Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes: Die Systemtheorie Watzlawicks und Luhmanns verständlich erklärt
By Joop Willemse and Falko von Ameln
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Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes - Joop Willemse
Joop Willemse und Falko von Ameln
Theorie und Praxis des systemischen AnsatzesDie Systemtheorie Watzlawicks und Luhmanns verständlich erklärt
Mit 12 Abbildungen
../images/339625_1_De_BookFrontmatter_Figa_HTML.pngJoop Willemse
UTRECHT, Niederlande
Falko von Ameln
Norden, Deutschland
ISBN 978-3-662-56644-2e-ISBN 978-3-662-56645-9
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56645-9
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Niederländische Originalausgabe erschienen bei Bohn Stafleu van Loghum, NL, 2015
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Fotonachweis Umschlag: © vege / stock.adobe.com
Umschlaggestaltung: deblik, Berlin
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Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Systemisches Arbeiten ist in der Organisationsberatung, der Psychotherapie, Pädagogik und sozialen Arbeit, in Supervision und Coaching und selbst in Feldern wie der Hospizarbeit mittlerweile eine selbstverständliche Grundlage der eigenen Professionalität. Diese große und weiterhin wachsende Popularität liegt vor allem darin begründet, dass der systemische Ansatz eine ganz neue, ungewöhnliche Perspektive auf Menschen und soziale Zusammenhänge bietet. Diese Perspektive kann in vielen Fällen helfen, soziale Dynamiken zu verstehen, Verstrickungen aufzulösen, den Blick auf Lösungen zu lenken und magischerweise sogar Probleme durch einen einfachen Wechsel der Blickweise zum Verschwinden zu bringen.
Der systemische Blick ist uns nicht angeboren. Er ist ungewohnt, facettenreich und widerspricht manchmal unseren üblichen Grundüberzeugungen. Systemische Literatur ist daher – vorsichtig formuliert – nicht immer leicht zu lesen.
Dieses Buch erklärt die systemischen Grundlagen auf umfassende und auch für Einsteiger verständliche Art und Weise. Dabei stellt es die drei wichtigsten Säulen der systemischen Arbeit in einem konsistenten Ansatz dar:
die Systemtheorie Niklas Luhmanns,
die kommunikationstheoretischen Arbeiten von Paul Watzlawick (hier insbesondere sein bahnbrechendes Werk „Menschliche Kommunikation") und
die verschiedenen systemischen Konzepte aus der Familientherapie, die vor allem die Methodik des systemischen Arbeitens bereichert haben.
Im ersten Kapitel des Buches werfen wir einen ersten Blick durch die systemische Brille. Diese erste Annäherung bildet die Grundlage, um die in Kapitel 2 dargestellten wichtigsten Erkenntnisse der Systemtheorie verstehen zu können. Sie stellt die konzeptuelle Grundlage der systemischen Arbeit dar. Dabei wird deutlich: Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation und den Mustern, mit denen sie sich in ihrem Kommunizieren selbst reproduzieren. Das dritte Kapitel beschreibt die systemische Haltung, die sich aus diesen theoretischen Grundlagen ergibt und die ein wichtiges „Alleinstellungsmerkmal" auf dem Markt der therapeutischen und beraterischen Verfahren darstellt.
Im zweiten Teil des Buchs ( Kapitel 4 bis 9 ) wird dann analysiert, wie Kommunikation in der menschlichen Interaktion „funktioniert" und wie dabei Kommunikationsstörungen entstehen können, die den Problemlagen in Therapie und Beratung zugrunde liegen.
Im zehnten Kapitel werfen wir einen Blick in den systemischen Werkzeugkoffer. Hier werden die wichtigsten Methoden und Techniken wie zum Beispiel systemisches Fragen, Reflecting Team, Umdeutung oder Systemaufstellungen vorgestellt.
Der dritte Teil des Buches zeigt, wie systemische Arbeit in verschiedenen Anwendungsfeldern konkret aussehen kann: in der Arbeit mit Familien ( Kapitel 11 ), mit Wohngruppen für Jugendliche ( Kapitel 12 ) oder mit Organisationen ( Kapitel 13 ).
Wir haben uns entschlossen, männliche, weibliche und geschlechtsneutrale Formulierungen in loser Folge abwechselnd zu verwenden, um sprachliche Einseitigkeiten zu vermeiden, gleichzeitig aber die Lesbarkeit zu wahren. Geschlechtsspezifische Formulierungen beziehen sich in der Regel auf beide Geschlechter.
Unser besonderer Dank gilt Joachim Coch vom Springer-Verlag, der den Entstehungsprozess des Buches in gewohnt verbindlicher und professioneller Weise begleitet hat, sowie Heidrun Schoeler, die das Manuskript mit ebenso scharfem wie behutsamem Blick durchgesehen hat.
Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Spaß beim Lesen des Buches und spannende Erkenntnisse beim Blick durch die systemische Brille!
Joop Willemse, Falko von Ameln
Amsterdam und Norden, im Frühjahr 2018
Zwei Jahre war ich mit der Übersetzung von „Anders kijken" aus dem Niederländischen ins Deutsche beschäftigt. Ich habe diese Herausforderung allerdings sehr unterschätzt: Es mussten viel mehr Korrekturen durchgeführt werden, als ich geahnt hatte. Glücklicherweise habe ich Ursula Maria Wartmann mit ins Boot holen können. Die Autorin und Soziologin hat mit viel Sachverstand das schwierige Korrektorat übernommen. Ihre Verbesserungen sind der Qualität des Textes sehr zugute gekommen. Ihr gilt mein Dank.
Joop Willemse
Die Darstellung von manchen Formeln und Strukturelementen war in einigen elektronischen Ausgaben nicht korrekt, dies ist nun korrigiert. Wir bitten damit verbundene Unannehmlichkeiten zu entschuldigen und danken den Lesern für Hinweise.
Inhaltsverzeichnis
I Theoretische Grundlagen des systemischen Ansatzes
1 Ein erster Blick durch die systemische Brille 3
Joop Willemse und Falko von Ameln
1.1 Traditionelle Theorien menschlichen Verhaltens 5
1.1.1 Die Psychoanalyse 5
1.1.2 Der Behaviorismus 6
1.1.3 Die humanistische Psychologie 6
1.2 Eine neue Perspektive auf den Menschen: Grundprinzipien des systemischen Ansatzes 7
1.2.1 Grundfragen der Systemtheorie 8
1.2.2 Der Mensch als Schöpfer seiner eigenen Wirklichkeit: Der Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage des systemischen Ansatzes 9
1.2.2.1 Geschichte und Grundannahmen des Konstruktivismus im Überblick 9
1.2.2.2 Wir erschaffen unsere Wirklichkeit 10
1.2.3 Lösungsorientierung 11
1.2.4 Denken in Zusammenhängen 11
1.2.5 Zirkuläre Kausalität 13
1.3 Geschichte der Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes 14
1.3.1 Die Kybernetik erster Ordnung 14
1.3.2 Die Kybernetik zweiter Ordnung 14
1.3.3 Weitere Ansätze 15
1.3.4 Systemtheoretisches Denken im deutschsprachigen Raum 16
1.4 Vergleich zwischen den traditionellen Theorien menschlichen Verhaltens und dem systemischen Ansatz 17
1.4.1 Individuum versus System 17
1.4.2 Nichtwahrnehmbares versus wahrnehmbares Verhalten 18
1.4.3 „Die Vergangenheit ist wichtig versus „Die Vergangenheit ist weniger wichtig
18
1.4.4 Was ist normal, was ist unnormal? 18
1.4.5 Lineare versus kreisförmige Kausalität 19
1.4.6 Wie verschiedene Theorien nebeneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen 19
1.5 Eine andere Theorieart – der Metacharakter der Systemtheorie 19
2 Der Systembegriff und die wichtigsten Kennzeichen sozialer Systeme 21
Joop Willemse und Falko von Ameln
2.1 Zwei Säulen des systemischen Ansatzes: Die Palo-Alto-Schule und die Systemtheorie Niklas Luhmanns 23
2.2 Soziale Systeme – eine Definition 25
2.3 Beobachtung 25
2.3.1 Unsere Wirklichkeit ist ein Produkt unserer Beobachtung 26
2.3.2 Der blinde Fleck und die Beobachtung zweiter Ordnung 27
2.3.3 Es könnte auch anders sein 27
2.3.4 Beratung und Therapie als Anstoß zu Beobachtungen zweiter Ordnung 28
2.4 Woraus bestehen soziale Systeme? 28
2.5 Offenheit und Geschlossenheit sozialer Systeme 30
2.5.1 Autopoiesis 30
2.5.2 Operationale Geschlossenheit 31
2.5.3 Strukturelle Kopplung 32
2.5.4 Offenheit vs. Geschlossenheit von Systemen – ein Widerspruch? 33
2.6 Kommunikation 33
2.7 Entwicklung und Strukturen sozialer Systeme 34
2.7.1 Anschlussfähigkeit und das Problem der doppelten Kontingenz 34
2.7.2 Erwartungen 35
2.7.3 Feste und lose Kopplung 36
2.8 Zirkuläre Kausalität und Systeme als Kreisläufe von Ereignissen 37
2.9 Bildung und Veränderung von Mustern 40
2.9.1 Muster- und Rollenbildung in sozialen Systemen 40
2.9.2 Homöostase 42
2.10 Emergenz 43
2.11 Interdependenz: die interne Vernetzung von Systemen 46
2.12 Information als Kernbegriff 48
2.13 System und Umwelt 50
2.14 Härtere und weichere Realitäten 52
2.15 Differenzierung und Integration 53
3 Die systemische Haltung 55
Joop Willemse und Falko von Ameln
II Kommunikation
4 Man kann nicht nicht kommunizieren 63
Joop Willemse und Falko von Ameln
4.1 Grundannahme 1: Man kann nicht nicht kommunizieren 64
4.2 Einige Beispiele 65
4.3 Nicht-Anschluss in der Kommunikation 67
4.4 Folgen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit 67
5 Vier Ebenen der Kommunikation: Sach-, Beziehungs-, Selbstkundgabe- und Appellebene 69
Joop Willemse und Falko von Ameln
5.1 Grundannahme 2: Jede Kommunikation hat einen Sach-, einen Beziehungs-, einen Selbstkundgabe- und einen Appellaspekt 71
5.2 Der Ton macht die Musik – zur Bedeutung des Kontextes für die Kommunikation 72
5.2.1 Situationen, in denen ein positives Beziehungsangebot die Kommunikation erleichtert 73
5.2.2 Situationen, in denen die Kommunikation auf der Beziehungsebene gestört ist 74
5.3 Der Unterschied zwischen impliziter und expliziter Metakommunikation 75
5.4 Die zentrale Bedeutung der Beziehungsebene 76
5.4.1 Die Beziehungsebene in den sozialen Berufen 77
5.4.2 Die Beziehungsebene in der Erziehung 77
5.5 Aufgaben- und prozessorientierte Beiträge 78
5.6 Vier Seiten der Nachricht 78
5.7 Feedback als Form von expliziter Metakommunikation auf der Beziehungsebene 80
5.8 Über die ideale Beziehung zwischen Aufgabe und Prozess 82
5.9 Sach- und Beziehungsebene in interkultureller Perspektive 83
5.10 Problementstehung und Problemlösung im Zusammenspiel von Sach- und Beziehungsaspekten 84
5.10.1 Rationalisierung 87
5.10.2 Psychologisierung 89
5.10.3 Lösungsorientierte Gesprächsführung in Konfliktsituationen 91
5.11 Folgen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit 93
6 Analoge und digitale Kommunikation 95
Joop Willemse und Falko von Ameln
6.1 Grundannahme 3: Kommunikation erfolgt analog und digital 96
6.2 Unterschiede zwischen analoger und digitaler Kommunikation 96
6.2.1 Analoge Repräsentationen beruhen auf einem Abbildungsverhältnis 96
6.2.2 Das Verhältnis von verbaler vs. nonverbaler zu analoger vs. digitaler Kommunikation 97
6.2.3 Analoge Kommunikation ist umfangreicher als digitale Kommunikation 97
6.2.4 Analoge Kommunikation ist älter als digitale Kommunikation 97
6.2.5 Die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten analoger und digitaler Kommunikation 98
6.2.6 Die Eindeutigkeit der Kommunikation 98
6.2.7 Die Beziehung zwischen analoger und digitaler Kommunikation und den Begriffen Inhalts- und Beziehungsebene 99
6.3 Von analog zu digital: Ein hartes Stück Arbeit 99
6.4 Das Ritual als „Brücke" zwischen analoger und digitaler Kommunikation 100
6.5 Kongruente und inkongruente Kommunikation 101
6.6 Folgen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit 102
7 Komplementäre und symmetrische Interaktionen 103
Joop Willemse und Falko von Ameln
7.1 Grundannahme 4: Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht 104
7.2 Die Konzepte „up und „down
105
7.3 Beispiele für komplementäre Interaktionen 106
7.4 Beispiele für symmetrische Interaktionen 106
7.5 Komplementarität und Symmetrie innerhalb längerer Beziehungsmuster 108
7.6 Komplementäre und symmetrische Interaktionen in Bezug auf die psychische Gesundheit von Menschen 109
7.7 Reziprozität oder Abwechslung von „up- und „down
-Positionen in komplementären Verhältnissen 110
7.8 Metakomplementäre Interaktionen und Beziehungen 110
7.9 Die gesellschaftliche Dimension komplementärer und symmetrischer Interaktionen 111
7.10 Implikationen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit 112
8 Die Interpunktion von Interaktion und Kommunikation 115
Joop Willemse und Falko von Ameln
8.1 Grundannahme 5: Menschen strukturieren Kommunikationsabläufe in Begriffen von Ursache und Wirkung oder von Aktion und Reaktion, ausgehend von ihren subjektiven persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen 116
8.2 Interpunktion als Konzept zur Analyse von Konfliktdynamiken 118
8.2.1 Interpunktion in der Praxis: Ein Beispiel 120
8.2.2 Die eigene Unschuld als typisches Merkmal für unsere Interpunktion 123
8.3 Der Begriff der Interpunktion im Rahmen des linear-kausalen Denkens 123
8.4 Die Wirklichkeit auf kreiskausale Weise sehen können: Eine zweite Definition von Interpunktion 124
8.5 Einige Beispiele von Interpunktionsunterschieden 125
8.6 Interpunktion ist mehr als eine kognitive Aktivität 126
8.7 Folgen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit 127
9 Paradoxe Kommunikation 129
Joop Willemse und Falko von Ameln
9.1 Grundannahme 6: Widersprüche und Paradoxien in der Kommunikation können verwirrende, destruktive und sogar krankmachende Wirkungen auf die Person haben, die dieser Kommunikation ausgesetzt ist 130
9.2 Das Konzept der Doppelbindung 130
9.3 Paradoxien der Kommunikation 131
9.4 Widersprüche der Kommunikation 132
9.5 Auswirkung von Doppelbindungssituationen 133
9.6 Die Existenzsicherheit als Kriterium 134
9.7 Folgen für Therapie, Beratung und soziale Arbeit 134
III Systemisches Arbeiten in der Praxis
10 Der systemische Werkzeugkoffer/systemische Methoden und Techniken 141
Joop Willemse und Falko von Ameln
10.1 Das Beratungssystem und die Gestaltung des Kontrakts 142
10.1.1 Typ „Kunde" 143
10.1.2 Typ „Klagender" 144
10.1.3 Typ „Besucher" 144
10.2 Fragetechniken 145
10.3 Beobachtungsaufgaben, Verschreibungen und das Prinzip der paradoxen Intervention 149
10.4 Umdeutung/Reframing 151
10.5 Reflecting Team 151
10.6 Arbeit mit Metaphern 153
10.7 Systemaufstellungen und verwandte Methoden 154
10.8 Rituale 155
10.9 Vermittlung kommunikativer Kompetenzen 156
10.10 Systemische Prozessarchitekturen in der Organisationsberatung 157
11 Familien 159
Joop Willemse und Falko von Ameln
11.1 Der systemische Blick auf Familien 160
11.2 Rollen und Positionen in Familien 163
11.2.1 Die Grenze zwischen verschiedenen Subsystemen der Familie 164
11.2.1.1 Zu starre Grenzen 164
11.2.1.2 Zu offene Grenzen 164
11.2.2 Der Sündenbock 165
11.2.3 Parentifizierung 166
11.2.4 Der Go-Between 167
11.2.5 Das Dramadreieck 168
11.3 Familienmythen und -geheimnisse 170
11.4 Offenheit vs. Geschlossenheit von Familiensystemen 172
11.5 Verborgene Loyalitäten in Familien 173
11.6 Der Lebenszyklus der Familie 175
11.7 Die Familie als Teil eines größeren Systems 176
11.8 Systemische Hilfen für Familien 177
11.8.1 Ist eine Familientherapie das Vorgehen der Wahl? 177
11.8.2 Der identifizierte Klient und der Kontrakt zwischen Berater und Familie 178
11.8.3 Das Familienklima und neue Wege der Kommunikation 179
11.8.4 Änderungen im Rollengefüge und der internen Grenzziehungen der Familie 180
11.8.5 Umdeutung von Situationen und Verhaltensweisen 182
11.8.6 Umformulierung von bestehenden Interpunktionen 182
12 Wohngruppen für Jugendliche 185
Joop Willemse
12.1 Leben in Wohngruppen 186
12.1.1 Jugendliche in Wohngruppen 186
12.1.2 Arbeitsweise in Wohngruppen für Jugendliche 187
12.1.3 Vergleich von Familien mit Wohngruppen 187
12.2 Rollen in Wohngruppen 187
12.2.1 Der Anführer 188
12.2.2 Der Spaßmacher oder Clown 189
12.2.3 Der Sündenbock 189
12.2.4 Das Gruppenmitglied, das ständig schikaniert wird 190
12.2.5 Einige andere Gruppenrollen 190
12.3 Einige Typen von Wohngruppen 190
12.3.1 Die Hochdruckgruppe 191
12.3.2 Die offene/geschlossene Gruppe 191
12.3.3 Die negative Gruppe 191
12.3.4 Die Gruppe mit zerstrittenen Subgruppen 192
12.3.5 Einige andere Gruppentypen 192
12.4 Systemdynamik in Wohngruppen 192
12.4.1 Imitation und Ansteckung 192
12.4.2 Die kollektive Enttäuschung 193
12.5 Folgen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit 193
12.5.1 Sieben Ausgangspunkte für die Arbeit mit Wohngruppen 194
12.5.2 Einige Interventionen in Wohngruppen 196
12.5.2.1 Beziehungsinterventionen 196
12.5.2.2 Strukturinterventionen 197
12.5.2.3 Intervention auf der Grundlage von Umdeutung 198
13 Organisationen 199
Falko von Ameln
13.1 Organisationen aus systemischer Sicht 200
13.1.1 Wer gehört zur Organisation? 201
13.1.2 Aufgaben- und Personenorientierung 202
13.1.3 Formale, informelle und latente Dimensionen der Organisation 203
13.1.4 Organisation und Selbstorganisation 206
13.1.5 Lokale Rationalitäten 207
13.2 Führung aus systemischer Sicht 209
13.2.1 Die Rolle von Führung in unterschiedlichen Organisationen 209
13.2.1.1 Organisationstypen 209
13.2.2 Natürliche Führung, Rollenmacht und die Machtlosigkeit der Führung 210
13.2.3 Führung in der neuen Arbeitswelt 211
13.3 Organisationaler Wandel 212
13.3.1 Organisationales Lernen 213
13.3.2 Vom Einmalereignis zur vorausschauenden Selbsterneuerung 214
13.3.3 Herausforderungen beim Change Management 215
13.4 Systemische Organisationsberatung 216
13.4.1 Ebenen systemischer Organisationsberatung 217
13.4.2 Methoden systemischer Organisationsberatung 218
Serviceteil221
Literatur222
Sach- und Personenregister225
ITheoretische Grundlagen des systemischen Ansatzes
Die Grundlagen des systemischen Ansatzes zu verstehen, ist nicht immer leicht. Das liegt zum einerseits, dass die ihm zugrundeliegende Systemtheorie sehr komplex und abstrakt ist, dadurch aber auch auf viele unterschiedliche und sehr weitreichende Fragestellungen eine Antwort geben kann. Andererseits entsprechen viele der systemischen Grundannahmen nicht unserem gewohnten Alltagsdenken – sie laden uns ein, die Welt aus einem ganz anderen (und nicht selten diametral entgegengesetzten) Blickwinkel zu betrachten. Systemisches Denken zu lernen ist daher eine Herausforderung, die uns zum einen intellektuell fordert, zum anderen aber auch unsere Bereitschaft voraussetzt, unsere bisherige Sicht der Dinge radikal in Frage zu stellen. Erleichtert wird diese Herausforderung durch den Umstand, dass sich systemische Ansätze in vielen Arbeitsfeldern immer mehr durchsetzen und daher viele Leser und Leserinnen zumindest ansatzweise schon einmal mit systemischem Denken in Berührung gekommen sein werden.
Wir haben versucht, die komplexe systemische Theorie einfach darzustellen und mit vielen Beispielen zu veranschaulichen, um diese Herausforderung zu erleichtern. Die Beschäftigung mit der systemischen Theorie lohnt sich, denn ohne ein fundiertes Wissen über die Grundannahmen lässt sich das konkrete systemische Vorgehen in der Praxis der Therapie, der sozialen Arbeit, der Organisationsberatung usw. (vgl. Kap. 11–13) nicht wirklich verstehen. Wichtiger als die einzelnen Interventionsmöglichkeiten ist aber die in Kap. 3 beschriebene systemische Haltung, die sozusagen das Herz und die Seele des Ansatzes darstellt. Auch sie kann man erst wirklich verstehen, wenn man das konstruktivistische Denken (vgl. Abschn. 1.2.2) verstanden hat, das den wichtigsten Grundpfeiler der systemischen Theorie darstellt.
Um den Zugang zu den theoretischen Grundannahmen zu erleichtern, werfen wir in Kap. 1 einen ersten Blick durch die systemische Brille, indem wir die Geschichte der in diesem Buch beschriebenen Ansätze nachzeichnen und dabei die Unterschiede zwischen systemischem Denken und anderen Denkrichtungen wie der Psychoanalyse, dem Behaviorismus oder dem humanistischen Ansatz herausarbeiten. Hier werden dann auch schon erste Grundprinzipien des systemischen Ansatzes deutlich.
In Kap. 2 stellen wir dann die wichtigsten Begriffe und Konzepte der Systemtheorie dar. Ein besonderes Anliegen dieses Buches ist es dabei, die beiden wichtigsten Schulen systemischen Denkens – die sogenannte Palo-Alto-Schule, die von der Offenheit von Systemen ausgeht, und die funktionale Systemtheorie Niklas Luhmanns, die Systeme unter dem Blickwinkel ihrer Geschlossenheit betrachtet – in ihrem Zusammenhang darzustellen. Da die beiden Ansätze vielfach unverbunden nebeneinanderstehen, versuchen wir Gemeinsamkeiten und Überschneidungspunkte, aber auch Unterschiede herauszuarbeiten.
Kap. 3 beschäftigt sich mit der systemischen Haltung. Eine Arbeit, die allen theoretischen Annahmen der Systemtheorie folgt und ein Feuerwerk systemischer Methoden entzündet, in der diese durch Wertschätzung, Eröffnung von Möglichkeitsräumen und Lösungsorientierung geprägte Haltung aber nicht für die Klient/innen spürbar wird, darf sich nicht zu Recht als systemisch bezeichnen.
Wir wünschen viel Spaß in der Welt des systemischen Denkens!
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018
Joop Willemse und Falko von AmelnTheorie und Praxis des systemischen Ansatzeshttps://doi.org/10.1007/978-3-662-56645-9_1
1. Ein erster Blick durch die systemische Brille
Joop Willemse¹ und Falko von Ameln²
(1)
UTRECHT, Niederlande
(2)
Norden, Deutschland
1.1 Traditionelle Theorien menschlichen Verhaltens
1.1.1 Die Psychoanalyse
1.1.2 Der Behaviorismus
1.1.3 Die humanistische Psychologie
1.2 Eine neue Perspektive auf den Menschen: Grundprinzipien des systemischen Ansatzes
1.2.1 Grundfragen der Systemtheorie
1.2.2 Der Mensch als Schöpfer seiner eigenen Wirklichkeit: Der Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage des systemischen Ansatzes
1.2.3 Lösungsorientierung
1.2.4 Denken in Zusammenhängen
1.2.5 Zirkuläre Kausalität
1.3 Geschichte der Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes
1.3.1 Die Kybernetik erster Ordnung
1.3.2 Die Kybernetik zweiter Ordnung
1.3.3 Weitere Ansätze
1.3.4 Systemtheoretisches Denken im deutschsprachigen Raum
1.4 Vergleich zwischen den traditionellen Theorien menschlichen Verhaltens und dem systemischen Ansatz
1.4.1 Individuum versus System
1.4.2 Nichtwahrnehmbares versus wahrnehmbares Verhalten
1.4.3 „Die Vergangenheit ist wichtig versus „Die Vergangenheit ist weniger wichtig
1.4.4 Was ist normal, was ist unnormal?
1.4.5 Lineare versus kreisförmige Kausalität
1.4.6 Wie verschiedene Theorien nebeneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen
1.5 Eine andere Theorieart – der Metacharakter der Systemtheorie
Literatur
Worum es geht
In diesem ersten Kapitel wird gezeigt, worin die Hauptmerkmale der Systemtheorie liegen und wie sie sich von anderen Theorien über menschliches Verhalten unterscheidet. Dabei werden die Geschichte der Systemtheorie und ihre Rezeption in den Sozialwissenschaften behandelt. Innerhalb der Sozialwissenschaften hat die Systemtheorie vor allem einen Platz in der Psychologie, der Sozialarbeit, der Pädagogik und den Organisationswissenschaften gefunden. Anwendungen zum Beispiel innerhalb der Soziologie, der Ökonomie oder der politischen Wissenschaft werden hier nicht näher betrachtet.
1.1 Traditionelle Theorien menschlichen Verhaltens
Das menschliche Verhalten ist so komplex, dass es keine universellen Erklärungsmuster mit Alleingeltungsanspruch geben kann. Seitdem sich die Psychologie als anerkannte Wissenschaft einen Platz in der Gesellschaft und in der wissenschaftlichen Welt erworben hat, haben sich verschiedene Schulen und Strömungen entwickelt, die alle eine jeweils eigene Sichtweise für die Erklärung des menschlichen Verhaltens vertreten. Drei von ihnen werden hier vorgestellt, um im Anschluss die Unterschiede und die neuartige Denkperspektive des systemischen Ansatzes herauszuarbeiten. Die Wahl dieser drei früheren Theorien ist selbstverständlich subjektiv. Andere Aufzählungen wären ebenso möglich gewesen. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir im Rahmen dieses Buches nur eine eingeschränkte Sicht auf Reichtum und Reichweite der vorgestellten Ansätze ermöglichen können.
1.1.1 Die Psychoanalyse
Sigmund Freud gilt als der Vater der Psychologie. Er wurde 1856 geboren und wohnte fast sein ganzes Leben lang in Wien, von wo die Nazis ihn 1938 – trotz seiner jüdischen Herkunft – auswandern ließen. Er starb 1939 in London. Freud hat eine Theorie und Therapiepraxis entwickelt, die später als Psychoanalyse bekannt wurde. Die Psychoanalyse besteht aus:
der psychoanalytischen Theorie,
der psychoanalytischen Therapie.
Was ist Psychoanalyse?
Die psychoanalytische Theorie behandelt die Dynamik der psychischen Prozesse des Menschen, die zum Teil unbewusst ablaufen und von Verdrängung und Abwehrmechanismen bestimmt werden. Diese Abwehrmechanismen dienen dazu, schmerzhafte oder beängstigende Bewusstseinsinhalte, deren Ursprung in sexuellen und aggressiven Trieben oder in frühkindlichen Traumata zu finden ist, zu unterdrücken.
Die psychoanalytische Therapie versucht, im Gespräch diesen verdrängten Bewusstseinsinhalten auf die Spur zu kommen. Durch die Deutung des Therapeuten soll der Klient zu neuen Erkenntnissen gelangen und schließlich einen besseren Umgang mit seiner Problematik lernen.
Freud benannte als erster verschiedene Phasen, die der Mensch vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen durchlaufen muss. Dabei unterschied er drei Entwicklungsphasen: die orale Phase, die anale Phase und die phallische oder genitale Phase. Wenn ein Kind eine Phase nicht erfolgreich durchläuft, wird es nach Freuds Überzeugung Defizite aus nicht völlig durchgearbeiteten Entwicklungsaufgaben in die darauffolgende Phase mitnehmen, was sich später als Persönlichkeitsstörung oder in Form psychischer Erkrankungen wie Angst oder Depression bemerkbar machen kann. Es ist also wichtig, die jeder Phase immanenten Entwicklungsaufgaben völlig zu durchlaufen, bevor der Übergang zur nächsten Phase vollzogen wird.
Ein zweites wichtiges Element der Psychoanalyse ist Freuds Persönlichkeitsmodell , das drei Elemente unterscheidet: das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Ich hat eine Koordinierungsfunktion. Es muss zwischen dem Es und dem Über-Ich lavieren. Im Es liegen die (z. B. sexuellen) Triebe und Impulse begründet, die das Handeln der Person prägen. Da das Individuum die Werte, Normen, Gebote und Verbote der Gesellschaft in seinem Über-Ich verinnerlicht hat, ist jedes individuelle Verhalten auch gesellschaftlich beeinflusst.
Ein dritter Aspekt der Freud‘schen Theorie – neben den genannten Entwicklungsphasen und dem Persönlichkeitsmodell – ist sein Interesse für das Unbewusste. Vor allem durch seine Forschungsarbeit zur Traumdeutung entdeckte Freud, dass neben unserem bewussten Erleben der Wirklichkeit noch vieles in uns existiert, dessen wir uns nicht bewusst sind. Entsprechend liegt ein wichtiges Ziel der psychoanalytischen Therapie darin, Menschen zu ermöglichen, sich mehr und mehr mit ihrem Unbewussten auseinanderzusetzen und sich zum Beispiel ihrer triebhaften Impulse oder anderer verdrängter Inhalte bewusst zu werden.
1.1.2 Der Behaviorismus
In den Vereinigten Staaten entwickelt sich um 1920 ein ganz anderer psychologischer Ansatz. Der Behaviorismus ist eine Theorie über menschliches Lernen . Danach sammelt der Mensch, der als Tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt, zur Welt kommt, von Geburt an Erfahrungen und lernt. Innerhalb des Behaviorismus existieren unterschiedliche Erklärungsansätze über die verschiedenen Arten und Weisen, wie Menschen lernen. Begriffe wie Konditionierung, Stimulus, Response und Bestätigung verweisen auf bewusste und unbewusste Lernprozesse, die dem menschlichen Verhalten zugrunde liegen.
Für die Verhaltenstherapie stellen die lerntheoretischen Mechanismen der Konditionierung, wie sie Pawlow und Skinner in ihren berühmten Experimenten erforscht haben, heute noch eine wichtige Grundlage dar, wenn es darum geht, erwünschtes Verhalten anzutrainieren und unerwünschtes Verhalten wieder abzulegen (wobei sich die Verhaltenstherapie zwischen 1960 und 1970 von der engen Bindung an den Behaviorismus löste und verstärkt die Rolle von Kognitionen als nichtbeobachtbare Vermittler zwischen Reiz und Reaktion einbezog). So können Phobien, Zwangserkrankungen und andere psychische Störungen oft erfolgreich mit Verhaltenstherapie behandelt werden.
1.1.3 Die humanistische Psychologie
In den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht eine neue Strömung innerhalb der Psychologie. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Möglichkeit des Menschen, zu wählen und sich zu entfalten. Die dem Humanismus zugrundeliegende philosophische Strömung, der Existenzialismus , dessen wichtigste Vertreter Sartre, Camus und de Beauvoir sind, betont die Freiheit und vor allem die Wahlfreiheit des Menschen.
Abraham Maslow , der bedeutendste Theoretiker des Humanismus, hat sich vor allem mit der Frage beschäftigt, wie Menschen die ihnen innewohnenden Möglichkeiten verwirklichen können und wo die Grenzen dieser Möglichkeiten liegen. Er entwarf dazu ein Modell, nach dem die menschlichen Grundbedürfnisse auf einer fünfstufigen Leiter angeordnet sind. Danach können sich Menschen erst dann einem „höherrangigen Bedürfnis zuwenden, wenn die Bedürfnisse auf den „niedrigeren Stufen befriedigt wurden. Die ersten vier Bedürfnisse (physiologische Bedürfnisse wie zum Beispiel Nahrung oder Schlaf, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse und individuelle Bedürfnisse wie Unabhängigkeit oder Status) nennt Maslow „Defizit- oder Mangelbedürfnisse
. Sie haben mit erfahrenen Mängeln und Defiziten zu tun, die stets aufs Neue nur vorübergehend befriedigt werden können.
Das letzte Bedürfnis jedoch, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung , ist von einer anderen Art, weil es nie wirklich befriedigt werden kann: Wenn Menschen anfangen, sich mit ihrer Selbstverwirklichung zu beschäftigen, steigen sie in einen Prozess ein, der kein Ende kennt.
Carl Rogers entwickelte die klientenzentrierte Gesprächstherapie, die davon ausgeht, dass der Klient seine Probleme durch eigene Einsicht und aus eigener Kraft wieder in den Griff bekommen muss. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Therapeut zunächst eine wohlwollende Atmosphäre schaffen, innenhalb welcher der Klient seine Geschichte verstehen und so Einsicht in seine Situation erlangen kann. Der Klient muss sich bestätigt fühlen, bedingungslos akzeptiert werden und sich der Empathie des Therapeuten sicher sein.
1.2 Eine neue Perspektive auf den Menschen: Grundprinzipien des systemischen Ansatzes
Der systemische Ansatz ist – ebenso wie die zuvor vorgestellten Ansätze – kein einheitliches und planvoll durchkonstruiertes Programm, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen Zusammenwachsens verschiedener theoretischer und praktischer Ansätze (einen kurzen Abriss der historischen Entwicklung geben wir in Abschn. 1.3). Bei aller Unterschiedlichkeit ist diesen Ansätzen gemeinsam, dass sie eine ganz neue Perspektive auf menschliches Handeln in seinem sozialen Kontext eröffneten. Die beiden zentralen theoretischen Instrumente, die diesen neuen Blick ermöglichen, sind
die Systemtheorie,
die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus.
Die wichtigsten Grundannahmen des systemischen Ansatzes lauten:
Kommunikation und Interaktion sind sich selbst organisierende Systeme; ihre Eigendynamiken lassen sich mit den Begrifflichkeiten der Systemtheorie beschreiben.
Der Mensch ist Schöpfer seiner eigenen Wirklichkeit. Das gilt für einzelne Menschen, die – nach einem Ausspruch von Moreno – Autor, Regisseur und Spieler ihres eigenen Dramas sind, aber auch für soziale Systeme (also Organisationen oder Familien), in denen Wirklichkeit gemeinsam konstruiert wird. Diese Umstellung von einer realistischen auf eine konstruktivistische Erkenntnistheorie (vgl. Abschn. 1.2.2) hat bedeutsame Folgen für Beratung, Therapie und soziale Arbeit: Die Wirklichkeit ist aus dieser Sicht nicht gegeben, sondern immer auch anders möglich.
Entsprechend dieser konstruktivistischen Perspektive ist auch das, was das Klientensystem in Therapie oder Beratung über sich erfährt, kein Ausdruck einer Wahrheit, sondern Ergebnis eines Beobachtungs- und Konstruktionsprozesses: Wer nach Problemen sucht, wird Probleme finden. Ein zu starker Fokus auf die Probleme kann oft zur Verfestigung der Probleme beitragen – man weiß dann genau, welche Probleme man hat, warum man sie hat und warum es schwierig ist, eine Lösung zu finden. In der systemischen Arbeit wird dieser Zustand als „Problem-Trance" bezeichnet. Wer dagegen nach Lösungen sucht, wird Lösungen erhalten. Systemische Therapie und Beratung versteht sich daher als lösungsorientiert – das Ziel besteht darin, die Klienten und Klientinnen dabei zu unterstützen, neue, hilfreichere Wirklichkeiten zu erschaffen. Langfristig kann so ein neuer, positiverer Fokus auf das eigene Leben erreicht werden – eine „Lösungs-Trance".
Menschliches Erleben und Handeln sind nie von ihrem sozialen Kontext abzulösen. Anders als die drei zuvor vorgestellten psychologischen