungs-Report 2019, Kap. 1, Abschn. 1.4.2). Das Ergebnis liegt jenseits aller Realitäten des deutschen GKV-Arzneimittelmarktes, weil die berechneten Kosten sogar höher als die jährlichen Gesamtnettokosten des GKV-Arzneimittelmarktes von 40,1 Mrd. € waren. Dennoch ist die Analyse von zwei Gesundheitsökonomen ausführlich kommentiert und als wissenschaftsethisch nicht vertretbar kritisiert worden (Cassel und Ulrich 2019).

    Während die in der Nutzenbewertung angegebenen Jahrestherapiekosten relativ zuverlässig zu berechnen sind, sind die angegebenen Patientenzahlen offensichtlich viel zu hoch, um damit eine halbwegs zuverlässige Gesamtkostenprognose abgeben zu können. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Korrekturen an den publizierten Patientenzahlen notwendig waren. Im vergangenen Jahr hat der G-BA in der Nutzenbewertung des neuen Migräneprophylaktikums Erenumab (Aimovig) aus der Gruppe der Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)-Antikörper die Angaben über die Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten in zwei Subgruppen erheblich reduziert (Gruppe unbehandelte und weitere Patienten 1.436.500 statt 2.409.500 Patienten, Gruppe der auf Standardtherapie nicht ansprechende und weitere Patienten 6.200 statt 10.500 Patienten, jeweils Mittelwerte). Nur in der dritten Subgruppe wurden die Patientenzahlen nicht geändert (therapieresistente und weitere Patienten 14.500 Patienten) (Bundesministerium für Gesundheit 2019). Anlass für diese Änderung waren neue Patientenzahlen im Rahmen der Nutzenbewertung eines weiteren CGRP-Antikörpers (Galcanezumab), der 2019 in Deutschland auf den Markt kam (Tab. 1.5). Damit hat sich die Gesamtzahl von 2,4345 Mio. auf 1,4572 Mio. zu behandelnde Patienten reduziert. Infolgedessen hätte Erenumab (Jahrestherapiekosten 12.435 €) auch geringere potenzielle jährliche Gesamtkosten von 18,1 Mrd. € statt ursprünglich 30,2 Mrd. € gehabt, ein deutlicher Rückgang, aber immer noch eine völlig realitätsferne Kostenprognose. Um die Patientenzahlen der Realität anzupassen, erscheint es sinnvoll, weitere Daten zur Behandlung der infrage kommenden Patienten mit dem neuen Migräneprophylaktikum bei der Ermittlung der Patientenzahlen zu berücksichtigen. Als erstes ist eine Leitlinie zu nennen, die eine Verordnung bei Patienten mit episodischer Migräne gemäß G-BA-Beschluss ermöglicht, wenn mindestens 5 Substanzen aus den 4 verfügbaren, zugelassenen medikamentösen pharmakologischen Gruppen wie Betarezeptorenblocker, Flunarizin, Topiramat, Valproinsäure oder Amitriptylin nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder wenn gegen deren Einnahme Kontraindikationen oder Warnhinweise bestehen (Diener et al. 2019). Durch diese Leitlinienempfehlung wird die Verordnung von CRGP-Antikörpern abweichend von der breiten Zulassung zur Migräneprophylaxe für alle Patienten mit mindestens 4 Migränetagen pro Monat auf die dritte Patientensubgruppe mit 14.500 Patienten eingeschränkt, die in der Nutzenbewertung einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen gezeigt hatte. Ein weiterer Hinweis auf eine realitätsnahe Erfassung der Patientenzahlen ist die Tatsache, dass auch der Hersteller das Ergebnis der Nutzenbewertung akzeptiert hat und selbst einen vorübergehenden Verordnungsausschluss für die ersten beiden Patientengruppen in der G-BA-Anhörung vorgeschlagen hat (Gemeinsamer Bundesausschuss 2019). Für die 14.500 Patienten mit einem beträchtlichen Zusatznutzen errechnen sich jährliche GKV-Gesamtkosten von 180 Mio. €, die eine realitätsnahe Kostenprognose darstellen. Denn Aimovig wurde 2019 bereits mit Nettokosten von 48 Mio. € verordnet (siehe Tab.​ 32.​1), nachdem es im November 2018 auf den Markt gekommen war.

    Andererseits gibt es auch Beispiele, bei denen die in der Nutzenbewertung publizierten Patientenzahlen um ein Mehrfaches überschritten wurden. Ein solches Beispiel sind die beiden PCSK9-Inhibitoren Evolocumab (Repatha) und Alirocumab (Praluent), die zur Senkung des LDL-Cholesterins eingesetzt werden. Für diese Arzneimittel hatte die Nutzenbewertung für die Mehrzahl der Patienten, bei denen eine Statintherapie infrage kommt (270.000 Patienten), keinen Beleg für einen Zusatznutzen ergeben. Daraufhin hatte der G-BA zusätzlich einen weitgehenden Verordnungsausschluss der beiden PCSK9-Inhibitoren beschlossen, solange die Therapie mit Mehrkosten im Vergleich zu einer Therapie mit anderen Lipidsenkern (Statine, Fibrate, Anionenaustauscher, Cholesterinresorptionshemmer) verbunden ist. Damit kamen nur kleinere Patientengruppen für eine Therapie mit PCSK9-Inhibitoren (Evolocumab 3.090 Patienten, Alirocumab 3.250 Patienten) in Betracht, bei denen eine Statintherapie nicht infrage kommt oder bei denen die Optionen zur Lipidsenkung ausgeschöpft sind. Da beide Arzneimittel für weitgehend ähnliche Indikationen zugelassen waren, kommt maximal eine Zahl von 3.250 Patienten für die Behandlung in Betracht, bei denen aufgrund des Verordnungsausschlusses auch noch die Indikation zur Durchführung einer LDL-Apherese besteht. Diese Patientenzahl entspricht in etwa den Verordnungsdaten des Jahres 2016, als 1,0 Mio. DDD von beiden PCSK9-Inhibitoren verordnet wurden, die bei kontinuierlicher Verabreichung ausreichend für die Behandlung von ca. 2.700 Patienten sind (siehe Arzneiverordnungs-Report 2017, Tab. 32.2). Aktuell wurden jedoch im Jahre 2019 von beiden Präparaten 5,0 Mio. DDD für ca. 13.700 Patienten verordnet (siehe Tab.​ 30.​3). Die höhere Patientenzahl hat auch deutlich Auswirkungen auf die GKV-Nettokosten der beiden PCSK9-Inhibitoren, die 2019 bereits 99 Mio. € betrugen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Patientenzahlen aus der ersten Nutzenbewertung im Jahre 2016 offensichtlich zu niedrig waren und auch in der zweiten Nutzenbewertung von 2018 nicht geändert wurden. Möglich ist allerdings, dass auch Patienten behandelt wurden, die eigentlich von der Verordnung ausgeschlossen sind.

    Es gibt also gute Gründe, dass für eine realitätsnahe Kostenprognose nicht nur die Jahrestherapiekosten neuer Arzneimittel sondern auch die Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten zuverlässig ermittelt wird, um die Folgen der Kostenexplosion durch neue Arzneimittel in den Griff zu bekommen. Damit verbunden ist die weitergehende Frage, ob Patientengruppen, bei denen die Nutzenbewertung keinen Zusatznutzen ergeben hat, generell bei einer sinnvollen Kostenprognose und den Erstattungsbetragsvereinbarungen eine Berücksichtigung finden sollten. So wurde für die Behandlung von Patienten mit Hepatitis C ein Strukturvertrag nach § 73a SGB V abgeschlossen, um die Versorgungsqualität und die Wirtschaftlichkeit durch Verzicht auf besonders teure Arzneimittel ohne Zusatznutzen zu erhöhen (Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein und AOK Rheinland/Hamburg 2016).

    1.4.3 Internationale Preisvergleiche

    Seit vielen Jahren ist bekannt, dass die Arzneimittelpreise für Patentarzneimittel in Deutschland höher liegen als in anderen Ländern (Simoens 2007; Garattini et al. 2008; Jönsson et al. 2008; Europäisches Parlament 2011; Kanavos et al. 2011; Vogler et al. 2014, 2017). Hauptgrund für die großen Preisunterschiede ist die Tatsache, dass Deutschland bis zum Inkrafttreten des AMNOG keinerlei Preiskontrollen bei der Markteinführung patentgeschützter Arzneimittel durchführte. Die Hersteller patentgeschützter Arzneimittel konnten den Arzneimittelpreis bis Ende 2010 generell frei festlegen. Das hat sich mit Inkrafttreten des AMNOG zu Beginn des Jahres 2011 geändert. Für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen, die keiner Festbetragsgruppe zugeordnet wurden, vereinbart der GKV-Spitzenverband mit pharmazeutischen Unternehmern innerhalb eines Jahres nach der Markteinführung Erstattungsbeträge gemäß AMNOG (§ 130b Absatz 1 SGB V). Der freie Marktzugang bleibt jedoch erhalten, da neue Arzneimittel im ersten Jahr der Markteinführung weiterhin zum geforderten Preis vermarktet werden können. Bei der Festlegung von Erstattungsbeträgen soll auch die Höhe des tatsächlichen Abgabepreises in anderen europäischen Ländern berücksichtigt werden (§ 130b, Absatz 9, SGB V). Allein schon dafür sind internationale Preisvergleiche erforderlich.

    Die methodischen Probleme internationaler Preisvergleiche sind keineswegs gelöst, zumal solche Untersuchungen aus unterschiedlichen Motiven durchgeführt werden (Wagner und McCarthy 2004; Machado et al. 2011). Eine zuverlässige Methode für aussagekräftige Preisvergleiche besteht darin, identische Arzneimittelpackungen zu vergleichen, auch wenn damit nur ein begrenztes Segment des Arzneimittelmarktes untersucht werden kann, weil Angaben zu Packungsgrößen und Dosisstärken in einigen Ländern verfügbar sind, in anderen aber nicht (Wagner und McCarthy 2004). Aus diesem Grunde wurde im Arzneiverordnungs-Report die Methode des Preisvergleichs mit den jeweils umsatzstärksten Arzneimittelpackungen für Schweden, Großbritannien, Niederlande und Frankreich angewendet. Mit dieser Methode wurden erhebliche Einsparpotenziale für den deutschen Patent- und Generikamarkt berechnet. Auch der Vergleich mit Bruttoinlandsprodukt-adjustierten Herstellerabgabepreisen aus 8 europäischen Ländern ergab im deutschen Markt für Patentarzneimittel nach Berücksichtigung des gesetzlichen Herstellerabschlags und der Einsparungen durch Erstattungsbeträge für AMNOG-Arzneimittel ein theoretisches Einsparpotenzial, das für die Jahre 2015 und 2016 1,44 Mrd. € bzw. 1,50 Mrd. € und damit 13 % des Herstellerumsatzes betrug (Arzneiverordnungs-Report 2016 und 2017, Kap. 7, Europäischer Preisvergleich für patentgeschützte Arzneimittel).

    Die Erstattung von Arzneimitteln in Deutschland unterscheidet sich außerdem in zentralen Punkten von anderen europäischen Ländern. In Deutschland kann der pharmazeutische Unternehmer ein neues patentgeschütztes Arzneimittel weiterhin zu einem frei festgelegten Listenpreis auf dem Markt bringen, der bereits ab dem ersten Tag der Markteinführung von den Krankenkassen erstattet werden muss. Erst ein Jahr nach der Markteinführung gilt der zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Unternehmer vereinbarte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel. Da die Erstattungsbeträge nicht rückwirkend bei der Markteinführung gültig sind, müssen die im ersten Jahr zu viel gezahlten Arzneimittelkosten nicht an die GKV zurückerstattet werden. Die Mehrkosten der freien Preisbildung im ersten Jahr belaufen sich einschließlich Preisänderungen nach Neubewertungen seit 2011 auf 1.521 Mio. €, davon 201 Mio. € im Jahr 2018 (Arzneiverordnungs-Report 2019, Kap. 6, Der GKV-Arzneimittelmarkt 2018: Trends und Marktsegmente, Abschn. 6.4.4).

    Die mangelhafte Transparenz von Arzneimittelpreisen wird seit vielen Jahren kritisiert (z. B. Vogler und Paterson 2017). Kürzlich hat die Weltgesundheitsorganisation eine Resolution zur Verbesserung der Transparenz der Märkte für Arzneimittel, Impfstoffe und andere Gesundheitsprodukte verabschiedet, die von 20 Mitgliedsstaaten (darunter die EU-Staaten Griechenland, Italien, Luxemburg, Malta, Portugal, Slowenien, Spanien) eingebracht wurde. In der Resolution werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, durch wirksame gesetzliche Maßnahmen für mehr Transparenz von Forschungskosten und Preisen für Arzneimittel und Impfstoffe zu sorgen, um den Zugang zu Gesundheitsprodukten weltweit zu verbessern (World Health Organization 2019). Deutschland, Ungarn und das Vereinigte Königreich distanzierten sich förmlich von der angenommenen Resolution, da die Debatte nicht alle möglichen Auswirkungen vollständig berücksichtigt habe. Nach Auffassung des Bundesministeriums für Gesundheit sind die Arzneimittelpreise in Deutschland transparent, wenn auch die zusätzlichen Arzneimittelrabatte als Geschäftsgeheimnisse anerkannt werden, die zwischen pharmazeutischen Unternehmern und Krankenkassen ausgehandelt werden. Die Position der Bundesregierung hat für heftigen Streit mit verschiedenen Hilfsorganisationen (Ärzte ohne Grenzen, Brot für die Welt) sowie Vertretern der Grünen und der Linken gesorgt (Deutsches Ärzteblatt 2019a).

    1.4.4 Patentablauf von Arzneimitteln

    Mit dem Ablauf von Arzneimittelpatenten und dem anschließenden Einsatz von Generika und Biosimilars entstehen jedes Jahr hohe Einsparpotenziale bei den Arzneimittelausgaben. Im Jahre 2019 ist der Patentschutz von sieben Wirkstoffen aus der Gruppe der 3.000 meistverordneten Arzneimittel abgelaufen, die alle zur Gruppe der chemisch hergestellten, kleinmolekularen Arzneimittel gehören. Im letzten Jahr vor dem Patentablauf hatten die Originalpräparate ein DDD-Volumen von 150,4 Mio. DDD mit Nettokosten von 392,0 Mio. €. Nach dem Patentablauf waren 2019 erstmals zahlreiche Generika für die jeweiligen Wirkstoffe verfügbar. Das Verordnungsvolumen ist geringfügig auf 155 Mio. DDD angestiegen (Tab. 1.6). Auffälligerweise war aber die Summe der Nettokosten der sieben Wirkstoffe trotz deutlicher Preissenkungen einzelner Generika 2019 ähnlich wie im Vorjahr. Das liegt größtenteils an dem paradoxen Phänomen, dass die DDD-Kosten der neuen Generika bei den beiden Onkologika (Bortezomib, Pemetrexed) bis auf eine Ausnahme über den DDD-Kosten der Originalpräparate (Velcade, Alimta) liegen. Das erklärt sich dadurch, dass die Generika für Pemetrexed nahezu identische Listenpreise wie das Originalpräparat haben, aber auf höhere DDD-Kosten kommen, weil für das Originalpräparat Alimta preisgünstige Reimporte in die DDD-Kostenberechnung einbezogen werden (siehe Kap.​ 34 Onkologika, Abschn.​ 34.​2.​2).

    Tab. 1.6

    Patentabläufe von Arzneimitteln 2019 und 2020. Angegeben sind Wirkstoff, Präparate (bei Originalpräparaten DDD-Änderungen gegenüber 2018), verordnete definierte Tagesdosen (DDD), mittlere DDD-Nettokosten, Nettokosten und Einsparpotenzial mit den jeweils günstigsten DDD-Nettokosten

    Die Einsparpotenziale der einzelnen Wirkstoffe wurden mit den DDD-Kosten des jeweils preisgünstigsten Generikums berechnet. Die Gesamtkosten der Einsparpotenziale in Höhe von 80,2 Mio. € betragen damit nur 20 % der Nettokostensumme von 384,5 Mio. €. Die geringen Einsparungen liegen wiederum daran, dass auf die beiden Onkologika über die Hälfte des Kostenvolumens entfällt und dass wegen der geringen Absenkung der Generikakosten nur ein minimales Einsparpotenzial in diesem Bereich vorhanden ist.

    Weiterhin werden im Jahr 2020 insgesamt 18 Wirkstoffe in Deutschland patentfrei (Pieloth et al. 2020). Nach den Angaben von INSIGHT Health (Patentdatenbank SHARK) befinden sich darunter fünf umsatzstarke Wirkstoffe, auf die allein 85 % des patentfrei werdenden Umsatzvolumens von 1,13 Mrd. € nach Herstellerabgabepreisen entfallen. Dazu gehören vier Biologika aus der Gruppe der monoklonalen Antikörper (Bevacizumab, Eculizumab, Tocilizumab, Natalizumab) (siehe auch Kap.​ 3) und ein chemisch definierter kleinmolekularer Wirkstoff (Tapentadol). Nach den GKV-Verordnungsdaten des Jahres 2019 entfallen auf diese fünf Wirkstoffe Nettokosten von insgesamt 1,216 Mrd. €, die aus den DDD-Werten der jeweiligen DDD-Tabellen berechnet wurden (Tab. 1.6).

    Umsatzstärkster Wirkstoff ist Bevacizumab (Avastin), ein rekombinanter humanisierter VEGF-Antikörper, der 2005 zur Erstlinienbehandlung des metastasierten kolorektalen Karzinoms in Kombination mit einer Irinotecan-basierten Chemotherapie eingeführt wurde und später auch für die Behandlung weiterer solider Tumoren (Mammakarzinom, nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom, Nierenzellkarzinom, Ovarialkarzinom) zugelassen wurde (siehe Kap.​ 34 Onkologika, Abschn.​ 34.​5.​3). Mit den zahlreichen Indikationen gehört Bevacizumab zu den führenden Onkologika und ist mit Nettokosten von 442 Mio. € auch in der Liste der 30 umsatzstärksten Arzneimittel des Jahres 2019 vertreten (Tab. 1.3). Inzwischen haben bereits zwei Bevacizumab-Biosimilars (Zirabev, Mvasi) eine EMA-Zulassung erhalten, nachdem in klinischen Studien die Gleichwertigkeit mit dem Originalpräparat nachgewiesen wurde (Thatcher et al. 2019; Reinmuth et al. 2019). Die Einsparpotenziale sind jedoch gering, da die beiden Biosimilars nach den Listenpreisen bisher nur 6–8 % billiger als das Originalpräparat Avastin sind (siehe auch Kap.​ 3).

    An zweiter Stelle folgt Eculizumab (Soliris), das im Jahr 2007 als monoklonaler Antikörper gegen das Komplementprotein C5 zur Behandlung von Patienten mit paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie und mit atypischem hämolytisch-urämischem Syndrom zugelassen wurde (siehe Kap.​ 29). Der Komplementinhibitor hat nur ein kleines Verordnungsvolumen, aber sehr hohe DDD-Kosten (Tab. 1.6). Biosimilars von Eculizumab werden bereits untersucht, sind aber bisher noch nicht zugelassen.

    Tocilizumab (RoActemra) ist ein Interleukin-6-Rezeptorantikörper, der 2009 zunächst als Zweitlinientherapie zur Behandlung der mäßigen bis schweren rheumatoiden Arthritis zugelassen wurde und wesentlich weniger als die TNFα-Inhibitoren verordnet wird (siehe Kap.​ 17, Abschn.​ 17.​2.​2). Tocilizumab-Biosimilars werden ebenfalls schon untersucht, bisher ist aber noch kein Präparat zugelassen worden.

    Tapentadol (Palexia) ist ein Opioidanalgetikum mit einem ähnlichen Wirkungsmechanismus wie Tramadol. Es wurde 2010 zugelassen, unterliegt aber im Gegensatz zu Tramadol dem Betäubungsmittelrecht für stark wirkende Opioide (siehe Kap.​ 7, Abschn.​ 7.​2.​7). Das Präparat hat im Vergleich zu anderen stark wirkenden Opioidanalgetika die höchsten DDD-Kosten, während alle anderen starkwirkenden Opioidanalgetika seit vielen Jahren als Generika verfügbar sind. Bisher sind noch keine Tapentadolgenerika auf dem Markt. Die Rabattquote für Palexia liegt jedoch bei rund 80 % (Pieloth et al. 2020).

    Natalizumab ist ein Reservetherapeutikum mit einer engen Zulassung zur Zweitlinientherapie der hochaktiven schubförmig-remittierenden multiplen Sklerose sowie als Erstlinientherapie bei rasch fortschreitender schubförmig-remittierender multipler Sklerose (siehe Kap.​ 33, Abschn.​ 33.​1.​5). Es wird im Allgemeinen für Patienten empfohlen, die nicht auf eine krankheitsmodifizierende Erstlinientherapie angesprochen haben oder an einer sehr aktiven Krankheit leiden. Der erwartete Nutzen einer Behandlung mit Natalizumab muss gegen Risiken abgewogen werden, insbesondere gegen das seltene, aber schwerwiegende unerwünschte Ereignis einer potenziell tödlich verlaufenden progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML). Obwohl das Patent für Natalizumab schon seit mehreren Jahren abgelaufen ist, wurden bisher noch keine Biosimilars auf den Markt gebracht, die sich noch in Entwicklung befinden (Müller 2018).

    1.5 Generika

    Der Verordnungsanteil der Generika ohne patentfreie generikafähige Erstanbieterpräparate am Gesamtmarkt ist seit 2000 von 49,0 % auf 76,8 % im Jahre 2019 angestiegen (Abb. 1.4). Ein wesentliches Hemmnis für eine zügige Bildung von Festbetragsgruppen ist die relativ lange Dauer des Verfahrens und die gesetzliche Vorgabe, dass mindestens ein Fünftel aller Verordnungen und mindestens ein Fünftel aller Packungen zum Festbetrag verfügbar sein müssen (§ 35 Absatz 5 SGB V). So hatten von den 33 Wirkstoffen, die 2017 patentfrei wurden, 13 Wirkstoffe 2018 immer noch einen Verordnungsanteil von weniger als 20 % (Arzneiverordnungs-Report 2019, Kap. 6, Tab. 6.4) und konnten daher nicht unter Festbetrag genommen werden.

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    Abb. 1.4

    Anteil der Generika am Gesamtmarkt 2000 bis 2019 (ab 2001 mit neuem Warenkorb und ab 2016 mit Zubereitungen)

    Wie groß der Preisunterschied von generikafähigen Erstanbieterpräparaten zu Generika ist, zeigt das Beispiel des 2016 patentfrei gewordenen Imatinib, das mit dem aktuellen Packungspreis als Originalpräparat (Glivec 90 Tbl. 400 mg 10.120,90 €) 22-fach teurer als das preisgünstigste Generikum (Imatinib Denk 90 Tbl. 400 mg 466,39 €) ist. Trotz dieses großen Preisunterschieds gibt es auch vier Jahre nach der ersten Markteinführung eines Generikums für Imatinib bisher noch keinen Festbetrag für dieses umsatzstarke Onkologikum, für dessen Verordnung 2019 Nettokosten von 93 Mio. € erzielt wurden.

    Die größte prozentuale Zunahme der Generikaverordnungen gab es nach Inkrafttreten des Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetzes (AVWG) im Jahr 2007 (Abb. 1.4). Im Jahre 2004 ist der Umsatzanteil der Generika als Folge der geänderten Arzneimittelpreisverordnung kräftig angestiegen. Dieser hohe Zuwachs beruhte speziell auf der Verteuerung preiswerter Generika durch einen einheitlichen Festzuschlag von 8,10 € pro verschreibungspflichtiges Fertigarzneimittel und war kein Zeichen einer erhöhten Verordnung von Generika. Nach einem neuen Maximum mit einem Umsatzanteil von 37,0 % im Jahr 2013 war das Umsatzvolumen der Generika am Gesamtmarkt in den letzten sechs Jahren wieder rückläufig und hat 2019 nur noch einen Anteil von 28,9 % (Abb. 1.4).

    Die Verordnung von Generika trägt seit 30 Jahren zur Dämpfung der Arzneimittelausgaben bei. Daher wurde im Arzneiverordnungs-Report regelmäßig das Einsparpotenzial von Generika auf der Basis der preisgünstigsten deutschen Generika berechnet. Die erste Berechnung wurde für die Verordnungsdaten des Jahres 1987 durchgeführt und ergab ein Einsparpotenzial vom 818 Mio. € (1,6 Mrd. DM) für den damaligen Generikamarkt von 3.597 Mio. € (7.035 Mio. DM) (Arzneiverordnungs-Report 1988, Überblick über die Arzneiverordnungen im Jahr 1987). Die berechneten Einsparpotenziale der Generika stiegen bis 2009 auf 1.584 Mio. € (Abb. 1.5). Seit 2003 haben die Krankenkassen die Möglichkeit, mit Arzneimittelherstellern Rabattverträge abzuschließen, die 2007 mit der Verpflichtung der Apotheker zur Abgabe rabattierter Arzneimittel wesentlich effektiver wurden. Bereits vier Jahre später erreichten die Rabatterlöse der Krankenkassen 1.721 Mio. €. Damit wurden die berechneten Einsparpotenziale der Generika auf Ebene der Listenpreise schon nach wenigen Jahren durch die Rabattverträge abgeschöpft. Inzwischen sind die Rabatterlöse im Jahre 2019 weiter auf 4.882 Mio. € (Vorjahr 4.503 Mio. €) angestiegen (Abb. 1.5), wobei ein nicht unerheblicher Teil der Rabatteinnahmen aus Verträgen zu patentgeschützten Arzneimitteln stammt.

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    Abb. 1.5

    Einsparpotenziale von Generika mit jeweils preisgünstigen deutschen Präparaten und Rabatterlöse der Krankenkassen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V von 2008 bis 2019

    1.6 Biosimilars

    Der Markt der Biosimilars ist seit 2010 sprunghaft gewachsen, erkennbar an einer 13-fachen Zunahme der Nettokosten von 75 Mio. € auf 1.722 Mio. € im Jahre 2019 (siehe Kap.​ 3, Biosimilars, Abb.​ 3.​1). Allerdings ist der prozentuale Anteil der Biosimilars am Gesamtmarkt der patentfreien Biologika (biosimilarfähige Erstanbieterpräparate und Biosimilars) in Höhe von 5,910 Mio. € mit 29,1 % (Tab. 1.1) weiterhin nicht viel höher als im Jahre 2010 (damals 20,5 %). Beim DDD-Volumen liegt der Anteil der Biosimilars sogar noch niedriger und beträgt mit 97 Mio. DDD nur 9,6 % an den 1.013 Mio. DDD des biosimilarfähigen Gesamtmarktes (Tab. 1.1). Die Einsparpotenziale durch Umstellung auf das jeweils preisgünstigste Biosimilar sind 2019 ebenfalls gestiegen (Kap.​ 3, Abb.​ 3.​1). Sie haben 2019 über 40 % zugenommen und betragen jetzt schon 792 Mio. € (Vorjahr: 556 Mio. €), sind aber im Vergleich zu den Einsparpotenzialen bei den Generika noch sehr gering, da die Verkaufspreise der Biosimilars immer noch relativ hoch liegen.

    Bei der Berechnung der Einsparpotenziale ist allerdings zu berücksichtigen, dass bisher alle biosimilarfähigen Biologika vor Inkrafttreten des AMNOG ohne Nutzenbewertung und ohne Verhandlung eines Erstattungspreises auf den Markt kamen. Aufgrund der freien Preisbildung waren die deutschen Preise von Patentarzneimitteln und insbesondere von Biologika schon immer teurer als in anderen europäischen Ländern. Das zeigt das Beispiel Humira (Wirkstoff Adalimumab), das 2018 mit Nettokosten von 1.015 Mio. € das umsatzstärkste Arzneimittel war und 2019 mit Nettokosten von 697 Mio. € immer noch auf Rang 3 der umsatzstärksten Arzneimittel steht (Tab. 1.3). Schon 2012 haben wir durch einen internationalen Preisvergleich nachgewiesen, dass Humira 16,5 % teurer war als in den Niederlanden, wenn die deutschen Nettokosten nach Abzug der gesetzlichen Abschläge und die unterschiedlichen deutschen und niederländischen Mehrwertsteuersätze berücksichtigt wurden (Arzneiverordnungs-Report 2012, Kap. 1, Tab. 1.4).

    Die bisher mit deutschen Preisen berechneten Einsparpotenziale durch Biosimilars sind etwa doppelt so hoch, wenn als Vergleich europäische Biosimilarpreise herangezogen werden (Arzneiverordnungs-Report 2019, Kap. 8, Tab. 8.6). Um diese höheren Einsparpotenziale zu realisieren, sollte ein Erstattungspreis für Biosimilars auf der Basis eines Preisvergleichs mit anderen europäischen Ländern wie bei den patentgeschützten Biologika gesetzlich verankert werden. Mit einer solchen Preisverhandlung könnten Kosteneinsparungen in dem schnell wachsenden Sektor der biosimilarfähigen Biologika wesentlich effektiver und auch schneller als derzeit erzielt werden. Der Nettokostenanteil der Biosimilars und biosimilarfähigen Biologika (5,910 Mrd. €) am Gesamtmarkt der Biologika (14,721 Mrd. €) beträgt derzeit 40 % und liegt damit deutlich niedriger als der Kostenanteil von allen generikafähigen Arzneimitteln (16,290 Mrd. €) am Gesamtmarkt der Nicht-Biologika (28,116 Mrd. €) 58 % (Tab. 1.1). In Anbetracht der in Zukunft zunehmenden Bedeutung der Biosimilars werden Definitionen, Eigenschaften, Zulassungen, Austauschbarkeit und Verordnungen dieser Untergruppe der biologischen Arzneimittel in einem eigenen Kapitel dargestellt (Kap.​ 3, Biologika und Biosimilars).

    1.7 Orphan-Arzneimittel

    Orphan-Arzneimittel werden zur Behandlung seltener Krankheiten eingesetzt. Nach europäischer Definition ist eine seltene Krankheit ein lebensbedrohendes oder chronisch verlaufendes Leiden, von dem nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind (Europäisches Parlament 2000). Nach dieser Definition gilt eine Krankheit in Deutschland als selten, wenn weniger als 40.000 Patienten daran erkrankt sind. Lange Zeit wurde die Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Krankheiten von der pharmazeutischen Industrie wegen hoher Kosten und geringer Umsatzerwartungen vernachlässigt (Schieppati et al. 2008). Das hat sich in den USA 1983 mit dem ersten Orphan-Arzneimittelgesetz und in Europa im Jahre 2000 mit der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates über Arzneimittel für seltene Leiden grundlegend geändert (Orphan Drug Act 1983; Europäisches Parlament 2000). Die regulatorischen und ökonomischen Anreize haben bewirkt, dass in Europa seit 2000 etwa 180 Orphan-Arzneimittel zugelassen wurden, von denen sich 2019 noch knapp 120 Orphan-Arzneimittel im Markt befanden.

    Auch in Deutschland haben Orphan-Arzneimittel im AMNOG besondere Beachtung gefunden. Das Gesetz hat festgelegt, dass der medizinische Zusatznutzen von Orphan-Arzneimitteln bereits durch die europäische Zulassung als belegt gilt (§ 35a Absatz 1 SGB V). Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen haben sich gegen diese Ausnahmeregelung ausgesprochen, die erst in der Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens eingebracht wurde (Windeler et al. 2010). Diese Kritik hat dazu beigetragen, dass schließlich eine Umsatzobergrenze für die Freistellung von der nationalen

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