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Infantile Zerebralparese: Diagnostik, konservative und operative Therapie
Infantile Zerebralparese: Diagnostik, konservative und operative Therapie
Infantile Zerebralparese: Diagnostik, konservative und operative Therapie
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Infantile Zerebralparese: Diagnostik, konservative und operative Therapie

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About this ebook

Die Orthopädische Kinderklinik Aschau – mit Herrn Dr. Döderlein an der Spitze – ist ein bekanntes und renommiertes Haus, wenn es um Kinder mit Infantiler Zerebralparese geht. Sein Expertenwissen vermittelt Dr. Döderlein mit der „Infantilen Zerebralparese“, die nun in der 2. vollständig überarbeiteten und aktualisierten Auflage vorliegt. In die Behandlung von Patienten mit Infantiler Zerebralparese sind viele Berufsgruppen involviert. Übereinstimmend setzen die Therapien an den Problemen mit den Bewegungsorganen an, die das Krankheitsbild prägen. Bewusst spricht Dr. Döderlein alle Berufsgruppen an, die an der Versorgung der Patienten beteiligt sind - er möchte die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache fördern. Das Buch vermittelt das Wesentliche einer zielgerichteten Diagnostik und der konservativen und operativen Therapie. Neben der vergleichenden Darstellung der normalen und der pathologischen Entwicklung werden Ursachen, Diagnostik und Klassifikation der Gangstörungen beschrieben. Sie bieten Hilfestellung bei Entscheidungen in Bezug auf die Therapie. Neuestes aus der konservativen Therapie wird vorgestellt und die Operationen sind ausführlich beschrieben und bebildert. Einige Operationsdarstellungen sind für Elterngespräche gedacht, um an Hand der Bilder erklären zu können, was wie und warum operativ gemacht wird.

LanguageDeutsch
PublisherSpringer
Release dateMar 23, 2015
ISBN9783642353192
Infantile Zerebralparese: Diagnostik, konservative und operative Therapie

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    Infantile Zerebralparese - Leonhard Döderlein

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

    Leonhard DöderleinInfantile Zerebralparese10.1007/978-3-642-35319-2_1

    1. Einführung

    Leonhard Döderlein¹  

    (1)

    Orthopädische Kinderklinik, Behandlungszentrum Aschau GmbH, Orthopädische Kinderklinik, Aschau im Chiemgau, Deutschland

    Leonhard Döderlein

    Email: l.doederlein@bz-aschau.de

    Literatur

    Die Therapie der infantilen Cerebrallähmung ist ein armseliges und trostloses Capitel sowohl an sich als im Vergleiche zu dem mächtigen klinischen Interesse, welches diese Affectionen erregen. (Freud 1897, S. 310)

    Die Behandlung der Spastiker ist nach der Ansicht der meisten Orthopäden etwas ganz Trostloses. (Haglund 1923, S. 632)

    Die zerebralen Kinderlähmungen gehören meines Erachtens sowohl bezüglich der Analyse ihrer Symptome wie bezüglich der Therapie zu den kompliziertesten Krankheitszuständen, mit welchen sich der Orthopäde zu befassen hat. (Silfverskiöld 1924, S. 1)

    Cerebral palsy is a disease which permeates the entire fabric of the child’s life – and that of the parents and siblings. (Clement B. Sledge 1979, S. VI)

    Diese Zitate bleiben zeitlos, da wir es bei der infantilen Zerebralparese mit einer überaus komplexen Materie zu tun haben, die keineswegs eine Erkrankung oder eine isolierte Störung mit der Beschränkung auf eine oder mehrere Körperregionen oder ein Körpersystem repräsentiert. Dieses Krankheitsbild betrifft von ihren leichtesten bis zu den schwersten Ausprägungsformen immer zugleich das efferente und das afferente Nervensystem. Die frühe Schädigung des Gehirnes erfasst als gemeinsame Ursache ein unreifes zentrales Nervensystem (ZNS) mit der zwangsläufigen Folge von Störungen in der normalen motorischen Entwicklung.

    Obwohl besonders bei den schwerer Betroffenen auch andere Körpersysteme mit einbezogen sind, steht der Haltungs- und Bewegungsapparat doch für die meisten Disziplinen im Vordergrund. Er stellt gewissermaßen das Ausführungs- und das Endorgan der zentralen Fehlsteuerung dar, und er ist ständigen Änderungen unterworfen, da die Störung auf ein wachsendes und sich stetig anpassendes biologisches System trifft. Jede Beschäftigung mit diesem Krankheitsbild erfordert deshalb weitaus mehr als nur die kompetente Berücksichtigung der lokalen Probleme wie z. B. eines spastischen Spitzfußes oder einer spastisch-paralytischen Hüftgelenkluxation oder einer Skoliose. Sie muss neben der Pathogenese der vorhandenen Deformitäten das Alter und den jeweiligen Entwicklungsstand des Patienten sowie seine Bedürfnisse und Möglichkeiten in einem sich ständig wandelnden Umfeld beachten.

    Der ZNS-Schaden ist bei der infantilen Zerebralparese definitionsgemäß als nichtprogrediente Störung anzusehen. Gleichwohl ändern sich seine Auswirkungen auf die Steuerungs- und Bewegungsfunktionen mit den ununterbrochen wirkenden Einflüssen des Wachstums und der Umgebung kontinuierlich (Saint Hilaire et al. 1991; Scott und Jankovic 1996). Diesem Umstand eines ständig im Fluss befindlichen Systems muss auch die Therapie Rechnung tragen. Sie sollte befundgerecht, situationsangepasst und zielorientiert sein und muss die veränderte Steuerung miteinbeziehen, d. h. den afferenten und den efferenten Schenkel der Störung. Außerdem muss ein erzieherisch-sozialer Aspekt mit in die Behandlung integriert werden. Ein sich kontinuierlich ändernder Zustand bedarf regelmäßiger Kontrollen , um eventuelle ungünstige Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und die Behandlungsziele und -methoden abhängig vom aktuellen Befund ggf. neu zu definieren oder zu modifizieren (Scrutton 1984b). Ein Kind, ein Jugendlicher und ein Erwachsener mit Zerebralparese unterscheiden sich sowohl bezüglich der Dynamik ihrer Entwicklungsschritte und Funktionsstörungen als auch bezüglich ihrer therapeutischen Zielsetzungen und Bedürfnisse grundlegend voneinander.

    Der Haltungs- und Bewegungsapparat wirkt als das Ausführungsorgan der zentralen Fehlsteuerung im Rahmen einer Zerebralparese. Er ist dabei den geänderten zentralen Impulsen (gestörte Efferenzen) unterworfen, die über die resultierende periphere Funktionsstörung gleichzeitig auch wieder geänderte Informationen aus der Peripherie an die Zentrale zurücksendet (gestörte Afferenzen). Dadurch kommen unphysiologische Aktivierungen zustande, die veränderte Wachstums- und Belastungsreize setzen. Entsprechend kommt es zu ständigen Anpassungsreaktionen des Bewegungsapparates.

    Jeder, der sich mit der infantilen Zerebralparese beschäftigt, sollte die Grenze zwischen einer Kompensation und einer Dekompensation am Haltungs- und Bewegungssystem kennen. Nicht die Normalität, sondern der im Einzelfall bestmöglich erreichbare Funktionszustand muss die Richtschnur für unser therapeutisches Handeln sein. In diesem Sinne gelingt uns derzeit leider nur die bescheidene Einflussnahme auf die peripheren Auswirkungen des zentralen Schadens, kaum jedoch eine direkte Beeinflussung der gestörten Steuerung.

    Literatur

    Freud S (1897) Die infantile Cerebrallähmung. A. Hölder, Wien

    Haglund P (1923) Über die spastischen Zustände von orthopädischen Gesichtspunkten. In: Haglund P, Popper R (Hrsg) Die Prinzipien der Orthopädie: Versuch zu einem Lehrbuch der funktionellen Orthopädie. G. Fischer, Jena, S 629–670

    Saint Hilaire MH, Burke RE, Bressman SB et al (1991) Delayed onset dystonia due to perinatal or early childhood asphyxia. Neurology 41:216–222CrossRefPubMed

    Scott BL, Jankovic J (1996) Delayed onset progressive movement disorders after static brain lesions. Neurology 46:68–74CrossRefPubMed

    Scrutton D (1984a) Management of the motor disorders of children with cerebral palsy. Clinics in developmental medicine no. 90. Spastics international. Blackwell, Oxford

    Scrutton D (1984b) Aim oriented management. In: Scrutton D (Hrsg) Management of the motor disorders of children with cerebral palsy. Clinics in developmental medicine no. 90. Spastics international. Blackwell, Oxford, S 49–58

    Silfverskiöld NO (1924) Orthopädische Studie über Hemiplegia spastica infantilis. Acta chirurgica Scandinavia. Supplementum V.P.A. Norstedt & Söner, Stockholm

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

    Leonhard DöderleinInfantile Zerebralparese10.1007/978-3-642-35319-2_2

    2. Normale Entwicklung, Anatomie und Funktion

    Leonhard Döderlein¹  

    (1)

    Orthopädische Kinderklinik, Behandlungszentrum Aschau GmbH, Orthopädische Kinderklinik, Aschau im Chiemgau, Deutschland

    Leonhard Döderlein

    Email: l.doederlein@bz-aschau.de

    2.1 Skelettsystem

    2.1.1 Entwicklung

    2.1.2 Wachstum und Heilung

    2.1.3 Funktion

    2.1.4 Biomechanik

    2.1.5 Zusammenfassung

    2.2 Muskelsystem

    2.2.1 Entwicklung

    2.2.2 Wachstum und Anpassung

    2.2.3 Anatomie und Funktion

    2.2.4 Biomechanik des Muskel-Sehnen-Komplexes

    2.3 Nervensystem

    2.3.1 Entwicklung und Reifung

    2.3.2 Funktion

    2.3.3 Motorische Entwicklung

    Literatur

    Grundlage jedes Pathologieverständnisses ist die Kenntnis von normalem Wachstum , physiologischer Entwicklung, normaler Funktion und ihren Grenzen. Für den Haltungs- und Bewegungsapparat betrifft dies die Trias Skelettsystem, quer gestreifte Muskulatur und als Steuerungsebene das zentrale Nervensystem. Das Wachstum wird durch das Nervensystem über die Hypothalamus-Hypophysen-Achse reguliert. Verschiedene Hormonsysteme wie das Wachstumshormon, das Schilddrüsenhormon, das Insulin und die Geschlechtshormone sind eng am Wachstum beteiligt. Daneben haben auch Ernährungs- und Stoffwechselfaktoren einen wesentlichen Anteil (Brown und Minns 1989). Genetische Programme bestimmen die individuelle Art zu wachsen.

    2.1 Skelettsystem

    Das menschliche Skelett bildet mit seinem Knochengerüst, seinen gelenkigen Verbindungen und den Bindegewebsbestandteilen den (passiven) Stütz- und Bewegungsapparat. An seiner Zusammensetzung sind Knochengewebe, Knorpelgewebe und Bindegewebe (besonders als kollagenes Bindegewebe) beteiligt. Der Bewegungsapparat hat die Funktion der Widerstandsleistung gegen mechanische Beanspruchungen (Schwerkraft, Druck-, Zug- und Scherkräfte) und bildet damit im Gegensatz zur Muskulatur den passiven Teil (Kummer 2005). Außerdem erfüllt das Skelett wichtige Schutzfunktionen (Schädel, Spinalkanal, Thorax, Beckenring) und überträgt Muskelaktivität in Haltungs-, Dämpfungs- und Bewegungsimpulse. Schließlich hat das Skelettsystem auch eine wichtige Funktion bei der Elektrolythomöostase (Kalzium- und Phosphatstoffwechsel, Jerosch et al. 2002).

    2.1.1 Entwicklung

    Die embryonale Skelettentwicklung wird durch eine festgelegte Gensequenz bestimmt (Fauré und Fessard 2002). Dabei spielen die verschiedenen Hox-A-D-Gruppen eine wichtige Rolle für die kraniokaudale Entwicklung des Achsenorganes und die proximodistale Extremitätenentwicklung.

    Die Entwicklung des Skelettsystems vollzieht sich in der Embryonalperiode aus undifferenzierten Mesenchymzellhaufen, die zu Beginn in den Extremitätenknospen noch ohne jede spezifische Funktion sind. Diese Zellen haben alle das Potenzial, sich durch entsprechende Stimuli in die verschiedenen Zelllinien zu differenzieren und können so zu Chondrozyten, Osteoblasten, Fibroblasten, Adipozyten oder Myoblasten werden (Shapiro 2001).

    Während der Embryogenese des Skelettsystems entwickeln sich das Achsorgan und der Thorax ab der 4.–5. Embryonalwoche aus Somiten, die durch spezifische mesenchymale Einfaltungen und Kondensationen die Wirbelsäule mit dem Spinalkanal formen, der um das Rückenmark reicht. Die knorpelige Anlage der Wirbelkörper erfolgt in kraniokaudaler Richtung. Ihre Ossifikation beginnt ab der 8. Embryonalwoche von dorsal her (Abb. 2.1). Das Neurokranium (Hirnschädel) entwickelt sich durch knorpelige und membranöse Ossifikationsmechanismen. Die Knochen des Viszerokraniums (Gesichtsschädel) entstehen über die membranöse Ossifikation.

    A141299_2_De_2_Fig1_HTML.jpg

    Abb. 2.1

    Darstellung eines menschlichen Embryos von 7 Wochen mit den sich entwickelnden Extremitäten. (Aus Testut und Jacob 1931)

    Die ersten oberen Extremitätenknospen erscheinen mit etwa 26 Tagen und damit 4 Tage vor den unteren. Um den 36. Tag der Entwicklung entstehen im Zentrum der Extremitätenknospen mesenchymale Zellkondensationen, die bereits in 3 Segmente zerfallen und aus denen ab der 7. Woche die Humerusossifikation beginnt. Der Verknöcherungsprozess schreitet in kraniokaudaler und proximodistaler Richtung fort und spart nur die Fußwurzel (Ossifikationsbeginn mit 5 Monaten) und die Handwurzel aus (Ossifizierung beginnt erst postnatal). Die Gelenkentwicklung wird über eine mesenchymale Höhlenbildung mit 2 getrennten Knorpelenden zwischen der 8. und der 10. Lebenswoche eingeleitet. Diese Höhlenbildung schreitet von der Peripherie nach zentral hin fort und findet zunächst unabhängig von jeder Muskelaktivität statt. Demgegenüber stehen die weitere Ausdehnung der Gelenkkapsel und die anschließende intrauterine Entwicklung der Gelenke ganz unter dem Einfluss der fetalen Bewegungen (Fauré und Fessard 2002).

    Interessanterweise gibt es eine große Spielbreite im radiologischen Erscheinungsdatum der fetalen ossären Skelettelemente (Fauré und Fessard 2002). Als besonders repräsentativ gelten dabei das Sitzbein, Anteile des Ellbogens und einzelne Schädelknochen, die alle erstmals mit 16–17 Wochen radiologisch sichtbar werden. Die ersten Epiphysenkerne erscheinen am Knie im letzten Fetalmonat.

    Als kausale Histogenese bezeichnet Friedrich Pauwels (zit. nach Kummer 2005) den Vorgang, bei dem sich spezifische Gewebe unter dem Einfluss genau definierter Umweltreize weiter differenzieren (Kummer 2005).

    Das Bindegewebe besteht aus Zellen (Fibroblasten und Fibrozyten) und einer reichlich vorhandenen Interzellularsubstanz mit faserigen Strukturen. Die Bildung von Kollagenfasern folgt auf mechanische Druck- und Zugreize. Kollagenfibrillen sind als erste Differenzierungsformen des Bindegewebes in allen höheren Differenzierungsstufen (Knochen, Knorpel) enthalten.

    Neben Kollagenfasern können in den Bindegewebsstrukturen des Bewegungsapparates auch elastische Fasern gefunden werden. Das Knorpelgewebe stellt eine weitere Differenzierungsstufe des Mesenchyms dar. Hyaliner Knorpel bildet die Vorstufen des Skeletts und verknöchert mit dem Wachstum zunehmend, bis er schließlich nur mehr an den Gelenkenden als Gelenkknorpel übrig bleibt.

    Der spezifische Reiz für die Bildung von Knochengewebe wird durch elastische Verformungen des Stützgerüstes und der ihm anliegenden Zellen erreicht. Knochengewebe entsteht immer auf der Grundlage eines bereits vorhandenen Stützgewebegerüstes, das aus Bindegewebe oder Knorpel bestehen kann (desmale bzw. chondrale Ossifikation, Kummer 2005). Nach Jerosch et al. (2002) vollzieht sich die Knochenbildung in folgenden Schritten: Vorläuferzellen (Stammzellen, Osteoprogenitorzellen), Proliferation dieser Zellen, Differenzierung von Präosteoblasten in Osteoblasten, Ablagerung von organischer Matrix, Mineralisierung, Umbauvorgänge (Remodellierung).

    2.1.2 Wachstum und Heilung

    Das Skelettwachstum ist durch 2 Mechanismen gekennzeichnet: das Längen- und das Dickenwachstum. Das Längenwachstum findet an den Enden der langen Röhrenknochen im Bereich der Epiphysenfugen statt. Es ist durch einen stetigen Ersatz nachwachsender Knorpelzellen in den Wachstumsfugen durch Knochen charakterisiert (sog. endostale Ossifikation ). Die Knorpelzellen vermehren sich dabei durch ein interstitielles Wachstum auf der epiphysären (peripheren) Seite der Knochen, während der Knorpel auf der metaphysären Seite (zum Zentrum hin gerichtet) kalzifiziert und durch Knochen ersetzt wird (Abb. 2.2).

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    Abb. 2.2

    Die Ossifikationsentwicklung des Humerus mit den typischen Epiphysenfugen. (Aus Curveilhier 1871)

    Die Wachstumsgeschwindigkeit unterliegt dabei genetischen, endokrinen, metabolischen und nutritiven Faktoren. Das Schilddrüsenhormon und die Geschlechtshormone bestimmen u. a. den Zeitpunkt des Erscheinens der Ossifikationszentren und sorgen zum Wachstumsende für den Verschluss der Epiphysenfugen. Das röntgenologische Auftreten von Ossifikationskernen an Hand und Ellbogen wird auch als Kriterium für die Bestimmung des Knochenalters herangezogen (Greulich und Pyle 1959; Charles et al. 2005). Das Wachstum wird in erster Linie durch biomechanische und hormonelle Einflüsse geregelt. Dazu zählen lokal wirksame Wachstumsfaktoren wie die Bone Morphogenic Proteins (BMP) sowie die Transforming Growth Factors (TGF) und der Tissue Growth Factor-β (Jerosch et al. 2002). Der Zeitpunkt des Wachstumsabschlusses ist genetisch determiniert und hängt auch von der Lokalisation der Wachstumsfugen, dem Geschlecht und einzelnen Reifungsfaktoren ab.

    Das ossäre Dickenwachstum ist an eine appositionelle periostale Knochenneubildung geknüpft. Das Periost ist nur an den Epiphysenfugen festgewachsen. Dazwischen erfährt es durch den Wachstumsreiz eine kontinuierliche Dehnung. Neuer Knochen wird über die Kambiumschicht gebildet (sog. periostale Ossifikation). Jede Knochenneubildung ist an eine intakte Periosthülle gebunden.

    Die Wirbelsäule ändert ihre äußere Form mit der motorischen Entwicklung. Aus einer globalen Kyphose zur Geburt entsteht mit dem Erwerb der Kopfkontrolle zuerst die Halslordose, gefolgt von der Brustkyphose zusammen mit der Sitzfunktion. Erst mit dem Beginn der Vertikalisierung tritt die Lumballordose als kompensatorische Folge einer Hüftbeugerverkürzung hinzu (Abb. 2.3).

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    Abb. 2.3

    Die Ausbildung der physiologischen Wirbelsäulenkrümmungen folgt der motorischen Entwicklung bis zur Vertikalisierung. (Aus Schmidt 1903)

    Es ist interessant, wie unterschiedlich sich die Längenverhältnisse der Extremitäten und der Wirbelsäule in ihrem Wachstum verhalten. Mit 1 Jahr hat die Wirbelsäule bereits die Hälfte ihrer endgültigen Länge erreicht, während die Extremitäten erst deutlich später an Länge gewinnen (Buckup 1987). So wächst ein Kind in den ersten 4 Lebensjahren besonders rasch und wird proportional auch schwerer. Zwischen dem 5. und dem 8. Lebensjahr kommen jährlich 4–6 cm an Länge hinzu, bei eher geringerer Gewichtszunahme. Ein weiterer Wachstumsschub vollzieht sich präpubertär zwischen dem 9. und dem 12. Lebensjahr, gefolgt vom pubertären Wachstumsschub mit einer stärkeren Längenzunahme im Bereich der Extremitäten. Das Längenwachstum ist bei Mädchen meist zwischen dem 14. und dem 16. Lebensjahr, bei Knaben dagegen erst um das 16.–18. Lebensjahr abgeschlossen (Abb. 2.4).

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    Abb. 2.4a,b

    Typische Verlaufskurven des Körperlängenwachstums und des Körpergewichtes bei Knaben und Mädchen von 0–18 Jahren. (Mit freundlicher Genehmigung der Pfrimmer Kabi GmbH, Erlangen)

    Interessant ist auch der unterschiedliche Beitrag der Epiphysen zum Längenwachstum. So gilt, dass gut 2/3 des Längenwachstums am Femur an den kniegelenknahen Epiphysen stattfindet, während das proximale Femur 1/3 beiträgt.Die proximale Tibia steuert 60 % und die distale Tibia etwa 40 % dazu bei. Spezielle Wachstumskurven erlauben einen Vergleich der aktuellen Körperlänge mit Normdaten.

    Die Kombination von mechanischer Belastung und körperlicher Aktivität führt im Kindesalter zu einer Verdichtung der Knochenstruktur , wobei intermittierende Belastungsreize effektiver sind als eine statische Gewichtsbelastung (Lanyon und Rubin 1984; Biewener und Bertram 1994; Mc Kelvie et al. 2002). So ist auch leicht verständlich, dass eine motorische Einschränkung in reduzierter Knochenmasse resultiert. Nach Kermoian et al. (2006) ist die Knochendichte frei gehfähiger Kinder am größten, gefolgt von Kindern mit eingeschränkter Gehfunktion. Bei den nicht gehfähigen Kindern führt eine regelmäßige Gewichtsbelastung, z. B. mit einem Stehgerät, zu höherer Knochendichte als die ausschließliche Sitz- und Liegeposition.

    Gerade im Zeitraum um den pubertären Wachstumsschub scheint eine regelmäßige intermittierende Belastung für die Entwicklung einer ausreichenden Skelettdichte besonders bedeutsam zu sein (Petit et al. 2002; Kermoian et al. 2006).

    Die Gelenkentwicklung vollzieht sich durch den Einfluss der Muskelkräfte und der Schwerkraft kontinuierlich über die Wachstumsperiode hinweg. Die normale Gelenkfunktion ist an ein morphologisches Korrelat gebunden (Abel et al. 1994).

    Die Knochen-(fraktur-)heilung vollzieht sich in definierten Schritten als primäre und als sekundäre Frakturheilung (Jerosch et al. 2002). Zu den Faktoren, die die Frakturheilung beeinflussen, zählen lokale und allgemeine Mechanismen:

    Die Frakturheilung beeinflussende Faktoren

    Lokale Faktoren

    Art der Fraktur (offen oder geschlossen)

    Blutversorgung

    Knochenart

    Art der Ruhigstellung

    Allgemeine Mechanismen

    Alter

    Knochendichte

    Hormonelle Störungen

    Skelettdysplasien

    Ernährung

    Medikamente wie Kortison etc.

    Die primäre Frakturheilung vollzieht sich aus einem innigen Knochenkontakt durch Kontaktheilung oder Spaltheilung mit Geflechtknochen. Die Heilungsdauer ist länger als bei der sekundären Frakturkonsolidierung. Hier entsteht aus dem Frakturhämatom ein kollagenreiches Granulationsgewebe, das sich vom Periost und vom Endost her verfestigt. Aus einer Knorpelmatrix, die zunehmend mineralisiert, entsteht Osteoid, das sich unter Mineralisierung zu Geflechtknochen umwandelt. Dieser verkleinert sich und baut sich unter dem wechselnden Belastungsreiz schließlich zu Lamellenknochen um (Jerosch et al. 2002).

    2.1.3 Funktion

    Das Skelettsystem ist als überaus anpassungsfähige Struktur typischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Der Skelettstoffwechsel wird über die Osteoblasten, Osteoklasten und Osteozyten geregelt. Eine besonders wichtige Grundlage ist das Hueter-Volkmann-Gesetz (Carl Hueter, 1838–1882, Richard von Volkmann 1830–1889), das besagt, dass übermäßiger Druck wachstumshemmend wirkt und damit zu einem asymmetrischen Wachstum führt. Dies gilt entsprechend für alle Deformitäten und lässt sich besonders anschaulich an der Wirbelsäule (z. B. bei Skoliose, Kyphose), aber auch an den Extremitäten (z. B. beim Genu varum und valgum) zeigen. Daneben erzeugt eine distrahierende Kraft eine Wachstumsstimulation.

    Unzureichende Belastung verzögert das Skelettwachstum. Das Wolff-Gesetz (Julius Wolff, 1836–1902, Gesetz der Transformation der Knochen) besagt, dass jede Veränderung der Knochenform und der Knochenfunktion oder der Knochenfunktion allein von spezifischen und definierten Veränderungen der inneren und äußeren Knochenstruktur gefolgt ist und dass sich diese Veränderungen nach strengen mathematischen Gesetzmäßigkeiten vollziehen. Dies bedeutet, dass die innere wie die äußere Knochenstruktur Folge der Funktion sind und dass sich unter pathologischen Bedingungen Struktur und Form entsprechend der abnormen Krafteinwirkung ändern.

    Vermehrter Druck bis zu einem gewissen Grad bringt die Knochensubstanz nicht zum Schwund, sondern zu vermehrter Ausbildung. Eine Druckbelastung über das physiologische Maß hinaus bewirkt den Schwund von Knochensubstanz (Roux 1893; Le Vay 1990). Wolff beschrieb, dass die Änderung der Belastung eine Änderung der Knochenform nach sich zieht (Transformationskraft, Abb. 2.5).

    A141299_2_De_2_Fig5_HTML.gif

    Abb. 2.5a–c

    Die Veränderung der äußeren und inneren Knochenstruktur folgt den auf den Knochen einwirkenden Kräften (Aus Wolff 1884, Bildrechte: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin). a Adaptation der inneren Knochenstruktur an die veränderte Belastung durch die äußere Achsabweichung, b Spongiosastruktur bei normaler Knochenform, c typische asymmetrische Hüftkopfentwicklung bei einer Windschlagdeformität: Während die abduzierte Seite sphärisch entwickelt ist, deformiert sich die adduzierte Seite zunehmend.

    Eine weitere Gesetzmäßigkeit stammt von Wilhelm Roux (1850–1921; Roux 1893). Sie besagt, dass ein Organ dann an seine spezifische Funktion angepasst ist, wenn es ein Maximum an Leistung mit einem Minimum an Material erreicht (sog. Maximum-Minimum-Gesetz ). Roux bezeichnet diesen Vorgang als „Anpassung an die Funktion durch Ausübung derselben".

    Das Gesetz von Delpech (Jacques Mathieu Delpech 1777–1832) besagt, dass Distraktion das Wachstum stimuliert und dass Muskelungleichgewichte zu Deformitäten führen (zit. nach Wenger und Rang 1993).

    Voraussetzungen für eine ungestörte Skelettentwicklung sind neben der gleichmäßigen Belastung die freie Beweglichkeit der Gelenke, deren regelmäßige muskulär geführte Bewegung sowie ein intaktes endokrines und Stoffwechselsystem.

    Eine physiologische Knochenform und -festigkeit und eine reguläre Gelenkform sind von normaler motorischer Aktivität, Gelenkbeweglichkeit, Schwerkraft und Muskelkraft abhängig. So formen sich der Schenkelhals, das Kniegelenk und das obere Sprunggelenk mit der physiologischen Gangentwicklung in typischer Weise um. Die Antetorsion des Schenkelhalses nimmt von 31° zur Geburt mit der Zeit auf 15° ab, während die Außenrotation des Unterschenkels um etwa 12–15° zunimmt (Bleck 1987, Skinner 1994; Exner 2003). Ähnliche Veränderungen erfahren die Kniegelenke in der Frontalebene, die sich von der Varus- (bis zum 2. Lebensjahr) über die Valgus- (3.–5. Lebensjahr) hin zur Normalachse entwickeln. Auch die Fußform ändert sich mit dem Wachstum kontinuierlich (Staheli 1992).

    2.1.4 Biomechanik

    Als Mechanik wird die Lehre von Kräften und Bewegungen bezeichnet. Teilgebiete sind die Dynamik (Statik und Kinetik) und die Kinematik. Die Biomechanik wendet die Gesetze der Mechanik auf biologische Strukturen an (Kummer 2005) und beschreibt die Funktionen des passiven und des aktiven Bewegungsapparates.

    Aufgabe der Biomechanik ist es, unter Berücksichtigung der physikalischen Grundlagen den Beitrag der Bestandteile des Bewegungsapparates für die Stabilität und die Mobilität zu beschreiben und zu erforschen (Norkin und Levangie 1992).

    Kummer (2005) gibt uns eine leicht fassbare Definition: Die Mechanik des menschlichen Körpers wird als Biomechanik bezeichnet und besteht aus den Teilbereichen der Kinematik und der Kinetik.

    Kinematik

    Als Kinematik bezeichnet man die Beschreibung der Bewegungen von Körpersegmenten ohne Berücksichtigung der Kräfte, die diese Bewegungen verursachen.

    Kinetik

    Die Kinetik beschäftigt sich mit den Kräften, die Bewegungen hervorrufen oder ein Kräftegleichgewicht aufrechterhalten. Nach Özkaya und Leger (2012) dienen die Grundlagen der Statik für die Beschreibung der Art und Größe von Kräften, welche in Gelenken und Muskeln erzeugt werden. Die Gesetze der Dynamik finden bei den verschiedenen Arten der Bewegungsanalyse Verwendung. Zum besseren Verständnis werden nachfolgend die wichtigsten Begriffe der Biomechanik erklärt. Für weitere Informationen sei auf spezielle Literatur verwiesen (Nordin und Frankel 2012; Jones und Barker 1996).

    Kräfte werden durch ihre Größe, ihre Richtung und ihren Angriffspunkt beschrieben. Sie können einzeln oder kombiniert (linear, parallel oder als Kräftepaar) auftreten. Sie können gegensätzlich oder parallel angreifen. Wenn mehrere Kräfte gleichzeitig an einem Objekt ansetzen, lässt sich eine (Kraft-)Resultierende berechnen. Ein Kräfteparallelogramm entsteht aus der Summe von 2 an einem Punkt ansetzenden Kräften (Abb. 2.6).

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    Abb. 2.6

    Darstellung eines Kräfteparallelogramms am Beispiel des Oberarmbeugers. S Sehne, M Muskel. (Adaptiert nach Schmidt 1903)

    Bewegung und Kräfte sind eng miteinander gekoppelt. Jede Bewegung beinhaltet einen Ortswechsel, der linear, rotatorisch oder kurvenförmig stattfinden kann. Dazu sind die 3 Newton-Gesetze wesentlich:

    1. Newton-Gesetz (Trägheitsprinzip): Der Körper verbleibt in Ruhe oder uniformer Bewegung, bis eine Kraft auf ihn einwirkt. Eine Kraft ist erforderlich, um eine Bewegung zu beginnen, zu stoppen oder zu ändern. Die Schwerkraft und die Trägheit sind dabei immer zu bedenken.

    2. Newton-Gesetz (Aktionsprinzip): Der Wechsel eines Körpermomentes hängt proportional von der einwirkenden Kraft ab (Größe und Richtung). Die Beschleunigung ist umgekehrt proportional zur Masse. Das Moment errechnet sich aus dem Produkt von Masse und Geschwindigkeit.

    3. Newton-Gesetz (Reaktionsprinzip): Zu jeder einwirkende Kraft existiert eine ebenso große Gegenkraft (Actio = Reactio). Die Kraft beruht auf einer Wechselwirkung zwischen Objekt und Umwelt. In dieser Hinsicht ist die Bodenreaktionskraft beim Gehen und Springen zu sehen.

    Hebel dienen der Kraftübertragung zum Zwecke der Kraftverstärkung (Kraftarm länger als Lastarm), zur Änderung von Bewegungen (Lastarm länger als Kraftarm), zur Herstellung eines Kräftegleichgewichtes (Kraftarm = Lastarm) und zur Änderung der Kraftwirkungslinie (Barham 1982). Man unterscheidet je nach der Anordnung von Drehpunkt, Kraftangriffspunkt und Widerstand (Lastangriffspunkt) 3 Arten von Hebeln:

    Hebel 1. Klasse: Der Drehpunkt liegt zwischen Kraftangriffspunkt und Widerstand (Plantarflektoren am oberen Sprunggelenk [OSG]).

    Hebel 2. Klasse: Der Widerstand liegt zwischen dem Drehpunkt und dem Kraftangriffspunkt (Kniebeuger als Hüftstrecker).

    Hebel 3. Klasse: Die Kraft wirkt zwischen Widerstand und Drehpunkt (Bizeps am Ellbogen, Hüftbeuger; häufigster Hebeltyp, Low und Reed 1996).

    Die Länge der Muskelmomentarme ist im Verhältnis zur Länge der Skeletthebel stets kurz, weshalb die Kräfte stets groß sein müssen. Der Vorteil liegt darin, dass kleine Bewegungen große Ausschläge zur Folge haben (Abb. 2.7). Jedem Hebel ist ein Drehmoment eigen, das von der Größe der einwirkenden Kraft und dem Momentarm abhängt, welcher dem senkrechten Abstand der Kraft vom Drehpunkt entspricht. „Umlenkrollen werden im Körper zur Richtungsänderung einer einwirkenden Kraft eingesetzt (Abb. 2.8). Schwerkräfte wirken auf den Körperschwerpunkt („center of gravity). Die Lage des Schwerpunktes wechselt mit jeder Haltungsänderung. Beim Stehen liegt er vor dem 2. Sakralwirbel. Man kann auch den Schwerpunkt verschiedener Körpersegmente bestimmen.

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    Abb. 2.7

    Die unterschiedliche Länge der Momentarme (Kniebeuger) in Abhängigkeit von der Gelenkstellung. In Kniebeugung vergrößert sich der Momentarm der Beuger am Kniegelenk. (Adaptiert nach Mollier 1932)

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    Abb. 2.8

    Das Prinzip der Umlenkung von Sehnen kann über knöcherne Vorsprünge oder über Retinacula verwirklicht werden. (Aus Tillmann 2010)

    Ein Körper befindet sich im Gleichgewicht , wenn die Resultierende aller auf ihn wirkenden Kräfte Null beträgt. Man unterscheidet ein statisches und ein dynamisches Gleichgewicht. Beim statischen Gleichgewicht gibt es eine stabile (potenzielle Energie minimal), eine neutrale (neue Position ohne Änderung der Höhe des Körperschwerpunktes) und eine instabile Form (potenzielle Energie maximal, kleine Unterstützungsfläche). Beim dynamischen Gleichgewicht kommt es zum regelmäßigen Wechsel zwischen neutraler und instabiler Form, so wie beim wechselnden Verlauf des Schwerpunktes beim Gehen (Abb. 2.9).

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    Abb. 2.9

    Beim Gehen ändern sich potenzielle und kinetische Energie durch die ständig wechselnde Höhe des Körperschwerpunkts kontinuierlich. (Adaptiert nach Weber und Weber 1894)

    Weitere Definitionen

    Körperstabilität 

    Die Körperstabilität hängt von der Größe der Unterstützungsfläche, der Körpermasse, der Lage des Körperschwerpunktes und vom Verlauf des Schwerelotes zur Unterstützungsbasis ab.

    Reibung 

    Als Reibung wird der Widerstand definiert, der zustande kommt, wenn sich ein Gegenstand gegen einen anderen bewegt.

    Druck 

    Der Druck ist von der Kraftverteilung über eine bestimmte Fläche abhängig. Je kleiner die Fläche, desto höher ist der Druck.

    Energie 

    Energie beschreibt die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten. Energie kann zwischen potenzieller und kinetischer Energie wechseln.

    Arbeit 

    Die Arbeit wird als das Produkt von Kraft mal Weg bezeichnet. Als Leistung wird das Produkt aus Arbeit pro Zeit beschrieben.

    Spannung 

    Spannung („stress") entsteht, wenn ein Körper durch eine einwirkende Kraft verformt wird. Die Spannung kann dabei linear (Dehnung oder Kompression) oder als Scherspannung auftreten.

    Biomechanik als Mechanik der lebenden Struktur

    Aufgrund ihrer einprägsamen Darstellung möchten wir an dieser Stelle den Ausführungen von Kapandji (2001) zur Biomechanik folgen, der sie als die „Mechanik der lebenden Struktur" beschreibt. Als Kern unserer ärztliche Arbeit beschreibt Kapandji folgende Teilbereiche:

    die Translation, die Rotation und kombinierte Bewegungen

    die 3-dimensionale Räumlichkeit

    das Drehmoment von Hebelarmen

    die Freiheitsgrade von Bewegungen

    Kapandji zählt die Zeit als wesentliche 4. Dimension hinzu: Die Begriffe Entstehung, Transformation, Entwicklung, Erneuerung sowie Degeneration und Vergehen sind mit dem Begriff der Mechanik der lebenden Struktur untrennbar verknüpft. Die Betrachtung eines Menschen repräsentiert so immer nur die Momentaufnahme eines 4-dimensionalen Wesens, das einem ständigen Prozess zwischen Entwicklung und Abbau unterliegt.

    Der wesentliche Unterschied zwischen Mechanik und Biomechanik ist die Adaptierbarkeit lebender Systeme an ihre Umweltbedingungen, Verstärkung und Aufbau bei Belastung, Schwächung und Abbau bei fehlender Belastung.

    Dies wird besonders am Skelett und an der Muskulatur deutlich. Alle Strukturen des Bewegungsapparates folgen dem Prinzip der „Sparsamkeit" : Mit geringstmöglichem Aufwand wird bestmögliche Effizienz angestrebt (Maximum-Minimum-Gesetz nach Wilhelm Roux). Ein weiteres Prinzip besteht in der Fähigkeit zum ständigen Umbau durch Anpassungsvorgänge. Lebende Systeme haben die Fähigkeit zur Selbstreparatur.

    Life is a constant struggle against chaos, degradation and destruction. (Kapandji 2001, S. 10)

    Bezogen auf Gelenke hat die Biomechanik 4 Grundprinzipien:

    1.

    Wechsel der Gelenkachsen während der Bewegungen: Die Achsen biologischer Systeme sind niemals fix angeordnet, sondern verändern sich mit jeder Bewegung. Es gibt sog. Momentachsen für jeden Bewegungszeitpunkt. Die Achsen stehen schräg zueinander und entsprechen nicht den orthogonalen Prinzipien (sagittal, frontal und transversal).

    2.

    Unebenheit von Gelenkoberflächen: Dies Prinzip führt ebenfalls zu momentanen und wechselnden Gelenkzentren. Allen Gelenken ist auf diese Weise ein mechanisches Gelenkspiel eigen, das ihre Exkursionen vergrößert, aber auch Endstellungen verriegeln kann.

    3.

    Reziproke Konfiguration von Gelenkflächen: Dies bedeutet, dass sich Gelenkform und Bewegungen gegenseitig bedingen.

    4.

    Unfähigkeit zu mehr als halber Drehbewegung: Kein biologisches Gelenk kann einen Bewegungsumfang von mehr als 180° leisten, da es ernährt und kontrolliert werden muss. Dies führt automatisch zu abwechselnden Bewegungen.

    Muskeln wirken als lineare Motoren, die sich verlängern und verkürzen können. Sie wirken durch Verkürzung und durch die Transmission von Bewegungen über die gleitenden Sehnen auf benachbarte Gelenke. Daneben können Muskeln und Sehnen auch Energie speichern. Das Agonisten- (Synergisten-) und Antagonisten-Gleichgewicht der Muskulatur stellt ein dynamisches Gleichgewicht dar, welches vom Kleinhirn über das zentrale Nervensystem (ZNS) kontrolliert wird. Die gezielte Funktion mehrgelenkiger Muskeln wird über die Aktivierung ihrer Antagonisten kontrolliert. Ist nur eine Ellbogenbeugung beabsichtigt, wird die Supinationswirkung des Musculus biceps brachii durch den M. pronator teres kontrolliert. 2- und mehrgelenkige Muskeln haben ihre Muskelbäuche eher körpernah, was die Trägheitsmassen der Arme und Beine im Interesse einer besseren Funktion verringert. Auch die mehrgelenkigen Muskeln repräsentieren einen Teil des Sparsamkeitsprinzips.

    Die Schaffung des Endoskelettes mit außen angebrachter Muskulatur ermöglicht Gelenkverbindungen mit verschiedenen Freiheitsgraden und damit eine enorme Funktionsvielfalt. Eine ständige Anpassung durch Wachstum und Umweltbedingungen ist ohne funktionelle Pausen ununterbrochen möglich. Allerdings werden diese Vorteile durch den komplizierten Bau und die Funktionserweiterungen durch die vermehrte mechanische Anfälligkeit erkauft. Die hohe Komplexität von Struktur und Funktion ist an ein ungeheuer detailliert arbeitendes Steuerungs- und Kontrollsystem gebunden.

    Sensoren geben aus allen Bereichen ständig Informationen an das ZNS ab, das entsprechende Befehle zur adäquaten Bewegung aussendet. Die biologischen Mechanismen adaptieren sich dabei ständig als Reaktion auf die gestellten (oder fehlenden) Anforderungen.

    2.1.5 Zusammenfassung

    Die normale Skelettentwicklung folgt in spezifischen Zeitabschnitten einem genetisch festgelegten Plan. Das überwiegend knorpelig präformierte Skelett ossifiziert zunehmend. Das Skelettwachstum findet an den Knochenenden (Länge) und in der Knochenmitte (Dicke) mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und abhängig von äußeren Reizen nach spezifischen Gesetzmäßigkeiten statt. Das normale Skelettwachstum ist an vaskuläre, endokrine, mechanische und Ernährungsfaktoren gekoppelt. Die mechanischen Faktoren beinhalten die Schwerkraft sowie Muskelkräfte und Gelenkmomente.

    Ähnlich wie sich die normale motorische Entwicklung in typischen Schritten vollzieht, ändert sich auch die Skelettausrichtung, um schließlich zum Wachstumsende in optimaler Weise funktionieren zu können. Die biomechanischen Eigenschaften des passiven Skelettsystems müssen zusammen mit dem aktiven Muskelsystem betrachtet werden. Im Gegensatz zur Mechanik unterliegt die Biomechanik zusätzlich eigenen Gesetzen, die ihr eine ständige Anpassung an geänderte Bedingungen ermöglichen. Entsprechend ist der Aufbau der Bestandteile des Bewegungsapparates nicht fix, was von Kapandji (2001) als „unscharfe Mechanik („fuzzy) bezeichnet wird.

    The growth of bone, muscle and tendon depends on gross motor development. The walking child is not merely a miniature model of the walking adult but a dynamic, changing, wonderful creature on the road to maturity. (Skinner 1994, S. 127)

    2.2 Muskelsystem

    Das System der quer gestreiften, willkürlich innervierten Skelettmuskulatur bildet den aktiven Haltungs- und Bewegungsapparat. Die Funktion der Muskulatur ist daher ein wesentlicher Bestandteil der Biomechanik. Die Skelettmuskeln machen etwa 40 % des gesamten Körpergewichtes aus (Low und Reed 1996). Die Muskulatur ist überaus anpassungsfähig und spiegelt damit auch pathologische Veränderungen des Nerven- und des Skelettsystems wider.

    2.2.1 Entwicklung

    Die Entwicklung der Muskulatur läuft mit der des Nervensystems parallel. Die motorischen Nerven sprossen aus den verschiedenen spinalen Segmenten zu Faszikeln zusammen und breiten sich in die periphere Muskulatur aus, wobei die Innervation fasertypisch vor sich geht. Die Mechanismen und Signalwege, nach denen sich Nerven und Muskelfasern bzw. Muskeln in der Peripherie gegenseitig finden, sind noch weitgehend ungeklärt.

    Die Entwicklung der Muskulatur vollzieht sich nach Lieber (2010a, 2010b) in 4 Stufen: axonales Aussprossen, Myogenese, Entwicklung neuromuskulärer Synapsen und Eliminierung überzähliger Synapsen.

    Die Entwicklung von Muskelfasern ergibt sich aus paraspinalen Zellanhäufungen, den Somiten, die myogene Vorläuferzellen darstellen und die sich schließlich zu Skelettmuskelzellen umformen. Der Differenzierungsprozess in eine funktionsfähige Muskelzelle wird durch sog. myogene Regulationsproteine auf genetischer Ebene gesteuert. Die verschiedenen Skelettmuskeln stammen von unterschiedlichen Vorläuferzellen. So entstehen die Extremitätenmuskeln aus Vorläuferzellen der Extremitätenknospen, die stammnahen Muskeln dagegen aus Myotomen in der Nähe der Nervenstrukturen usw. Die Muskelentwicklung verläuft von proximal nach distal und von kranial nach kaudal. Die Entstehung eines funktionsfähigen Muskels folgt aus der Aggregation von Myoblasten zu Zellhaufen, die multinukleäre Myotubuli formen. Diese fusionieren wiederum und werden von einer Basalmembran umgeben.

    Myoblasten, die nicht mit den Myotubuli fusionieren, werden als Satellitenzellen bezeichnet. Sie sind später für Reparaturprozesse der ausgereiften Muskulatur zuständig. In weiteren Differenzierungsschritten wandern die Zellkerne an die Peripherie und es entstehen kontraktile Actin-Myosin-Proteine.

    2.2.2 Wachstum und Anpassung

    Analog zum Längenwachstum des Knochens weist auch der Muskel ein entsprechendes Längenwachstum auf. Unter normalen Bedingungen bestimmt das Knochenwachstum die Regulation des Muskelwachstums, d. h. beide Strukturen zeigen eine gewisse Parallelität ihrer Längenzunahmen (LeBarbier 1989). Daneben sind mechanische, nervale, metabolische und hormonelle (Wachstumshormon, Testosteron, Glukagon und Insulin; LeBarbier 1989; Gough und Shortland 2012) Faktoren für das Muskelwachstum verantwortlich. Es kommt zu einem Gleichgewicht zwischen Proteinbiosynthese und -abbau und zwischen kontraktilen und nicht kontraktilen Elementen (Gough und Shortland 2012).

    Das Muskellängenwachstum vollzieht sich am Muskel-Sehnen-Übergang durch die Apposition neuer Sarkomere, wobei der regelmäßige Muskeldehnungsreiz im Rahmen der motorischen Aktivität einen entscheidenden Einfluss ausübt (Rang et al. 1986; Koop 2009a, 2009b). Man nimmt heute an, dass die Vermehrung der Muskelzellkerne und der Satellitenzellen sowie die Muskelfaserhypertrophie durch Belastungsreize ausgelöst wird, wobei Signalmoleküle (insulinartige Wachstumsfaktoren) an diesem Prozess beteiligt sind (Grefte et al. 2007).

    Nach Rang et al. (1986) verdoppeln die Muskeln ihre Länge bis zum 4. Lebensjahr und danach noch einmal. Deshalb rät dieser Autor von Muskelverlängerungen vor dem 4. Lebensjahr ab.

    Folgende Möglichkeiten sind für eine Vergrößerung der Gesamtmuskellänge (Länge der Muskel-Sehnen-Einheit) denkbar:

    Verlängerung der Sehne

    Verlängerung des Muskels

    Verlängerung von Muskel und Sehne

    Tierversuche haben gezeigt, dass beide Strukturen (Sehne und Muskel) zum Längenwachstum der Muskel-Sehnen-Einheit beitragen. Es wird eine Wachstumszone am Muskel-Sehnen-Übergang postuliert (Ziv et al. 1984; Rang et al. 1986).

    Eine über längere Zeit andauernde Dehnung der Muskulatur führt im Tierversuch bereits nach 4 Wochen zu einer erheblichen Zunahme der Sarkomere (Faserlänge) um bis zu 20 % (Williams und Goldspink 1971, 1973). Im umgekehrten Fall führte die Ruhigstellung unter Entspannung zu einer erheblichen Verminderung der Sarkomeranzahl um etwa 40 % (LeBarbier 1989). Dies bedeutet, dass Muskeln die Fähigkeit haben, sich in ihrer Länge den äußeren Reizen anzupassen. Tabary et al. (1972) fanden im Tierversuch heraus, dass die Reaktion auf chronische Dehnung altersabhängig unterschiedlich war und bei jungen Kaninchen eher mit einer Verlängerung der Sehnen, bei älteren dagegen eher mit einer Verlängerung der Muskeln einherging. Die Anlagerung neuer Sarkomere findet an den Muskel-Sehnen-Übergängen statt (Lieber 2002). In einem anderen Tierversuch (Williams 1988) wurde herausgefunden, dass durch eine nur 30-minütige tägliche Bewegungsbehandlung die ungünstigen Effekte der Immobilisation im Hinblick auf eine Verkürzung vermieden werden konnten.

    Diese Mechanismen sind besonders für die konservative Behandlung drohender Muskelverkürzungen bei Gipsimmobilisationen wichtig (Kay et al. 2004; Westberry et al. 2006). Beide Vorgänge (d. h. Verkürzung und Verlängerung) sind nach Gipsabnahme im Tierversuch wieder vollständig rückgängig zu machen (LeBarbier 1989).

    Eine Volumenzunahme des Muskels , d. h. eine Vergrößerung des Muskelquerschnittes („physiological cross sectional area", PCSA) erfolgt über eine Vermehrung der Myofibrillen. Diese teilen sich als Reaktion auf die verstärkte Belastung.

    Mit dem normalen Körperwachstum ist eine Zunahme von Muskelkraft und Körpermasse verbunden. Allerdings steigt die Körpermasse mit der 3. Potenz (Volumen), die Muskelkraft hingegen nur mit dem Quadrat (Fläche des Muskelquerschnitts) an, weshalb Kinder relativ zu ihrer Körpermasse kräftiger als Erwachsene sind (Gage 2004). Dies kann direkte Auswirkungen auf die Funktion haben, wenn ein Kind mit grenzwertiger Gehfunktion in der Adoleszenz dekompensiert und dann eher den Rollstuhl zur Fortbewegung bevorzugen wird.

    Nach Shortland (2009) wachsen Skelettmuskeln bis zum 20. Lebensjahr durch Hypertrophie. Ab etwa 25 Jahren kommt es zu einer allmählichen Atrophie mit Sarkopenie, die ab dem 60. Lebensjahr besonders ausgeprägt ist. Der Alterungsvorgang des Skelettmuskels ist mit der vermehrten Fibrosierung und Versteifung der extrazellulären Matrix verbunden (Mann et al. 2011). Der Prozess der Alterssarkopenie ist an verschiedene Faktoren wie den hormonellen und diätetischen Status (Proteinzufuhr), Entzündungsmechanismen und Veränderungen des ZNS und PNS (peripheren Nervensystems) geknüpft (Mann et al. 2011). Sowohl die Muskelmasse als auch die kontraktile Qualität ändern sich allmählich. Der Muskel wird steifer.

    Der zunehmende Funktionsverlust mit dem Alter (Erwachsene mit Zerebralparese) ist direkt mit dem Kraftverlust assoziiert, wenn motorische Reserven aufgebraucht sind. Dies unterstreicht den Sinn ständiger Trainingsreize.

    Bei einem funktionellen Mehrbedarf kann ein Skelettmuskel auch erheblich hypertrophieren (Lieber 2002) . Dabei ist der Anteil an Kraft- bzw. an Ausdauerimpulsen für die Art seiner Anpassung entscheidend. Die Ruhigstellung eines Gelenkes resultiert im Tierversuch nur dann in einer Muskelatrophie, wenn der zugehörige Muskel unter Entspannung steht.

    Interessanterweise blieb die elektrische Aktivität der Muskulatur im EMG (Elektromyogramm) auch während einer externen Ruhigstellung unverändert. Die Muskelatrophie betrifft eher die Muskeln mit langsamen (Typ-I-)Fasern und die Antischwerkraftmuskeln (Triceps surae, Quadrizeps; Lieber 2002). Eine Tenotomie resultiert im Tierversuch in einer dauerhaften Verminderung der zugehörigen Muskelmasse sowie der Kraftentwicklung (Jozsa et al. 1990).

    Die Reparaturmechanismen des Skelettmuskels sind als koordinierten Reaktion verschiedener Zellsysteme auf lokale und systemische Signale aufzufassen (Mann et al. 2011). Dabei muss zwischen akuten und chronischen Schädigungen unterschieden werden. Bei einer akuten Verletzung des Skelettmuskels entsteht zunächst ein entzündliches Infiltrat, das die zugrunde gegangenen Strukturen entfernt. Die zerstörte Muskelstruktur wird durch lokale Stammzellen, die sog. Satellitenzellen , ersetzt. Zusätzlich sind beim Reparaturprozess proliferierende Fibroblasten notwendig, die das Gerüst der extrazellulären Matrix synthetisieren, an das sich die neuen Muskelfasern anlagern (Kollagen, Fibronektin, Elastin etc.). Schließlich sind noch angiogenetische Faktoren für die neue Blutversorgung notwendig. Bedingungen für eine ungestörte Muskelreparatur, so wie sie auch postoperativ stattfindet, sind (Mann et al. 2011):

    Bedingungen der ungestörten Muskelreparatur

    Ausreichende Nährstoffzufuhr (Kalorien, Proteine)

    Schutz des Reparaturgewebes vor übermäßiger Dehnung

    Ausreichende Blutversorgung

    Aktivierungs- und Bewegungsreize

    Intakte Innervation

    Chronische Schäden rufen demgegenüber andere Mechanismen hervor, da die Fähigkeit der Satellitenzellen zur Vermehrung erschöpft ist (Mann et al. 2011). Es kommt stattdessen zum Ersatz des untergegangenen Muskelgewebes durch Bindegewebe. Auch die extrazelluläre Matrix wird steifer.

    2.2.3 Anatomie und Funktion

    Anatomie

    Eine Muskelzelle enthält als hoch spezialisierte Einheit zur Generierung von Kraft und Bewegung zahlreiche Bausteine. Zu diesen gehören Faserproteine, Zellorganellen mit den Mitochondrien, Zellkernen, dem sarkoplasmatischen Retikulum und dem transversalen Tubulussystem.

    Die Hierarchie des Skelettmuskels nach Struktureinheit und jeweiliger Größe ist nach Lieber (2010a, 2010b) folgendermaßen gegliedert:

    Myofilamente (Nanometer)

    Myofibrillen (Mikrometer)

    Muskelfasern (Mikrometer × 100)

    Muskelfaszikel (Millimeter)

    Muskeln (Zentimeter)

    Die Myofilamente (Aktin und Myosin) bestimmen den Aufbau der Sarkomere und damit die kontraktilen Eigenschaften. Die Myofibrillen sind aus kontraktilen Sarkomeren zusammengesetzt, die hintereinander angeordnet sind. Die parallele Anordnung der Myofibrillen (nebeneinander) ergibt die Muskelfaserdicke. Die Anzahl der hintereinander (in Reihe) angeordneten Sarkomere bestimmt die Muskelfaserlänge und damit auch die Muskelexkursion. Dies heißt, dass die Gesamtzahl der Sarkomere, die hintereinander bzw. parallel angeordnet sind, für die Muskelfaserfunktion verantwortlich ist (Lieber (2010a, 2010b).

    Im menschlichen Körper gibt es zwischen 350 und 600 quer gestreifte Muskeln , die jeweils aus einem oder mehreren Muskelbäuchen und den zugehörigen Sehnen bestehen (LeBarbier 1989). Ein Mensch von 70 kg Körpergewicht verfügt damit über etwa 30 kg Muskulatur, wovon 20 kg auf Arme und Beine entfallen (Abb. 2.10).

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    Abb. 2.10a–d

    a Die makroskopische und mikroskopische Zusammensetzung eines Muskels (Aus: Toldt 1911), b Die Verhältnisse von Muskelfaserlänge und physiologischem Querschnitt der wichtigsten Beinmuskeln. (Adaptiert nach Lieber 2002). AB M. adductor brevis, AL M. adductor longus, AM M. adductor magnus, BF M. biceps femoris, EDL M. extensor digitorum longus, EHL M. extensor hallucis longus, FDL M. flexor digitorum longus, FHL M. flexor hallucis longus, GM M. gastrocnemius medialis, GR M. gracilis, PB M. peronaeus brevis, PEC M. pectineus, PL M. peronaeus longus, PLT M. plantaris, POP M. popliteus, RF M. rectus femoris, SAR M. sartorius, SM M. semimembranosus, ST M. semitendinosus, TA M. tibialis anterior, TP M. tibialis posterior, VI M. vastus intermedius, VL M. vastus lateralis, VM M. vastus medialis, c Darstellung eines sog. Kraftmuskels. (Adaptiert nach Jansen 1916), d Typisches Beispiel eines Geschwindigkeitsmuskels. (Adaptiert nach Jansen 1916)

    Ein Skelettmuskel besteht aus Muskelzellen, Nervenendigungen und Blutgefäßen sowie einer extrazellulären Bindegewebsschicht, die für die Form und den Schutz der Muskulatur verantwortlich ist und eine effektive Kontraktionsfähigkeit vermittelt (Garrett und Best 2000).

    Der Muskelbauch ist durch Faszienschläuche in Faszikel unterteilt, die verschieden starke Muskelfaserbündel enthalten. Die Muskelfaser stellt das strukturelle Basiselement des Muskels dar. Sie besteht aus einem Zellverbund (Synzytium) mit zahlreichen randständigen Kernen. Eine Muskelfaser erstreckt sich von ihrer Ursprungsstelle an einer Sehne oder einem Knochen über ein oder mehrere Gelenke hinweg bis zur Ansatzstelle. Somit entspricht die Muskelfaser einer einzigen, sehr langen, vielkernigen Zelle. Da die Muskelfasern abhängig von der Bauart des Muskels unterschiedliche Ausrichtungen zur Muskellängsachse haben, sind sie nur selten so lang wie der zugehörige Muskel. Sie können auch im Bereich einer Sehne innerhalb des Muskelbauches inserieren (Shortland et al. 2002).

    Abhängig von der Muskelfiederung lassen sich einfiedrige und mehrfiedrige Muskeln unterscheiden (Abb. 2.11). Die Muskelfasern sind von Bindegewebssepten umgeben, die die kontraktilen Elemente zusammenfügen und zusammenhängende Bewegungen vermitteln. Von außen nach innen unterscheidet man folgende Bindegewebshüllen:

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    Abb. 2.11

    Schematische Darstellung dreier Muskeltypen, von links nach rechts schwacher, mittelstarker und sehr starker doppelt gefiederter Muskel. a Ursprung, b Ansatz. (Adaptiert nach Jansen 1916)

    das Epimysium , das von außen den ganzen Muskel umhüllt,

    das Perimysium , das in der Muskelmitte um einzelne Faszikel angeordnet ist und

    das Endomysium , das im Muskel einzelne Muskelfasern umgibt.

    Das Bindegewebe ist ebenso wie die Gefäßversorgung so konstruiert, dass es den notwendigen Längenänderungen der Muskulatur ungestört folgen kann. Die Anordnung der Muskelfasern bestimmt die funktionellen und die kontraktilen Eigenschaften des Muskels. Die Art der Fiederung gestattet die Schichtung einer größeren Zahl von Muskelfasern in einem gegebenen Querschnitt (Jansen 1916).

    Funktion

    Die quer gestreifte Muskulatur ist durch einen enormen Grad der Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichsten äußeren Bedingungen wie Über- oder Unterbelastung (Schonung), Dehnungs- oder Verkürzungssituationen sowie Veränderungen der Innervation, aber auch an Traumen gekennzeichnet. Diese Fähigkeit betrifft die Architektur, den Fasertypus, die Sehnenlänge, den Faserdurchmesser, die Faserlänge und die feingewebliche Verteilung (Fridén und Lieber 2002; Lieber 2010a, 2010b).

    Die wesentlichen Eigenschaften eines Skelettmuskels, die seine Funktionen charakterisieren, werden durch folgende Punkte bestimmt (adaptiert nach Lieber 2010a, 2010b):

    Funktionsbestimmende Merkmale von Skelettmuskeln

    Muskelgewicht

    Muskellänge

    Faserlänge

    Fiederungswinkel

    Physiologischer Querschnitt

    Verhältnis von Faserlänge zu Muskellänge

    Das Muskelgewicht bestimmt die Muskelmasse und damit indirekt die Kraft ; Gleiches gilt für den physiologischen Querschnitt (PCSA). Muskellänge und insbesondere die Faserlänge sind für die Muskelexkursion zuständig (Verhältnis von Faserlänge zur Muskellänge: je größer die Faserlänge, desto mehr Exkursion).

    Anhand dieser Daten lassen sich relativ einfach Kraftmuskeln von Exkursionsmuskeln unterscheiden (Lieber 2010a, 2010b). Muskeln, deren Fasern eher parallel zur Längsrichtung angeordnet sind, fungieren vor allem als Exkursionsmuskeln (z. B. Mm. biceps brachii, sartorius, semitendinosus). Muskeln, bei denen die Fasern in einem bestimmten Winkel zur Längsrichtung orientiert sind, werden als gefiederte Muskeln bezeichnet, wobei einfach und doppelt gefiederte Muskeln vorkommen. Je umfangreicher die Fiederung ausfällt, desto kräftiger ist der entsprechende Muskel (z. B. Mm. rectus femoris, soleus, glutaeus medius).

    Muskelphysiologie

    Die normale Muskelfunktion erfordert eine intakte Propriozeption (afferente Impulse ), eine intakte motorische Innervation (efferente Impulse ), eine mechanische Belastung und intakte, stabile und frei bewegliche Hebelarme für die zugehörigen Gelenke (Abb. 2.12). Die maximale Kraftentwicklung eines Muskels ist proportional zu seiner physiologischen Querschnittsfläche (Anzahl der parallel angeordneten Sarkomere). Außerdem wird die Kraft vom prozentualen Anteil aktivierter motorischer Einheiten und der Aktivierungsfrequenz bestimmt (Shortland 2009). Alle diese Faktoren sind bei der Zerebralparese eingeschränkt. Die Verkürzungsfähigkeit und die Verkürzungsgeschwindigkeit sind dagegen von der individuellen Muskelfaserlänge abhängig (Kraftmuskeln versus Geschwindigkeitsmuskeln ). Die Muskelaktivierung wird durch das zentrale und periphere Nervensystem gesteuert. Jede Muskelfaser erhält dabei eine Nervenendigung, die sog. motorische Endplatte.

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    Abb. 2.12

    Die Muskulatur wirkt über stabile Hebelarme, der Momentarm entspricht dem senkrechten Abstand zwischen Gelenkdrehpunkt und Sehne. Er kann sich mit der Gelenkstellung ändern. a/a‘ Momentarm Schultergelenk, b/b‘ Momentarm Ellbogengelenk, M Muskel, R Rabenschnabelfortsatz des Schulterblattes, S Schulterblatt. (Adaptiert nach Schmidt 1903)

    Alle Endplatten mit den jeweils zugehörigen Muskelfasern, die zu einem einzelnen Nervenaxon gehören, nennt man motorische Einheit . Sowohl die Zahl der Muskelfasern pro motorischer Einheit als auch die Zahl der motorischen Einheiten im jeweiligen Muskel sind sehr variabel. Für fein abgestimmte Muskelbewegungen zuständige Muskeln enthalten erheblich weniger Muskelfasern pro motorischer Einheit als grob wirkende Kraftmuskeln.

    Eine motorische Einheit wird durch einen elektrischen Impuls (Aktionspotenzial ) erregt, der vom Gehirn über die motorische Vorderhornzelle zum peripheren Axon geleitet wird. An der motorischen Endplatte wird der elektrische Impuls in eine chemische Transmitterfreisetzung (Acetylcholin) umgewandelt (Abb. 2.13). Die Muskelzellmembran ist dabei von der Nervenzellmembran durch den synaptischen Spalt getrennt. Die durch den Impuls gesteuerte Abgabe von Acetylcholin aus den präsynaptischen Nervenendigungen führt zur Freisetzung von Kalzium aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (Kanalsystem, das die Muskelfasern umspinnt), das wiederum die Kontraktion der Muskelproteine triggert (Aktin und Myosinfilamente schieben sich übereinander). Acetylcholin wird durch das Enzym Cholinesterase, das sich im Spalt und an der Basalmembran befindet, wieder inaktiviert. Das bei der Behandlung der Spastizität verwendete Botulinumtoxin A hemmt die Acetylcholinfreisetzung aus den präsynaptischen Nervenendigungen und führt damit zu einer Bremsung des Kontraktionsvorganges und so zu einer lokal begrenzten schlaffen Lähmung.

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    Abb. 2.13

    Schematische Darstellung einer motorischen Endplatte

    Beim quer gestreiften Skelettmuskel kann man verschiedene Kontraktionsformen unterscheiden:

    die isometrische Kontraktion mit Spannungsaufbau bei gleichbleibender Länge des Muskel-Sehnen-Komplexes

    die isotone Kontraktion, bei der sich der Muskel gegen einen gleichbleibenden Widerstand verkürzt

    die isokinetische Kontraktion, bei der sich ein Muskel mit gleichbleibender Geschwindigkeit unter Anpassung des Widerstandes verkürzt oder verlängert

    Abhängig von der Kraft, die der Muskel gegen einen Widerstand aufbringen muss, unterscheidet man die exzentrische Kontraktion (der Widerstand ist größer als die generierte Muskelkraft) von der konzentrischen Kontraktion (die Muskelkraft ist größer als der Widerstand) und der isometrischen Kontraktion (Muskelkraft und Widerstand sind gleich groß).

    Man kann auch verschiedene Muskelfasertypen trennen, die nach Brooke und Kaiser (1970) auf verschiedenen Arten der Energieversorgung beruhen:

    Typ-I-Fasern sind rot („slow twitch fibers"), kontrahieren sich und relaxieren langsamer und mit weniger Kraft, sind aber eher ausdauernd, mit hoher aerober Kapazität und kleinen motorischen Einheiten.

    Typ-IIA-Muskelfasern sind weiß („fast twitch fibers"), kontrahieren sich rasch und kräftig, sind aber weniger ausdauernd und haben eine mittlere aerobe Kapazität. Die motorischen Einheiten sind größer als bei den Typ-I-Fasern.

    Typ-IIB-Fasern sind ebenfalls rasch kontrahierende Fasern mit hoher Kraftentwicklung, ermüden aber am schnellsten und haben die größten motorischen Einheiten. IIB-Fasern haben das niedrigste oxidative Potenzial (Gage 2004).

    Muskeln mit hohem Bedarf an Stabilisierungsfunktionen (z. B. der M. soleus) enthalten bevorzugt Typ-I-Fasern, Muskeln mit hoher Kontraktionsgeschwindigkeit dagegen eher Typ-II-Fasern. Man weiß, dass die Muskelfasertypen durch das zugehörige Motoneuron bestimmt werden und dass der Fasertyp durch äußere Einflüsse wie Training, Denervation und Reinnervation wechseln kann (Alway et al. 1988; Lieber 2002).

    Die Bereitstellung von Energie

    Die Bereitstellung von Energie ist an die Zulieferung von Stoffwechselprodukten (Fette, Eiweiße, Proteine) und von Sauerstoff an die Muskulatur geknüpft. Sie hat eine individuelle Obergrenze, die als VO2max definiert wird. Dies entspricht dem Sauerstoffverbrauch unter maximaler aerober Stoffwechsellage. Die Energieversorgung der Muskulatur wird aus der Synthese von Adenosintriphosphat (ATP) gewonnen. Durch die Abspaltung in ADP (Adenosindiphosphat) und Phosphat wird Energie zur Muskelkontraktion freigesetzt.

    Eine andere Energiequelle besteht in der Synthese von ATP und Kreatin aus ADP und Kreatinphosphat. Zur Aufrechterhaltung des Energiebedarfs werden 2 verschiedene Stoffwechselwege beschritten (aerober und anaerober Stoffwechsel). Beide Stoffwechselformen treten stets gemeinsam, aber zu unterschiedlichen Anteilen auf. Beim aeroben Stoffwechsel werden Glukose oder Fettsäuren unter Mitwirkung von Sauerstoff verbrannt, wodurch ATP entsteht. Aus einem Molekül Glukose entstehen so 38 Moleküle ATP (Gage 2004). Der aerobe Stoffwechsel wird bei Ausdaueranforderungen eingesetzt.

    Der anaerobe Stoffwechsel beinhaltet die Umwandlung von Glukose in Milchsäure ohne die Mitwirkung von Sauerstoff. Aus einem Molekül Glukose entstehen 2 Moleküle ATP. Der anaerobe Stoffwechsel kommt bei hohem kurzzeitigem Energiebedarf zum Einsatz.

    Neben der Glukose werden auch freie Fettsäuren und Proteine zur Energieversorgung der Muskulatur verwendet. Ein freies Fettsäuremolekül liefert dazu 129 Moleküle ATP. Proteine stellen eine Reserveenergiequelle dar, die nur bei Mangelzuständen angetastet wird.

    Typ-I-Muskelfasern verwenden eher den aeroben Stoffwechsel, Typ-IIB-Fasern dagegen eher den anaeroben Stoffwechsel.

    2.2.4 Biomechanik des Muskel-Sehnen-Komplexes

    Biomechanik der Muskulatur

    Die Muskelexkursion wird durch die Faserlänge, die Muskelkraft durch den physiologischen Querschnitt und den Fiederungswinkel bestimmt (Shortland et al. 2004).

    Muskeln sind an Skelettelementen in unterschiedlicher Weise angeheftet. Die Lage der Ursprungs- und Insertionspunkte und ihre Beziehung zu den Bewegungsachsen der Gelenke ist für die Kraft, die ein Körpersegment ausführen kann, entscheidend. Diese äußere Kraft wird durch die Muskeln und ihre mechanischen Voraussetzungen bestimmt.

    Die Kraft, die ein Muskel aufbringen kann, ist von verschiedenen Faktoren abhängig (Low und Reed 1996):

    Muskelgröße

    Kontraktionstyp

    Kontraktionsgeschwindigkeit

    Muskellänge

    Muskelfasertypen

    Anordnung der Muskelfasern

    zentralnervöse Kontrolle

    weitere Faktoren wie Alter, Muskelatrophie, Muskelhypertrophie

    Die Kraft eines Muskels ist außerdem von der Zeit und dem Zustand der Aktivierung abhängig. Die Muskelkraft entspricht in etwa 2 kg/cm² seines Querschnittes (Gage 2004). Nach Cavagna (1968) kann ein Muskel seine größte Kraft entfalten, wenn er sich im vorgedehnten Zustand befindet. Beim normalen Gangablauf erfahren die meisten Kraft generierenden Muskeln (Hüftstrecker, Hüftbeuger, Wadenmuskeln) eine entsprechende Vordehnung (Gage 2004).

    Ein Muskel besteht sowohl aus aktiven kontraktilen Anteilen als auch aus passiven elastischen Elementen, die einer Dehnung entsprechenden Widerstand (vergleichbar einer Feder) entgegensetzen (Lieber 2002). Das aktiv dynamische Verhalten eines Muskels wird primär von seinen kontraktilen Bestandteilen und der Aponeurose bestimmt. Wenn ein Muskel gedehnt wird, lässt sich sein Widerstand messen. Ein nicht stimulierter Muskel zeigt unter Dehnung eine anfängliche Längenzunahme, bevor ein Anstieg im Dehnungswiderstand registriert werden kann. Ein stimulierter Muskel zeigt bei kürzeren Dehnungswegen eine größere Spannung, bei längeren Dehnungswegen verhält er sich dagegen ähnlich dem nicht stimulierten Muskel. Der Widerstand, den ein passiv gedehnter Muskel dem Dehnungsreiz entgegensetzt, kann ein Mehrfaches seiner aktiven Kontraktionskraft ausmachen. Dieser Widerstand gegen die passive Dehnung wird primär durch die viskoelastischen Eigenschaften des Muskels (intrinsische Steifigkeit) vermittelt. Diese entstehen in Muskelbindegewebe und in den Muskelfaszien.

    Die Gelenkbewegung, die ein Muskel durch seine Kontraktion auslöst, resultiert aus seinem Drehmoment . Das Drehmoment lässt sich aus dem Produkt von Momentarm und Kraft (Abb. 2.14) berechnen (Einheit Newton × Meter = Nm). Der Momentarm entspricht dabei dem senkrechten Abstand zwischen dem Drehpunkt des Gelenkes und der einwirkenden Kraft.

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    Abb. 2.14a,b

    Die Länge des Momentarmes der Hüftabduktoren bei außenrotierter (a links, b links) und neutral rotierter (a rechts, b rechts) Stellung

    Ein Drehmoment lässt sich auf dreierlei Weise ändern, was für operative Maßnahmen auch bei spastischen Lähmungen von großer Bedeutung ist:

    durch die Änderung der Muskelkraft

    durch die Änderung des Momentarmes

    durch die Variation des Winkels, in dem der Muskel auf das Gelenk einwirkt

    Bei normalen Bewegungen kann sich – abhängig vom Gelenkwinkel – im selben Gelenk ein Wechsel zwischen den Muskelwirkungen vollziehen. Dies bedeutet, dass der Muskelverlauf zur Gelenkachse und damit die Muskelfunktion abhängig von der jeweiligen Gelenkstellung variieren kann. Auf diese Weise können Muskeln ihre Funktion auf das zugehörige Gelenk und den wirksamen Momentarm ändern bzw. sogar umkehren. Typische Beispiele sind die hüftstreckende und die kniebeugende Wirkung der ischiokruralen Muskulatur und die wechselnde Funktion der Adduktoren in Abhängigkeit vom Hüftgelenkbeuge- bzw. Abduktionswinkel. Der Momentarm der Hüftgelenkabduktoren variiert bei erhöhter Antetorsion in Innen- bzw. neutraler Rotation ebenfalls (Gage und Schwartz 2009).

    Von Baeyer (1925) bezeichnet den Funktionswechsel von Muskeln durch die geänderte Gelenkstellung als sukzessive Wirkung bei geführter Kette.

    Das Verhältnis von Kraft zu Geschwindigkeit

    Die Kontraktionsgeschwindigkeit eines Muskels hängt von der Größe seiner Belastung (d. h. dem Widerstand) ab. Es besteht ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Muskelkraft und Kontraktionsgeschwindigkeit. Ein exzentrisch aktivierter Muskel kann mehr Kraft entwickeln als ein konzentrisch aktivierter. Während des normalen Ganges arbeiten die meisten Muskeln exzentrisch mit abbremsender Wirkung. Dies führt zu einer Verminderung des Energieaufwandes und damit zu einer Ökonomisierung des Ganges.

    Die Funktion der Sehnen

    Das Längenwachstum der Sehnen vollzieht sich am Übergang zum Knochen ebenfalls durch Apposition (Wenger und Rang 1993). Sehnen bestehen ebenso wie Bänder aus Fibroblasten, die die extrazelluläre Matrix synthetisieren (parallel angeordnetes Kollagen Typ I, Grundsubstanz aus Proteoglykanen, die den Kollagenrahmen stabilisiert, sowie Elastin) und wenigen Gefäßen, die für den Stoffwechsel (bradytroph bzw. mit reduzierter Stoffwechselaktivität) verantwortlich sind. Zusätzlich sind sog. Mechano- und Schmerzrezeptoren in die Sehnen und Bänder eingelassen, die ihre propriozeptiven Reize über Afferenzen an das ZNS weiterleiten

    Sehnen haben die Aufgabe, als lastabhängig Widerstand leistende Strukturen Bewegungen zu lenken, Kräfte zu übertragen und Gelenke zu stabilisieren (Nordin et al. 2001). Die Sehnen befinden sich dazu meist an den Enden der Muskulatur. Teilweise verlaufen sie aber auch als Stränge oder 2- bzw. 3-dimensionale Platten innerhalb von Muskeln (z. B. beim M. soleus) und dienen auf diese Weise als Ansatzregion für zahlreiche Muskelfasern, vor allem bei den Kraftmuskeln.

    Sehnen zeigen variable Formen, sie können zylindrisch, abgeplattet oder breitflächig und von unterschiedlicher Länge sein (Abb. 2.15). Sehnen bestehen aus kollagenen Fasern, in die elastische Faseranteile eingearbeitet sind. Im Bereich ihres Ursprungs bzw. ihres Ansatzes strahlen die Sehnenfasern in den Knochen ein. Das Verhältnis der jeweiligen Muskel- und Sehnenlänge zueinander entwickelt sich während des Wachstums als Reaktion auf die motorischen Funktionen und Belastungsreize. Ähnlich wie der physiologische Querschnitt eines Muskels mit seiner Kraft korreliert, verhält sich auch der Sehnenquerschnitt. Die Reißfestigkeit einer gesunden Sehne übersteigt die ihres Muskels um das Doppelte (Nordin et al. 2001).

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    Abb. 2.15

    Die typische Querstreifung der Muskulatur. (Aus Biesalski und Mayer 1916)

    Durch Ultraschalluntersuchungen (Fukunaga et al. 1997) konnte gezeigt werden, dass der sehnige Anteil bei einer Muskelkontraktion ohne Gelenkbewegung deutlich gedehnt wird (Vorspannung zur Energierückgabe, Dallmeijer et al. 2010).

    Jede Störung der Motorik wird immer auch ein verändertes Verhältnis der Muskel- und Sehnenlängen nach sich ziehen, wie wir dies bei der Zerebralparese häufig finden (Barrett und Lichtwark 2010).

    Die Durchblutung von Sehnen , die auch für ihre Heilung (posttraumatisch und nach Operationen) verantwortlich ist, kommt aus dem Insertionsbereich im Knochen und aus dem Paratenon. Sehnen, die in Sehnenscheiden verlaufen, sind dort avaskulär. Die Ernährung erfolgt in diesem Bereich über Diffusion (Abb. 2.16).

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    Abb. 2.16

    Darstellung des Mesotenons der Tibialis-anterior-Sehne. (Adaptiert nach Biesalski und Mayer 1916)

    Verschiedene Erkrankungen und ihre Therapie können Veränderungen von Sehnen nach sich ziehen. Typische Beispiele sind endokrinologische Störungen, Polyarthritis, Entzündungen oder Medikamente wie Kortikosteroide. Mechanische Affektionen entstehen durch Immobilisation, akute oder chronische Überlastung sowie durch Alterungsprozesse. Immer wenn die Belastung einer Sehne ihre Belastbarkeit übersteigt, kann es zur teilweisen oder vollständigen Sehnenruptur kommen, die akut oder schleichend stattfindet. Der Riss kann innerhalb der Sehnensubstanz (bei schleichender Ruptur) oder an der knöchernen Insertion stattfinden. Jede schleichende Ruptur wird von reparativen Veränderungen des paratendinösen Gewebes bzw. des Ansatzbereiches begleitet. Chronische Reizzustände von Sehnen und ihren Ansätzen begegnen uns auch bei der Zerebralparese. Typische Beispiele sind die Patellarsehne und die Achillessehne beim Kauergang.

    Jede mechanische Schädigung einer Sehne, so wie sie auch durch ihre Verlängerungsoperation hervorgerufen wird, schädigt die Sehneneigenschaften dauerhaft und führt darüber hinaus zu Verwachsungen mit der Umgebung, welche die reibungsarme Kraftübertragung von der Muskulatur auf den Knochen einschränken. Das Konzept der kontinuierlichen passiven Bewegung ist auch für die Sehnenheilung vorteilhaft (Akeson et al. 1992). Die Heilungsdauer beträgt etwa 4–6 Wochen (Ketchum 1979). Die Heilung findet in 3 Phasen statt: Entzündungsphase (wenige Tage), fibroblastische (Narben-)Phase (2–3 Wochen) und Remodellierungsphase (nach 3–6 Wochen). Die Zugfestigkeit steigt nach 4 Wochen steil an, sie ist aber erst nach einigen Monaten vollständig wiederhergestellt (Miller 1992). In Gleitkanälen benötigen Sehnen bis zu 3 Monate zur Heilung.

    Die normalen Sehnenfunktionen

    Verbindung von Muskeln mit Knochen

    Reibungsarme und ökonomische Übertragung der Muskelfunktionen auf die Gelenke

    Dämpfung durch Absorption rascher Längenänderungen (zum Schutz der Muskulatur)

    Vergrößerung des funktionellen Bewegungsausmaßes der Muskel-Sehnen-Einheit

    Elastische Verkürzung zur Energiespeicherung und -rückgabe

    Wesentliche Bestandteile der motorischen Kontrolle (durch nervale Rezeptoren)

    Die Sehnen-Muskel-Länge wechselt während des Ganges kontinuierlich. Durch ihre begrenzte Dehnbarkeit und ihren Bestandteil an elastischen Elementen erhöht sie die Ökonomie der Fortbewegung über Energierückgabeeffekte (Dallmeijer et al. 2010). Für die Achillessehne und für die Patellarsehne konnte eine erhebliche Energiespeicherung während der Abstoßphase nachgewiesen werden, die die Muskelarbeit reduziert. Sehnen haben darüber hinaus auch wichtige Dämpfungseigenschaften, um den Muskel gegen rasche Dehnung zu schützen.

    Der Skelettmuskel ist streng hierarchisch aufgebaut und zeigt abhängig von den jeweiligen Anforderungen eine unterschiedliche Anordnung seiner Muskelfasern. Kraft- und Stabilisierungsmuskeln haben einen größeren Querschnitt bei geringerer Exkursion, bei Geschwindigkeitsmuskeln ist es umgekehrt. Die Anordnung der Muskelfasertypen und die Art der Energiezufuhr sind funktionsabhängig verschieden. Auch die Kontraktionsformen wechseln abhängig von den Anforderungen. Das Zusammenspiel von Nervensystem, Muskulatur und Skelett erlaubt die Umsetzung individueller funktioneller Ansprüche.

    Störungen können auf einer oder mehreren Ebenen lokalisiert sein. Die Skelettmuskulatur ist durch einen hohen Grad an Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet. Bei der infantilen Zerebralparese ist ein zunächst normaler Muskel-Sehnen-Apparat den pathologischen Einflüssen des zentralen Nervensystems und veränderten funktionellen Umgebungseinflüssen ausgesetzt (fehlende Dehnung bzw. veränderte Belastung). Dies führt zu einer Anpassung der funktionellen und der mechanischen Muskeleigenschaften und des Längenverhältnisses im Muskel-Sehnen-Komplex.

    2.3 Nervensystem

    Während das Nervensystem des Erwachsenen ausgereift und als mehr oder weniger statisch zu bezeichnen ist, haben wir es beim Kind mit einem überaus dynamischen und anpassungsfähigen, sich stetig verändernden Mechanismus zu tun. Deshalb sollten pathologisch erscheinende Reaktionsweisen, wie sie uns beim Kind mit oder ohne Zerebralparese begegnen können, nicht immer gleich als „normal oder „pathologisch bezeichnet, sondern in einem dynamischen Zusammenhang bewertet werden.

    Die Spielbreite des Normalen ist überaus groß, was sich daran zeigt, dass Reifungsvorgänge noch bei 6- bis 8-Jährigen beobachtet werden (Minns 2010).

    2.3.1 Entwicklung und Reifung

    Die Entwicklung des zentralen Nervensystems vollzieht sich aus dem Neuroektoderm in einer typischen Reihenfolge. Um den 16. Tag erscheint eine Neuralplatte. Aus ihr bildet sich durch Auffaltungen zwischen dem 18. und dem 20. Tag eine neurale Grube, die durch ein gegenseitiges Zusammenwachsen das Neuralrohr formt (21. Tag). Der Schließungsvorgang dieses Neuralrohres, der sich von der Mitte aus beginnend nach proximal und distal fortsetzt, ist bis zum 30. Tag beendet. Etwa um den 28. Tag bilden sich am proximalen Ende des Neuralrohres 3 primitive Vesikel, die als Prosenzephalon, Mesenzephalon und Rhombenzephalon bezeichnet werden. Es entstehen die zervikalen und pontinen Flexuren.

    Der nächste Entwicklungsschritt betrifft die Trennung des Prosenzephalons in das Telenzephalon und das Dienzephalon. Aus dem Telenzephalon entwickelt sich die Hirnrinde. Tel- und Dienzephalon sind an der Bildung von Thalamus und Basalganglien beteiligt. Alle weiteren Gehirnanteile wie der Hypothalamus, das Mittelhirn, das Kleinhirn, die Brücke und das Rückenmark differenzieren sich über genetische Signalkontrollen.

    Die Zellentwicklung und die Zellteilung vollziehen sich ebenfalls nach einer festgelegten genetischen Sequenz, bis sie ihre definitiven Areale und Funktionen erreichen. Die subependymale Zellteilung bleibt bis zur 28. Woche der Entwicklung aktiv. Infolge der immensen Zahl sich bildender Zellen und des dadurch entstehenden Platzmangels kommt es zu Einfaltungsprozessen an der Hirnrinde, die als Gyri und Sulci sichtbar bleiben.

    Die Entwicklung der Dendriten und der Axone vollzieht sich über eine Stimulation durch chemische Signale. Das Dendritenwachstum ist zwischen der 28. und 35. Woche am größten, das Gliawachstum zwischen der 28. und 40. Woche. Eine regelrechte Gehirnentwicklung ist auch an die kontrollierte Apoptose überschüssiger Nervenendigungen gebunden, die zwischen der 28. und 40. Woche stattfindet (Minns 2010).

    Weitere Stadien der ZNS-Entwicklung umfassen die Aussprossung von Synapsen und die Angiogenese sowie die Myelinisierung, die im ZNS durch die Oligodendroglia, im PNS durch die Schwann-Zellen geleistet wird.

    Die enorme Gewichtszunahme zwischen einem Neugeborenengehirn von 350 g und dem eines 4-Jährigen von 1350 g ist primär durch die fortschreitende Myelinisierung, die Synapsen- und die Dendritenbildung zu erklären. Die Myelinisierung vollzieht sich nach einem geregelten Ablauf, bei dem die kortikale Beinregion vor der Armregion und die Arm- und Handfunktion vor der Gehfunktion reifen. Assoziative Verbindungsbahnen entstehen in den ersten 12 Lebensjahren in stetig zunehmender Zahl.

    Die für Motorik, Somatosensorik und Visus wichtigen Großhirnareale zeigen eine reziproke Hemmung der Gegenseite, über die sich ein Ersatz ausgefallener Regionen kompensieren lässt (Minns 2010). Die Reifung tertiärer assoziativer Regionen (Visus, Motorik) findet zuletzt statt. Die Bedeutung der Umgebungseinflüsse auf die Hirnentwicklung wird mit zunehmendem Wachstum immer größer. Während die basalen motorischen Entwicklungsstufen wie Sitzen, Krabbeln, Stehen und Gehen noch primär genetisch determiniert sind, werden weitere Kenntnisse und Fähigkeiten (Rennen, Springen, Hüpfen, Schwimmen usw.) immer mehr durch eine Wechselwirkung mit der Umwelt erworben. Ohne äußere Stimuli kommt es zur motorischen und emotionalen Deprivation, die allerdings beim erneuten Einsetzen adäquater Reize rasch wieder aufgeholt werden kann (Minns 2010).

    2.3.2 Funktion

    Die Basis jeder Bewegung beruht auf Reflexmechanismen, die als angeborene Bewegungsmuster bezeichnet werden. Darauf bauen sich erlernte Bewegungsabläufe auf, die durch die Mechanismen der Reifung und des motorischen Lernens (Versuch und Irrtum) entstehen. Eine Bewegung entsteht durch den Handlungsantrieb, der in kortikalen und subkortikalen Emotions- und Motivationsarealen und im limbischen System seine Ursprünge hat. Zielvorstellung und Strategiefindung gehen der Entwicklung eines Bewegungsplans voraus, die sich in motorischen Assoziationsgebieten des präfrontalen, parietalen und okzipitalen Kortex abspielt. Es folgt die Aufstellung eines Bewegungsprogrammes, an dem der prämotorische Kortex, das Kleinhirn, die Basalganglien und das extrapyramidale System beteiligt sind. Im Gyrus praecentralis sind die Körperregionen somatotop gegliedert, wobei der Anteil der Kopf- und Handareale weitaus umfangreicher ist als der für den Rumpf und die Beine.

    Die Basalkerne haben die Aufgabe, motorische Programme vorzubereiten und zielgerichtet durchzuführen bzw. die Durchführung zu kontrollieren. Durch die Capsula interna verlaufen die großen motorischen Projektionsbahnen, die in der Pyramidenbahnkreuzung auf die Gegenseite wechseln. Jede Bewegung wird von ständig ablaufenden afferenten Impulsen begleitet. Periphere Stimuli aus der motorisch-sensorischen Interaktion, dem Visus und dem Gleichgewichtssinn melden entsprechende Afferenzen über die Rückenmarkbahnen ans ZNS und an die Basalganglien. Im Kortex und in den tieferen Hirnregionen wird daraufhin die efferente Information generiert und über das obere Motoneuron in der Pyramidenbahn und das untere Motoneuron auf spinaler Ebene an die entsprechende Muskulatur weitergeleitet (Abb. 2.17).

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    Abb. 2.17

    Die Verbindungsbahnen des zentralen Nervensystems bis zur motorischen Vorderhornzelle und die Innervation der peripheren Muskulatur über das α-Motoneuron

    An der motorischen Funktion sind damit das lokomotionsstimulierende System, das Gleichgewichtssystem und weitere regulierende Systeme beteiligt, die eine ständige Interaktion von motorischen und sensorischen Informationen auf spinaler Ebene steuern.

    Eine adäquate motorische Funktion bedingt ein ständiges Gleichgewicht aus neurologischer Kontrolle von Grundtonus und Grundhaltung, die wiederum Folge der neuromuskulären Afferenzen (propriozeptive, kutane, visuelle und vestibuläre Stimulation) und Efferenzen sind. Zusätzlich müssen die biomechanischen Voraussetzungen von Haltung und Bewegung (d. h. adäquate Skelett- und Muskelfunktionen) gesichert sein.

    Die Kontrolle von Haltung und Bewegung vollzieht sich damit über stetig sich anpassende Muskelkontraktionen, deren Kraft und Aktivitätsmuster (Timing) exakt abgestimmt sein müssen. Nach Butler und Major (1992) erfordert bereits beim Stehen jede Bewegung zwischen 2 Körpersegmenten zusätzliche Informationen von wenigstens 2 anderen Gelenken. Jede hinzukommende Bewegung steigert die neuromotorischen Anforderungen enorm. Die Muskelspindeln haben hier eine entscheidende Bedeutung, da sie nicht allein auf Muskeldehnung reagieren, sondern ihre Antwort auf verschiedene Dehnungsgrade hin moduliert werden kann (Abb. 2.18). Die Koordination einer Bewegung erfordert die spinale und zerebrale Steuerung einer adäquaten Agonisten- und Synergistenaktivierung und einer entsprechenden Antagonistenhemmung, die in der Regel unbewusst ablaufen. Die Informationen über die Körperpositionen und die Bewegungen der einzelnen Segmente werden ständig auch an das ZNS weitergeleitet, wo unter der Kontrolle des Bewusstseins entsprechende Modifikationen veranlasst werden können.

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    Abb. 2.18

    Funktion der Muskel- und Sehnenspindeln bei der Regulation des Muskeltonus

    Der Prozess des motorischen Lernens vollzieht sich durch ständige Versuche der Wiederholung mit dem Herausfiltern der günstigsten Bewegungsstrategien. Eine beherrschte motorische Funktion zeichnet sich durch einen ökonomischen Muskeleinsatz bei gleichzeitiger Hemmung störender Aktivitäten aus (Low und Reed 1996). Das Erlernen neuer oder verlorener Motorik stellt ein wesentliches Aufgabenfeld der Physiotherapie dar. Eine Gliederung des Lernvorganges in die Bestandteile Erfassung (Perzeption), Planung und Entschluss sowie Bewegungsorganisation stellt einen interessanten Ansatz dar (Marteniuk 1979). Eine weitere neuere Entwicklung in der motorischen Kontrolle bildet die mentale Vorstellung und die Erinnerung von Bewegungsmustern und -abläufen (Harrison und Jackson 1994).

    2.3.3 Motorische Entwicklung

    Unsere Natur besteht in der Bewegung, die vollständige Ruhe ist der Tod. (Blaise Pascal, 1623–1662)

    Die motorische Entwicklung ist an die Reifung des zentralen Nervensystems gekoppelt (Abschn. 2.3.1). Das Erscheinen bzw. das Verschwinden bestimmter Haltungs- und Bewegungsschablonen ist für eine normale motorische Entwicklung charakteristisch. Zu den einfachen motorischen Reflexmustern , die mit zunehmender motorischer Kontrolle durch höhere Zentren teilweise verschwinden, zählen Dehnungsreflexe, Fluchtreflexe und die sog. Stellreflexe.

    Die tabellarische Darstellung der Körperhaltung und der Funktionen ist nach ihrem zeitlichen und lagebedingten Auftreten besonders anschaulich. Bis zum Zeitpunkt der Geburt sind ausschließlich globale schablonenartige Bewegungsmuster zu finden, von denen um die 12. Gestationswoche das globale Beugemuster in Rückenlage (spinale Ebene) und um die 28. Schwangerschaftswoche ein globales Streckmuster (Ebene des Hirnstammes) erscheint.

    Zum Geburtstermin ist die globale Beugehaltung der Arme

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